SUEBEN
Lexikon des Mittelalters: Band VIII Spalte 285
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Sueben
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I. Archäologie:
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Dem aus den Schriftquellen wenigstens in groben Umrissen
erkennbaren ethnischen Komplex Sueben entspricht als archäologisches
Phänomen der elbgermanische Formenkreis, ohne daß völlige
Kongruenz vorausgesetzt werden kann. Die archäologischen Zeugnisse
dieser Fundgruppe finden sich von der holsteinischen und mecklenburgischen
Ostseeküste bis zur mittleren Donau im Bereich der March, vor allem
also im gesamten Flußgebiet der Elbe. Der elbgermanische Formenkreis
der römiischen Kaiserzeit ist aus der Jastorf-Kultur der vorrömischen
Eisenzeit hervorgegangen. Kennzeichnend sind spezifische Ausprägungen
der Keramik, zum Beispiel eine schwarzpolierte rädchenverzierte Feinware,
und von Trachtenbestandteilen, aber auch eigentüml. Bestattungssitten
(Urnenfriedhöfe). Nicht zuletzt im Licht ihrer archäologischen
Hinterlassenschaft stellen sich die Elbgermanen als ein ungemein dynamisches
Element der germanischen Welt dar. Beachtlich ist der Expansionsdrang,
den sie vor allem in der Frühphase entfalten. Von einem mutmaßlichen
Kern an unterer und mittlerer Elbe und im Havel-Spree-Gebiet dehnen sie
sich über Thüringen aus und dringen einerseits nach Böhmen,
andererseits ins obere Maingebiet vor. Es folgt ein Aufblühen der
elbgermanischen Fundprovinz im südlichen Mähren und in der Slowakei,
im Vorfeld der römischen Reichsgrenze an der Donau. In analoger Weise
besiedeln zahlenmäßig schwächere elbgermanische Gruppen
das Oberrheintal angesichts der römischen Rheingrenze. Anhand unterschiedlicher
Sachgüter kann der elbgermanische Formenkreis in verschiedene Regionalgruppen
unterteilt werden. Aufschlüsse hinsichtlich der Sozialstruktur der
Bevölkerung vermitteln reich ausgestattete und in ihrer Beisetzungsform
(Körperbestattung) vom Üblichen abweichende Gräber sowie
der regional verbreitete Brauch getrennter Männer- und Frauenfriedhöfe.
Bemerkenswert ist die Rezeption römischer Bauformen im Vorfeld der
Donaugrenze. Abwanderungsbewegungen des 3.-5. Jahrhunderts führen
zur Auflösung des elbgermanischen Formenkreises: Alamannen und Semnonen/Juthungen
ziehen nach Südwesten, die Langobarden zunächst nach Pannonien,
aus Markomannen und Quaden hervorgegangene Sueben nach Westen ebenso an
der Bildung der Bajuwaren beteiligte böhmische Gruppen. Elbgermanische
Traditionen führen im frühen Mittelalter vor allem Alamannen
und Langobarden außerhalb, nur Thüringer noch in einem Teil
des alten Siedlungsgebietes fort.
H. Ament
II. Geschichte:
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Die (zum Teil durch Spekulationen verunklarte) Frage
der Ursprünge der durch ihre archaische Haartracht ('Suebenknoten')
bekannten Sueben und ihre ältere Geschichte, die in Hinblick auf Siedlungsräume
(elbgermanischer Bereich: Ostseeraum, frühe Migrationen), soziale
und religiöse Verhältnisse durch archäologische Belege (Abschnitt
I) wie durch historisch und namenskundliche Zeugnisse (vgl. neben Hoops
2 VII, 107-115, auch die ausführlichen Hinweise zu Belegen antiker
Autoren in RE IVA, 564-579) beleuchtet wird, müssen hier außer
Betracht bleiben.
Ende 405 überschritten die Sueben (gemeinsam mit
Vandalen
und Alanen) den vereisten Rhein und fielen
nach Gallien ein (ihre Invasion wird durch Brandschichten und eilig vergrabene
Horte sowie einen Brief des heiligen Hieronymus belegt). Nach vierjährigen
Plünderungszügen durch die Gebiete der Hispania (Sklavenraub),
die, verbunden mit Epidemien und Hungersnöten, zum dramatischen Verfall
der einst blühenden städtischen und ländlichen Zivilisation
beitrugen (vgl. Hydatius), vollzog sich seit 409 ein Prozeß der festen
Ansiedlung im südwestlichen Bereich der Iberischen Halbinsel, besonders
in den Landschaften Lusitania (später Grafschaft/Königreich Portugal)
und Gallaecia (Galicien). 411 übernahmen die Sueben den Verwaltungssprengel
('conventus') von Braga durch Loswurf.
