Lexikon des Mittelalters: Band IV Spalte 1338
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Germanen (Germani, Germanot)
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Sammelbezeichnung ursprglich von keltischer Seite (Kelten)
für die benachbarten, bei aller sprachlicher und ethnischer Verwandtschaft
verschiedenen, Illyrern und Uritalikern nahestehenden Völkerschaften.
Die Herkunft des Namens ist ungeklärt; antike Quellen unterscheiden
nicht immer zwischen Germanen, Kelten und Skythen. Zur Centum-Gruppe der
indogermanischen Sprachfamilie gehörig, bildeten die Germanen im weitesten
Sinne eine sprachliche und kulturelle Einheit um Nord- und Ostsee; von
dort wanderten die Kimbern und andere Stämme schon früh aus.
Nach Festlegung der nordöstlichen Imperiumsgrenze seit Augustus
und
Einrichtung der Provinzen Germania superior und inferior unter Domitian
(Decumates agri) kam es infolge von Bevölkerungszunahme und
Klimaverschlechterung zu verstärkten Wanderbewegungen und Landnahme,
auch durch Stämme aus Skandinavien, und zu einer Bildung von schwer
gegeneinander abzugrenzenden Stammesverbänden im ostmitteleuropäischen
Raum. Eine Südostdrift (Goten,
Heruler)
brachte, nach Bastarnen und Skiren als Vorläufern, im
3. und 4. Jh. Germanen ans Schwarze Meer, nachdem schon unter Mark
Aurel die nördlichen Grenzgebiete des Imperiums erstmals
durch eine anhaltende Invasionswelle in Mitleidenschaft gezogen worden
waren (Markomannen, Quaden).
Fortdauernde und verstärkte Invasionen im 3. Jh. wirkten sich für
Rom als entscheidende Katastrophe aus (Alamannen,
Franken).
Für eine Gliederung der Germanen hilft zwar eine
mythische Einteilung in Ingwäonen, Istwäonen und
Hermionen
(Tac. Germ. 2, 3; Plin. nat. 4, 39) nicht weiter, doch scheint eine natürliche
Scheidung in
West-Germanen (Alamannen, Sueben,
Markomannen,
Franken),
Ost-Germanen (Vandalen,
Goten,
Heruler, Warnen,
Rugier, Burgunden,
Gepiden,
Langobarden),
Elb-, Nordsee- und Nord-Germanen (bei Tac.
40, bei Ptolemaios insgesamt 69 Namen) als Arbeitshypothese brauchbar.
Dabei stellt sich die Entwicklung in Osteuropa als eine ständige Vermischung,
Akkulturation und Aufsaugung besonders auch fremder Elemente (Daker,
Karpen,
Sarmaten, Alanen,
Slaven) dar.
Hier wie aber auch im kleinräumigen Westen verschwanden
die frühen Stämme, Stammes- und Kultverbände im Verlauf
von Bewegungen wie Landnahme, Agglomeration, Integration, Desintegration,
politische Neubildungen und deren Zerfall und veränderten sich auch
bestehende soziale Strukturen (Häuptlinge, Gefolgschaft, principes;
Problematik eines frühen Adels), obwohl die spätere historische
wie mythologische Selbstdeutung (Jordanes) die Kontinuität betonte.
Die neuere Forschung (Wenskus) hebt die Bedeutung von namengebenden Traditionskernen
für die ethnische Genese und Kontinuität hervor. Nach einer Gesetzmäßigkeit
von Wanderbewegungen und nicht ohne römische Förderung befestigten
sich monarchische Strukturen (König) mit neuen Oberschichten, jedoch
nahm in allen politischen Neubildungen das versammelte wehrhafte Volk an
den politischen Entscheidungen Anteil. Den Sklavenstand (Sklaven) kannten
die Germanen nur in rudimentärer Form. In antiken Zeugnissen erscheinende
'nobiles' und 'ingenui' können nicht ohne weiteres im
Sinn späterer Schichtung (Adel - Freie) interpretiert werden. Überlieferte
Volks- und Heereszahlen scheinen durchweg übertrieben.
Die Religion der Germanen war, wie alle ihre Kultur-
und Lebensformen, anfangs vorwiegend von keltischen Einflüssen bestimmt:
Göttervorstellung (Odin-Mercurius, Donar-Herakles), Feste, Riten von
zum Teil großer Grausamkeit, Magie- und Orakelwesen, Matronenkult,
Priester und Priesterinnen, Kultverbände mit politischem Einfluß
sowie Heilsvorstellungen, die sich besonders auf den Herrscher bezogen.
Deutlich sind, wohl auf der Grundlage einer Naturreligion, pantheistische
Züge. Am Rande des Imperiums setzte im 3. Jh. christliche Missionierung
(Mission) ein, die im 4. und 5. Jh., vorwiegend wohl unter gotischer Vermittlung,
zur Übernahme des arianischen Glaubens führte (Arius,
Ulfilas); die Annahme des katholischen Bekenntnisses durch die Franken
gilt weitgehend als Politikum (Chlodwig).
Die antike Überlieferung stellt die Germanen im
wesentlichen nach dem Schema ihres Barbarenbildes (Barbaren) dar. Anhand
der Zeugnisse von Kunst und Zivilisation lassen sich im Groben die räumliche
Ausdehnung der Germanen und ihre Anpassung an regionale Umstände sowie
die unterschiedlich sich entwickelnden Kultur- und Lebensbedingungen erschließen,
ebenso die Kampfesweise mit allmählicher Entwicklung eines Reiterkriegertums.
