CANTERBURY


Lexikon des Mittelalters:
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Canterbury
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I. Stadt:
C
anterbury (römischer Name Durovernum Cantiacorum, altenglisch Cantwaraburh), Hauptstadt des angelsächsischen Königreiches und der späteren Grafschaft Kent, seit dem Früh-Mittelater kirchliches Zentrum von England (neben York), liegt an der Durchbruchstelle des Flusses Stour durch den Höhenzug der North Downs. - Canterbury war in der Römerzeit der Ausgangspunkt aller Straßen durch das östliche Kent und seit der Mitte des 1. Jh. n. Chr. Hauptstadt der Cantiaci.
Im späteren 3. Jh. wurde die Stadt mit Mauern und Toren befestigt, und das bedeutendste öffentliche Bauwerk, das Theater, wurde im selben Jahrhundert neuerrichtet und faßte 7.000 Besucher; es wurde im späten 11. Jh. als Steinbruch benutzt und dadurch abgetragen. Das Auftreten des Christentums ist erstmals für das späte 4. Jh. durch einen Silberschatzfund bezeugt. Ob C
anterbury jedoch schon in spätrömischer Zeit Bischofssitz war, ist unbekannt.
Im 5. und 6. Jh. erlebte C
anterbury einen wirtschaftlichen Zusammenbruch; das römische Straßennetz verfiel vollständig, und die Besiedlung durch heidnische Angelsachsen scheint nur gering gewesen zu sein, da wir nur vier angelsächsische Bestattungen kennen. Eine Neubelebung erfolgte jedoch unter den Angelsachsen im späten 6. Jh., aus dieser Periode sind zahlreiche Grubenhäuser ausgegraben worden.
Æthelberht, König von Kent und Bretwalda (Oberherr) der angelsächsischen Könige, machte C
anterbury zur metropolis seines imperium (Beda, Hist. Eccl. I, 26). Im Jahre 597 verlieh der König dem von Papst Gregor dem Großen entsandten Missionar Augustinus (Augustine) eine Kirche und eine Bischofsresidenz, damit wurde Canterbury zum ersten englischen Bischofs- und Metropolitansitz. Einige Jahre später wurde das Kloster St. Peter und Paul, die spätere Abtei St. Augustine's, gegründet; diese Abteikirche extra muros diente auch als königliche und erzbischöfliche Grabkirche. Die Einrichtung von Kathedrale und Klöster trug zum wirtschaftlichen Wiederaufstieg von Canterbury bei: Im 7. und 8. Jh. war Canterbury die erste und bis zum späten 9. Jh. immer noch die bedeutendste englische Münzstätte für die Prägung von englischen Gold- und Silbergeld. Wohl im frühen Mittelaler wurden die wichtigsten Straßenzüge der Stadt angelegt; ihre Brennpunkte lagen oberhalb der Kathedrale und des römischen Theaters.
Im 8. und 9. Jh. errichteten kentische Adlige Höfe in C
anterbury und seinem Umkreis. Schon im 9. Jh. entwickelte sich in Teilen der Stadt eine dichte Bebauung; die Bürger wurden in zwei Gemeinden, welche die innerhalb der Mauern (innan burhwara) und außerhalb der Mauern (utan burhwara) Wohnenden umfaßten, konstituiert; es bildete sich auch in Canterbury die älteste cnihtenagild. Im 9. Jh. spendeten Adlige Almosen, die zur Speisung der beachtlichen Zahl von 2.000 pauperes verwandt wurden; diese Armen waren in einer Gemeinschaft, die mycle gemettan ('viele Gäste') genannt wurde, zusammengefaßt. Canterbury erlitt Zerstörungen durch die Brandkatastrophen, die ca. 620, 756, 1067 und 1174 ausbrachen, und durch skandinavische Einfälle in den Jahren 851 und 1011, blieb aber bedeutendste Münzstätte und führender Marktort von Kent: ein Markt wird bereits 762 und ein Viehmarkt 923 erwähnt; weitere Märkte sind im 12. und 13. Jh. belegt. Ein reeve (gerefa, praefectus) für Canterbury ist erstmals 780 bezeugt. Seit dem späten 11. Jh. (und wahrschlich schon erheblich früher) stand dieser Amtsträger der Kaufmannsgilde vor, ihm oblag die Erhebung der Abgaben und Zölle sowie der Bußen des städtischen Gerichts (boroughmoot). Dem reeve standen bei seinen städtischen Verwaltungsaufgaben eine kleine Anzahl großer Herren (lords) und eine Körperschaft von Notabeln, die sogenannten »guten Leute« (boni homines), zur Seite.
