Lexikon des Mittelalters: Band I Spalte 263
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Alamannen, Alemannen
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Ein vermutlich Ende des 2. Jahrhunderts nach Christus
gebildeter germanischer Stamm, der sich aus Heer- und Wanderhaufen verschiedener
Herkunft, großenteils aber aus elbgermanischen Sueben
zusammensetzte. Die Angliederung von Verbänden an die Alemannen, deren
Name die Offenheit des Stammes ausdrückt, ist an der Geschichte der
noch um 270 selbständigen Juthungen und der Bucinobantes
zu beobachten, die beide Mitte des 4. Jahrhunderts als Teile der Alemannen
galten. Die Stammesbildung wurde offenkundig durch die Auseinandersetzung
mit den Römern motiviert. Vom unteren Main aus versuchten die Alemannen
ab 233/34, in das Dekumatenland einzudringen. 259/60 gelang ihnen der Durchbruch
durch den Limes und der Vorstoß über die Alpen. In der Folgezeit
nahmen die Römer die Verteidigungsgrenze auf die Linie Rhein, Bodensee,
Iller, Lech zurück. So stand den Alemannen das Dekumatenland weitgehend
ungehindert als Siedlungsraum zur Verfügung, während die Römer
sie aus dem Elsaß zu verdrängen versuchten (Sieg Julians
bei Argentorate/Straßburg 357). Auch die Neubefestigung der Rheingrenze
unter Valentinian diente diesem Ziel.
Ende 5. Jahrhundert suchten die Alemannen ihren Siedlungsraum noch
einmal zu erweitern, indem sie erneut in das Elsaß und durch die
Burgische Pforte nach Südwesten vorstießen. Hier wurden sie
allerdings vom aufstrebenden Burgunderreich zurückgeschlagen. Im Osten
reichte die alemannische Expansion bis in die Gegend von Batava (Passau)
und ins Noricum; östlich der Iller siedelten die Alamannen jedoch
nur zögernd; auch südlich des Hochrheins stießen sie nur
vorübergehend vor und haben hier nicht vor dem 2. Drittel des 6. Jahrhunderts
kontinuierlich gesiedelt.
Bis Mitte 5. Jahrhundert fehlte den Alemannen ein zentrierendes
Königtum. Die lockere politische Gliederung des Stammes ist an der
Existenz von Teilstämmen (Brisigavi, Raetobarii) und an der Wirksamkeit
von vielen, öfters miteinander verwandten Kleinkönigen ablesbar;
diese sind aus der alemannischen Oberschicht durch ihre politisch-militärische
Funktion herausgehoben. Im Rahmen der alemannischen Expansion zweiten Hälfte
5. Jahrhundert, die im Nordwesten zur Auseinandersetzung mit den Franken
führte, hat sich aber offenkundig ein zentrales Königtum gebildet.
Wohl 496/97 besiegte
Chlodwig
(bei
Zülpich?) den ungenannten König der Alemannen und unterwarf hierdurch
den Stamm der fränkischen Herrschaft. Ein Aufstand des alamannischen
Adels vor 506 wurde niedergeschlagen. Bis zu ihrer Übergabe an die
Franken standen Teile des alemannischen Stammes unter ostgotischem
Schutz und siedelten im alpenländischen Rätien.
Zur Festigung ihrer Herrschaft errichteten die MEROWINGER
den alemannischen Dukat. Er deckte sich nicht mit dem bisherigen Siedlungsraum
des Stammes, vielmehr waren die neuen Grenzen im Westen der Rhein, im Norden
die Linie Oos-Ludwigsburg-Ellwangen, im Osten der Lech, im Südosten
Churrätien. Nach dem Anfall Nord-Burgunds an den austrasischen Wirkungsbereich
der ersten nachweisbaren alemannischen Herzöge Butilin
und
Leuthari
auch das transjuranische Gebiet; dieses wurde nach der Reichsteilung von
561 als eigener Dukat organisiert. Nach dem Zeugnis des byzantinischen
Geschichtsschreibers Agathias hatten die Alemannen im 6. Jahrhundert eigene
Gesetze und Bräuche, unterstanden aber der fränkischen Herrschaft.
Dabei sind zwei Phasen fränkischen Einflusses zu unterscheiden. Bis
ca. 650 wurden die Herzöge von den MEROWINGERN
ein- und abgesetzt (Leudefred,
Uncelen
588), führten teils im Auftrag (Chrodebert
631), teils eigenmächtig (Butilin und Leuthari 553)
das fränkische Heeresaufgebot und spielten auch eine Rolle in
merowingischen
Hofintrigen.
Über ihre herzoglichen Funktionen im Frieden ist nichts bekannt. Ferner
bleibt unklar, wieweit sie alemannischer oder fränkischer Herkunft
waren. Ihr Aktionsschwerpunkt lag südlich des Rheins und am Bodensee
(Gunzo
in Überlingen, erste Hälfte 7. Jahrhundert), wo die Herrschaftsgrundlagen
wegen der dauerhaften römischen und christlichen Prägung besser
nutzbar waren als im ehemaligen Dekumatenland. Auch die merowingischen
Könige stürzten sich auf römisches Fiskalland, Aufenthalte
östlich des Elsasses sind jedoch nicht belegt. Zwischen 613 und 638
versuchten Chlothar
II. und sein Sohn
Dagobert,
den fränkischen Einfluß zu verstärken. Chlothar
ließ den Pactus legis Alamannorum aufzeichnen, und vermutlich
um 630 wurden in Inner-Alemannien die Huntaren als fränkische Verwaltungsorganisation
errichtet; sie umschlossen das Gebiet der Baaren, deren Funktion strittig
ist. Dagobert übertrug das Bistum
Windisch nach Konatanz und förderte mit dieser kirchlichen Neuorganisation
die Christianisierung der noch um 600 großenteils heidnischen Alemannen.
