Hlawitschka, Eduard: Seite 229-236
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"Waren die Kaiser Wido und Lambert Nachkommen Karls des Großen?"  in: Stirps Regia

Nun gibt uns aber eine Urkunde aus dem Kloster Tournus, die in diesem Zusammenhang meines Wissens noch nie betrachtet worden ist, einen weiteren Fingerzeig. Mit ihr schenkte ein Graf Witbert pro liberatione lanberti genitoris mei necnon et Rutrudis genetricis meae et mea am 28. Januar 870 fundum Rodonoinem ... in comitatu Odornensi (= abgegangener Ort Saint-Evre am Rognon im Ornois cant. de Bettaincourt, dep. Haute-Marne) an das Marien- und Filibertuskloster in Tournus). Hier wird eine Rotrudis in angesehenen Familienverhältnissen erwähnt. Daß es sich bei Graf Witberts Mutter Rotrud in der Tat nicht um irgendeine beliebige Dame handelte, sondern gewiß um die soeben erwähnte LOTHAR-Tochter, und daß Witbert folglich in engen Beziehungen zum KAROLINGER-Geschlecht gestanden haben muß, scheint mir schon daraus hervorzugehen, daß er - noch bevor er bei der Zweckbestimmungder Schenkung die liberatio der Seelen seiner Eltern vermerkte - angab, er erhoffe sich damit die Befreiung von der eigenen Sündenverstrickung und nehme seine Schenkung besonders vor pro absolutione domni et senioris mei Hlotharii regis. Von diesem König Lothar, bei dem es sich nur um den wenig vorher, am 8. August 869 verstorbenen Lothar II. handeln kann, vermerkte Witbert außerdem, daß er ihm bona quaeque mercede sua largitus est und daß er ihm dabei unter anderem auch den fundus Rodonionisüberlassen habe. Aber nicht nur dies allein: Witbert: Witbert bekannte von König Lothar überdies: Quii mihi et pater extitit. Welchen Grund sollte aber Lothar II. gehabt haben, die Vaterstelle des jungen Witbert zu übernehmen, wenn nicht denjenigen, daß es sich bei ihm um seinen Verwandten, und zwar seinen Neffen, handelte, daß Witberts Mutter Rotrud seine Schwester war? Die Identifizierung der Witbert-Mutter Rotrud mit der gleichnamigen Tochter Kaiser LOTHARS I. bietet für diese Auffälligkieten die überzeugendste Erklärung. Voraussetzung ist bei alledem freilich auch noch, daß Witbert - wenn König Lothar II. zeitweise an die Stelle seines Vaters getreten sein soll - seinen richtigen Vater, Lambert, noch vor der Erreichung seiner Volljährigkeit verlor. Darauf werden wir noch zurückzukommen haben.
Diese Identifizierung wird durch eine weitere Beobachtung gesichert. Jener Graf Witbert scheint nämlich seinerseits die gleiche Vaterrolle, die Lothar II. bei ihm übernommen hatte, nach Lothars II. Tode (869) an dessen jungem Friedelsohn Hugo waghrgenommen zu haben. Durch Regino von Prüm wissen wir ja, daß ein Graf Wicbert jenen sehr eigenwilligen und nach der Herrschaft in Lotharingien strebenden Sohn Lothars II. von frühester Jugend an leitete, daß Hugo ihm das aber schlecht vergalt: Hugo Wicbertum comitem, qui ab ineunte aetate sibi faverat, interfecit (883) [11 Regino, Chronicon ad 883, MG SS rer. Germ., ed. F. Kurze, (1890) Seite 121.]. Die Verbindungen zwischen der Familie Lothars II. und Witbert, die in einer solchen nicht alltäglichen Aufgabe der Übernahme der Vaterstelle sichtbar werden udn die ihre Parallelen in der Erziehung Nithards oder auch der Töchter Pippins von Italien nach dessen Tode am Hofe KARLS DES GROSSEN haben [12 Einhard, Vita Karoli Magni c. 19, MG SS rer. Germ., ed. O. Holder-Egger, (1911) Seite 24.], bedürfen einer Erklärung. Sie ist bei der obigen Identifizierung gefunden. Ja Witbert/Wicbert [13 Zu dieser Identifizierung vgl. bereits R. Parisot, Le royaume de Lorraine Seite 443f., 464.] stand kurz vor seinem Tode außerdem auch in besten Beziehungen zu Kaiser KARL III. Im Jahre 882 soll KARLS Erzkanzler Bischof Liutward von Vercelli ohne Wissen der anderen kaiserlichen Räte, aber zusammen mit dem Grafen Wicbert, der dabei als sehr schlau und hinterlistig bezeichnet wird, den Kaiser bewogen haben, von der Bezwingung der in Asselt (oder Elsloo) eingeschlossenen Normannen abzusehen; und beide sollen KARL dafür die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Normannenführer Gottfried vorgeschlagen, ja solche Unterhandlungen selbst eingeleitet haben [15 Annales Fuldenses ad 882, MG SS rer. Germ., ed. F. Kurze, (8191) Seite 98.]. War Wicbert/Witbert ein Neffe Lothars II. und enger Verwandter KARLS III. selbst, so ist es uns nunmehr sehr begreiflich, wie er zu einer solchen einflußreichen Stellung bei KARL III., die ein Übergehen der anderen kaiserlichen Berater ermöglichte, kommen konnte. Ja, hatte ein Neffe Lothars II. eine Verständigungspolitik mit den Normannen eingeleitet, so ist es auch verständlich, daß der Normannenfürst Gottfried im gleichen Zusammenhang oder ein Jahr später [16 Vgl. E. Dümmler, Geschichte des ostfränkischen Reiches III (²1888) Seite 203 Anm. 1.] sich Lothars Tochter Gisla zur Gemahlin erbat, was sich schließlich zu einem Bündnis Hugos, des Friedelsohnes Lothars II. und Waldradas, mit einem Normannenfürsten ausweitete.