1066 war C
anterbury eine der ersten Städte, die von Wilhelm dem Eroberer nach seinem Sieg bei Hastings besetzt wurde. Die normannische Herrschaft hatte eine ausgedehnte Bautätigkeit zur Folge. Eine einfache Motte, welche die Normannen zunächst in der Stadt errichtet hatten, wurde um 1100 durch eine steinerne Burg mit wuchtigem rechteckigen Donjon (keep) ersetzt. Die Kathedrale und das Kl. St. Augustine's wurden neuerrichtet, bis 1200 erbaute man auch ein Augustiner-Priorat, ein Nonnen-Kloster und 22 Pfarrkirchen, ferner sechs Hospitäler für Alte und Pilger, drei Leprosorien und 14 Mühlen. Im frühen 13. Jh. entstanden Dominikaner- und Franziskaner-Klöster innerhalb der Stadt. Im 14. Jh. erfolgte der Wiederaufbau von Mauern und Toren.
Seit 1156 bürgerte es sich ein, daß zwei reeves, auch provosts (prepositi) genannt, zu gleicher Zeit amtierten; seit ca. 1200 wurden die bailiffs (bailiff) von C
anterbury normalerweise auf ein Jahr gewählt. Ein mayor (maior, maire, 'Bürgermeister') ist 1216 für kurze Zeit nachweisbar, doch bestand dieses Amt kontinuierlich erst ab 1448. Das älteste Stadtprivileg wurde Canterbury im Jahre 1155 von König Heinrich II. erteilt; es bestätigte den Bürgern und ihrer Gemeinde (boroughmoot) rechtliche und verfassungsmäßige Privilegien (borough). Eine weitere königliche Urkunde von 1234 gewährte den Bürgern die freie Wahl der bailiffs gegen Zahlung einer Abgabe (farm) von £ 60. Um die Mitte des 12. Jh. wurde die Stadt hinsichtlich der niederen Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt in sechs als wards (berthae) bezeichnete Viertel unterteilt; diese wurden nach den Stadttoren benannt und von aldermen (Elterleuten), denen wiederum bedels ('Büttel') unterstanden, verwaltet. 1448 erlangte Canterbury durch königlichen Privileg einen Stadtrat, der von der Gemeinde gewählt wurde; seine Amtsführung wurde aber vom mayor und den aldermen kontrolliert.
Die Topographie des mittelalterlichen C
anterbury wurde teils durch die römischen Befestigungen geprägt, die auch während des Mittelalters ihre Verteidigungsfunktion behielten und ein Areal von 53 ha einschlossen, und teils durch diejenigen römischen Tore, die in Gebrauch blieben. Doch unterscheidet sich das mittelalterliche Straßennetz völlig von der römischen Straßenführung. Innerhalb der Mauern beherrschte die Kathedrale mit ihrem Immunitätsbezirk das mittelalterliche Stadtbild, dieser Kathedralbezirk nahm während des 15. Jh. den größten Teil des nordöstlichen Viertels der Stadt ein. Das westliche Drittel der Stadt war seit einer Überschwemmung des Stour für eine Bebauung ungeeignet. Ausgedehnte Suburbien hatten sich bereits während des 11. Jh. extra muros entlang der großen Straßen außerhalb der Stadt entwickelt. Die östlichen Suburbien unterstanden der Benediktiner-Abtei St. Augustine's, die ihre Immunität während des Mittelalters vergrößerte. Innerhalb der Mauern entstanden auf den unbebauten Flächen im Westen, die als Wiese und Weidegebiet dienten, im 13. Jh. die Klöster der Franziskaner und Dominikaner. Das Domesday Book gibt für 1066 451 Bürger und 187 Häuser (domus, mansurae) an, was eine Schätzung der Stadtbevölkerung auf ca. 3.000 Personen (ohne die Mönche und Armen in der Stadt) nahelegt. Die Liste der Poll Tax von 1377 verzeichnet 2.574 'Köpfe' in Canterbury; dies läßt auf eine Einwohnerzahl von ca. 6.000-8.000 zu diesem Zeitpunkt schließen.

