WESTGOTEN
 

Lexikon des Mittelalters: Band IX Spalte 27
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Westgoten
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[1] Ethnogenese und frühe Geschichte (ausgehendes 3. bis frühes 5. Jh.):

Das nach der im 3. Jh. erfolgten Spaltung der Goten entstandene Volk der Terwingen ('Waldleute'; erster Beleg Paneg. 11, 17, 1 vom Jahr 291), die sich selbst wohl Vesier (die 'Guten, Edlen') nannten, war die namengebende und beherrschende Gruppe der auch Taifalen, Sarmaten, dako-karpische Provinzialen, kleinasiatische Gruppen und Iranier umfassenden »terwingisch-vesischen Völkergemeinschaft« (Wolfram), die nach Aufgabe der Provinz Dakien (wohl 275) bis zum Hunnensturm (Hunnen) des Jahres 376 für etwa hundert Jahre nördlich der Donau und westlich des oberen Dnestr und unteren Pruth beheimatet war. Kleinkönige (reiks), die gestützt auf ihre Gefolgschaften die Teilstämme (kunja) führten, bildeten ein oligarchisches Element in der Verfassung dieses Stämmeverbandes, der in dem für Kult, Recht, Kriegführung und Auswärtiges zuständigen 'Richter' auch eine Art monarchischer Spitze besaß. Das Zusammenleben mit der verbliebenen provinzialrömischen Bevölkerung und das 332 geschlossene foedus (Föderaten), das den Handel mit den angrenzenden Provinzen begünstigte, die Zahlung römischer Jahrgelder umfaßte und zum gelegentlichen Einsatz terwingische Truppen in römischen Diensten führte, förderten den Kontakt mit der römischen Zivilisation und führten auch zur Begegnung mit dem Christentum (Ulfila/Wulfila), wobei der Prozeß der schließlichen Bekehrung zum homöischen Bekenntnis (Arius) erst nach dem Übertritt auf römisches Gebiet zum Abschluß gelangte. Als der 'Richter' Athanarich, der sich zwar im Krieg gegen die Römer (367-369) behauptete, durch eine Christenverfolgung (369-372) aber einen die Stämmekonföderation entscheidend schwächenden Kampf der konservativen römerfeindlichen Kräfte gegen die christliche Minderheit verursachte (372-375/376), die Hunnen 376 nicht zurückzuschlagen vermochte, bat die Mehrheit der Terwingen (unter Fritigern) um Aufnahme in das Imperium.
In den folgenden vier Jahrzehnten der Wanderungen (Völkerwanderung) im römischen Reich wurden aus den donaugotischen Flüchtlingen und ihren Nachkommen, die lediglich den »Kristallisationskern einer 'Völkerlawine'« (Claude) bildeten - darunter namentlich eine starke 376 vor den Hunnen über die Donau geflohene Gruppe Greuthungen (Ostgoten) und (nach dem Sturz Stilichos 408) die ebenfalls im wesentlichen aus Goten bestehenden Reste der Radagaisus-Gruppe, die nach ihrer Niederlage zunächst in das römische Heer eingegliedert bzw. versklavt worden war - im Prozeß einer erneuten Ethnogenese die Visi bzw. Visigothen/Vesegothen, deren Name bereits im 6. Jh. von Cassiodor als die 'westliche Goten' gedeutet wurde.
Der Versuch des Imperiums, das durch den Donauübergang der Goten entstandene Problem militärisch zu lösen, scheiterte mit der römischen Niederlage in der Schlacht von Adrianopel (9. August 378). Auch dem Vorhaben der Ansiedlung der Westgoten in den weitgehend verwüsteten und entvölkerten, südlich der Donau gelegenen Provinzen Moesia II (Moesia) und Dacia Ripensis auf der Grundlage des foedus von 382, das ihnen gestattete, auf römischem Boden nach eigenen Gesetzen zu leben, und sie zur Truppenstellung verpflichtete, war keine Dauer beschieden. Unter Führung des zum König aufgestiegenen Alarich I. (aus dem Geschlecht der BALTHEN) durchzogen die Westgoten, veranlaßt vor allem vom Streben nach einer gesicherten Ernährungsbasis, seit den 390er Jahren zunächst das Ostreich, bis sie ab 401 auch das bislang verschonte Westreich heimsuchten und schließlich Rom eroberten (24. August 410). Alarichs wiederholte Versuche, mit der Reichsgewalt zu einem dauerhaften Vertragsabschluß zu kommen, scheiterten an den damaligen Kräfteverhältnissen und Interessengegensätzen der rivalisierenden Parteien. Auch der Plan seines Nachfolgers Athaulf, der die Westgoten 412 nach Gallien geführt und Galla Placidia, die Stiefschwester des Kaisers Honorius, geheiratet hatte (414), mittels einer engen gotisch-römischen Union die Gegensätze und damit zugleich die Schwäche des westlichen Imperiums zu überwinden, blieb Episode.

