BAILLI, BAILLIAGE
Lexikon des Mittelalters:
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Bailli, bailliage
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I. Entstehung:
Bailli (ballivus)
ist schon um 1150 ein in Frankreich recht gebräuchlicher Ausdruck,
der in noch unscharfer Weise den Bevollmächtigten eines Grundherrn
bezeichnet. Der Begriff beginnt eine spezifische Bedeutung anzunehmen,
als Heinrich II. Plantagenêt
im Jahre 1170 Baillis in seine Festlandlehen schickt,
die als Wanderbeamte die Aufgabe haben, in Gruppen zu mehreren in
seinem Namen Untersuchungen durchzuführen. - Seit 1173 sind in
Paris ballivi domini regis in
Parisiaca urbe belegt. Um 1190
führt
Philipp II. August
die Institution in der Mitte und dem Norden
des Königreiches, wo seine wichtigsten Besitzungen liegen,
allgemein ein. Sein Plan ist groß angelegt: Bis dahin war der
König gegenüber dem Adel nur durch den Seneschall vertreten
worden, da sich der Adel weigerte, mit den örtlichen Vertretern
des Königs in der Krondomäne, den prévôts, zu
verhandeln; seit 1191 läßt der König das grand office des Seneschalls
unbesetzt, kurz nachdem er in die Krondomäne jene bailliages enquêteurs
entsandt hat, die den
prévôts übergeordnet sind und die Aufgabe
haben, an Ort und Stelle mit der nichtadligen Bevölkerung und auch
mit dem Adel zu verhandeln. Für den König bedeutet dies einen
wichtigen Schritt zur Durchsetzung seiner Souveränität.
Ludwig der
Heilige formt die Institution unter Beibehaltung ihrer
Zweckbestimmung im Laufe der Zeit um: Jeder Bailli wird sein ordentlicher
örtlicher Vertreter, dessen Amtsbezirk zunächst aus mehreren
Gerichtsbezirken besteht und später als bailliage definiert wird. Dies
gilt für die meisten Gebiete des Gewohnheitsrechts (pays de coutume), ausgenommen
insbesondere Bretagne, Poitou und
Limousin, um Unterschied zum übrigen Königreich, wo die
örtliche Vertretung des Königs in der Krondomäne
Seneschällen anvertraut ist. Seit der 2. Hälfte des
13. Jh. findet man in den pays
de coutume neben den Baillis des Königs (bailliages royaux) auch Baillis der Grundherren (bailliages seigneuriaux) mit
entsprechenden Aufgaben.
II. Stellung:
Der Bailli wird vom
König (oder Grundherrn) ernannt als sein ordentlicher Vertreter in
einem bestimmten Gebiet. Der König beruft die Baillis entweder in seiner Domäne
aus der Bürgerschaft, vor allem dem Kreis der maires (Vorsteher) der Städte,
unter den prévôts oder
aus dem Kleinadel oder außerhalb der Domäne unter den
Amtleuten der Grundherren. Sie werden dem König von den anderen Baillis vorgeschlagen, denen diese
Personen durch ihre Teilnahme an den Gerichtstagen bekannt sind. Der Bailli leistet
zwei Eide, dem König persönlich bei seiner Ernennung und auf
dem ersten Gerichtstag bei der Einsetzung in sein Amt. Im 13. Jh.
versetzt der König seine Baillis oft von einem bailliage in ein anderes oder
überträgt ihnen sogar andere Ämter, was die
Ähnlichkeit der verschiedenen Ämter beweist. So ist zum
Beispiel Philippe de
Rémi
Beaumanoir zunächst Bailli des Grafen von
Clermont-en-Beauvaisis, dann macht der König ihn zu seinem
Seneschall im Poitou und Saintonge, danach wird er nacheinander Bailli im
Vermandois, in der Touraine und in Senlis. Der Bailli wird
während seiner Amtstätigkeit fest besoldet und kann
außerdem eine lebenlängliche oder vererbliche Rente
erwerben. Die besten seiner Baillis beruft der König entweder an
seinen Hofhalt (Hôtel), seinen Rat (Conseil) oder als
Anwälte an das Parlement, an die Chambre
des comptes oder an das Echiquier (in der Normandie). So verfügt der Kg. um
1300 über etwa 15 treu ergebene Baillis,
die jederzeit zur Verfügung stehen. Die flexible Stellung des Bailli wird im
14. und 15. Jh. starr und nähert sich der eines Beamten. Die
Bezüge bleiben nominell auf dem Stand des 13. Jh., aber ihr
realer Wert sinkt. Das Amt wird normalerweise nur noch Adligen
übertragen, Unabsetzbarkeit und Unversetzbarkeit werden die Regel.