II. Kirche, Bistum und Metropole
[1] Geschichte:
Das Erzbistum C
anterbury verdankt seine Entstehung einem »Zufall« der Geschichte. Papst Gregor der Große hatte den hl. Augustinus
(Augustine) beauftragt, Metropolitansitze in London und York zu gründen. Doch es war das Königreich Kent, in dem Augustinus seine Missionsarbeit im Jahre 597 begann, und hier wurde nach der Taufe König Æthelberhts das erste Bistum des angelsächsischen England errichtet. Nach Augustinus' Tod hatten vier seiner Gefährten aus Rom nacheinander die Bischofswürde inne:
Laurentius (Laurence; 619), Mellitus ( 624), Justus ( 627) und Honorius ( 653).
Sie bauten C
anterbury, soweit ihnen dies möglich war, zu einem »neuen Rom« aus. Eine Kirche aus der Römerzeit wurde zur Kathedrale erhoben und, in Nachahmung der Lateran-Basilika, dem Heiland geweiht (Christ Church), das Kloster St. Peter und Paul wurde extra muros errichtet und diente auch als Grablege, entsprechend dem berühmten römischen Kloster St. Paul vor den Mauern. Die Bindung an Rom wurde durch die päpstliche Verleihung des Palliums als Zeichen der Metropolitangewalt an Augustinus und seine Nachfolger verstärkt. Doch wurde die tatsächliche Ausübung dieser Gewalt durch die politische Schwäche des Königreiches Kent behindert.
604 wurde allerdings ein zweites kentisches Bistum in Rochester begründet. Doch bestanden die Suffragan-Bistümer von C
anterbury, London (604-616) und York (627-633), zunächst zu kurze Zeit, als daß durch sie Fortschritte bei der Verwirklichung des Planes Gregors des Großen hätten erzielt werden können; in den anderen Gebieten Englands spielte Canterbury keine Rolle bei der Christianisierung und Begründung des kirchlichen Lebens (vgl. auch Aidan, Lindisfarne). Als die nordhumbrische Kirche mit der Synode von Whitby (664) die keltische Gebräuche zugunsten des Anschlusses an die römische Praxis aufgab, lag der Erzbischof von Canterbury, Deusdedit (655-664), gerade im Sterben; schon deshalb war es für die Kirche von Canterbury unmöglich, die Entscheidung von Whitby zur Geltendmachung der kirchlichen Rechte von Canterbury zu nutzen.
Eine neue Phase intensiver religiös-kirchlicher Aktivität wurde eingeleitet, als Papst Vitalian im Jahre 668 Theodorus von Tarsus als Erzbischof nach C
anterbury entsandte. Die Lehrtätigkeit des Theodorus und seines Gefährten Hadrian, des Abtes von St. Peter und Paul, ließ Canterbury zum größten geistigen Zentrum des nördlichen Europa werden und war grundlegend für die Bildung einer Generation englischer Gelehrter und Geistlicher. Theodorus begründete eine effektive Diözesanorganisation, die alle angelsächsische Königreiche erfaßte; bei seinem Tod im Jahre 690 bestanden 14 englische Bistümer, welche Canterbury als ihre Metropolie anerkannten. Neben anderen Initiativen des Theodorus ist besonders die Abhaltung von Synoden der gesamten englischen Kirche (Hertford, Hatfield) bemerkenswert; diese Tradition wurde auch von Theodorus' Nachfolgern weitergeführt, bis zur Erlangung eigener Metropolitanrechte durch York (735). Seit dieser Zeit wurden die Provinzial-Synoden von Canterbury nur von den Geistlichen der Königreiche und Diözesen, die südlich des Humber lagen, besucht.
