CALAIS
Lexikon des Mittelalters:
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Calais
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Stadt in Nord-Frankreich (heut. dép. Pas-de-Calais, vorher in
der Grafschaft Boulogne),
an der engsten Stelle des Kanals, dem Pas de Calais
(Straße von Calais),
gelegen.
Das Dorf Petresse, das als Pertinenz von Merck (Marck) 938 von
Arnulf I., Grafen von Flandern,
dem Kloster
St-Bertin (Sithiu) übertragen worden war, scheint den Kern des
alten Calais gebildet zu
haben. Die Bedeutung dieses Dorfes als Hafen wuchs in dem Maße,
wie die alten Häfen von Audruicq und Craywick versandeten.
Für den Aufstieg von Calais
wurde jedoch entscheidend, daß mit der normannischen Eroberung Englands (1066) und der Entwicklung des
Tuchgewerbes in Flandern Seefahrt und -handel zw. beiden Ländern
an Bedeutung gewannen.
Die Stadtgründung erfolgte 1173 durch Matthias von Elsaß, Grafen von Boulogne und Bruder Philipps von Elsaß, Grafen von Flandern, im Zuge seiner
Hafengründungspolitik. Zu dieser Zeit war der Heringsfang (Hering)
der bedeutendste Gewerbezweig in Calais.
Eine wichtige Phase für die Stadtentwicklung folgte zwischen 1180
und 1250. Innerhalb der Handelsbeziehungen zwischen England und
Flandern, die mit der Landung von Richard
Löwenherz, König
von England, begannen, trat Calais
bald an die Stelle von Wissant, das den Engländern bisher als
einfacher Fährhafen gedient hatte. Im Bereich des Wollhandels
(Wolle, Wollhandel), wo nun die Einfuhr englischer Wolle nach Flandern
eine große Rolle spielte, wurden die Kaufleute von Calais
zu unentbehrlichen Vermittlern. Schon 1190 war der Handelsverkehr so
angewachsen, daß Calais
das Recht zur Anlage eines Hafens erlangte. 1192-1197 erreichten die
Kaufleute von Calais vom
englischen König vollständige Zollfreiheit in allen
englischen Häfen; dieses Privileg wurde in der Folgezeit immer
wieder erneuert.
Die Bürger von Calais,
die nun im Seehandel des gesamten Angevinischen Reiches als
Konkurrenten der Cinque Ports,
der
südenglischen Hafenstädte, auftraten, erhielten 1203 ein
städtisches Privileg (charte de
franchise). Nach der Trennung Calais'
von Merck wurde 1210 seine Kaufmannsgilde anerkannt. Inzwischen war Calais
mit dem südlichen Flandern an die Krone von Frankreich gelangt und
gehörte bis 1347 zur Grafschaft Artois, die immer in der Hand
einer Seitenlinie des Königs-Hauses war. Ab November 1215 diente Calais
dem französischen Kron-Prinzen
Ludwig (VIII.) als Ausgangsbasis
für
seinen Versuch, den englischen Thron zu gewinnen. Damit begann die
militärische Rolle des Hafens von Calais.
Graf Philipp (Philippe Hurepel) ließ nach 1223 die Stadt
befestigen und im Nordwesten eine Burg errichten. 1253 erließ Gräfin Mathilde (Mahaud) von
Boulogne ein
erweitertes Stadtprivileg, das der Stadt
nahezu die Stellung einer freien Kommune verlieh, in der die
gräflichen Herrschaftsrechte auf Hoch- und Niedergericht
beschränkt waren. Dieses Privileg blieb für mehrere
Jahrhunderte die Grundlage des Zivil- und Strafrechts in Calais.
