WINCHESTER


Lexikon des Mittelalters:
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Winchester
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Stadt im südlichen England (Grafschaft Hampshire), am Itchen gelegen; Bistum.
[1] Stadt:
Das römische Venta Belgarum umschloß im 3. Jh. n. Chr. mit seiner Steinmauer ein Gebiet von 58,2 ha. Zwischen ca. 450 und dem späten 7. Jh. gibt es keine erkennbaren Spuren städtischen Lebens in W
inchester. Während der 60-er Jahre des 7. Jh. wurde es Bischofssitz des Königreiches Wessex. Seit dieser Zeit wuchs die Besiedlung innerhalb der römischen Mauern langsam wieder an und blieb bis zur Mitte des 9. Jh. spärlich, als die zunehmenden Wikinger-Überfälle auf Hamwih (Southampton) Winchester zu einem gefragten Zufluchtsort machten, obwohl es ebenfalls angegriffen wurde. Seit den 90-er Jahren des 9. Jh. wurde die Stadt völlig umgestaltet, offensichtlich infolge einer gezielten Politik Alfreds des Großen und dann seines Sohnes Eduard des Älteren. Ein neuer Straßenplan, der sich vom römischen unterschied, wurde innerhalb der Mauern um 904 angelegt. Winchester gehörte zu den Befestigungen, die in der Burghal Hidage aufgeführt wurden, und es diente wohl auch als Modell für dieses Verzeichnis. Alfred beabsichtigte, zwei größere königliche Kirchen als Konkurrenzgründungen zur Kathedrale einzurichten, eine Gründung für Männer (New Minster) und eine für Frauen (Nunnaminster). Doch wurde dieses Vorhaben erst unter Eduard dem Älteren verwirklicht. Seit der Regierung Alfreds des Großen bis zum späten 11. Jh. war Winchester tatsächlich die Hauptstadt von Wessex und seit der Mitte des 10. Jh. von England: Obwohl es sich um ein Reise-Königtum handelte, blieb Winchester der für die königliche Repräsentation am meisten bevorzugte Ort. Der früheste Hinweis auf einen königlichen Palast begegnet im späten 10. Jh., aber wahrscheinlich existierte er bereits früher. Obwohl Eduard der Bekenner einen anderen königlichen Baukomplex in Westminster errichtete und damit das Ansehen der Stadt London erhöhte, die auf jeden Fall größer als Winchester war, blieb die symbolische Bedeutung Winchesters so erheblich, daß Wilhelm der Eroberer 1066 rasch diesen Ort unter seine Kontrolle brachte. Er errichtete dort eine Burg, die bis zum späten 12. Jh. der Sitz der königlichen Schatzkammer und der früheste bekannte Aufbewahrungsort des Domesday Book war, in dem merkwürdigerweise Winchester selbst ausgelassen blieb, vielleicht weil es bereits unter Eduard dem Bekenner erfaßt worden war. Seit dem frühen 12. Jh. nahm das königliche Interesse an der Stadt allmählich ab. Als der königliche Palast 1141 niederbrannte, wurde er nicht wieder aufgebaut. Trotzdem wuchs der Wohlstand von Winchester im 12. Jh., wie es zwei Erhebungen (1102-1115 und 1148) beweisen, die eine Bevölkerung von 8.000 Einwohner oder mehr nahelegen. Seit den 90-er Jahren des 11. Jh. wurde ein größerer Jahrmarkt (St. Giles' Fair) direkt außerhalb der Stadt abgehalten. Die meisten der 57 Pfarrkirchen in Winchester wurden vor 1150 gegründet. Außerdem gab es mehrere Gildehäuser, die in den Erhebungen aufgeführt werden. Handwerkergilden für Weber und Walker traten zuerst in den 60-er Jahren des 12. Jh. in Erscheinung, wurden aber von der Kaufmannsgilde daran gehindert, Einfluß auszuüben. Diese bestand seit den 50-er Jahren des 12. Jh. und ermöglichte den wohlhabenderen Einwohnern politische Aktivitäten. Die Stadt erhielt Freiheits-Urkunden (Charters of Liberties) von Heinrich II. und einigen späteren Königen, und 1208 übertrug Johann Ohneland die Stadt an die Bürger zur Pacht. Seit dem 13. Jh. lag die Stadtregierung in den Händen einer Gruppe von 24 führenden Bürgern, die weitgehend mit der Kaufmannsgilde übereinstimmte. Diese Bürger wählten den Bürgermeister (mayor), der zuerst 1200 erscheint, und setzten die Bestimmungen für Handwerk und Handel fest. 1283 entsandte Winchester zwei borough-Vertreter und seit 1295 regelmäßig Vertreter ins Parliament. Die Bevölkerung nahm im 14. Jh. infolge der Pest ab, aber vielleicht etwas weniger als in vergleichbaren Städten. Nach einer Erhebung von 1417 scheint die Stadt ca. 6.000 Einwohner gezählt zu haben. Am Beginn des 16. Jh. war Winchester noch immer ein wichtiges regionales Zentrum.

