HUNDERTJÄHRIGER KRIEG
Lexikon des Mittelalters:
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Hundertjähriger Krieg (Guerre de Cent ans)
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Bezeichnung für den langen englisch-französischen Konflikt
zwischen 1337 und 1453, wurde wahrscheinlich 1823 von
C. Desmichels
(»Tableau chronologique de l'hist. du
Mittelalter«) geprägt und rasch von der Geschichtsschreibung
Frankreichs, dann von der anderer Länder (England, Deutschland
usw.) übernommen. Intensität, lange Dauer und einheitlicher
Charakter dieses Konflikts waren bereits den Zeitgenossen, insbesondere
den Protagonisten, bewußt (vgl. a.: England,
D; Frankreich, A.
VI).
Infolge des Vertrags von
Paris (1259), der den juristischen
Schlußpunkt unter die generationenlange Rivalität zwischen
KAPETINGERN
und PLANTAGENETS setzte,
erkannten die Könige von
England für ihr Herzogtum
Guyenne
die ligische Lehnshoheit des Königs von
Frankreich an. Die Situation blieb jedoch nach wie vor heikel, da der
französische König in seiner Eigenschaft als Suzerain im
feudalen Fürstentum des
König-Herzogs (roi-duc)
intervenieren konnte. In diesem Sinne wurden vom
französischen Königtum zweimal Konfiskationen ausgesprochen
(1294 durch Philipp
IV., 1324 durch Karl IV.).
1337 entschloß sich Philipp
VI. von
Valois zu einer dritten Konfiskation der englischen
Besitzungen, wobei der
offizielle Rechtsgrund die Aufnahme des aus dem Königreich
Frankreich
verbannten Barons Robert von Artois durch König Eduard III. von England
war. Der dahinter stehende Beweggrund war jedoch auf
französischer Seite der
Wunsch, in der Guyenne aktiv einzugreifen, gestützt auf die eigene
Lehnshoheit (superioritas und ressortum), auf englischer Seite
das Bestreben
der Könige-Herzöge, die wirtschaftlich-fiskalisch
äußerst ertragreiche
Guyenne so autonom wie möglich zu regieren.
Entscheidend für den Ausbruch des Hundertjähriger
Kriegs war aber auch das französische
Thronfolgeproblem:
Hierbei stand die sich immer stärker festigende
französische Auffassung, daß das Herkommen des
Königreiches (später als
'lex salica' bezeichnet) nicht
nur die Töchter, sondern auch deren
männliche Deszendenten von der Thronfolge ausschloß, dem
englischen,
offiziell seit 1337-1340 formulierten Standpunkt gegenüber, der
den
Töchtern zwar ebenfalls direkte Thronfolge versagte, nicht aber
die Vererbung ihrer Ansprüche an ihre männlichen Nachkommen.
Gestützt auf diese These, beanspruchte Eduard III.
als Enkel
Philipps IV. durch seine
Mutter Isabella den
französischen Thron gegenüber
Philipp von
Valois, der Enkel Philipps
III. durch seinen Vater Karl
von
Valois war.
Allerdings stellt sich die Frage, wieweit die englischen
Thronansprüche
- als taktischer Schachzug - nur territorialen Forderungen Nachdruck
verleihen sollten. Tatsächlich hat Eduard III.
seinen dynastischen
Anspruch aber mehrmals ernsthaft vertreten, den Franzosen ein politisch
attraktives »Programm« präsentiert und Verbündete
sowohl in der öffentlichen Meinung als auch bei einer Reihe von
Fürsten
und Großen gesucht. Auch auf französischer Seite, bei Philipp von Valois
und seinen Nachfolgern, wurde der Streit keineswegs nur als feudale,
sondern auch als dynastische Auseinandersetzung ausgetragen.
Nach der französischen Niederlage bei Crécy (1346)
und dem Fall von Calais
(1347) markiert die Gefangennahme des französischen
Königs Johann II.
bei Poitiers
(1356) die Wende des Krieges:
Um die Freilassung des Königs zu erreichen,
war die französische Regierung auf geschicktes Verhandeln
angewiesen
(Verträge von
Brétigny, 8. Mai 1360, und Calais, 24. Oktober
1360). Die Lösegeldsumme für den König wurde auf 4
Millionen
couronnes d'or
(bzw. 500 000 Pfund Sterling)
festgesetzt, der König von
England erhielt ein stark vergrößertes Herzogtum Aquitanien
(siehe
im einzelnen Guyenne, II) sowie
nordfranzösische Territorien (Calais,
Ponthieu), wodurch gleichsam eine
Wiederherstellung des alten Angevinischen
Reiches, doch nun mit formeller, voller Souveränität
Englands
erfolgt war.
Zwar wurde die Abtretung der Territorien verwirklicht, doch
bestätigte - entgegen der Vertragsbestimmung - Eduard III.
nie
seinen Verzicht auf die Anwartschaft des französischen Thrones,
ebensowenig wie
Johann II.
und sein Nachfolger Karl V.
je
ihren
Souveränitätsanspruch über die abgetretenen Gebiete
preisgaben. Dies ermöglichte Karl
V. 1369
die legale
Wiederaufnahme des Krieges, indem er Eduard, Prince
of Wales und Fürsten
von Aquitanien, als einen abgefallenen Vasallen verurteilte.
Dieser
Krieg brachte dem VALOIS
Erfolg: England wurde auf den Besitz
einer
Rest-Guyenne, um Bordeaux und Bayonne, sowie auf Calais
zurückgedrängt. Von nun an und bis 1419 war es das Bestreben
der englischen Politik, eine Wiederherstellung des durch den Vertrag
von
Brétigny-Calais geschaffenen Zustands zu erreichen (manchmal mit
zusätzlichen Forderungen, so unter anderem nach dem englischen Sieg von 1415),
während die französische Seite dem Gegner ein - je nach Lage
der Dinge -
größeres oder kleineres Fürstentum Aquitanien (bzw.