[2] Das tolosanische Reich (5. bis frühes 6. Jh.):

Eine neue Epoche der westgotischen Geschichte trat erst mit dem foedus von 418 ein. Die auf Befehl der Reichsregierung und mit Zustimmung der senatorischen und curialen Führungsschichten Süd-Galliens wohl vor allem zum Schutz der sozialen Verhältnisse in der Provinz Aquitanica II (Aquitanien) und einigen civitates der angrenzenden Provinzen Novempopulana und Narbonensis I erfolgte Ansiedlung der Westgoten stellt den Beginn der durch den fortschreitenden Zerfall des weströmischen Reiches begünstigten Entstehung des Reiches von Toulouse dar. Die während der Herrschaft Theoderichs I./Theoderids und Theoderichs II. zwischen der Erfüllung der Föderatenpflichten und dem Eigeninteresse des allmählich Konturen gewinnenden germanusch-romanischen Staatsgebildes schwankende westgotische Politik ging endgültig seit der Ermordung des mit Hilfe Theoderichs II. zum Kaiser erhobenen Avitus (456) und vor alllem während der Regierung des Königs Eurich unter Mißachtung des foedus und Ausnutzung der zunehmenden Schwäche des Westreiches zu offener Expansion über. Seit 475 erstreckte sich die westgotische Herrschaft über die Pyrenäenhalbinsel mit Ausnahme des Reiches der Sueben und der baskischen und kantabrischen Gebiete, in Gallien über alles Land zwischen Atlantik, Loire und Rhône, seit 476 auch über die Provence.
Folge der Seßhaftwerdung war eine weitere Assimilation der Westgoten an die überlegene römische Zivilisation, deren Einfluß sich bereits während der Wanderungszeit verstärkt hatte. Wenngleich die Westgoten noch die eigene Sprache bewahrten und sich vor alllem bezüglich Religion und Rechtsgewohnheiten von der romanischen Bevölkerung des 'regnum Tolosanum' unterschieden, so macht aber bereits der sogenannte Codex Euricianus das Ausmaß des römischen Einflusses deutlich. Auch die staatliche Organisation des Reiches knüpfte an vorhandene römischen Strukturen an, insbesondere an die civitas als zentrale regionale Verwaltungseinheit unter dem comes civitatis (comes, II. 3); seit Eurich begegnen auch größere Einheiten unter duces (dux, II. 1). Auch der königliche Hof übernahm zum Teil Einrichtungen und Aufgaben der übergeordneten römischen Verwaltungseinrichtungen. Im wesentlichen erhalten blieben auch die wirtschaftlichen und sozialen Strukturen. Romanen waren auch unter den hohen weltlichen Amtsträgern vertreten. Trotz des Bestrebens Alarichs II., das Reich durch eine Neuredaktion des römischen Rechts (Lex Romana Visigothorum) und die Eingliederung der katholischen Kirche auf dem Konzil von Agde (506) weiter zu konsolidieren, unterlag er 507 dem Angriff der mit den Burgundern verbündeten Franken unter Chlodwig in der Schlacht von Vouillé.

[3] Das toledanische Reich (6. bis frühes 8. Jh.):

a) Von Toulouse nach Toledo:

Der bis gegen Ende des 6. Jh. andauernde Übergang vom tolosanischen zum toledanischen Westgoten-Reich (Toledo, A) resultierte aus dem Verlust der gallischen Gebiete bis auf Septimanien. Erst seit 507 erfolgte - nach einer ersten Siedlungswelle in den 490er Jahren - die eigtliche, um 531 abgeschlossene Ansiedlung der Westgoten auf der Iberischen Halbinsel (Hispania). Zunächst aber schien sich infolge der Niederlage, des Schlachtentodes Alarichs II., der Minderjährigkeit seines Sohnes Amalarich und der Ausschaltung von dessen älterem Stiefbruder Gesalech eine Verschmelzung des Ost-und Westgoten-Reiches unter dem seit 511 auch zum König der Westgoten erhobenen Theoderich der Große anzubahnen. Der vorzeitige Tod seines als Nachfolger vorgesehenen Schwiegersohnes, des aus dem Westgoten-Reich stammenden AMALERS Eutharich, durchkreuzte jedoch die großangelegten Pläne, und so gelangte nach Theoderichs Tod (526) dessen Enkel Amalarich (ermordet 531) als letzter der BALTHEN auf den westgotischen Thron. Seine Politik einer Annäherung an die Franken über eine Heirat mit einer Tochter Chlodwigs, Chlothichild, blieb allerdings erfolglos. Während unter Theudis (531-548) im Innern eine gewisse Beruhigung eintrat und wegen der durch das Ende des Vandalen-Reiches entstandenen byzantinischen Bedrohung eine Schwerpunktverlagerung auf den Süden in die Provinz Baetica erfolgte, geriet das Reich in eine höchst bedrohliche Lage, als der Prätendent Athanagild im Kampf gegen Agila I. die Byzantiner (Byz. Reich, B.I, 3b) zu Hilfe rief, die nun im Südosten Teile Spaniens besetzten.