[2] Bistum:
Nach Beda Venerabilis (Hist. Eccl. III, 7) war König Cenwalh von Wessex der unzureichenden altenglischen Sprachkenntnisse des fränkischen Bischofs Agilbert von Dorchester überdrüssig und unterteilte dessen Bischofssitz in zwei Diözesen, indem er um 661 ein neues Bistum in W
inchester schuf. Aber diese Gründung ist doch wohl eher auf den politischen Druck zurückzuführen, der sowohl von der mercischen Intervention im Themse-Tal zwischen 650-660 als auch von der Expansion von Wessex südwärts in das jütische Gebiet ausging. Dorchester konnte als Diözese nicht bestehen, und Winchester blieb der einzige Bischofssitz, der für Wessex bis ca. 705 zuständig war, als das Bistum Sherborne gegründet wurde, um die westliche Hälfte des Königreiches abzudecken. Eine weitere Teilung wurde 909/910 vollzogen, als der Bischofssitz von Winchester die Hälfte seines Gebiets an die neue Gründung von Ramsbury verlor und nur Hampshire und Surrey behielt. Etwa in dieser Zeit erhöhten die Bischöfe von Winchester ihre Einnahmen durch die Übernahme einiger kleiner Land-Klöster.
Vom 9. bis zum frühen 10. Jh. wurden die Beziehungen zwischen den Bischöfen von W
inchester. und den Königen von Wessex angespannt. Auch die Unterstützung Bischof Swithuns für König Æthelwulfs Rückkehr zur Macht 856 auf Kosten seines Sohnes Æthelbald konnte an diesem Zustand nichts ändern, ebensowenig Alfreds des Großen Entscheidung, Winchester in eine königliche Stadt umzuwandeln. Das New Minster, die neue königliche Gründung, wurde fast neben dem Old Minster (der Kathedrale) errichtet. In der Mitte des 10. Jh. hatte sich die politische Situation gewandelt, besonders als Edgar schließlich 963 einen seiner loyalsten Unterstützer, Æthelwold, zum Bischof ernannte. Innerhalb eines Jahres setzte Æthelwold Mönche sowohl im Old Minster als auch im New Minster ein. Er versuchte verstärkt, teilweise durch die Fälschung von Urkunden, Ländereien des Bistums wiederzugewinnen, die an Laien übertragen worden waren. 1066 war Winchester einer der beiden reichsten englischen Bischofssitze. In der späten angelsächsischen Zeit waren die Bischöfe üblicherweise Mönche, aber von Eduard dem Bekenner wurde diese Gewohnheit unterbrochen, als er 1043 Stigand ernannte und dann ihm seit 1052 erlaubte, sowohl Winchester als auch Canterbury zu behalten. Diese Ämterhäufung überschattete das Ansehen der Diözese zur Zeit der normannischen Eroberung. Schließlich wurde Stigand 1070 auf dem Konzil von Winchester durch Walkelin, der vorher Kanoniker an der Kathedrale von Rouen war, ersetzt. Seit diesem Zeitpunkt war der Bischofssitz von Winchester, einer der lukrativsten Posten der königlichen Patronage, fast ausnahmslos im Besitz der am meisten favorisierten Beamten des Königs oder gelegentlich der königlichen Verwandten wie Heinrich von Blois (1129-1171) und Kardinal Heinrich Beaufort (1404-1447). Viele dieser Bischöfe waren sehr fähige Amtsinhaber, besonders Heinrich von Blois, ein bedeutender Kunstmäzen, der den Wolvesey Palast für die Bischöfe von Winchester umbauen ließ und das Hospital of St. Cross (1136) gründete. Zwei der späteren mittelalterlichen Bischöfe, William of Wykeham (1367-1404) und William Wayneflete (1447-1486), rühmten sich selbst als Gründer von Schulen und Kollegien. Der erstere gründete 1387 das Winchester College, um armen Geistlichen die Ausbildung zu ermöglichen, die anschließend weiterführende Studien an der dazugehörigen Gründung des New College in Oxford fortsetzen konnten. Den umfangreichen Bau des Winchester. College wollte Heinrich Beaufort mit dem Umbau des Hospital of St. Cross um 1445 noch übertreffen.

