Schieffer Rudolf:
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"Die Karolinger"

Karl Martell, der für sich selbst zeitlebens nichts als die Alleinherrschaft erstrebt hatte, muß es am Ende im Vollgefühl seiner Erfolge für hinnehmbar, vielleicht sogar im Hinblick auf die Praxis der merowingischen Könige für inzwischen "standesgemäß" gehalten haben, das Reich zu teilen und jedenfalls seinen beiden erwachsenen Söhnen aus erster Ehe, dem mindestens 33-jährigen Karlmann und dem vielleicht 25-jährigen Pippin dem Jüngeren, gleichberechtigt den "Prinzipat" zu hinterlassen; er ließ sich aber eindeutig darüber hinaus noch für den dynastisch konsequenten Gedanken gewinnen, auch seinen höchstens 15-jährigen Sohn Grifo aus zweiter Ehe, der samt seiner Mutter besonderer Sympathien in Bayern gewiß sein durfte, mit einem eigenen Anteil auf Kosten der älteren Halbbrüder auszustatten. Die absehbaren Verwicklungen mit Swanahilds agilolfingischen Verwandten wurden noch dadurch prinzipiell verschärft, dass ihnen ebenso wie dem aquitanischen Herzog erstmals zugemutet wurde, eine Übertragung des Hausmeieramtes im reinen Erbgang, ohne jede Legitimierung durch einen König, mitzuerleben. Ob Karl an die Durchführbarkeit des Teilungsplans auch in seiner modifizierten Form geglaubt hat, steht dahin, doch muß auffallen, dass nur für das ursprüngliche Konzept zugunsten Karlmanns und Pippins eine förmliche Zustimmung der Großen bezeugt ist, während die Einbeziehung Grifos allgemeine Besorgnis ausgelöst haben soll. An dieser tendenziösen Überlieferung scheint so viel richtig zu sein, dass die beiden älteren Brüder zusammen auf den bei weitem größeren Rückhalt in der fränkischen Führungsschicht vertrauen konnten, was hauptsächlich erklären dürfte, warum es Grifo anders als einst seinem Vater und trotz einer besser begründeten Ausgangsposition nicht gelang, die "Hausordnung" umzustoßen.
In einem sehr zügigen Drama zog die "bayerische Partei" der letzten Jahre Karl Martells rasch den kürzeren: Hiltrud eilte zu Herzog Odilo nach Bayern und heiratete nun den Vater ihres kleinen Sohnes Tassilo gegen den Willen ihrer Brüder. Falls Swanahild von dort Unterstützung für Grifo erwartete, blieb dies vergebens, denn Karlmann und Pippin haben anscheinend noch vor der Jahreswende 741/42 den Versuch ihres Halbbruders im Keim erstickt, sein zentral gelegenes Teilreich (oder mehr?) an sich zu reißen. Grifo wurde in Laon umzingelt und schließlich auf dem Chevremont bei Lüttich gefangengesetzt, während seine Mutter im alten Königskloster Chelles bei Paris verschwand, das hier erstmals in den Händen der KAROLINGER begegnet. Die Abqualifizierung der zweiten Gemahlin Karls als Konkubine bildete offenbar die moralische Rechtfertigung dieses Vorgehens und dürfte sich von daher in der Überlieferung ausgebreitet haben. Bevor die beiden Hausmeier dann den Kampf nach Bayern selbst trugen, unternahmen sie im Frühjahr 742 einen gemeinsamen Vorstoß in das (ebenfalls keinem von ihnen ausdrücklich zugesprochene) Aquitanien, wo sie dem dux Hunoald vornehmlich durch die Einnahme von Bourges ihre militärische Stärke erwiesen. Zusammen traten sie ferner im Herbst in Alemannien auf, um an der Donau wiederum gegnerische Kräfte einzuschüchtern. Der Vorbereitung auf die kommende Auseinandersetzung mit einer Koalition aller Unzufriedenen diente sichtlich auch die Entscheidung, Anfang 743 noch einmal einen merowingischen König namens Childerich III. einzusetzen, was zwar in den erzählenden Quellen verschwiegen wird, aber aus urkundlichen Zeugnissen hervorgeht und keinen anderen Zweck gehabt haben kann, als die Position der beiden Hausmeier unanfechtbar zu machen.
Nach einer lange verkannten Nachricht der Reichsannalen hatten Karlmann und Pippin 742 auf dem Rückweg aus Aquitanien in Vieux-Poitiers eine abermalige Reichsteilung vereinbart, die offenbar der Ausschaltung Grifos Rechnung tragen sollte.
