Schneider Reinhard: Seite 154,157,160-165
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„Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter“

Anders verlief die Herrschaftsnachfolge im Westreich, als Chlodwig II. ein Jahr nach seinem Bruder Sigibert (zwischen dem 11. September und 16. November 657) verstarb. Er hinterließ drei unmündige Söhne: Chlothar III., Theuderich III. und Childerich II., die sich in der Obhut ihrer Mutter, der Königin Balthild, befanden. Nach dem Bericht des Liber historiae Francorum setzten die Franci den ältesten von den drei Söhnen sich als König, der gemeinsam mit seiner Mutter herrschen sollte.
Nach Chlothars III. Tod bestanden im Westreich unterschiedliche Auffassungen, ob von Chlothars Brüdern Childerich II. oder Theuderich III. künftig allein hier herrschen sollte. Da diese "Gesinnungsgenossen" den übermächtigen und "tyrannischen" Hausmeier Ebroin fürchteten, der zu einem Königtum Theuderichs tendierte, richteten sich ihre Pläne auf Chlothars anderen Bruder Childerich, der inzwischen zum König von Austrasien erhoben worden war und unter Berücksichtigung seines jugendlichen Alters jenes Königreich bestens geleitet hatte.
Aufgrund des consilium wurde Childerich dann eingeladen, nach Neustrien und Burgund zu kommen. Er folgte dem Rufe, kam und wurde zum König im Westreich erhoben, ein Vorgang, der sich im üblichen Rahmen bewegte.
Im Interesse aller drei Reiche lag die Herstellung einer pacis concordia zwischen ihnen, das heißt also der Erfolg jener von Balthilde eingeleiteten gesamtfränkischen Friedenspolitik, die in Childerichs II. Erhebung ihre Krönung und weitgehende Sicherung erfahren sollte. Aus der Vita Balthildis geht somit eine neustrische Initiative zur Klärung der austrasischen Herrschaftsnachfolge hervor. Zu erkennen war die politisch relevanteste Entscheidung durch eine Vorwahl des seniores des Ostreiches und die darauf folgende Erhebung Childerichs II. durch die Austrasier, die dem consilium ihrer seniores folgten. Verschwiegen wird von dem Biographen der Königin des Westreiches, welche Rolle Austrasiens ebenfalls verwitwete Königin bei der Königsbestellung gespielt hat [547 Es handelt sich um Himnechilde, die Witwe Sigiberts III., die also eine Tante Childerichs II. war]. Gemeinsam mit Childerich hat sie später Urkunden ausgestellt, die weniger auf eine Vormundschsft als vielmehr auf eine Mitregentschaft der Witwe Sigiberts III. und Tante Childerichs zwingend weisen. Die in der Geschichte der merowingischen Herrschaftsnachfolge so bewährte Form der Einheirat war wohl angesichts von Childerichs Jugend und wegen denkbarer rechtlicher Schranken nicht in Frage gekommen. Um eine modofozierte Form der Einheirat aber handelte es sich, als König Childerich später seiner Tante Himnechildes Tochter Bilichilde, seine eigene Kusine und die Schwester Dagoberts II., heiratete. Unterstellt man, daß diese Heirat schon 661/62 anvisiert worden ist, dann verliert die neustrische Einflußnahme auf Austrasiens Herrscherbestellung doch einiges von der hohen Bedeutung, die ihr aufgrund der Angaben aus der Vita Balthildis zugemessen worden ist.
Der König von Austrasien, der dann nach seiner Erhebung im Westreich seit 673 das gesamte Franken-Reich unter seiner Herrschaft vereinigt hatte, wurde im Herbst 675 zusammen mit seiner Frau Bilichildeermordet [555 LHF 45 Seite 318; das Todesdatum schwankt zwischen dem 10. August und 14. November 675; vgl. Vita Lantberti 5 (SS rer. Mer. 5, 612).]. Childerich II. war Opfer einer weit angelegten Verschwörung unter Führung eines Odilo geworden, der Teile der neustrisch-burgundischen Adelspartei Leodegards gegen den ihm verhaßten König mobilisiert hatte. Sofort brach im Franken-Reich das politische Chaos aus, so daß ein Zeitgenosse glaubte, die Ankunft des Antichrist stünde unmittelbar bevor.