[3] Kathedrale:
Die Kathedrale (Old Minster), zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Bestehens St. Petrus und Paulus, der Trinität und St. Swithun geweiht oder in anderen Zusammensetzungen diesen Heiligen, war ursprünglich im späten 7. Jh. errichtet worden. Seit der frühesten Zeit diente an der Kathedrale der Weltklerus, der jedoch 964 von Bischof Æthelwold gewaltsam vertrieben und durch Mönche ersetzt wurde. Æthelwold begann, das Old Minster zu vergrößern, dessen Ausdehnung in den 60-er Jahren des 10. Jh. durch das angrenzende New Minster behindert wurde. Er dehnte das Old Minster westwärts aus unter Einbeziehung des Grabes von Swithun. Ihm ist auch die Translation der Reliquien Swithuns 971 zu verdanken, die die Kathedrale mit einem Heiligenkult ausstattete und seine Schüler anspornte, Viten und liturgische Werke zu seiner Verbreitung zu verfassen. 980 wurde ein Westwerk angefügt, vielleicht um dem König einen erhöhten Thron innerhalb der Kirche zu verschaffen. Weitere Anbauten am Ostteil wurden in dem Æthelwolds Tod folgenden Jahrzehnt (984-994) gemacht und standen mit dessen eigener Verehrung in Zusammenhang. Zur Förderung dieses Kultes verfaßte Wulfstan der Cantor (Wulfstan von W
inchester) seine Æthelwold-Vita. Æthelwold machte Winchester zum bedeutendsten Zentrum der Lateinstudien, altenglische Übersetzungen, Handschriftenproduktion und der Buchmalerei in England (vgl. Abschnitt 4), und er förderte besonders die Verbreitung monastischer Texte. Bei seiner Weihe 1070 behielt Walkelin die monastische Gemeinschaft in Winchester bei, aber er entschloß sich, das äußere Bild der Kathedrale zu verändern. Das Ergebnis seiner Bautätigkeit war eine der längsten Kirchen im Europa des 12. Jh. 1093 war der neue Ostteil vollendet, die Reliquien Swithuns wurden in die neue Kathedrale überführt. Die alte Kathedrale riß man ab. Noch mehr Platz wurde mit dem Abriß des New Minster um 1110 geschaffen, die Mönche wurden außerhalb der Stadt in Hyde angesiedelt. Das romanische Erscheinungsbild der Kathedrale Walkelins zeigt sich noch in der Krypta und im Querschiff, aber die übrige Kirche wurde im Perpendicular-Stil von William of Wykeham in zwei Bauvorhaben um 1371 und 1394 umgebaut. Am Ostende der Kirche wurde Walkelins Apsis im frühen 13. Jh. ostwärts mit einem Retrochor und einer Lady Chapel erweitert.
J. Barrow

[4] Skriptorium/Buchmalerei:
Die nach den Zerstörungen der Dänen-Einfälle des 9. Jh. in Süd-England unter König Æthelstan (925-939) einsetzende angelsächsische Buchmalerei scheint zunächst in W
inchester konzentriert gewesen zu sein: Auf die stilistisch noch isolierten Illustrationen des Æthelstan-Psalters folgen als schulbildende Hauptwerke das Chartular von New Minster (nach 966) und das Æthelwold-Benedictionale (963-984), Handschriften mit prachtvollen Illustrationen in Vollmalerei, die den »Winchester-Stil« voll entwickelt zeigen:
Von Handschriften der Hofschule
KARLS DES GROSSEN beeinflußte Figuren mit überreichem, stark bewegtem Rüschenfaltenwerk, sowie aus dem Akanthusblatt der karolingischen Metzer Schule entwickeltes, typisches »Winchesterornament« mit ausladenden, lappig um die Rahmenleisten greifenden und Rosetten bildenden Blättern. Die von Bischof Æthelwold betriebene Klosterreform und seine Förderung der Buchkunst trugen entscheidend zur Verbreitung dieses »Winchester-Stils« in weiteren Skriptorien Süd-Englands bei, wo er vornehmlich in Federzeichnung umgesetzt vorkommt. Seit dem späten 10. Jh. artikulieren sich zunehmend weitere Zentren der angelsächsischen Buchmalerei, vor allem Canterbury, das den »Winchester-Stil« unter dem Einfluß des damals dorthin verbrachten karolingischen Utrecht-Psalters umwandelt und der Buchmalerei eine neue Ausrichtung gibt. Die häufig praktizierte Verwendung des Begriffs »Winchester-Stil« für die gesamte angelsächsische Buchmalerei auch des 11. Jh. ist daher problematisch und irreführend. Selbst bedeutende, in Winchester entstandene Handschriften dieser Zeit, die nun oft mit kolorierten Federzeichnungen illustriert sind, entziehen sich nicht diesen neuen Tendenzen mit zunächst duftig-illusionistischen Bildern, wie zum Beispiel im Psalter in London, BL Harley 2904 (spätes 10. Jh.) und im Liber Vitae von New Minster (1031), später mit im Umriß verhärteten, aber immer noch höchst lebendigen Kompositionen mit stark gelängten Figuren, wie im sogenannten Tiberius-Psalter (um 1050). Der mit der normannischen Eroberung 1066 vollzogene abrupte Abbruch der Tradtion ist im Psalter London, BL Arundel 60, evident. Erst um die Mitte des 12. Jh. setzt unter Bischof Heinrich von Blois eine neue Blüte der Buchmalerei in Winchester ein, die nun vermutlich von professionellen Malern geschaffene Spitzenwerke wie den Winchester-Psalter (London, BL Cotton Nero C. IV) und die beiden Winchester-Bibeln (Oxford, BL Auct E. inf. 1-2 und Winchester, Kathedralbibl.) hervorbringt. Das »Winchester-Ornament« angelsächsischer Herkunft hingegen hält sich durchgehend, im Prinzip kaum verändert, nur zunehmend ausgedünnt und verhärtet, in der gesamten englischen Buchmalerei und Skulptur bis tief ins 12. Jh.
U. Nilgen