NORMANNEN
Lexikon des Mittelalters:
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Normannen
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Die Bezeichnung Normannen (»Nordleute«, im Mittelalter als
»Männer des Nordwindes« gedeutet) wird entweder
allgemein
für die Skandinavier gebraucht, die vom 8. bis 11. Jh. fremde
Länder heimsuchten (Wikinger) und sich teilweise dort
niederließen, oder - wie hier - für die Dänen und
Norweger, die in dieser Zeit nach West- und Süd-Europa
übergriffen. Als Motive für den Aufbruch der zunächst
noch heidnischen Normannen
werden Abenteuerlust, Unzufriedenheit mit den heimischen
Verhältnissen und Überbevölkerung genannt. Die Bewegung
setzte mit der Plünderung von Lindisfarne 793 ein. Im 9. Jh.
waren die normannischen Scharen eine Geißel für Britannien, Irland
und das Franken-Reich. Die Räuber fuhren mit ihren wendigen
Schiffen weit in die Flüsse hinein. So bedeutende Orte wie
Canterbury, York, Paris,
Chartres, Tours und Hamburg wurden
angegriffen. Allmählich gingen die Normannen
dazu über, nicht mehr
nach Hause zurückzukehren, sondern sich in Stützpunkten (zum
Beispiel in Friesland und an der Loire-Mündung) festzusetzen, von
wo aus
sie auch Handel treiben konnten. König
Alfred der Große
beschränkte von
den 70-er Jahren an die in England
eingedrungenen Dänen auf den
Nordosten
(Danelaw). Unter dem Druck der Angelsachsen setzte das sogenannte
»Große Heer« 878 zum Kontinent über, verbreitete
dort 13 Jahre lang Schrecken und erpreßte Tributzahlungen (KARL
[III.] DER DICKE). Doch auch der
Widerstand der Franken verstärkte
sich (Saucourt, Löwen). Nach 900 zeigten die Normannen
im West-Fränkischen Reich
eine Tendenz zur Seßhaftigkeit. König
Karl III. der Einfältige
schloß 911 mit einem ihrer
Anführer, Rollo,
ein Abkommen.
Dieser wurde Christ und erhielt ein Gebiet an der Seine-Mündung
als
Lehen. Er sollte das Land mit seinen Gefolgsleuten verteidigen, die
sich als Kolonisten niederließen, ebenfalls das Christentum und
bald auch die französische Sprache annahmen. Aus diesen
Anfängen ist das
Herzogtum Normandie
erwachsen. Für
Frankreich ging die Zeit der
Normannen-Einfälle zu
Ende. In England setzten nach einer
ruhigeren Phase
die normannischen Angriffe Ende des 10. Jh. verstärkt wieder
ein. Sie
wurden nunmehr von Königen durchgeführt. 1016 machte sich Knut der
Große von Dänemark zum Herrn über England.
Später gewann er
Norwegen hinzu und richtete für kurze Zeit ein
»Nordsee-Imperium« auf. Von Norwegen aus war schon im
10. Jh. die Besiedlung Islands eingeleitet worden.
In der Normandie erlangten die Nachfahren
Rollos bis zum Anfang des
11. Jh. eine starke fürstliche Position. Um und nach 1030
banden sie
ihren Adel in ein Lehnssystem ein, doch ertrug diese Schicht
Beschränkungen ihrer Herrschaft nur widerwillig und rebellierte
mehrfach gegen die Herzogsgewalt. Spätestens um 1015/16 erschienen
Krieger (zunächst Pilger?) aus der Normandie in Süd-Italien,
wo sie in den Dienst langobardischer Fürsten traten und gegen
Sarazenen und
Byzantiner kämpften. 1038 belehnte Kaiser KONRAD
II. den normannischen
Anführer Rainulf mit
der Grafschaft Aversa. Es
folgten
weitere
Herrschaftsbildungen in rascher Folge durch die Söhne Tankreds von
Hauteville, von denen genannt seien:
Wilhelm Eisenarm, der Graf von
Apulien wurde,
Drogo,
den Kaiser HEINRICH III.
als Herrn von Apulien und
Kalabrien anerkannte,
Robert Guiskard, der
für diese
Länder
in ein Lehnsverhältnis zur Kurie trat, und
Roger I., der
das arabische
Sizilien eroberte.
Dessen Sohn
Roger II.
faßte schließlich
die normannischen Herrschaften des Südens zusammen und erlangte
1130 die
Königswürde (Sizilien). Er stand einem »modernen«
Staat
vor, der über ein effektives Beamtentum verfügte und
westlich-lateinischen, griechischen und arabischen Traditionen
vereinigte. Die Normannen
führten
Unter-Italien/Sizilien an Zentral-Europa heran. Gleichzeitig suchten
sie
ins östliche Mittelmeer auszugreifen und forderten dadurch Byzanz
heraus
(zu den einzelnen Vorgängen Hauteville, Antiochia).
Herzog Wilhelm II. von der Normandie
eroberte 1066 England und zwang die
Angelsachsen unter eine strenge Königsherrschaft, die auf dem
normannischen
Feudalsystem gründete (Schlacht von Hastings,
England A. V, VI).
Das Inselreich wurde aus seinen skandinavischen Bindungen gelöst
und eng
mit dem Kontinent sowie der französischen Kultur verbunden.
Später griffen
die Anglo-Normannen auch auf Wales,
Schottland und Irland über. Die
normannischen »Staatengründer« wußten
Kriegskunst, List,
Beharrungskraft und Anpassungsvermögen zielorientiert einzusetzen.
Zudem entwickelten sie ein Bewußtsein unbedingter
Rechtmäßigkeit ihres Handelns, ja sogar göttliche
Sendung.
Indem sie neuartige Strukturen schufen, vermittelten sie der Politik
des Abendlandes zukunftweisende Anregungen. Ihre Reiche in Süd und
Nord brachten bedeutende Leistungen in Kunst, Architektur und
Geschichtsschreibung hervor. Bis zum 12./13. Jahrhundert sind die
Normannen fast überall in der Bevölkerung der eroberten
Länder aufgegangen.
K. Schnith