Nachweisbare Handelsverbindungen mit den römischen Provinzen förderten
unter Anhebung des Zivilisationsstandes (Geldwirtschaft) die Tendenz zum
Aufgehen im Imperium und wohl auch die Neigung zu den erwähnten Invasionen.
In diesen Kontext gehört der von den römischen Kaisern seit dem
4. Jh. geförderte Aufstieg von Germanen im römischen Heer (Arbogast,
Bauto,
Ricimer,
Stilicho).
Die ursprgliche Lebensweise war die bäuerlich-viehzüchterische
mit dörflicher Siedlung, gentilgesellschaftlicher Grundstruktur, gemeinschaftlichem
Bodenbesitz und ungeregelter Feldgraswirtschaft; dem entsprechen die Rechtsvorstellungen.
Eine Oberschicht entwickelte sich durch die Möglichkeit der Besitzakkumulation.
Offenbar gab es zwischen den einzelnen Stämmen bedeutende sachliche
und zeitliche Unterschiede bei der Herausbildung ständischer Abstufung
(Adel).
Nach Stabilisierung der Lage ab Ende des 3. Jh. führte
die Zerstörung der ost- und westgotiischen Staatsgebilde nach 376
in Südost-Europa zu einer sich ausbreitenden neuen Wanderbewegung
(Hunnen), die mit einer neuen intensiven
Durchmischung im folgenden Jh. die Westhälfte des Imperiums in germ.
Hand brachte (Völkerwanderung) und besonders den Großteil der
Ost-Germanen nach Gallien bzw. Spanien (Burgunden, Westgoten,
Sueben) und Afrika (Vandalen) verlagerte, in deren bisherige
Gebiete neue germanische Zuwanderer (Heruler,
Rugier, Langobarden)
oder Fremde (Bulgaren, Slaven,
Avaren)
einströmten. Zugleich mit der Anfang des 6. Jh. abgeschlossenen fränkischen
Landnahme in Gallien begann mit einer nordgermanischen (Sachsen,
Angeln, Angelsachsen) Invasion in England ein Germanisierungsprozeß.
Die germanischen Stammesbewegungen endten mit der langobardischen Landnahme
ab 569 in Italien. Seit dem 4. Jh. in größerem Ausmaß
auf römischem Reichsboden in Gallien angesiedelte Germanen hatten
wohl den Status von Laeten, doch neigt vor allem die archäologische
Forschung dazu, in ihnen bereits Föderaten zu sehen. Eindeutig sind
germanische gentes (Goten, Franken) im Verlauf der ab 376
beginnenden Entwicklung als föderierte Kampfverbände innerhalb
des Imperiums angesiedelt worden. Dies sowie dann die Verbindung endgültig
etablierter Germanen mit vorhandenen verwandten (Bayern)
oder romanisierten Substraten (Leges) führte zur staatlichen Entwicklung
des Mittelalters.
G. Wirth
Westgermanen
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- Triboker (Elsaß, Pfalz)
- Nemeter (Speyer)
- Wangionen (Worms)
- Ubier (Köln)
- Kuguerner (Xanten)
- Bataver (Rheinmündung)
- Mattiaker (Wiesbaden)
- Usipier (zwischen Lahn und Sieg)
- Tenkterer (zwischen Sieg und Lippe)
- Brukterer und Marser (zwischen Lippe
und Ruhr)
- Friesen (westliche Nordseeküste)
- Chauken (Küste zwischen Ems
und Elbe)
- Sachsen (Holstein)
- Angeln (Schleswig)
- Langobarden (Lüneburg)
- Cherusker (nördliches Harzgebiet)
- Chatten (Hessen)
- Angrivarier (Wesergebiet)
- Hermunduren (Thüringen und
Sachsen)
- Markomannen (Böhmen)
- Quaden (Mähren)
Ostgermanen
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- Goten (untere Weichsel)
- Burgunder (Posen, nördliches
Schlesien)
- Rugier (Pommern)
- Lugier (südliches Schlesien)
- Bastarner (Karpatengebiet)
Nordgermanen
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- Suionen (Schweden um den Mälarsee)
- Gauten (Gotland)
- Dänen (Smaland)
- Heruler (Schonen)
- Norweger (Südnorwegen)
Kämpfe der Germanen untereinander führten zu
ständiger Auflösung und Neubildung von Stämmen und Stammesverbänden.
Seit 200 u.Z. stießen vor allem die Alemannen und Franken
in die Grenzgebiete des Römischen Reiches vor. Bis zur Mitte des 3.
Jahrhunderts konnten die Römer die Rheingrenze halten. Das Zentrum
der Handelsbeziehungen zwischen Römern und Germanen wurde Köln.
Im 4./5. Jahrhundert unterhöhlten und vernichteten schließlich
Germanenstämme den Westen des Römischen Reiches. Alemannen
besetzten Helvetien, Westgoten und Sueben Spanien, Burgunder
das
Rhonegebiet, Ostgoten Italien, Wandalen Afrika. Wenn auch
unter Justinian I. die Wandalen
(534) und Ostgoten (552) vorübergehend zurückgedrängt
werden konnten, entstanden auf dem Territorium Westroms Germanenstaaten
(unter anderem um 500 das weit nach Westen greifende MEROWINGER-Reich
am Mittelrhein, 568 das Langobarden-Reich in Italien). Die historische
Bedeutung der Germanen, die sich in den ersten Jahrhunderten u.Z. im Stadium
der Auflösung der Urgesellschaft befanden, besteht darin, dass sie
anfangs ihre Unabhängigkeit gegenüber Rom verteidigten und entscheidend
an der Vernichtung des römischen Imperiums beteiligt waren sowie etwa
von 500 an den damals progressiven Feudalverhältnissen in Europa zum
Sieg verhalfen.