Nun gibt uns aber eine Urkunde aus dem Kloster Tournus,
die in diesem Zusammenhang meines Wissens noch nie betrachtet worden ist,
einen weiteren Fingerzeig. Mit ihr schenkte ein Graf Witbert pro
liberatione lanberti genitoris mei necnon et Rutrudis
genetricis meae et mea am 28. Januar 870 fundum Rodonoinem ... in
comitatu Odornensi (= abgegangener Ort Saint-Evre am Rognon im Ornois
cant. de Bettaincourt, dep. Haute-Marne) an das Marien- und Filibertuskloster
in Tournus). Hier wird eine Rotrudis
in angesehenen Familienverhältnissen erwähnt. Daß es sich
bei Graf Witberts Mutter Rotrud
in der Tat nicht um irgendeine beliebige Dame handelte, sondern gewiß
um die soeben erwähnte LOTHAR-Tochter,
und daß Witbert folglich in engen Beziehungen zum KAROLINGER-Geschlecht
gestanden haben muß, scheint mir schon daraus hervorzugehen, daß
er - noch bevor er bei der Zweckbestimmungder Schenkung die liberatio
der
Seelen seiner Eltern vermerkte - angab, er erhoffe sich damit die Befreiung
von der eigenen Sündenverstrickung und nehme seine Schenkung besonders
vor pro absolutione domni et senioris mei Hlotharii
regis. Von diesem König Lothar,
bei dem es sich nur um den wenig vorher, am 8. August 869 verstorbenen
Lothar
II. handeln kann, vermerkte
Witbert außerdem,
daß er ihm bona quaeque mercede sua largitus est und daß
er ihm dabei unter anderem auch den
fundus Rodonionisüberlassen
habe. Aber nicht nur dies allein: Witbert: Witbert bekannte
von König Lothar überdies:
Quii
mihi et pater extitit. Welchen Grund sollte aber Lothar
II. gehabt haben, die Vaterstelle des jungen Witbert
zu übernehmen, wenn nicht denjenigen, daß es sich bei ihm um
seinen Verwandten, und zwar seinen Neffen, handelte, daß Witberts
Mutter
Rotrud
seine Schwester war? Die Identifizierung der Witbert-Mutter Rotrud
mit der gleichnamigen Tochter Kaiser LOTHARS I.
bietet
für diese Auffälligkieten die überzeugendste Erklärung.
Voraussetzung ist bei alledem freilich auch noch, daß
Witbert
- wenn König Lothar II. zeitweise
an die Stelle seines Vaters getreten sein soll - seinen richtigen Vater,
Lambert,
noch vor der Erreichung seiner Volljährigkeit verlor. Darauf werden
wir noch zurückzukommen haben.
Diese Identifizierung wird durch eine weitere Beobachtung
gesichert. Jener Graf Witbert scheint nämlich seinerseits die
gleiche Vaterrolle, die Lothar II.
bei ihm übernommen hatte, nach Lothars II.
Tode
(869) an dessen jungem Friedelsohn Hugo
waghrgenommen zu haben. Durch Regino von Prüm wissen wir ja, daß
ein Graf Wicbert jenen sehr eigenwilligen und nach der Herrschaft
in Lotharingien strebenden Sohn Lothars II.
von frühester Jugend an leitete, daß Hugo
ihm das aber schlecht vergalt: Hugo Wicbertum
comitem, qui ab ineunte aetate sibi faverat, interfecit
(883) [11 Regino, Chronicon ad 883, MG SS rer. Germ., ed. F. Kurze,
(1890) Seite 121.]. Die Verbindungen zwischen der Familie
Lothars II. und Witbert, die in einer solchen nicht alltäglichen
Aufgabe der Übernahme der Vaterstelle sichtbar werden udn die ihre
Parallelen in der Erziehung Nithards oder auch der Töchter Pippins
von Italien nach dessen Tode am Hofe KARLS
DES GROSSEN haben [12 Einhard, Vita Karoli Magni
c. 19, MG SS rer. Germ., ed. O. Holder-Egger, (1911) Seite 24.], bedürfen
einer Erklärung. Sie ist bei der obigen Identifizierung gefunden.