b) Die institutionellen, kirchenpolitischen und sozialen Wandlungen des späten 6. und des 7. Jh.:

Die Erneuerung des Westgoten-Reiches war das Werk der Könige Leovigild (568-586) und Reccared (586-601). In Kämpfen gegen die Byzantiner im Süden, die Kantabrer und Basken im Norden sowie diverse andere Herrschaftsbildungen trug Leovigild entscheidend zur Einigung des spanischen Westgoten-Reiches bei, die nach der Niederwerfung des Aufstandes seines Sohnes Hermenegild (579-584) mit der Unterwerfung des Sueben-Reiches (585/586) nahezu vollendet war (Eingliederung der letzten byzantinischen Exklave um 625). Seine an oströmischen Vorbildern orientierte Neuordnung des Hofes und Hofzeremoniells (Zeremoniell) förderte die Konsolidierung im Innern ebenso wie die Beschränkung des Adels und eine auf den Ausgleich zwischen Goten und Romanen zielende Neuredaktion des Rechtes (vor allem Aufhebung des Connubiumverbotes).
Die Überwindung des Glaubensgegensatzes mittels einer Bekehrung der katholischen Mehrheit zu einem modifizierten Arianismus gelang hingegen nicht. Die auf dem III. Konzil von Toledo (589) feierlich vollzogene konfessionelle Einigung des Reiches im katholischen Glauben, die das von Leovigild begonnene Reformwerk krönte, war die historische Leistung Reccareds. Damit gelang die Integration der katholischen Kirche, die künftig neben dem Adel und dem Königtum die Entwicklung des Westgoten-Reiches entscheidend mitgestaltete und an der Wende zum Mittelalter eine letzte Blüte der spätantiken Kultur hervorbrachte (Leander, Isidor von Sevilla; Braulio von Zaragoza; Eugenius II., Julianus, Ildefons von Toledo).
Die von außenpolitischen Einflüssen im wesentlichen unbelastete Geschichte des Westgoten-Reiches im 7. Jh. war gekennzeichnet durch ein Fortschreiten der Verschmelzung des romanischen und gotiischen Bevölkerungsteiles und eine weitgehende Romanisierung der gotischen Minderheit (höchstens 5% der Gesamtbevölkerung). Spätestens mit dem von König Reccesvinth 654 erlassenen Liber Iudiciorum (Leges Visigothorum), der für alle Bewohner des Reiches galt, hatte sich das Territorialitätsprinzip gegenüber dem gentilen Denken durchgesetzt und Hispanoromanen und Westgoten zum ersten Staatsvolk einer im Werden begriffenen Nation (Natio) gemacht. Prägend war ferner eine zunehmende Feudalisierung, die die landbesitzenden Schichten (neben der Kirche die aus den großen romanischen und germanischen Familien bestehende weltliche Oberschicht, deren Angehörige zudem als Bischöfe, Mitglieder der Aula Regia, duces der Provinzen und comites der regionalen Amtssprengel die entscheidenden kirchlichen und weltlichen Ämter besetzten) auf Kosten des Königtums begünstigte, während sie zu einer Nivellierung der Masse der ländlichen Unterschichten führte. Wesentlich für die Entwicklung war ferner der Widerstreit zwiischen dem überkommenen Wahlrecht des Adels und dem Streben nach dynastischer Erbfolge seitens der Könige, der auch durch den Königswahlkanon (c. 75) des IV. Toletanum (633), der den Bischöfen die Teilnahme an der Königswahl gestattete, nicht überwunden wurde. Dennoch kam es unter dem Einfluß der Kirche, deren Charakter als Landeskirche durch den Aufstieg des Biischofs der Königsstadt Toledo zum Primas der westgotischen Kirche (Julianus von Toledo) sichtbaren Ausdruck gewann, zu einer Verchristlichung des Königtums (Beginn der Königssalbung; Salbung, II). Die gegenseitige Durchdringung der geistlichen und weltlichen Sphäre wurde besonders deutlich auf den vom König einberufenen Reichssynoden von Toledo (Toledo, C. Konzilien), die neben kirchlichen (unter Beteiligung der Mitglieder des officium palatinum) vor allem auch politische Angelegenheiten behandelten; ferner in der Einsetzung der Bischöfe durch den König einerseits und der Wahrnehmung administrativer, jurisdiktioneller und exekutiver Aufgaben durch die Kirche andererseits.
Aus diesem Verhältnis resultierte auch die Verstrickung der Kirche in die politischen Machtkämpfe. Ihm verdankt letztlich auch die Judenfrage ihre Entstehung, die eine Folge der von König Sisebut 615 verfügten, von der Kirche hingegen verworfenen Zwangsbekehrung war und diese mit dem Problem der Scheinchristen belastete, das die Ursache der für die Zeit ungewöhnlich umfangreichen und rigorosen, die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse belastenden antijüdische Gesetzgebung bildete.

