CANTERBURY-WALLFAHRT


Lexikon des Mittelalters:
********************

Canterbury-Wallfahrt
---------------------------
Thomas Becket wurde sofort nach seiner Ermordung (am 29. Dezember 1170), zu welcher der englische König Heinrich II. durch unbedachte Worte Anlaß geboten haben soll, zum Märtyrer erklärt und am 21. Februar 1173 von Papst Alexander III. kanonisiert. Von diesem Zeitpunkt an erhielt der Märtyrer einen posthumen Ruhm, der noch zunahm, nachdem im Jahre 1220 seine sterblichen Überreste in einem kostbaren Schrein erhoben wurden.
Der Ursprung der Wallfahrt zum hl. Thomas war eine Volksbewegung. Ausgehend von Canterbury und von den Grafschaften von Sussex, Gloucester und Berkshire (zwischen dem 31. Dezember 1170 und dem 4. Januar 1171), erfaßte sie bald ganz England und erreichte über Frankreich den Kontinent. Noch vor dem Ende des 12. Jh. ist eine schnelle geographische Verbreitung der C
anterbury-Wallfahrt festzustellen: Sie reichte im Norden bis zum Grenzbereich nach Schottland und nahm nach Skandinavien hin ab; im Süden war sie in einem Umkreis von 700 km verbreitet (die Städte Bergerac und Le Puy erreichend) und gelangte schließlich bis ins normannische Sizilien und ins Hl. Land. Die Verbreitung der Canterbury-Wallfahrt ging quer durch Deutschland und erreichte auch die slavischen Gebiete, soweit diese zur westlichen Christenheit gehörten.
Über die Wunder in Canterbury sind wir durch die Aufzeichnungen der beiden Mönche des Kathedral-Klosters, Benedikt von Peterborough und Wilhelm von Canterbury, unterrichtet, welche die Wallfahrer betreuten und Tag für Tag deren Aussagen aufzeichneten. Danach traten die Wunder plötzlich auf, sei es nach Inkubation auf dem Grab in der Krypta, sei es nach Kontakt mit den Ampullen, die Blutstropfen des Märtyrers enthielten. Die Sammlungen der Miracula ermöglichen die statistische Erfassung der Krankheiten und der sozialen Herkunft der am Wunder Teilhaftigen: eine Anzahl kleiner Leute, die zu Fuß anreisten; Behinderte, die auf einem Wagen transportiert wurden; daneben aber auch Adlige, Geistliche, Ritter, »officiales regis«, wie jener Eudes (Odo), Mitglied des Echiquier de Normandie, der als erster Pilger aus dem Königreich Frankreich eines Wunders teilhaftig wurde. Doch so zahlreich die überlieferten Wunder auch sind, die Geheilten stellten unter den Wallfahrern eine Minderheit dar. Die Chronisten haben die Namen der berühmtesten Wallfahrer festgehalten: Heinrich II. (nach der Aussöhnung von Avranches, 27. September 1172), Ludwig VII. und Lothar von Segni, der spätere Papst Innozenz III.
Die Translation der Reliquien, die Alexander III. angeordnet hatte, mußte vor allem wegen des Rechtsstreites zwischen Erzbischof Balduin und dem Kathedralkapitel von Christ Church längere Zeit verschoben werden. Sie erfolgte erst durch Erzbischof Stephen Langton am 7. Juli 1220, 50 Jahre nach dem Martyrium. Aus Anlaß der Translation gewährte er einen Jubiläumsablaß. Als Exeget der Hl. Schrift legte Stephen Langton in seinen Homilien die atlantische Vorstellung vom »Jubeljahr« und ihre Entsprechung im Stand der Gnade, dem Ablaß, dar. Dem ersten Jubiläumsablaß von 1220 folgten in Canterbury die Jubeljahre 1270,1320, und 1370, die durch die beiden Benediktiner-Gemeinschaften von Canterbury, Christ Church und St. Augustine's, zelebriert wurden. Der vollkommene Jubiläumsablaß wurde explizit erstmals 1370 erwähnt, ein Zeichen für die Verbreitung des Ablasses und der Beliebtheit der C
anterbury-Wallfahrt, wovon auch die am Ende des 14. Jh. verfaßten »Canterbury Tales« von Geoffrey Chaucer, Hauptwerk der spätmittelalterlichen englischen Literatur, zeugen. Besonders erwähnenswert ist das 5. Jubeljahr, 1420, in dem der Zustrom der Wallfahrer so groß war, daß der Priester viermal seine Predigt über das Thema »Annus jubileus est« wiederholen mußte. 1470 fand anläßlich des 6. Jubeljahres, das mit großer Feierlichkeit von Kardinal Thomas Bourchier zelebriert wurde, die offizielle Bestätigung einer authentischen Ablaßbewilligung statt. Im 15. Jh. war die Canterbury-Wallfahrt eine der bedeutendsten der Christenheit.
Die Stationen der Wallfahrer in der Kathedrale waren: der Christus geweihte Hauptaltar, die Marienaltäre in der Krypta und im Seitenschiff, das Grab des hl. Thomas (seit der Translation ein bloßer Gedenkaltar), der Ort des Martyriums im nördlichen Arm des westlichen Seitenschiffs, die Kapelle der hl. Trinität in der Apsis der nach 1174 neuerrichteten Kathedrale, wo sich der reichgeschmückte Schrein des Märtyrers befand und schließlich die »corona«, eine kreisförmige Kapelle, in der das vom Schwert des Mörders abgeschlagene Schädelstück verehrt wurde. Den Schrein hüteten eigens ernannte Kustoden.
Das tägliche und das für Festtage bestimmte Zeremoniell wurden durch ein Ritual geregelt, das im »Coutumier« der Kustoden John Vyel und Edmund Kingston aufgezeichnet ist (1428).
Große Verehrung genoß der hl. Thomas bei den Königen Heinrich III. und Eduard I. sowie beim Schwarzen Prinzen; auch die LANCASTER-Könige Heinrich IV. und Heinrich V. pilgerten zum Schrein des Märtyrers, der nun als Patron Englands galt.
Ebenso zählten Heinrich VI. und Margarete von Anjou sowie der Dichter Charles d'Orléans zu den Canterbury-Wallfahrern.
1520 verehrte König Heinrich VIII. den hl. Thomas gemeinsam mit seinem hohen Gast, KARL V., während Erasmus von Rotterdam gleichzeitig bereits die Auswüchse dieses Kultes angriff. Nach dem Bruch mit Rom und im Zuge der gegen die Klöster und die katholische Kirche gerichteten Kampagnen (1536-1540) ließ König Heinrich VIII. jedoch 1538 den Schrein zerstören, die Überreste des Heiligen zerstreuen und seinen Namen für ewige Zeiten aus dem Martyrologium (das im Königreich England galt) tilgen.
R. Foreville