EU, GRAFSCHAFT


Lexikon des Mittelalters:
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Eu,
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Grafschaft und Stadt (dép. Seine-Maritime) in der nördlichen Normandie
[1] Grafschaft:
Der pagus Tellaus (Talou) war bis zum Ende des 10. Jh. in der Hand der Herzöge der Normandie. Richard I. (942-996) belehnte seinen außerehelichen Sohn Gottfried mit einem Teil des pagus; dieses Gebiet wurde zur eigenen Grafschaft, Vorort war der bereits unter Rollo, dem ersten Normannen-Herzog, befestigte Burgort Eu (oppidum Augi). Herzog Richard II. entzog dem Sohn Gottfrieds, seinem Neffen Gibert, jedoch die Grafschaft, um sie seinem unehelichen Halb-Bruder Wilhelm I. (dem späteren Eroberer) abzutreten. Auf Wilhelm folgte dessen Sohn Robert I. Courteheuse, danach Wilhelm II. Rufus (1087), dann Robert II. Courteheuse (1087-1106), dem Heinrich I. 1106 die Normandie entzog. - Heinrich I. besaß bis 1140 die Grafschaft Eu, 1140-1170 regierte Johann, der Sohn Wilhelms II., die Grafschaft. 1170 kam Eu an Heinrich II. Plantagenêt, König von England und Herzog der Normandie, danach an dessen Sohn Raoul I. ( 1183), der kinderlos verstarb. Seine Schwester Alix erbte 1186 die Grafschaft und brachte sie in die Ehe mit Raoul de Lusignan ein. Beider Sohn Raoul III. wurde 1227 Graf; er war ohne männliche Nachkommen, seine Erb-Tochter Marie heiratete Alphonse de Brienne. Damit gelangte die Grafschaft Eu an das Haus BRIENNE; in Sohnesfolge hatten folgende BRIENNE (aus der Linie Eu-Guines) die Grafschaft Eu inne:
Jean I. (1252-1259)
Jean II. (1259-1302)
Raoul I. (1302-1345) und
Raoul II. (1345-1350).
Raoul II., Connétable de France, wurde 1350 wegen angeblichen Paktierens mit England in Paris enthauptet, mehrere seiner Besitzungen, darunter auch Eu, von der französischen Krone konfisziert. König Johann II. übergab die Gafschaft 1352 dem Grafen Jean d' Artois. Dessen Sohn Robert II. folgte ihm 1387 als Graf nach; noch im gleichen Jahr beerbte ihn bereits sein Bruder Philippe d'Artois, der die Grafschaft seinem älteren Sohn Charles hinterließ (1397). Die 1458 durch Karl VII. zur Pairschaft erhobene Grafschaft ging nach Charles' Tod an seinen Neffen Jean de Bourgogne, Graf von Nevers, über (1472). Von da an regierten in Eu die Grafen von Nevers und Rethel aus dem Haus KLEVE.
Aufgrund der vorgeschobenen Position im äußersten Norden des Herzogtums Normandie spielte Eu stets eine große politische und strategische Rolle, um so mehr, als die Grafen von Eu in der politischen Hierarchie, zunächst im Verband des anglonormannischen Reiches, dann am Hof von Frankreich, einen sehr hohen Rang einnahmen.

[2] Stadt:
Die geographische Situation der Stadt Eu war äußerst vorteilhaft. Gelegen unweit des Kanals im fruchtbaren Tale der Bresle, die die natürliche Grenze zwischen Picardie und Normandie bildete, war Eu als Handelszentrum wie als Festung von großer Bedeutung. Ursprünglich eine römische Villa an der Calceia, der Römerstraße von Lillebonne ins Boulonais, bildete sich in der Normannen-Zeit das bei Flodoard (894-966) erwähnte Castrum. Bei ihm entstand ein Burgus, der bereits in den Quellen des 12. Jh. vom Castrum unterschieden wird. Stand im späten 11. Jh. noch der Festungscharakter des Oppidum Augi im Vordergrund, so siedelten sich in der Folgezeit im Schutz der Mauern rasch Bauern, Kaufleute und Handwerker an. Vom Gf.en gefördert, wurde der Burgus zum Zentrum des wirtschaftlichen Lebens; seine zugewanderten Bewohner werden in einer 1119 den Kanonikern von Notre-Dame d'Eu verliehenen Urkunde erstmals als burgenses erwähnt. Begünstigt vor allem von König Heinrich I. (1096-1140), gewannen diese burgenses Privilegien, insbesondere die günstige Leiheform des bourgage (burgagium). Neben den begegnen wir Leuten des Grafen (burgenseshomines) sowie der Abteien und weltlichen Herren (hospites). In der gesamten Grafschaft war das 11. Jh. eine Periode starken Aufschwungs. Durch die Initiative der Grafen setzte eine starke Rodungstätigkeit ein, wurden Bauern mit Pachtgütern (Emphyteusis) ausgestattet und erfolgten zahlreiche Freilassungen. Im 12. Jh. beschleunigte sich das Tempo dieser Entwicklung noch, so daß im gesamten Herzogtum die Leibeigenschaft verschwand und die Zahl der von Feudalabgaben (consuetudines) freien Bauernstellen rasch anwuchs; ebenso wurden zahlreiche Städte und Flecken gegründet.