In der 2. Hälfte des 8. Jh. konfrontierte das Bestreben des Königs Offa von  Mercien (757-796), das Königreich Kent zu unterwerfen und seine Dynastie durch eine Königsweihe zu stärken, die Kirche von C
anterbury mit einem gefährlichen Gegenspieler.
Erzbischof Jænberht (762-792), der eng mit der einheimischen Dynastie von Kent verbunden war, mußte die Teilung seiner Kirchen-Provinz hinnehmen:
die nördlichen (anglikanischen) Bistümer wurden dem neugeschaffenen Erzbistum Lichfield untertellt (787). Offa zog auch die großen Besitzungen ein, welche seine Konkurrenten, die Könige von Kent, an C
anterbury tradiert hatten, und er behandelte die kentischen Monasterien (minster) wie Eigenkirchen. Zwar wurde Lichfield bald wieder zu einem bloßen Bistum degradiert und die Jurisdiktion der Kirchenprovinz von Canterbury über alle Bistümer südlich des Humber durch König Cenwulf von Mercien (796-821) und Erzbischof Æthelheard wiederhergestellt (päpstliche Bestätigung durch Leo III. 803); die Auseinandersetzungen um die Klöster in Kent gingen aber weiter.
Erzbischof Wulfred (805-832), einer der größten Reformer auf dem Erzbischofssitz von C
anterbury, führte bei der Synode von Chelsea (816) einen entscheidenden Vorstoß gegen die Beherrschung der Klöster durch Laien. Anscheinend gelang es Wulfred 825, eine Kontrolle über die Ländereien der kentischen Abteien sowie auch Einfluß auf die Abtswahlen zu gewinnen; dies blieb aber praktisch wirkungslos, da Kent 825/827 von den westsächsischen Königen Egbert und Æthelwulf erobert wurde und bald darauf die verheerenden Wikinger-Angriffe einsetzten.
Erzbischof Ceolnoth (833-870) erreichte im Klosterstreit 839 einen Kompromiß: Die westsächsischen Könige sollten als weltliche Herren, die Erzbischöfe als geistliche Herren der kentischen Abteien fungieren. Währenddessen vollzog sich ein Verfall des kirchlichen Lebens: Danach ist für mehr als zwei Jahrhunderte keine Provinzial-Synode von C
anterbury mehr belegt; die Urkunden aus Canterbury, die sich aus dem 9. Jh. erhalten haben, dokumentieren einen raschen Niedergang von Bildung und Schriftkultur.
Ein gewisser Aufschwung erfolgte vielleicht während des Episkopates des mercischen Gelehrten Plegmund, den König Alfred der Große 890 zum Erzbischof einsetzen ließ. Deutliche Konturen eines geistlichen Neuanfangs zeichnen sich aber erst unter dem hl. Oda (942-958) ab; er ließ die Kathedrale wiederherstellen und Reliquien des hl. Wilfrith nach C
anterbury transferieren. Weiterhin redigierte Oda aus englischen Konzilsakten eine Collectio in 10 Kapiteln, die christliche Verhaltensregeln und Fragen der Disziplin behandelt; er erneuerte das Bistum von Ost-Anglien und unternahm erste Versuche einer monastischen Reform. Der hl. Dunstan (959-988) wurde dann zum führenden Vorkämpfer der monastischen Reform im angelsächsisches England (Benediktiner, -innen), die König Edgar initiiert hatte; doch nur sehr allmählich wurden, nach dem Vorbild von Winchester und Worcester, Mönche in der Kathedrale von Canterbury eingesetzt; unter Ælfric (995-1006) begann die Verehrung der hl. Dunstan und Oda in Canterbury. Ein weiterer Kult bildete sich um den Erzbischof Ælfheah, der 1012 von den Dänen grausam getötet worden war; sein Leichnam wurde 1023 nach Canterbury transferiert.