III. Aufgaben:
Im 13. Jh. stehen die Amtshandlungen des Bailli
überwiegend im Zusammenhang mit den Gerichtstagen, deren Ort und
Zeit durch das Herkommen bestimmt sind, und die er leitet. Vor diesem
Gericht nehmen Adlige, Bürger und Bauern aus seinem Sprengel
Recht, außerdem noch in sogenannte cas royaux, für die der
König die Zuständigkeit in Anspruch nimmt, auch Parteien von
außerhalb der Krondomäne. An den Gerichtstagen verleiht der
königliche Bailli der
Staatshoheit des Königs Ausdruck, indem er dessen Willen bekannt
macht und Anordnungen veröffentlicht.
Die Gerichtsbarkeit des Bailli
umfaßt drei Bereiche: Im Rahmen der streitigen Gerichtsbarkeit
wird der Bailli bei
Appellationen gegen Urteile der prévôts und in allen
übrigen Fällen in erster Instanz tätig,
einschließl. der cas royaux, wenn es sich um den königlichen
Bailli handelt;
im Rahmen der freiwilligen Gerichtsbarkeit fertigt er Rechtsakte der
Parteien unter seinem persönlichen Siegel oder dem des bailliage aus (letzteres allgemein
seit der ordonnance von
1280); schließlich fungiert er auch als Schiedsrichter. Die
Teilnehmer der Gerichtstage sind Standesgleiche (Pairs, lat. pares) und Richter, während
der Bailli als
Vorsitzender das Urteil verkündet und dadurch vollstreckbar macht.
In Wehrsachen vertritt der Bailli den
König (oder Lehnsherrn) gegenüber seinen Vasallen, er nimmt
ihren Treueid entgegen, er bietet sie zur Heerfahrt auf (Heerbann,
französisch ban und arrière-ban) und befehligt
sie. Er ist auch Befehlshaber der Festungen des Königs (oder des
Grundherrn) im bailliage.
In Finanzsachen ist der Bailli persönlich verantwortlich
(und legt mit dem receveur
des bailliage jährliche
Rechnung) für die richtige Verwaltung von Einnahmen und Ausgaben,
die im Namen des Königs (oder des Grundherrn) im Amtsbezirk
vorzunehmen sind. Auch für den Teil der Finanzverwaltung, der den prévôts obliegt (die
Einziehung der ordentlichen Abgaben und die Begleichung der Unkosten),
ist der Bailli dem
König verantwortlich, während jeder prévôt seinerseits dem
Bailli Rechnung legen muß.
Ist der Bailli im
13. Jh. Amtsträger mit umfassender Kompetenz, so führt
die Vermehrung der Geschäfte im 14./15. Jh. allmählich
zu einer Neuverteilung der Aufgaben. Der Bailli verliert
seine Kompetenzen an Sonderbevollmächtigte, die nach und nach von
ihm unabhängig werden. Diese Entwicklung betrifft in erster Linie,
aber nicht ausschließlich, die königlichen Baillis. So erfaßt sie zum Beispiel
im Bereich der Gerichtsbarkeit auch die wichtigsten bailliages seigneuriaux.
Die freiwillige Gerichtsbarkeit überläßt der Bailli seit dem
späten 13. Jh. zunehmend dem Siegelbewahrer (garde-scel). An den
Gerichtssitzungen, in denen um dieselbe Zeit Vertreter (procureurs; procureur) und
Anwälte (avocats; avocat du roi) des Königs
erscheinen, geht der Vorsitz an einen Gerichtsstatthalter (lieutenant de justice) über,
der seit Ende des 15. Jh. unmittelbar vom König berufen und
somit ebenfalls vom Bailli
unabhängig wird. Damit ist die Gerichtsbarkeit, die sich immer
noch auf das bailliage
bezieht, nicht mehr dem Bailli
anvertraut. Auf dem Gebiet der Finanzen geht um 1300 die
Zuständigkeit für die Erhebung der herkömmichen.
ordentlichen und außerordentlichen Einkünfte des Königs
vom Bailli auf einen
Einnehmer (receveur)
über, der kurze Zeit später dem König direkt Rechnung
legt, ohne noch dem Bailli zu
unterstehen. Noch schwerer wiegt, daß der Bailli und das bailliage abseits zweier
einschneidender Neuerungen bleiben, die etwa 1441 abgeschlossen sind
und zur Errichtung eines stehenden Heeres und der Einführung einer
direkten Steuer (taille)
führen.
