TOURAINE
 

Lexikon des Mittelalters: Band VII Spalte 916
********************
Touraine
------------
Historische Landschaft, ehemalige Provinz und früheres Herzogtum in West-Frankreich

Die im 4. Jh. gegründete Kirche von Tours stieg durch das Wirken des heiligen Martin (371-397) zur führenden kirchlichen Institution des nördlichen Gallien auf. Der heilige Bischof, der sich oft als Einsiedler nach Marmoutier zurückzog, begründete in mehreren ländlichen Gemeinden der Touraine Klerikergemeinschaften; diese Ansätze zum Aufbau eines ländlichen Pfarrwesens wurde von seinen Nachfolgern fortgesetzt.
470 gliederte König Eurich das Gebiet der Touraine (ganz oder teilweise) dem Reich der Westgoten ein, die versuchten, den Arianismus einzuführen. Doch drangen bald die Franken in das von König Chlodwig nach der Schlacht von Vouille (507) besetzte Gebiet vor.

Ausgehend von St-Martin, das Pilgerströme anzog, wurde eine Reihe von großen Abteien errichtet oder reorganisiert (Marmoutier, Cormery, St-Julien de Tours, St-Mexme de Chinon, Villeloin).
Persönlichkeiten wie der Bischof und Geschichtsschreiber Gregor von Tours (573-594) und der Ratgeber KARLS DES GROSSEN, Alkuin (um 730-804), Abt von St-Martin, begründeten den hohen Rang der Touraine, im geistigen Leben des Früh- und Hochmittealters. Das Gebiet diente vom 6. Jh bis ins 9. Jh. als Operationsbasis der fränkischen Expansion in der Armorica (Bretagne) und nach Aquitanien. Verschont von der muslimischen Invasion (Sieg Karl Martells bei Poitiers), erfuhr die Touraine bis zur Mitte des 9. Jh. eine wirtschaftliche Blüte.
Nachfolgend wurde die Region durch Einfälle der Normannen (zwischen 853 und 903) schwer geschädigt. Die ROBERTINER bzw. KAPETINGER, die maßgeblich den Kampf gegen die Normannen geführt und das Laienabbiat von St-Martin an sich gezogen hatten, überließen die Touraine und ihre Nachbarregionen auf längere Sicht den beiden ihnen als Vasallen untergeordneten Fürsten-Familien, den Grafen von Angers (Anjou) und den Grafen von Blois. Die Besitzungen der beiden heftig rivalisierenden Geschlechter waren stärkstens miteinander verzahnt (Anjou: Amboise, Loches und Montrichard; Blois: Tours, Montsoreau, Chinon und Saumur). Beide Seiten bauten eine Netz von Befestigungen auf, zunächst hölzerne Turmburgen, dann steinerne Donjons. Im frühen 11. Jh. errangen die ANJOU definitiv den Sieg (Schlachten von Pontlevoy, 1016, St-Martin-le-Beau/S. Martinus de Bello/St-Martin la Bataille, 1034); die angevinisch gewordene Touraine bildete seit 1154 einen Eckpfeiler des Festlandbesitzes der PLANTAGENET (sogenanntes Angevinisches Reich). Trotz der militärischen Konflikte vollzog sich allmählich wie in anderen westfranzösischen Gebieten starker Landesausbau (Rodungstätigkeit), entstanden Kastellaneien und wurde die Reorganisation des kirchlichen Lebens in Angriff genommen. Bischof Theotolos von Tours setzte Cluniazenser in St-Julien an; Abt Gauzbert restaurierte Marmoutier; auch wurden neue Abteien gegründet (Beaulieu-les-Loches, Preuilly, Noyers). Infole der Gregorianischen Reform wurden zahlreiche Pfarrkirchen dem Patronat von Äbten unterstellt. König Heinrich II., der häufig in Chinon residierte, ließ die ersten turcies (Loiredämme) gegen die gefürchteten Hochwasser errichten.

Von 1188 an unternahm Philipp II. Augustus, König von Frankreich, große Anstrengungen zur Eroberung der Touraine, die 1205 der französischen Krondomäne angeschlossen wurde. Nach dem Tode des Seneschalls des Anjou, Guillaume des Roches (
1222), vermochte die kapetingische Monarchie gegenüber der lokalen Aristokratie die administrative Autorität ihrer Baillis durchzusetzen. Das Land erlebte eine neue Wirtschaftsblüte, die sich in der zentralen Bedeutung des Tournois für das europäische Währungswesen des Mittelalters widerspiegelt. Zisterzienser (La Clarte-Dieu) und geistliche Ritterorden faßten Fuß in der Touraine; die gotische Baukunst blühte auf.
1322 wurde die Touraine (nicht aber das Anjou) dem künftigen König Jean/Johann II. als Apanage übertragen. Ab etwa 1350 hatte die Region unter den Verwüstungen des Hundertjährigen Krieges zu leiden; es kam zu englischen Einfällen, Plünderungen durch Söldnerkompagnien, Bauernaufständen und Epidemien. Von der Touraine aus bereitete Jeanne d'Arc (Chinon, 1429) die Befreiung von Orleans vor, doch hielten die Kriegswirren noch bis zur Mitte des 15. Jh. an
Nach dem Ende der Feindseligkeiten (1453) profitierte die Touraine dann von der Präsenz der großen VALOIS-Könige Karl VII., Ludwig XI., Karl VIII., Ludwig XII. und Franz I., deren glanzvolle Hofhaltung und Bautätigkeit ("Loire-Schlösse") dem wirtschaftlichen Wiederaufschwung starke Impulse gaben. Die Städte (Tours, Loches, Chinon, Amboise) traten in ihr Goldenes Zeitalter ein und erlebten im 16. Jh. ihre große Blütezeit.
G. Devailly