WESTMINSTER


Lexikon des Mittelalters:
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Westminster
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Ehemalige OSB Abtei in England (Grafschaft Middlesex), Krönungsort aller englischen Herrscher seit Harald II. Godwinson 1066, wichtigste königliche Grablege im englischen Königreich.
Als Hüter der bedeutendsten königlichen Schreine im Land genossen die Benediktiner-Mönche ein hohes Ansehen bis zur Auflösung der Abtei 1540. Die frühe und sehr dunkle Geschichte des einzigartigen Klosters wurde Gegenstand mehrerer Gründungssagen. Gemäß einer unglaubwürdigen Legende wurde 184 n. Chr. eine Kirche errichtet, die während der Christenverfolgung unter Diokletian in einen Apollotempel umgewandelt wurde. Nach einer anderen, in der spätmittelalterlichen Abtei geläufigen Sage sollen W
estminsters Ursprünge auf eine Kirche zurückgehen, die bald nach der 597 begonnenen Christianisierung der Engländer auf der Isle of Thorney von König Sebert von Essex errichtet worden war. Neuere archäologische Forschungen haben ergeben, daß es wahrscheinlicher ist, daß der Abtei eine Minster-Kirche vorausging, die von Offa, dem König der Ostsachsen, in den frühen Jahren des 8. Jh. gegründet wurde. Eine solche Minster-Kirche könnte jedenfalls die Wikinger-Einfälle der nächsten beiden Jahrhunderte überstanden haben. Alle verfügbaren Beweise belegen, daß eine Kloster-Abtei in Westminster das Ergebnis der berühmten englischen Klosterreformbewegung des 10. Jh. gewesen ist.
Der Chronist Wilhelm von Malmesbury berichtet später, daß der hl. Dunstan, bald nachdem er 957 Bischof von London geworden war, den Londoner hl. Wulfsige als ersten Abt eines neuen Klosters von zwölf Mönchen ernannte, das auf einem großen, von König Edgar übertragenen Landbesitz in W
estminster errichtet werden sollte. Wulfsige, der sein Amt 958 übernommen zu haben scheint, blieb für fast vierzig Jahre Abt von Westminster. Von seinen drei angelsächsischen Nachfolgern war der letzte Eadwine, der um 1049 Abt wurde und folglich der Abtei vorstand, als sie unter König Eduard dem Bekenner eine der bedeutendsten Benediktiner-Abteien der Christenheit wurde. Eduard wollte die Abtei in einem besonders großen Umfang wieder begründen und eine königliche Pfalz in unmittelbarer Nachbarschaft errichten, ein Beweis dafür, daß in Westminster die künftige politische und in gewissem Sinn auch religiöse Hauptstadt des mittelalterlichen England errichtet werden sollte.
Nach der anonymen Vita Eduards des Bekenners (»Vita Aedwardi«) hatte der neue König, der selbst in W
estminster 1043 gekrönt wurde, drei Hauptmotive für die Umwandlung der Benediktiner-Abtei in das bedeutendste königliche Kloster Englands:
Seine Verehrung galt dem Apostel Petrus, dem die Abtei ausschließlich geweiht war. Er hoffte, die Vorteile einer günstigen Lage für ein Kloster und eine Pfalz am nördlichen Ufer der Themse und nur 2 km westlich von London ausnutzen zu können. Außerdem hatte er sich W
estminster als Grablege auserwählt. Bezeichnend war, daß König Eduard der Bekenner, der viele seiner frühen Jahre in Frankreich verbracht hatte, beweisen wollte, daß er eine Abteikirche finanzieren und errichten konnte, die prächtiger war als vergleichbare Kirchen in der Normandie. Obwohl keine sichtbaren Spuren der Kirche Eduards des Bekenners in der Abtei oberhalb der Grundmauern erhalten sind, war sie zweifellos das erste große romanische Gebäude in der Geschichte der englischen Architektur. Einen Tag nach seinem Tod am 5. Januar 1066 wurde Eduard in der geweihten Kirche in einem Steinsarkophag unter dem Fußboden vor dem Hochaltar begraben. Am selben Tag erfolgte die Krönung Haralds in der Abteikirche, und weniger als ein Jahr später, am Weihnachtstag 1066, zeichnete Wilhelm der Eroberer Westminster vor allen englischen Klöstern aus, indem er hier ebenfalls gekrönt wurde.
Es ist nicht verwunderlich, daß die Abtei rasch eine der größten Benediktiner-Klöster in England wurde. Unter der Herrschaft des ersten großen normannischen Abtes Gilbert Crispin (um 1085-1117) gab es nicht weniger als 80 Mönche. Nach dem Domesday Book erfreute sich die Abtei eines hohen Einkommens von wenigstens £ 600 im Jahr. 1086 und stand bereits an siebenter Stelle unter den reichsten Klöstern im Königreich. Wenig ist über das interne Leben im Kloster vor 1200 bekannt, doch genoß die Abtei bald ein besonderes Ansehen im Bildungswesen. Bedeutender für den künftigen Wohlstand der Mönche selbst waren ihre Bestrebungen, die Heiligsprechung Eduards des Bekenners zu betreiben. 1102 wurden seine Überreste unversehrt angetroffen, und 1138 schrieb Osbert von Clare, einer der bedeutendsten Autoren unter den mittelalterlichen Mönchen in W
estminster, eine neue Vita Eduards mit der Absicht, die päpstliche Kanonisation Eduards zu erreichen. Jedoch war es die königliche Intervention Heinrichs II. bei Papst Alexander III. 1161, die schließlich die Heiligsprechung Eduards bewirkte. Zwei Jahre später, am 13. Oktober 1163, erfolgte die feierliche Translation der Reliquien des neuen Heiligen.