Die große Zeit der königlichen Baillis war das 13. Jh. Nur dank der
Präsenz dieser wirkungsvollen Vertreter des Königs konnte
sich dessen Souveränität durchsetzen. Die Bedeutung der bailliages royaux war hierbei denen der bailliages seigneuriaux insofern
überlegen, als die Institution des Bailli mehr dazu
gedient hat, die königliche Staatshoheit zu fördern als die
Stellung des Lehnsherren zu stützen.
O. Guillot
IV. Die bailliages im Spätmittelalter:
Seit dem Ende des 13. Jh. wurden die bailliages (bailliages) entsprechend den Gerichtstagen,
die das Parlament den Fällen von öffentlichem Interesse aus
diesen Gebieten widmete, in drei Gruppen eingeteilt:
1. die bailliages »de France«: Amiens,
Auvergne (von der 1324 das bailliage
Montagnes d'Auvergne abgetrennt wurde), Bourges, Mâcon
(später zeitweise mit Sénéchaussée Lyon
vereinigt), Orléans, Senlis, Sens, Tours, Vermandois; hierzu
trat die garde der prévôté
Paris (die nur kurze Zeit unter Ludwig
dem Heiligen
eine »baillie«
bildete).
2. die bailliages »de Normandie«,
welche die bailliages umfaßte, die nach der
Annexion der Normandie unter König
Philipp II. August
(1204) gebildet wurden: Caen, Caux, Cotentin, Gisors, Rouen, Verneuil.
3. die Baillis »de Champagne«, durch
welche die alte Verwaltungseinteilung der Grafschaft Champagne vor der
unter König Philipp dem Schönen
geschlossenen Personalunion wiederaufgenommen wurde: Chaumont, Troyes
(zeitweise mit Meaux und Provins vereinigt), Vitry. Diese
Verwaltungsstruktur bildet seit 1285 den Schlüssel zur gesamten
regionalen Administration, Finanzverwaltung und Gerichtsverfassung
Frankreichs.
In der Folgezeit, in der sich die Schaffung der Apanagen (Apanage)
vollzog, errichtete das Königtum
bailliages, deren Zuständigkeitsbereich
ausdrücklich diejenigen »Immunitäten«, die nicht
von den Apanagen abhingen, umfaßte, aber ebenso die Appellationen
aus den Hoheitsgebieten der Apanagen: So war das bailliage
Montargis für die Apanage Orléans zuständig; das bailliage
St-Pierre-le-Moutier (1361) für Berry und Auvergne usw.
Weitere Gründe für die Errichtung von bailliages waren:
die Wiedereingliederung bestimmter großer Lehen in die
Krondomäne (Chartres 1330, Mantes 1365, Evreux 1378); die
Ausübung von Hoheitsrechten, die dem Königtum (in
Südwest-Frankreich) durch pariage
erwuchsen (Gévaudan 1290, Velay 1326); die Konfiskation von
Lehen (Alençon, Amboise, Nemours); allgemeine administrative,
politische und strategische Gründe (Aunis, Melun 1360, Meaux
1372). Nach der Annexion des Herzogtums Burgund (1477) knüpfte die
königliche Verwaltung an die dort bestehende bailliage-Organisation
an: Autun, Auxerre, Auxois, Bar-sur-Seine, Chalon-sur-Saône,
Dijon, La Montagne. Schließlich wurde auch die Dauphiné
hinsichtlich ihrer Gerichtsverfassung in bailliages aufgeteilt: Viennois, Viennois-La
Tour, Viennois-Valentinois, Baronnies, Briançonnais, Embrunais,
Gapençais (diese drei bailliages waren zeitweise vereinigt) und
Valentinois-Diois. - Vom bailli
zu unterscheiden ist das Amt des bayle.
R.-H. Bautier