In der zweiten Phase nach 650 vermochte sich der alemannische Dukat wegen
der Schwächung des Königtums dem merowingischen
Einfluß weitgehend zu entziehen. Die fränkischen Verwaltungsbezirke
wurden allodisiert, und es bildeten sich Adelsherrschaften in Zuge des
Landesausbaus (PLEONUNGEN, BERTHOLDE). Andererseits dauerte die Frankisierung
im alemannischen Adel fort. Um 700 übten die alemannischen Herzöge
agilolfingischer
Herkunft ein vom
merowingischen Königtum
ziemlich unabhängige erbliche Herrschaft aus. Mit dem Ziel, die fränkische
Herrschaft in Alemannien wieder zur Geltung zu bringen, zogen die karolingischen
Hausmeier
Pippin
der Mittlere und Karl
Martell seit 709 gegen die Söhne
Herzog
Gotefrids,
Lantfrid
(Neufassung
des alemannischen Rechts) und Theutbald,
zu Felde. Auch Pirmins Gründung Reichenau 724, in deren Frühgeschichte
der Anteil und die Rolle der alemannischen Herzöge und Karl
Martells umstritten sind, sollte als karolingischer
Stützpunkt
dienen. Auf Feldzüge Pippins
des Jüngeren folgte die endgültige Aufhebung des
alemannischen Herzogtums und die Unterwerfung der aufständischen Alemannen
auf dem Cannstatter Gerichtstag 746.
Die KAROLINGER haben
das alemannische Herzogsgut konfisziert und als staatliche Organisation
die Grafschaftsverfassung eingeführt, deren Anfänge in vor-karolingische
Zeit zurückreichen. Nach dem RUPERTINER Chancor und den WIDONEN
Warin
und Ruthard als Grafen in den alemannischen Randgebieten wirkten
Fulrad
von St-Denis und die mit dem alemannischen Adel verwandten fränkischen
GEROLDE
und späteren ULRICHE in Gesamt-Alemannien. Wie die Reichenau
wurde auch St. Gallen nach anfänglicher Zurückhaltung Stützpunkt
des karolingischen Einflusses. Trotz
Beseitigung des Herzogtums und Einführung kleinregionaler Gewalten
blieb der politische Zusammenhang Alemanniens erhalten. KARLS
DES GROSSEN Plan, den alemannischen Dukat entlang der Donau
zu teilen, wurde nicht ausgeführt. Vielmehr zeigen die Reichsteilungen
des 9. Jahrhunderts, dass die regna auf Stammesgebiete Rücksicht
nahmen: Alemannien, Elsaß und Churrätien bildeten eine Einheit.
In der ostfränkischen Geschichte spielten die Alemannen unter Kaiser
KARL III. eine besondere Rolle. Der Nachfolger ARNULF
VON KÄRNTEN festigte seine anfangs unsichere Position in
Alemannien mit Hilfe von Konstanz, St. Gallen und der Reichenau, und dieser
Bund von Königtum und Kirche erwies sich auch Anfang 10. Jahrhundert
neben Rivalitäten des alemannischen Adels zeitweise als Hindernis
bei der Entstehung des Herzogtums Schwaben.
Ewig Eugen: Seite 195
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„Die Merowinger und das Frankenreich“
Im alemannischen Bereich deuten sich in der Zeit Dagoberts
I. und Sigiberts
III. Veränderungen an, die sich jedoch in der 2. Hälfte
des 7. Jahrhunderts nicht mehr verfolgen lassen. Die Herzöge Chrodobert
und Leuthari standen in engeren Beziehungen zum merowingischen
Hof
und gehörten vielleicht wie die HEDENE und der Thüringer-Herzog
Radulf der austrasischen Reichsaristokratie an. Chrodobert führte
eines der Heere Dagoberts gegen
Samo an (631/32), Leuthari
erschlug
Grimoalds
Rivalen Otto
(um
642) und erleichterte damit dem PIPPINIDEN
den
Aufstieg zum Hausmeier. Es mag sein,
dass sich unter ihnen der Herrschaftsschwerpunkt schon vom Bodensee zum
Neckar hin verschob, doch bleibt dies Vermutung.
In vielerlei Hinsicht rätselhaft ist auch der Fortgang
der Christianisierung, die um 700 abgeschlossen war. Sieht man von der
unbedeutendnen Trudpertcella im Breisgau ab, so ist auf alamannischem Gebiet
nur die Abtei Säckingen als Gründung des 7. Jahrhunderts zu verzeichnen.
Konstanz erscheint, als der Vorhang sich wieder hebt, als das Alamannen-Bistum
schlechthin im Raum zwischen Schwarzwald und Iller. Auch St. Gallen, das
sich um 700 von einer bescheidenen cella zur Abtei entwickelte, mag eine
Mittlerrolle gespielt haben.