Weniger als ein Jahrhundert später erwies sich ein anderer englischer König, Heinrich III., als ein zweiter Gründer der Abtei. Heinrich legte den Grundstein für den Bau einer völlig neuen gotischen Kirche am 6. Juli 1245. Heinrich III. wollte die architektonischen Höhepunkte der zeitgenössischen französischen Kathedralen noch übertreffen und beauftragte als Baumeister 1243 Henry of Reyns oder Reims. Es sollte ein sakrales Zentrum für die englische Monarchie am Grab Eduards des Bekenners entstehen, das eindrucksvoller war als die Sainte-Chapelle in Paris oder der Schrein des hl. Thomas Becket in Canterbury. Am 13. Oktober 1269, als die letzte Translation der Reliquien Eduards des Bekenners erfolgte, war dieses Ziel erreicht. Als die Grabmäler der spätmittelalterlichen Könige und Königinnen begannen, sich um den Schrein des hl. Eduard zu gruppieren, und eine große Schar von Pilgern angezogen wurde, entwickelte sich die Obhut des Schreins als die bedeutendste Aufgabe der Mönche von W
estminster.
Abt und Kapitel eines der größten Benediktiner-Klöster in England hatten allerdings noch viele andere Aufgaben, vor allem die Erhaltung der Größe ihres Konvents. In den Jahren um 1300 gab es normalerweise ca. 50 Mönche in W
estminster. Trotz der Verluste durch die Pestepidemie von 1349, bei der 27 Mönche starben, hatte Westminster 1399 über 59 Mönche, 1500 über 46 Mönche, 1528 noch über 44 und 1534 noch über 43 Mönche. Die Aufrechterhaltung eines großen Konvents während des ganzen Mittelalters verdankte Westminster den ausgedehnten Grundbesitzstiftungen, nicht nur in den Vororten von London, sondern auch im Südosten und im Themsetal. Obwohl die Mönche von Westminster in der Zeit zwischen 1200 und 1500 den Umfang ihrer Besitzungen weitgehend bewahrten, ist doch die Ausbreitung ihres Landbesitzes gut dokumentiert in den größten Sammlungen von Gutsbesitzquellen, die aus dem spätmittelalterlichen England erhalten sind. Noch eindrucksvoller ist die große Zahl erhaltener interner Quellen und besonders der Rechnungsrollen, die seit dem späten 13. Jh. in Westminster zahlreicher vorhanden sind. Aufgrund dieser ausgezeichneten Quellenlage kann das Leben im Konvent gut nachvollzogen werden. Die Mönche erfreuten sich jedenfalls eines angenehmen Lebensstandards im Spät-Mittelalter.
Das religiöse Leben in der Abtei während der letzten zwei Jahrhunderte wurde durch die Nähe zu London bestimmt und zu der kleinen, aber geschäftigen Stadt W
estminster selbst (mit einer Bevölkerung von ca. 2.000 Einw. im Jahre 1400) sowie zu dem immer größer werdenden königlichen Palast. Die Mönche konnten sich kaum den politischen Ereignissen des Königtums entziehen. Nachdem das Kapitelhaus der Abtei in den frühen 50-er Jahren des 13. Jh. fertiggestellt worden war, wurde es einer der bedeutendsten Treffpunkte der Ritter und Bürger, die ins Parliament geladen worden waren. Es überrascht nicht, daß das Leben im Klosterbereich kaum ruhig verlief und gelegentlich Kritik an der unheilvollen Rolle der Äbte laut wurde. Jedoch gab es im Spät-Mittelalter einige besonders herausragende Äbte, so Simon Langham (1349-1362), der später Erzbischof von Canterbury und Kardinal in Avignon wurde. Langham ist es zu verdanken, daß eine kleine Zahl von Mönchen aus Westminster regelmäßig das Gloucester College in Oxford für Universitätsstudien besuchen konnte. Doch entwickelte sich in der Abtei keine besondere geistige oder kulturelle Tradition. Dieser Mangel wurde von dem letzten mittelalterlichen königlichen Patron der Abtei, Heinrich VII., erkannt, der den Bau der großen Votivkapelle am Ostende der Abteikirche 1503 begann und bestimmte, daß dort nur Mönche aus Westminster., die auch einen Universitätsabschluß hatten, den Dienst ausüben sollten. Doch bald nachdem die Kapelle Heinrichs VII., die sein Grabmal und das seiner Gemahlin enthält, 1519 fertiggestellt worden war, wurde das Schicksal der Mönche immer unsicherer. Am 16. Januar 1540 wurde die Abtei an Heinrich VIII. übergeben und durch eine Kollegiatkirche mit einem Dekan und zwölf Präbendeninhabern ersetzt. Obwohl sich die Gebäude vergleichsweise gut erhalten hatten, war die Abtei seit 1559 nicht mehr ein Kloster, sondern blieb eine Kollegiatkirche, die nun die Herrschaft der englischen Monarchen als Oberhäupter der protestantischen Kirche in England symbolisierte.
R.B. Dobson