Schneider Reinhard: Seite 88,92-96
****************
"Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter"

Wenn Gregor von Tours die Anteile eines jeden grob skizziert und davon spricht, daß das Los Charibert das Reich Childeberts mit der Hauptstadt Paris, Guntram Chlodomers Reich von Orleans, Chilperich des Vaters Chlothar Reich von Soissons und schließlich Sigibert das Reich Theuderichs mit der sedes Reims zuteilte, so ist nicht an "Verlosen" im üblichen Sinne zu denken, sondern mit sors der jeweilige Anteil bei der Erbfolgeregelung gemeint.
Als nämlich Sigibert durch Kämpfe mit den Awaren gebunden war, fiel Chilperich in dessen Reich ein und riß Reims und einige andere Städte an sich. Sobald jedoch Sigibert freie Hand hatte, revanchierte er sich mit der Eroberung von Soissons, wo auch Chilperichs Sohn Theudebert in Gefangenschaft geriet. Erst die offene kriegerische Auseinandersetzung mit einem für Sigibert günstigen Ausgang beendete vorerst den Bruderstreit, der keiner Seite Gewinn eingebracht hatte.
Chariberts Reich wurde nach dessen Tod unter die überlebenden Brüder aufgeteilt und das Ergebnis in einem förmlichen Vertragstext festgehalten. Nur Chilperich war mit den vertraglichen Regelung nicht einverstanden und riß von Sigiberts Anteil an Chariberts Reich die Städte Tours und Poitiers an sich, auf die Dauer jedoch vergebens, weil die verbündeten Sigibert und Guntram ihm das Gebiet wieder abjagten. Im Rahmen unserer Fragestellung hätte der Vorfall kaum erwähnt zu werden brauchen, wenn sich nicht aus Gregors Bericht ergäbe, daß der gegen Chilperich erfolgreiche Feldherr seiner Brüder von der Bevölkerung beider wiedereroberter Städte den Treueid auf König Sigibert als Mittel der Herrschaftssicherung verlangt hatte. Einen Treueid auf sich selbst als den König hatte Sigibert auch von der Bevölkerung von Arles durch seinen Feldherrn Adovar fordern lassen, als Sigibert seines Bruders Guntram Anteil an Chariberts Erbe zu schmälern suchte. Den Attacken Chilperichs auf Tours und Poitiers und Sigiberts auf Arles, die beide letztlich ganz erfolglos blieben, läßt sich doch wohl entnehmen, daß Theudechildes, der Witwe König Chariberts, Einheiratsangebot und ihre Auslieferung der Schätze an Guntram diesem einen entscheidenden Vorteil bei dem Erbteilungsvertrag eingebracht haben.
Als Sigibert in Paris weilte, erhielt er von den Franken, die einst zu Childebert als ihrem Herrn aufgeblickt hatten, eine förmliche Einladung: Käme er zu ihnen, so würden sie Chilperich verlassen und ihn zum König über sich erheben. Sigibert beeilte sich, der Einladung nachzukommen. Inzwischen werden die Franken, die Chilperich verlassen wollten, diesen Schritt, der einer Herrscherabsetzung gleichkam, vollzogen haben, denn als Sigibert zum Hofe Vitry kam, wurde er vor versammeltem Heere auf den Schild erhoben und zum König eingesetzt. Die Schilderhebung erfolgte durch das Heer, das sich zu Sigibert nach Vitry begeben hatte - also durch jene Franken, die ihn eingeladen  und den bisherigen König verlassen hatten. Aus Gregors von Tours Worten geht der eindeutig konstitutive Charakter der Schilderhebung hervor: "Sie hoben ihn auf den Schild und machten ihn damit zu ihrem König". So deutlich der Erhebungsakt und die konstitutive Funktion der Heeresversammlung hier zu erkennen sind, für Sigibert folgte unmittelbar auf die Erhebung zum König in einem neuen Reichsgebiet der allertiefste Sturz. Im Gedrängel der Versammlung gelang es zwei angeblich von Chilperichs Frau gedungenen Männern, König Sigibert zu ermorden [Gregor IV, 51 Seite 188. Nicht auszuschließen ist ein größerer Putsch, dem Sigibert zum Opfer fiel. Gregor von Tours berichtet nämlich, daß in Vitry auch Sigiberts Kämmerer Charegisel ermordet und der Gote Sigivald schwer verletzt wurden. Nach dem Liber historiae Francorum c. 32 (SS rer. Mer. 2 Seite 296) schickte Königin Fredegunde zwei gedungene Mörder.].
Mit Sigiberts Tod (575, nach September 1) hatte sich die politische Bedrängnis Chilperichs grundlegend verändert.
In diesem Sinne ist Chilperichs Verhalten nach dem Mordtag von Vitry fast typisch: Er sorgte für die Bestattung des Bruders, zog nach Paris, wo er die Witwe des Verstorbenen mit ihren Töchtern - der Sohn Childebert war ja bereits in Sicherheit - gefangennahm und in Rouen festsetzen ließ. Den Hort, den Brunhilde mit nach Paris gebracht hatte, eignete sich Chilperich selbstverständlich an.