Die Episkopate der beiden letzten Erzbischöfe vor der normannischen Eroberung spiegeln die zunehmende politische Krise des angelsächsischen England wider:
Robert von Jumièges (1051-1052) war ein Normanne, den König Eduard der Bekenner berufen hatte, um der Thronfolge Wilhelms I., Herzogs der Normandie, den Weg zu ebnen. Robert wurde 1052, als Earl Godwin die Macht wiedergewonnen hatte, vertrieben und an seiner Stelle der »Pluralist« Stigand eingesetzt, der sogar das Pallium von Papst Benedikt X. empfing. Zwar war Stigand keineswegs der erste englische Bischof, der mehrere Pfründen innehatte, und fast alle seine Vorgänger im 10. und 11. Jh., selbst der hl. Dunstan, waren von anderen Bischofssitzen nach C
anterbury versetzt worden, doch erregte erst im Zeitalter der Kirchenreform die Einsetzung einer derartigen Persönlichkeit größtes Aufsehen, und das Reform-Papsttum verurteilte Stigands Erhebung. Daher wandten sich die Elekten im südlichen England wegen ihrer Weihe nun an die Erzbischöfe von York, und sowohl König Harald als auch, nach der Eroberung, König Wilhelm I. waren auf eine Krönung durch den Erzbischof von York bedacht. Angesichts dieses Prestigeverfalls erwies sich eine erneute Anerkennung der Metropolitanrechte von Canterbury als äußerst notwendig.
Der große Theologe und Rechtsgelehrte Lanfranc, der 1070-1089 als erster Erzbischof der normannischen Epoche regierte, bemühte sich daher von Anfang an, die Ansprüche seiner Kirche mit Hilfe des frühen kanonischen Rechts zu erneuern und auszudehnen. Er nötigte Thomas I., Erzbischof von York, im Jahre 1072 zu einer Gehorsamsbezeugung; ebenso erreichte er die Suprematie über die Bistümer Worcester, Lichfield und Lindsey (Lincoln), deren Zugehörigkeit zur Provinz C
anterbury umstritten war. Doch gelang es Lanfranc nicht, eine ständige Anerkennung seines Primats über das gesamte Britannien zu erreichen; in den folgenden 50 Jahren entbrannte bei jeder Erzbischofsweihe von neuem der Streit zwischen York und Canterbury. Die Ansprüche von Canterbury wurden durch eine Reihe von Fälschungen von Papst-Urkunden untermauert, die dem Hl. Stuhl vorgelegt wurden, welcher diese Urkunden aber 1123 verwarf.
Dennoch erhob Papst Honorius II. den Erzbischof Wilhelm von Corbeil im Jahre 1127 zum päpstlichen Vikar und Legaten für England und Schottland; eine vergleichbare Würde (allerdings nur für England) wurde Erzbischof Theobald im Jahre 1154 sowie den meisten seiner Nachfolger verliehen. C
anterburys Suprematie über York war folglich von jeweiliger päpstlicher Verleihung abhängig, doch wurden die Erzbischöfe von Canterbury seit dem 13. Jh. als legati nati (Legat) des Hl. Stuhles betrachtet, ihre Autorität verlor erst an Geltung, als im 15. Jh. Kardinal Heinrich Beaufort, Bischof von Winchester, zum Legaten a latere ernannt wurde.