Die von Graf Witbert an das Kloster Tournus geschenkten Güter lagen im comitatus Odornensis, also im Ornois, das nördlich von Chaumont/Marne um Gondrecourt und das Einzugsgebiet des Flüßchens Rognon gelegen ist und somit einen Teil der Südwestgrenze des einstigen Reiches Lothars II. bildete. Die Urkunde nennt uns außer dem fundus Rodonionis (= abgeg. Ort Saint-Evre) 10 Ortschaften, und zwar Sanctus Bricius (= Saint Brice, ebgeg. Ort bei Doulaincourt), villa Agimbodi cum capella in honore sancti Hilarii (= Humbertville, con de Saint-Bil, das eine Hilariuskirche hat, und nicht das nahe dabei gelegene Ambonville, con de Douvelant, in dem sich eine Benignuskirche findet), capella in honore Sancti Remigii in loco quem Domnum Remigium nuncupant (= Domremy-en-Ornois, coa de Doulaincourt), Montes (= ? Montot, coa d'Andelot), Vallis (= Vaux-sur-Saint-Urbain, con de Doulaincourt), Sancto Urbano (= Saint-Urbain, coa de Doulaincourt), Girulficurt (= Dommartin-le-Sainte-Pere, coa de Doulevant), Septemlucis (= ?), Berulficurt (= Braucourt, con de Montier-en-Der) und Digini villa (= Joinville, ch.-l. de con) [18 Die Reimser Kirche hatte diese potestas vom Grafen Hugo, dem Sohn des Grafen Rotgar II. von Laon, erhalten; vgl. Migne PL 135 Seite 414f. Wie dieser, dessen Vater 941 auffälligerweise für das Kloster Tournus bei König Ludwig d'Outremer interveniert hatte, in den Besitz gelangt war, steht nicht fest. Hatte er oder sein Vater oder gar schon sein Großvater diesen vom Kloster Tournus erworben? Sicher scheint, daß das Kloster diesen Besitz nicht lange behalten hat, denn er wird in den Bestätigungsurkunden KARLS DES KAHLEN (von 875), Karls des Einfältigen und Raouls noch in derjenigen Ludwigs IV. für Tournus erwähnt. Aber es ist nicht einmal sicher, ob es sich bei dem Hugo-Besitz um die gleichen Güter handelte, die Wikbert einst von Lothar II. erhalten hatte. (Lediglich Amboldisvilla, von dem in der Urkunde Witberts I. Herrenmanse erwähnt ist - mansum indominicatum in comitatu Odornensi et in villa Agimbodi cum capella in honore Sancti Hilarii episcopi -, wird speziell einmal in Graf Rotgars II. Hand erwähnt: dies indessen ganz und nicht nur 1 Manse; vgl. Gesta episcop. Tullensium c. 33, MG SS VIII Seite 640: Adeptus est etiam (Gauzlinus eps.) a Rotgero comite Amboldi villam in pago Ordonensi). So könnte Witbert einst auch nur bestimmte Teile des Val-de-Rognon erhalten haben, ein anderer Empfänger weiterer Teile, die schließlich auf den Grafen Hugo überkommen sind. Falls aber Witbert ehedem die ganze vallis erhalten, jedoch nur einige Teile davon an Tournus weitergegeben haben sollte und den Rest an seine Nachkommen überließ, könnte man daraus den Schluß ziehen, daß etwa Rotgars II. bislang unbekannte Gemahlin (Eheschluß Rotgars II. ca. 935, vgl. K.F. Werner, Die Nachkommen Tafel IV, 29 und Seite 456) eine Enkelin und Erbin des 883 ermordeten Grafen Witbert gewesen sein dürfte. Die Tatsache, daß Rotgars II. Sohn Hugo ein consanguineus König Lothars von Frankreich war (vgl. Receuil des actes de Lothaire et de Louis V, ed. L. Halphen - F. Lot (1908) Seite 29ff., nr. 14: Schenkung der in der Nähe von Val-de-Rognon gelegenen curtis Condes an König Lothar und von diesem weiter an S. Remy de Reims), vermag aber die hier angedeuteten Zusammenhänge nicht ohne weiteres bestätigen, da Rotgars II. Vater Rotgar I. ja der 2. Gemahl Heilwigs, einer Tochter des Markgrafen Eberhard von Friaul und Giselas, der Schwester KARLS DES KAHLEN, gewesen ist. Diese consanguineus-Angabe dürfte also auch von da her zu erklären sein. Andererseits könnte gleichwohl einer solchen hier ins Auge gefaßten Möglichkeit einer Verbindung einer Witbert-Enkelin mit Rotgar II. kein eherechtliches Bedenken mehr im Wege gestanden haben. Es müßte sich dann ja um eine bereits gestattete Ehe von Verwandten 8. Grades (5:3) gehandelt haben, wobei die beiden Aszendenzäste auch noch aus zwei verschiedenen Ehen LUDWIGS DES FROMMEN hervorgegangen sind.]