Nach der Konsolidierung der Verhältnisse in der inneren Francia traten die Hausmeier 743 den gemeinsamen Feldzug gegen ihren ungeliebten Schwager Odilo von Bayern an, der sich sächsische, alemannische und slawische Hilfstruppen gesichert hatte. Am Lech fiel die Entscheidung, als die Franken den Flußübergang erzwingen und das bayerische Heer schlagen konnten; Odilo floh ebenso wie sein Verbündeter Theudebald, der Bruder des früheren Alemannen-Herzogs Lantfrid, und mußte sich beim Friedensschluß, wahrscheinlich unter Gebietsverlusten, erneut der karolingischen Oberhoheit beugen. Nach diesem Erfolg gingen die Hausmeier gegen die übrigen Feinde in sorgsam abgestimmter Weise vor: Während Karlmann 743 und nochmals 744 bis ins östliche Sachsen hinein Schrecken verbreitete, setzte sich Pippin wohl 744 mit Theudebald auseinander, der von Alemannien her ins Elsaß eingedrungen war. Das Jahr 745 sah dann wieder beide Brüder zusammen beim Heereszug gegen Hunoald von Aquitanien, der während des bayerischen Unternehmens einen Einfall in Neustrien gewagt hatte und nun zur Kapitulation gezwungen wurde. Man ließ ihn seine Tage im Kloster beschließen, gestattete ihm aber, seinem Sohn Waifar den aquitanischen Dukat zu übertragen. Den Abschluß dieser neuen Welle der Zentralisierung des Franken-Reiches bildete das Einschreiten Karlmanns in Alemannien, der dort 746 eine letzte Empörung blutig niederschlug und das Herzogtum endgültig beseitigte.
Die unterschiedliche Haltung der beiden regierenden Brüder gegenüber Bonifatius gehört zu den wichtigsten Aspekten bei der Beurteilung der Frage, woran der erste Versuch einer Doppelherrschaft von KAROLINGERN schließlich gescheitert ist. Die loyal gestimmten Quellen vermitteln sechs Jahre hindurch das Bild eines einträchtigen Miteinander der Hausmeier, bei dem anfangs sogar eher Karlmann die aktivere Rolle spielte; gemeinsam setzten sie den ererbten Führungsanspruch innerhalb der Familie - gegen Grifo wie auch die schattenhaften Halbbrüder von eindeutig illegitimer Abkunft - durch und wiesen ebenso die peripheren Herzöge in die Schranken. Während Karlmann offenbar schon länger verheiratet war (mit einer Frau, deren Namen wir nicht kennen) und zumindest einen heranwachsenden Sohn Drogo hatte, wählte der jüngere Pippin wohl 744 seine Gattin Bertrada, die Tochter des Grafen Heribert von Laon, aus einem der führenden Geschlechter Austriens, der Stifterfamilie des Eifelklosters Prüm. Mit der Geburt ihres Sohnes KARL, des späteren Kaisers, am 2.4.747 kündigte sich gerade an, dass die Aufspaltung des KAROLINGER-Hauses in zwei Linien von längerem Bestand sein würde, als im Herbst 747 der Hausmeier Karlmann mit dem Entschluß hervortrat, "aus brennendem Verlangen nach frommer Hingabe" der Herrschaft zu entsagen und sich in Rom dem geistlichen Leben zu widmen. Die ausschließlich religiöse Begründung der Abdankung, die in den Quellen vereinzelt auch als Reue über die blutige Unterdrückung der Alemannen im Vorjahr präzisiert wird, verdient eine gewisse Skepsis, doch ist es der Forschung nicht gelungen, konkrete politische Differenzen der Brüder (etwa in der Behandlung des Adels, in der Königsfrage oder im Verhältnis zu den Langobarden) einsichtig zu machen. So bleibt wohl nichts übrig, als auf den besonderen Eifer Karlmanns für die Sache des Bonifatius hinzuweisen und eine persönliche Entscheidung aus dem Geist einer strengeren christlichen Herrscherethik anzunehmen, wozu neben dem Vorbild früherer angelsächsischer Könige auch eine gewisse Enttäuschung über die akuten Widerstände gegen die fränkische Kirchenreform beigetragen haben mag. Karlmann "übergab", so wird uns versichert, "sein Regnum und seinen Sohn Drogoin die Hände seines Bruders Pippin", bevor er sich von Papst Zacharias in den römischen Klerus aufnehmen ließ und auf dem Monte Soratte nördlich der Stadt ein Kloster gründete, von wo er etwa 750 als Mönch nach Montecassino auswich, angeblich weil ihm der häufige Besuch fränkischer Pilger, darunter wohl auch politischer Gegner sines Bruders, lästig wurde.