Lanfranc erneuerte die Tradition der Abhaltung von Konzilien, welche allerdings mit den Versammlungen des königlichen Rates anläßlich der großen kirchlichen Feiertage in Verbindung standen; dadurch vereinigten sie alle englischen Bischöfe; sie waren wohl nicht allzu verschieden von den Versammlungen der angelsächsischen Zeit, welche die altenglischen Kirchengesetze erließen. Die Konzile unter den großen Erzbischöfen Lanfranc, Anselm (1093-1106) und Theobald (1139-1161) hatten ein tiefgreifendes kirchliches Reformwerk zum Ziel; auf ihnen vollzog sich der Übergang zum Studium und zur Anwendung des kanonischen Rechtes. Im 13. Jh. gab das 4. Laterankonzil der konziliaren Bewegung neuen Auftrieb: Eine bedeutende erzbischöfliche Gesetzgebung erfolgte im 13. und 14. Jh.; die wichtigsten Konstitutionen erließen folgende Erzbischöfe: Stefan Langton in Oxford (1222), Bonifatius von Savoyen in Merton (1258) und Lambeth (1261) sowie John Pecham in Reading (1279) und Lambeth (1281); hinzutraten die Beschlüsse der Legaten-Synoden von 1237 und 1268 sowie diejenigen der Konzile des 14. Jh., so der Rechtsbeschluß der von John Stratford 1341 abgehaltenen Kirchenversammlung. Diese kirchliche Gesetzgebung wurde im »Provinciale«, das von Erzbischof William Lyndwood im 15. Jh. redigiert wurde, zusammengefaßt und systematisiert. Es bildete ein umfangreiches Gesetzbuch, das die wesentlichen kirchlichen und liturgischen Bereiche wie Disziplin des Klerus, Spendung der Sakramente, Ausbildung der Priester usw. detailliert regelte. Aus den erhalten gebliebenen Registern der spätmittelalterlichen Erzbischöfe, insbesondere dem Register von Henry Chichele (1414-1443), geht hervor, wie sorgsam sich diese Prälaten nicht nur um die Belange ihrer Diözese, sondern auch um die Fragen der gesamten Kirchen-Provinz bemühten.
Die normannischen Könige brachten die Auffassung, daß die kirchlichen Güter (und eben auch diejenigen der Kirche von C
anterbury) dem König als oberstem Lehnsherren unterstünden (sogenante »Norman customs«), nach England mit. Dieser königliche Macht- und Besitzanspruch kollidierte zwangsläufig mit den Ideen der Gregorianischen Reform; ebenso führte die rasche Ausprägung der beiden konkurrierenden »Rechtssysteme«, des kanonischen Rechtes und des Common Law, zu Auseinandersetzungen zwischen kirchlicher und königlicher Jurisdiktion. Doch resultierten die heftigen Kämpfe zwischen Canterbury und dem englischen Königtum häufig auch ganz wesentlich aus der persönlichen Unnachgiebigkeit der Kontrahenten; vergleichsweise unbedeutende Streitigkeiten um Landbesitz oder Privilegien der Kirche von Canterbury konnten sich dabei oft zu schwersten Konflikten entwickeln. Vier Erzbischöfe gingen im Verlauf solcher Kämpfe ins Exil (hl. Anselm, hl. Thomas Becket, der schließlich ermordet wurde, Stephen Langton und hl. Edmund Rich). Die Mönche von Canterbury folgten Langton 1207-1213 an seinen Exilort, dem Kloster St-Bertin im französischen Flandern. Ein späterer Erzbischof, Thomas Arundel, der an der Seite anderer geistlicher und weltlicher Großer gegen König Richard II. kämpfte, wurde abgesetzt und mit dem Titel eines Bischofs von St. Andrews abgefunden; erst nach dem Sieg Heinrichs (IV.) im Jahre 1399 konnte er sein Erzbistum wieder in Besitz nehmen. Die Erzbischöfe, welche - wie Lanfranc - diejenigen Rechte, die tatsächlich oder vorgeblich der Kirche von Canterbury zustanden, verteidigten oder wiedererlangten, erfreuten sich höchsten Ansehens in der Tradition der Kirche von Canterbury.