Das 'Barbarenreich' der Sueben wurde von Zeitgenossen
(Hydatius), aber auch von Historikern (L. Musset) lange negativ beurteilt,
bedarf aber als gewisser Stabilisierungsfaktor einer differenzierteren
Beurteilung. Die Errichtung der suebischen Herrschaft im Norden mit Astorga
und Lugo, Mérida (439), im Süden mit Sevilla (441) wurde begünstigt
durch den Abzug der hasdingischen Vandalen nach Süd-Spanien
('Andalusien') und schließlich Nord-Afrika sowie durch die Zerschlagung
der Reiche der Silingen und Alanen durch die aus Aquitanien
vorrückenden Westgoten. Die Schwäche
der letzten römischen Garnisonen erleichterte dem suebischen Königtum
den Aufbau einer relativ gefestigten Position: Der Begründer des
Reiches, Hermericus, trat 438 wegen
Krankheit ab; sein Sohn Rechila 'der
Eroberer' (438-448) dehnte den Machtbereich aus; Rechiarius
(448-456)
stieß bis in baskische Gebiete vor und
bedrohte Zaragoza. Die Sueben reorganisierten in gewissem Umfang das städtische
Leben (Braga, Portucale), unterbrachen den Aufbau der religiösen Institutionen
zumindest nicht, stellten wirtschaftliches Leben im Rahmen der alten kaiserlichen
'fisci' (Fiscus) wieder her, unterhielten Gesandtschaftsbeziehungen zu
den Westgoten in Aquitanien, den Vandalen in Nord-Afrika
und selbst zum byzantinischen Hof. Das Königtum verfügte über
einen Palast (Hof, mit großen Amtsträgern), einen Schatz (dessen
sich 568 die Westgoten bemächtigten) und Münzstätten,
in denen Tremisses und Siliquae geprägt wurden.
Die suebische Herrschaft wies trotz alledem fragile Züge
auf. Wegen der geringen Zahl von Germanen
(höchstens 30.000) war das Herrschaftsgebiet nur mühsam zu kontrollieren;
(in die Defensive gedrängte) suebische Gruppen verübten an der
zahlenmäßig überlegenen Vorbevölkerung schwere Übergriffe.
In Glaubensfragen zögerlich, gingen die Sueben vom Arianismus (Arius)
zu einem mit paganen Elementen vermischten katholischen Christentum über,
das Martin von Braga (um 515-580) in »De correctione rusticorum«
bekämpfen sollte.
Mit Vehemenz versuchten sich die Sueben der Übermacht
der Westgoten zu erwehren. Ab 455 eroberten diese unter Theoderich
II. (453-466) und Eurich
(466-484) große Teile der Hispania; die Sueben unterlagen
auf dem Campus Paramus bei Astorga (455), ihre Hauptstadt Braga fiel, König
Rechiarius
wurde ermordet (456), das Königreich geplündert und mit westgotischen
Garnisonen überzogen. Doch konnten die Invasoren keine dauerhafte
Oberhoheit errichten; die Sueben gewannen unter Ausnutzung einer Schwächung
der westgotischen Herrschaft (durch Teilungen) große Teile ihres
Machtbereichs zurück und errichteten (im Zuge eines Konkurrenzkampfes
verschiedener führender Geschlechter) eine zweite suebische Königsherrschaft,
die auf einen historisch schwer faßbaren Malchras
(456-460) zurückgeht. Wegen Abbruch der Chronik des
Hydatius (Tod des Autors, 470) und angesichts des summarischen Charakters
anderer Quellen (Isidor von Sevilla) sind wir über die Geschichte
des zweiten suebischen Königreiches von Braga schlecht unterrichtet;
es führte trotz bedeutender Herrscherpersönlichkeiten wie Chararich
(550-559) und Miro (572-582)
ein prekäres, in die Defensive gedrängtes Dasein und erlag
dem Angriff des Westgoten-Königs
Leovigild,
der für kurze Zeit den Arianismus wiedereinführte.
Die verheerenden Kriege zwischen Sueben und Westgoten,
die zu tiefer Anarchie führten (die zeitgenössischen Quellen
sprechen von »lacrimabile tempus« und »indisciplinata
perturbatio«, E. A. Thompson: »dark age«), haben doch
nicht die Grundlegung einer Kirchenorganisation gehindert (Gründung
des Klosterbistums San Martín de Dumio/Dume durch Martin von Braga;
Entstehung ländlicher Pfarreien, belegt durch ein exzeptionelles Dokument,
das »Parochiale« von 572); auch wurden wirtschaftliche und
intellektuelle Beziehungen zu Nord-Afrika, Palästina/Syrien und Byzanz
aufrechterhalten, und es haben einige Spuren frühchristlicher Architektur
im städtischen (Egitania, Kathedrale) und domanialen (Torre de Palma,
Kirche) Bereich überdauert, in geringem Umfang auch Objekte der materiellen
Kultur sowie germanische Toponyme.
J.-P. Leguay