c) Innere Krise und arabische Eroberung:

Seit der 2. Hälfte des 7. Jh. war die innenpolitische Lage belastet durch die bei den Thronwechseln erfolgten blutigen Säuberungen bzw. Kämpfe unter den Mitgliedern der verschiedenen Parteigruppierungen in Klerus und Adel (Chindasvinth, Reccesvinth, Wamba, Ervig, Egica, Witiza, Roderich). Diese dauerten auch angesichts der bereits vor der Jahrhundertwende erkennbaren, seit 709/710 aber unübersehbaren Bedrohung durch die bis an die Säulen des Herkules vorgetragene arabische Expansion an. Welche Bedeutung ihnen für die wohl nur multikausal erklärbare Niederlage der Westgoten am Guadalete (23. Juli 711) gegen die relativ kleine Streitmacht unter Tariq zukam, in der König Roderich sein Leben verlor, ist umstritten.
Die Eroberung des Westgoten-Reiches durch die Araber (al-Andalus) endete erst 725. Die Erinnerung an das unter den Westgoten geeinigte Spanien aber wurde im gallaecischen Nordwesten der Pyrenäenhalbinsel, wohin sich Teile der geschlagenen westgotischen Aristokratie geflüchtet hatten und der von den Arabern nie erobert wurde, bewahrt und zum Bestandteil des Selbstverständnisses der dort entstehenden Staaten der Reconquista (zum Bild der Westgoten/Goten in Historiographie und Geschichtsdenken Goticismus, Neogoticismus).

G. Kampers



Einer der beiden Hauptstämme der Goten. Das Reich der Westgoten in Südrußland (Dnestr) wurde beim Ansturm der Hunnen zerstört. 376 auf dem Balkan als Föderaten angesiedelt, wurden die Westgoten Träger eines gegen die Sklavenhalterordnung gerichteten Aufstandes (382 unterdrückt)). 395 erhoben sie sich unter Alarich I. erneut, zogen 401 nach Italien und eroberten nach anfänglichen Niederlagen 410 Rom, brachen aber nach Alarichs Tod den Zug nach Süden ab. Das 418 in Süd-Frankreich gegründete Westgoten-Reich mit der Hauptstadt Toulouse dehnte sich seit König Eurichnach Spanien aus und beschränkte sich nach Chlodwigs I. Sieg über die Westgoten (507) ausschließlich auf ganz Spanien. 711 zerfiel das Reich unter den Schlägen der Araber.
 
 
 
Alarich I. 395- 410
Athaulf  395- 410
Singerich     415
Wallia 415- 418
Theoderich I. 418- 451
Thorismund 451- 453
Theoderich II. 453- 466
Eurich 466- 484
Alarich II. 484- 507
Gesalech 507- 511
Amalarich 511- 531
Theudis 531- 548
Theudegisel 548- 549
Agila I.  549- 554
Athanagild 551- 567
Liuwa I. 568- 573
Leowigild 568- 586
Rekkared I. 586- 601
Liuwa II. 601- 603
Witterich 603- 610
Gundemar 610- 612
Sisebut 612- 621
Rekkared II.     621
Swintila 621- 631
Sisenand 631- 636
Chintila 636- 639
Tulga 639- 642
Chindaswinth 642- 653
Rekkeswinth 649- 672
Wamba 672- 680
Erwich 680- 687
Egika 687- 702
Witiza 702- 710
Roderich 710- 711
Agila II. 711- 714