[2] Die Metropolitanansprüche Canterburys außerhalb Britanniens:
Englische Missions-Tätigkeiten in Norwegen und Schweden, besonders unter König Olaf Haroldson (1019-1028), und in Dänemark unter König Knud dem Großen (1019-1035) sind wohl von C
anterbury gefördert worden. Gesichert ist, daß Bischof Gerbrand von Roskilde von Erzbischof Æthelnoth um 1020 geweiht wurde, und von einigen anderen skandinavischen Bischöfen ist bekannt, daß sie in England um diese Zeit geweiht wurden. Die norwegischen und dänischen Könige waren offenbar interessiert, die deutsche Dominanz, die sich aus den metropolitanen Ansprüchen des Erzbistums Hamburg-Bremen ergab, zurückzudrängen. Aber Knud der Große folgte bald den Protesten Erzbischof Unwans von Hamburg-Bremen, der eine Neubelebung der Bremer Skandinavien-Mission einleitete, und Canterbury verzichtete auf jeglichen Anspruch auf die metropolitane Oberhoheit über die skandinavischen Kirchen. Vgl. auch Mission.

[3] Bedeutende Erzbischöfe:
Herkunft und kirchlich-geistige Prägung der Persönlichkeiten, die als Erzbischöfe von C
anterbury wirkten, unterlagen mehreren Wandlungen:
Lanfranc und seine Nachfolger, Anselm und Theobald, waren vor ihrer Inthronisierung Mönche oder Äbte in dem großen normannischen Kloster Le Bec; Ralf d'Escures (1114-1122) war ehemaliger Abt von Sées; Wilhelm von Corbeil Regular-Kanoniker.
Die Erzbischöfe der angevinischen Zeit zeichneten sich vor allem durch Fähigkeiten und Erfahrungen als Administratoren, Diplomaten und Staatsmänner aus. Becket war zunächst Archidiakon von C
anterbury und dann Kanzler Heinrichs II. (1154-1162); Erzbischof(Hubert Walter (1193-1205) bekleidete die hohen Ämter des Justitiars (1193-1198) und Kanzlers (1199-1205).
Ein lang andauernder Konflikt entspann sich im späten 12. Jh., unter dem Episkopat Erzbischof Balduins, zwischen den Erzbischöfen und den Benediktinern von Christ Church; Hauptgegenstand des Streites war der Versuch des Erzbischofs von C
anterbury, ein Kanonikerstift zu begründen, welches die bis dahin von Christ Church ausgeübten Rechte eines Kapitels übernehmen sollte. Im 13. Jh. waren die Erzbischöfe, mit Ausnahme des dem savoyischen Fürsten-Haus entstammenden Bonifatius von Savoyen (1245-1270), nicht von adliger Herkunft, sie waren in der Regel angesehene Gelehrte, die ihr Studium entweder ausschließlich in Paris (Stephen Langton) oder aber in Oxford und Paris (hl. Edmund, Robert Kilwardby, John Pecham, Robert Winchelsey) absolviert hatten. Ihre Einsetzung resultierte aus der päpstlichen Politik, königliche Amtsträger vom Erzstuhl fernzuhalten. Im 14. und 15. Jh., als der Einfluß der Kurie in England nachließ, erhielten jedoch (mit Ausnahme des kurzzeitig gegen königlichen Widerstand eingesetzten Gelehrten Thomas Bradwardine, 1349) zumeist königliche Beamte oder Juristen die erzbischöfliche Würde, mit der sie für treuen Königsdienst belohnt wurden.
Drei der spätmittelalterliche Erzbischöfe (William Courtenay, 1381-1386; Thomas Arundel und Thomas Bourchier, 1454-1486) waren jedoch Aristokraten; ihre Erhebung spiegelte die teilweise baroniale Kontrolle über die königliche Ämterpatronage wider. Schließlich trugen im späten 15. Jh. drei aufeinanderfolgende Erzbischöfe den Kardinalshut (John Kemp, Thomas Bourchier und John Morton), ein Zeichen für die zunehmende Hinwendung der Erzbischöfe von C
anterbury zur kurialen Politik.