Als nunmehr alleiniges Famillienoberhaupt war Pippin indes kaum gesonnen, die Macht abermals zu teilen, weshalb der junge Drogo nur ganz kurzfristig als Inhaber eines eigenen Herrschaftsbereichs in Austrien erscheint, dann aber beiseite geschoben wurde. Im unklaren Zusammenhang damit steht die Nachricht, dass der früher schon ausgeschaltete Halbbruder Grifo 747 gleich nach Karlmanns Verzicht von Pippin auf freien Fuß gesetzt wurde, eine Versöhnung jedoch ablehnte und mit "sehr vielen jungen Männern aus fränkischem Adel, die ihren eigentlichen Herrn verließen", zu den feindlichen Sachsen eilte. Als der Hausmeier auf die kaum verhüllte Rebellion mit einem raschen Feldzug bis zum Harz reagierte, floh Grifo weiter nach Bayern, wo er sich nach dem Tod des Herzogs Odilo (748) neue politische Chancen ausrechnete. Im Namen von dessen Witwe, seiner Halbschwester Hiltrud, und ihres unmündigen Sohnes Tassilo, die er in seine Gewalt brachte, begann er - als AGILOLFINGER und KAROLINGERzugleich - über diesen Dukat zu herrschen, unterstützt nicht bloß von bayerischen, sondern auch fränkischen und alemannischen Großen. Pippin war dadurch herausgefordert, 749 erneut mit starker Macht nach Bayern zu ziehen, warf seine Gegner bis hinter den Inn zurück und zwang sie zur Ergebung. Während Hiltrud die Vormundschaft über Tassilo in Bayern belassen wurde, erschienen Grifos Herrschaftsansprüche in der Francia offenbar immer noch als fundiert und sein Anhang als gewichtig genug, um Pippin zu veranlassen, ihm eine Abfindung mit 12 Grafschaften um Le Mans zu gewähren. Auch damit nicht zufrieden, wandte sich Grifo bald als letzter Zuflucht innerhalb des Reiches Aquitanien zu, dessen Herzog Waifar ihn jedoch nur für begrenzte Zeit schützen konnte. Beim Versuch, zu den Langobarden nach Italien durchzubrechen, wurde er 753 in den Alpen von Pippins Leuten im Kampf getötet und damit vollends zum Opfer des dynastischen Rangstreits mit dem älteren Stiefbruder.
Zu den Ungewißheiten im Hintergrund des Familienzwistes nach 741 gehört nicht zuletzt, ob die Brüder verschiedene Ansichten über das Festhalten am (743 nochmals erneuerten) Königtum der MEROWINGER hatten, oder anders gesagt: seit wann Pippin sich das Ziel setzte, selber offen an die Spitze des Reiches zu treten. Jedenfalls schufen erst der Rücktritt Karlmanns und die Überwindung Grifos die Bedingungen, unter denen der verbliebene Hausmeier daran gehen konnte, den eigentümlichen Bann zu brechen, der seit dem Scheitern seines Urgroßonkels Grimoald fast 100 Jahre zuvor über dem Verhältnis eines immer mächtiger gewordenen Hauses zur fränkischen Monarchie lag.
Das Ansehen des ersten karolingischen Königs begann also nicht nur über das Franken-Reich, sondern bereits über die Grenzen des Abendlandes hinauszuwachsen, doch war es Pippin nicht mehr beschieden, auch in diesem abermals erweiterten Rahmen selbst noch wirksam zu werden. Auf dem Rückweg vom letzten aquitanischen Feldzug traf ihn im Juni 768 die tödliche Krankheit, die ihn zwang, sein Haus zu bestellen. Von den sechs Kindern, die Bertrada ihm geschenkt hatte, waren zwei Töchter und ein 759 zur Welt gekommener Sohn namens Pippinim Kindesalter gestorben, so dass ihm außer Gisela nur die beiden Nachkommen KARL und Karlmannblieben, denen die päpstliche Salbung schon 754 das Erbe der Herrschaft verbürgt hatte. Um ihre künftigen Machtbereiche gegeneinander abzugrenzen, verfügte Pippin mit Zustimmung der Großen, unter denen anders als 27 Jahre zuvor nun auch die fränkischen Bischöfe genannt werden, wiederum eine Reichsteilung, die vom Grundsatz der Gleichberechtigung ausging und in gewisser Anlehnung an die Vereinbarung von Vieux-Poitiers (742) KARL ein nördliches Teilreich von der unteren Loire bis nach Thüringen und Karlmann ein südliches von Septimanien bis nach Alemannien zusprach, während das jüngst gewonnene Aquitanien ihnen je zur Hälfte zufallen sollte. Das eigene Heil im Jenseits suchte der König zu befördern, indem er während seiner letzten Lebensmonate dem heiligen Martin von Tours und dem heiligen Hilarius von Poitiers, vor allem aber dem Kloster Saint-Denis und seinen Abt Fulrad Schenkungen und Rechte zukommen ließ, zuletzt noch am 23.9.768, einen Tag also bevor er in Paris im Alter von etwa 54 Jahren seinem Leiden erlag. An der Seite merowingischer Könige, deren Geschlecht er endgültig von der Führung der Franken verdrängt hatte, fand er nach dem Vorbild des Vaters Karl Martell sein Grab in Saint-Denis.