Guyenne)
anbot, in schwierigen Situationen auch zu weiteren Zugeständnissen
bereit war, aber dabei stets auf Wahrung der Lehnshoheit der
französischen Krone
bestand. Sogar eine gewisse faktische Annäherung vollzog sich am
Ende
des 14. Jh., als zwischen Karl
VI. und Richard II. 1389 ein
Waffenstillstand, 1396 gar eine Heiratsverbindung (Richards II. mit
einer Tochter
Karls VI.)
zustandekam.
Diese Phase, in der der anglo-französische Konflik halb
entschlafen schien,
endete 1415 abrupt, als Heinrich V. von England so
weitgehende
Forderungen stellte, daß die von der Gruppierung der Armagnacs
beherrschte Regierung (des selbst nicht handlungsfähigen) Karls
VI. sie unmöglich annehmen konnte. Es folgte die englische
Invasion
(Einnahme von Harfleur und
englische Sieg bei
Azincourt/Agincourt,
1415;
Seesieg von 1416; Besetzung großer Teile der Normandie ab 1417).
1418 kam der französische
König Karl VI. unter
die Kontrolle Herzog Johanns
Ohnefurcht von Burgund, der in der Frage der
Souveränität
nicht zu Konzessionen bereit war.
Die Lage änderte sich gänzlich mit der Ermordung Herzog Johanns
bei Montereau (10. September 1419). Nicht zuletzt die Aussicht auf eine
dauernde Spaltung Frankreichs zwischen Armagnacs und Bourguignons
dürfte Heinrich
V. bewogen haben, über die Forderung eines -
immer größeren - Gebiets des Königreiches hinauszugehen
und die
französische Königsgewalt als solche zu beanspruchen. Dies
gab den Anstoß
zur »paix finale« von Troyes (21. Mai
1420), nach der beim
Tod Karls VI.
das - in seinen Gesetzen und seiner Integrität nicht
angetastete - Königreich Frankreich an den englischen König
(bzw. seine Nachkommen
mit Catherine, der Tochter Karls VI.) fallen sollte,
unter
Übergehung der Ansprüche des Dauphins
Karl (VII.). Die beiden
Königreiche England und Frankreich sollten unteilbar sein, das
eine Königreich das
andere nicht beherrschen. Hätte der Vertrag von Troyes Anerkennung
gefunden, wäre der Hundertjährige Krieg
beendet gewesen.
Doch waren die politischen und militärischen Kräfte
Frankreichs zu
einer Annahme nicht bereit; namentlich der Dauphin, seit 1422
König,
verwarf diese Abmachung kategorisch. Damit setzte sich der Krieg
zwischen
der »Doppel-Monarchie« Heinrichs VI. und dem
»Königreich von
Bourges« Karls
VII. fort. Der französische Widerstand fand in Jeanne
d'Arc seine Symbolfigur.
Im Vertrag von Arras
(1435) löste sich
Philipp der Gute,
Herzog von Burgund, aus der
englischen Allianz und erkannte
Karl VII.
als legitimen König von Frankreich an. 1435,1439,1444 und 1445
fanden diplomatische Verhandlungen zwischen dem französischen und
dem englischen König statt;
doch ließ sich wegen der unüberbrückbaren
Gegensätze kein Kompromiß finden. Der Hundertjährige
Krieg endete durch den
tatsächlichen Sieg Karls VII.,
der bis 1453 (Schlacht von Castillon)
alle englisch beherrschten Territorien in Frankreich
(einschließlich
der Guyenne) erobern konnte, mit Ausnahme von Calais.
Der Konflikt lebte 1475 und 1492, unter Eduard IV. bzw. Heinrich VII.,
erneut auf; in beiden Fällen wurden starke englische
Expeditionstruppen von Calais aus in Marsch gesetzt, doch konnten -
nicht zuletzt infolge von französischen Zahlungen - die
Kriegshandlungen wieder
beendet werden (Verträge
von Picquigny und Étaples). Bis
1802 hielt der König von England formell am französischen
Königstitel fest; dieser
Anspruch wurde im 16. Jh. (so 1513) gelegentlich noch als
diplomatisches
Druckmittel eingesetzt. Gleichwohl gilt, daß mit dem Jahre 1453
für die Franzosen eine neue Ära begann, in welcher der
Alpdruck einer englischen Bedrohung überwunden war.
Durch das Wechselspiel der Allianzen griff der Hundertjährige
Krieg auch auf eine
Reihe weiterer westeuropäischer Länder über: Schottland,
Kastilien,
Portugal, die Fürstentümer der Niederlande. Während des
Großen
Abendländischen Schismas spiegelten die Oboedienzen weitgehend die
beiden Bündnissysteme wider. Der Hundertjährige
Krieg war eine gewaltige
Konfrontation zweier Monarchien; diese aber stützten sich auf eine
»politische Gesellschaft«, deren Grundeinstellung letztlich
das
Verhalten der jeweiligen monarchischen Regierung bestimmte. Die
englische
Monarchie konnte ihre Ansprüche auf die französische Krone
bzw.
große Gebiete des französischen Königreiches über
einen so langen Zeitraum
nur aufrechterhalten, weil eine sozial und militärisch
dominierende
Schicht in dem Krieg auf dem Kontinent eine interessante und
einträgliche Lebensform sah. Andererseits stützte sich die
französische
Monarchie auf soziale Kräfte, die in den Engländern
instinktiv fremde Angreifer sahen, die es zu vertreiben galt.
Ph. Contamine