[4] Kathedrale, Kirchen, Pfarrorganisation:
Nachdem die angelsächsische Kathedrale 1067 durch eine Feuersbrunst zerstört worden war, ließ Lanfranc zwischen 1070 und 1077 eine neue Kathedrale erbauen und auch die Klostergebäude neuerrichten. Dieser frühromanische Baubestand wurde im frühen 12. Jh. durch einen neuen Chor, Querschiffe, Apsis und einen Kapellenkranz erweitert. Ein weiterer Brand zerstörte im Jahre 1174 einen Großteil dieser Bauten. Der zwischen 1175 und 1184 von dem Architekten Wilhelm von Sens und seinem englischen Schüler, bekannt als William the Englishman, errichtete Chor war das erste bedeutende gotische Bauwerk in England (vgl. auch Gotik, Kathedrale). Die Kirche war das Ziel vieler Wallfahrten zum hl. Thomas (vgl. Canterbury-Wallfahrt). Kirchenschiff, Querschiff und Vierungsturm wurden im späten 14. und frühen 15. Jh. im sogenannten Perpendikularstil der englischen Gotik neuerrichtet. - Die Gemeinschaft von Christ Church umfaßte ca. 100 Mönche unter Lanfrancs Episkopat, sie wuchs im 12. Jh. bis auf ca. 150 Mönche an, um im 13.-15. Jh. wieder auf eine Zahl von 70-80 abzusinken.
Die mittelalterliche Diözese C
anterbury umfaßte die östliche Hälfte der Grafschaft Kent und bildete ein einziges Archidiakonat. Die Grenze zur Diözese Rochester verlief von der Mündung des Medway über das Gebiet östlich von Rochester und südlich bis westlich von Maidstone und zur Grenze gegen Sussex, das die Diözese Chichester bildete. Zentren der im 8. und 9. Jh. organisierten Seelsorge waren acht »minster«-Kirchen. Im späten 11. Jh. bestanden zwölf Hauptpfarrkirchen, die ihrer Funktion nach den kontinentalen »Taufkirchen« entsprachen; ihnen unterstanden mindestens 130 Filialkirchen. Zur Zeit der »Taxatio« des Zehntregisters von 1291 existierten 243 Pfarrkirchen, die in elf Landdekanate gegliedert waren. Außerhalb der Diözese übte der Erzbischof Jurisdiktion über eine Reihe von »peculiares« aus, externe Besitztümer und erzbischöfliche Residenzen, die von der örtlichen Diözesangewalt ausgenommen waren.
N.P. Brooks

III. Bibliotheken:
Sowohl Christ Church wie St. Augustine's besaßen besonders reiche Bibliotheken, deren Blütezeit vom Anfang des 11. bis zur Mitte des 14. Jh. reicht. Zur Zeit der Aufhebung (1538-1539) betrug die gesamte Handschriften-Zahl noch mehr als 3.000. Von Christ Church sind unter anderem eine fragmentarische Bücherliste von etwa 1170 (mit mehr als 220 Bänden Schultexten, darunter zahlreiche klassische Autoren), ein Katalog aus dem Anfang des 14. Jh. (1.850 Bände, großenteils nach Stiftern geordnet), eine Liste fehlender Bücher (1337) und eine Liste ausgebesserter Bücher (1505) vorhanden. Viele Handschriften wurden im 14. Jh. an das Oxforder Studienhaus des Priorats übertragen. Die Bibliothek bekam ein eigenes Gebäude in der ersten Hälfte des 15. Jh. Über den Bestand in St. Augustine's unterrichtet der ausgezeichnete Katalog von etwa 1497 (verzeichnet, obwohl er unvollständig ist, etwa 1.830 Bände). Zahllose Bücher wurden, besonders im 13. und 14. Jh., von Äbten, Mönchen und Freunden der Abtei verschenkt. Skriptorium und Buchmalereiwerkstatt beider Kirchen haben im 11. und 12. Jh. Hervorragendes geleistet (Evangelienbuch des Eadui Basan, um 1020; Canterbury Psalter, um 1015-1025; Eadwine Psalter, um 1147; Tripartite Psalter, um 1190).
A. Derolez