Die Auseinandersetzungen mit den englischen Seeleuten verschärften
sich gegen Ende des 13. Jh. Angesichts der Wirtschaftskrise des
späten 13. Jh. erwies es sich für die Seeleute von Calais
zunehmend als lohnender, englische Schiffe zu kapern als Handel zu
treiben. Nach Beendigung eines dieser See- und Kaperkriege erhob sich
die Bevölkerung von Calais
im März 1298 in einer sozialen Revolte, in deren Verlauf der Bailli
des Grafen von Artois
erschlagen wurde. Die Piraterie der Seeleute von Calais
erreichte im Verlauf des Hundertjährigen
Krieges ein immer größeres Ausmaß und erbitterte
zunehmend die Engländer. Nach dem englischen Sieg bei Crécy (1346)
eröffnete Eduard III.,
König von England, 1347
schließlich die Belagerung von Calais. Zur
Sicherung ihrer Blockade ließen die Engländer sogar eine
neue Stadt, Villeneuve-la-Hardie, errichten. Der lange, elf Monate
dauernde Widerstand der eingeschlossenen Stadt und die
schließliche Übergabe mit der heroischen Episode der sechs
»Bürger von Calais«, die sich unter Führung von Eustache de St-Pierre
freiwillig der
Hinrichtung durch die Engländer (zur Verhinderung eines
allgemeinen Massakers an den Bewohnern) auslieferten, sind
berühmte Ereignisse des Hundertjährigen
Krieges. Die
Engländer besetzten Calais
und sein bailliage sowie das bailliage von Merck, in der
Folgezeit kamen auch Coulogne und Sangatte (1350) sowie Guines (1352)
unter englische Herrschaft. Dieser gesamte Territorialbesitz, unter
Einschluß der Grafschaften Guines und Ardres, wurde offiziell im Friedensvertrag von
Brétigny und Calais (1360) an England abgetreten und erhielt
den Namen »Marche de Calais«
(Mark von Calais.). Ab 1377
wurden die Kastellaneien Ardres und Audruicq von Frankreich
zurückerobert. Während mehrere Burgen in dieser Region im 15.
Jh. abwechselnd in englischem und französischen Besitz waren,
blieben Calais und sein bailliage, das bailliage von Merck und die Stadt
Guines bis 1558 bei England.
Calais wurde zur dreifachen
Festung ausgebaut; befestigt waren die Stadt selbst, die Burg und die
Festung Rysbank, welche die Hafeneinfahrt schützte. Die englische
Militärverwaltung wurde von der Jurisdiktion der Baillis, die nach
den Grundsätzen der alten französischen Gewohnheitsrechte
amtierten, überlagert; doch setzte sich die Bevölkerung neben
einer kleinen Anzahl von Franzosen, denen der Aufenthalt in Calais
gestattet wurde, zunehmend aus englischen Soldaten und Bürgern
zusammen.
Bei Aufrechterhaltung des alten Verwaltungssystems errichtete die
englische Regierung von Calais
1363 den Wollstapel (Stapel), der einer Kaufmannsgilde
(Stapler-Konsortium, vgl. Cely Papers)
unter Leitung von 24 aldermen
und 2 maires anvertraut
wurde. Durch
diese Konzentration des englischen Wollhandels auf Calais
erhielt die Stadt europäische Bedeutung. Der Unterhalt der
englischen Garnison von 1.100 Mann war ein ständiges Problem; Eduard III.
und Richard II.
vollbrachten wahre Wundertaten, um die regelmäßige Bezahlung
der Soldaten sicherzustellen. Gleiches galt für Heinrich
IV. und Heinrich V. Sämtliche
Ausgaben der Stadt basierten auf den Zöllen, die auf die aus
England importierten und den Flamen verkauften Wollballen erhoben
wurden. Bis in die Mitte des 15. Jh. unterbrachen drohende
militärische Interventionen von seiten Frankreichs mehrfach den
Handelsverkehr. Insgesamt vermochte Calais
mit seinem Wollstapel schon deswegen nicht die hohen fiskalischen
Erwartungen der englischen Regierung, des Stadtkommandanten (capitaine) und seines
Schatzmeisters (trésorier)
zu erfüllen, weil immer mehr Kaufleute durch den König zum
Stapelzwang eximiert wurden. Dabei zeigt die Tatsache, daß die
Schatzmeister häufig anschließend an ihre Amtszeit als mayors (Bürgermeister) von
London berufen wurden, die
Bedeutung von Calais
im Finanzwesen der englischen Krone. 1466, nachdem die Wolleinfuhren
empfindlich gesunken waren (vom Ende des 14. bis zur Mitte des 15. Jh.
von 35.000 auf 8.000 Ballen), nahm das Stapler-Konsortium die gesamten
Zölle in Pacht und zahlte als Gegenleistung den Sold für die
Garnison, den der Staatsschatz in Westminster nicht mehr
regelmäßig aufzubringen vermochte. Im folgenden Jahr wurde
den Staplern die Erhebung der gesamten königlichen Steuern und
Abgaben für Calais und
die »marches«
eingeräumt; die Stapler hatten ihrerseits für die
Soldzahlungen und die Instandhaltungskosten der Festungen aufzukommen.
Dieses System bestand bis 1482. - Die Stadt wurde 1365 durch einen maire (Bürgermeister) und aldermen verwaltet, die vom
englischen König ernannt und besoldet wurden. Seit 1370 waren
jedoch die Stapler erfolgreich bestrebt, die Stadtverwaltung unter ihre
Kontrolle zu bekommen: lange Jahre war nun der Vorsteher des
Stapler-Konsortiums zugleich auch Bürgermeister der Stadt.
M. Rouche