Die Stadt Eu profitierte von dieser Entwicklung in noch stärkerem Maße als das Umland; seit dem Ende des 11. Jh. waren nahezu alle Bewohner der Stadt freie Leute. Dank der günstigen Lage der Stadt blühten gewerbliche Tätigkeit und Englandhandel auf. Die burgenses, die sonstigen Freien und die freigelassenen Leibeigenen schlossen sich zusammen und erlangen 1151 vom Grafen Johann I. ein Kommunalprivileg, das älteste der Normandie. Stark von der emanzipatorischen Bewegung der flämisch-pikardischen Städte beeinflußt, nahmen sich die Bürger von Eu die Établissements der pikardischen Stadt St-Quentin, bereits vor 1077, zum Vorbild. Von 1151 an nahm jeder Graf von Eu seiner Stadt den Treueid ab und hatte im Gegenzug ihre Privilegien zu beschwören.
Das Kommunalprivileg von 1151 weist allgemein zwar Einflüsse der Établissements von St-Quentin auf, in den einzelnen Bestimmungen zeigen sich jedoch eigene Züge und eine stärkere Verwandtschaft zum Städtewesen der Normandie. An der Spitze der Kommune standen Schöffen, Rat und ein Bürgermeister (maior, maire). Die Schöffen (zwölf für die Stadt, vier für die Vorstadt) wurden aus der Bürgerschaft für ein Jahr kooptiert und waren mehrfach wählbar. Neben der Vertretung der städtischen Belange, vor allem gegenüber dem Grafen, übten sie Gericht und Polizeigewalt aus. Der Rat umfaßte 20-30, zum Teil auf Lebenszeit gewählte Mitglieder, oft frühere Schöffen. Der Bürgermeister besaß offenbar keine höhere Autorität als die Schöffen. Er hatte die Exekutivgewalt inne, aber stets im Zusammenwirken mit den Schöffen, und wurde vom Grafen aus drei Kandidaten, die ihm die Schöffen präsentierten, ausgewählt; seine Amtszeit betrug ein Jahr, ohne Möglichkeit einer unmittelbaren Wiederwahl. Alle ehemaligen Bürgermeister hatten das Recht auf Mitgliedschaft im Schöffenkolleg. Die Stadt verfügte über eigenes Gericht, das aus Bürgermeister und Schöffen bestand, die nach Beratung mit dem Stadtrat das Urteil sprachen. Über die Organisation der städt. Verwaltung im einzelnen werden wir erst durch das Livre rouge (Stadtbuch) unterrichtet, mit Einträgen ab 1271.
Die Charta von 1151 gab der Stadtentwicklung weiteren Auftrieb. Während der Blütezeit von Eu, um die Mitte des 13. Jh., dürften im engeren Stadtbereich ca. 5.600 Einwohner, im gesamten Territorium der Kommune wohl über 8.000 Einwohner gelebt haben.
Um den Stadtkern mit der Grafenburg und dem Regularkanonikerstift Notre-Dame entstanden weitere Kirchen (St-Jean, St-Pierre und St-Jacques für die Stadt, St-Étienne, La Trinité für die Vorstädte), in denen Kleriker, die dem Stift unterstanden, die Seelsorge wahrnahmen. Im Stift verstarb am 14. November 1180 der irische Erzbischof von Dublin, Laurentius O'Toole (Lorcan Ua Tuathail), der, 1225 kanonisiert, in Eu Verehrung genoß (14. November, Translation 10. Mai).
Im Zuge der Krise des Spät-Mittelalter in der Normandie, insbesondere seit dem Hundertjährigen Krieg, setzten auch in Eu und seinem Umland wirtschaftliche Schwierigkeiten und Bevölkerungsrückgang ein. 1347, am Vorabend der Eroberung von Calais, hatte der Graf von Eu, der Connétable Raoul de Brienne, in englischer Gefangenschaft seine normannischen Territorien, darunter auch die Grafschaft Eu, an Eduard III. verpfändet, wodurch der Graf seinen Herrschaftsbereich nicht mehr wirksam vor englischem Steuerdruck zu schützen vermochte. Die drückende Finanznot setzte sich auch nach der Konfiskation durch die französische Krone (1350) fort; die verarmte Stadtbevölkerung revoltierte mehrfach (vor allem 1357-1360). Während der Invasion Heinrichs V. war Eu eine der letzten antienglischen Bastionen (erst 15. Februar 1419 Kapitulation der königlichen, städtischen und gräflichen Beamten gegenüber dem Herzog von Exeter). Trotz immer wieder aufflammenden Widerstands fiel die Grafschaft Eu fast gänzlich in die Hände der Engländer; die ansässigen Bewohner blieben im Besitz ihrer Güter, sofern sie sich dem König von England unterwarfen. 1435 wurde Eu von Frankreich zurückerobert und war fortan eine Hauptbasis des französischen Widerstands. Der erneute englische Angriff von 1475 besiegelte schließlich das Geschick der Stadt: Ludwig XI. von Frankreich ließ Festung und Stadt Eu vollständig zerstören, um den Invasoren die Basis für ein weiteres Vorrücken zu entziehen. Trotz nachfolgender steuerlicher Begünstigung des Wiederaufbaus erreichte Eu den alten Wohlstand nicht mehr; König Karl VIII. stellte 1494 fest: »La ville n'est encores redifiée, repopulée, habitée, ne du tout reffaicte«.
A. Rigaudière