. In einem etwas weiter nördlich gelegenen Bereich, und zwar in Preisch nördlich von Diedenhofen, trifft man sodann den Witbertus comes neben den Grafen Stephan und Matfried am 18. September 882 an; diese Personen unterzeichnen dort eine Urkunde, mit der ein gewisser Hildebert, ein Sohn des einstigen Grafen Berengar, den Weiler Bures an das Verduner Kloster S. Vanne schenkte. Betrachtet man aber das Ornois als Wiberts Hauptbereich, so darf man vermuten, daß dort auch seine Nachkommen anzutreffen sind. Nach diesen wollen wir Ausschau halten. - Da findet man am 21. Dezember 896 im westlich an das Ornois angrenzenden Gebiet, und zwar in Courtenot bei Bar-s.-S., wieder einen Vuibertus comes; er ist Teilnehmer eines Gerichstages, den der Herzog Richard von der Bourgogne für das Kloster Montieramey abhielt. Vuibert gehörte damals zu den Befürwortern des in höchster Bedrängnis stehenden Königs Karl des Einfältigen, der von seinem Rivalen, dem Nicht-KAROLINGER König Odo, seit dem Herbst 895 aus der Francia vertrieben war. Und als Anhänger Karls des Einfältigen dürfte er mit anderen westfränkischen Großen sowie Adligen aus der Bourgogne in Remiremont in den Südvogesen gewesen sein, als Karl der Einfältige, und sein leitender Staatsmann Erzbischof Fulco von Reims etwa im Februar 896 dort mit dem Kaiser LAMBERT aus Italien zusammentrafen, um ein Freundschafts- und Schutzbündnis abzuschließen. Der Name Vuitbertus erscheint - neben Rotrudis und Adeldrudis - jedenfalls in einem bei dieser Gelegenheit angefertigten Gedenkeintrag im Liber memorialis von Remiremont [22 Liber memorialis von Remiremont (Edition demnächst von E. Hlawitschka, K. Schmid und G. Tellenbach in MGH Antiquitates) f. 11 v nr. 2. Dazu vgl. E. Hlawitschka, Lotharingien und das Reich Seite 147ff. ]. Bei einem Verwandten Karls des Einfältigen braucht eine solche Stellungnmahme nicht zu verwundern [23 Daß er auch noch ein naher Verwandter der italiensichen WIDONEN und Kaiser LAMBERTS war, wird sich weiter unten ergeben.].
Dieser jüngere Graf Witbert, den man wahrscheinlich als Sohn des 883 von Lothars II. Sohn Hugo, seinem einstigen Mündel bzw. Schützling, erschlagenen Grafen Witbert betrachten darf, wurde um die gleiche Zeit noch einmal in den Liber memorialis des Südvogesenklosters Remiremont eingetragen: Uuitbertus, Adheldrudis, Berengarius, Lantbertus, (Rampo - dieser Name wurde jedoch wieder getilgt), Uuitbertus, Uuido, Heldigardis, Quelodini, Bolso).
Wie diese Namengruppe im einzelnen zu deuten ist - ob Adeldrud, die auch in dem voran erwähnten Eintrag aus Remiremont neben Witbert genannt ist, die Gemahlin des jüngeren Grafen Witbert gewesen ist und ob vielleicht aus dem Auftauchen des Namens Berengar eine Verbindung zur Familie jenes Grafen Berengar zu erschließen ist, für dessen Sohn Hildebert der ältere Witbert am 18. September 882 in Preisch bei Diedenhofen als Urkundenzeuge tätig war - mag dahingestellt bleiben. Auffällig ist aber auf alle Fälle das Auftauchen der Namen Lambert und Wido (evtl. auch Rampo) in dieser Reihe. Es zeigt uns - was schon aus dem Namen Lanbert in der Urkunde aus Tournus zu vermuten war -, daß der ältere Graf Witbert, der Gemahl der KAROLINGERIN Rotrud und Sohn jenes Lanbert, in "widonischen" Zusammenhängen zu sehen ist [26 Daß die WIDONEN auch mit Trägern des Namens Rampo verwandt waren, dazu vgl. MG SS XIII Seite 566.].