Ja Witbert/Wicbert [13 Zu dieser Identifizierung vgl. bereits
R. Parisot, Le royaume de Lorraine Seite 443f., 464.] stand kurz
vor seinem Tode außerdem auch in besten Beziehungen zu Kaiser
KARL III. Im Jahre 882 soll KARLS
Erzkanzler Bischof Liutward von Vercelli ohne Wissen der anderen kaiserlichen
Räte, aber zusammen mit dem Grafen Wicbert, der dabei als
sehr schlau und hinterlistig bezeichnet wird, den Kaiser bewogen haben,
von der Bezwingung der in Asselt (oder Elsloo) eingeschlossenen Normannen
abzusehen; und beide sollen KARL dafür
die Aufnahme von Verhandlungen mit dem Normannenführer Gottfried vorgeschlagen,
ja solche Unterhandlungen selbst eingeleitet haben [15 Annales Fuldenses
ad 882, MG SS rer. Germ., ed. F. Kurze, (8191) Seite 98.]. War Wicbert/Witbert
ein Neffe Lothars II. und enger Verwandter
KARLS
III. selbst, so ist es uns nunmehr sehr begreiflich, wie er
zu einer solchen einflußreichen Stellung bei KARL
III., die ein Übergehen der anderen kaiserlichen Berater
ermöglichte, kommen konnte. Ja, hatte ein Neffe Lothars
II. eine Verständigungspolitik mit den Normannen eingeleitet,
so ist es auch verständlich, daß der Normannenfürst Gottfried
im gleichen Zusammenhang oder ein Jahr später [16 Vgl. E. Dümmler,
Geschichte des ostfränkischen Reiches III (²1888) Seite 203 Anm.
1.] sich Lothars Tochter Gisla
zur
Gemahlin erbat, was sich schließlich zu einem Bündnis
Hugos,
des Friedelsohnes Lothars II. und Waldradas,
mit einem Normannenfürsten ausweitete.
Die von Graf Witbert an das Kloster Tournus geschenkten
Güter lagen im comitatus Odornensis, also im Ornois, das nördlich
von Chaumont/Marne um Gondrecourt und das Einzugsgebiet des Flüßchens
Rognon gelegen ist und somit einen Teil der Südwestgrenze des einstigen
Reiches Lothars II. bildete. Die Urkunde
nennt uns außer dem fundus Rodonionis (= abgeg. Ort Saint-Evre)
10 Ortschaften, und zwar Sanctus Bricius (= Saint Brice, ebgeg.
Ort bei Doulaincourt), villa Agimbodi cum capella in honore sancti Hilarii
(= Humbertville, con de Saint-Bil, das eine Hilariuskirche hat, und nicht
das nahe dabei gelegene Ambonville, con de Douvelant, in dem sich eine
Benignuskirche findet), capella in honore Sancti Remigii in loco quem
Domnum Remigium nuncupant (= Domremy-en-Ornois, coa de Doulaincourt),
Montes
(= ? Montot, coa d'Andelot), Vallis (= Vaux-sur-Saint-Urbain, con
de Doulaincourt), Sancto Urbano (= Saint-Urbain, coa de Doulaincourt),
Girulficurt
(= Dommartin-le-Sainte-Pere, coa de Doulevant), Septemlucis (= ?),
Berulficurt (= Braucourt, con de Montier-en-Der) und Digini villa
(= Joinville, ch.-l. de con) [18 Die Reimser Kirche hatte diese
potestas vom Grafen Hugo, dem Sohn des Grafen Rotgar II. von Laon,
erhalten; vgl. Migne PL 135 Seite 414f. Wie dieser, dessen Vater 941 auffälligerweise
für das Kloster Tournus bei König Ludwig
d'Outremer interveniert hatte, in den Besitz gelangt war, steht
nicht fest. Hatte er oder sein Vater oder gar schon sein Großvater
diesen vom Kloster Tournus erworben? Sicher scheint, daß das Kloster
diesen Besitz nicht lange behalten hat, denn er wird in den Bestätigungsurkunden
KARLS
DES KAHLEN
(von
875), Karls des Einfältigen und
Raouls noch in derjenigen Ludwigs
IV. für Tournus erwähnt. Aber es ist nicht einmal
sicher, ob es sich bei dem Hugo-Besitz um die gleichen Güter handelte,
die Wikbert einst von Lothar II. erhalten
hatte. (Lediglich Amboldisvilla, von dem in der Urkunde Witberts
I. Herrenmanse erwähnt ist - mansum indominicatum in comitatu
Odornensi et in villa Agimbodi cum capella in honore Sancti Hilarii episcopi
-, wird speziell einmal in Graf Rotgars II. Hand erwähnt: dies indessen
ganz und nicht nur 1 Manse; vgl. Gesta episcop. Tullensium c. 33, MG SS
VIII Seite 640: Adeptus est etiam (Gauzlinus eps.) a Rotgero
comite Amboldi villam in pago Ordonensi). So könnte Witbert
einst
auch nur bestimmte Teile des Val-de-Rognon erhalten haben, ein anderer
Empfänger weiterer Teile, die schließlich auf den Grafen Hugo
überkommen sind. Falls aber Witbert ehedem die ganze vallis
erhalten, jedoch nur einige Teile davon an Tournus weitergegeben haben
sollte und den Rest an seine Nachkommen überließ, könnte
man daraus den Schluß ziehen, daß etwa Rotgars II. bislang
unbekannte Gemahlin (Eheschluß Rotgars II. ca. 935, vgl. K.F. Werner,
Die Nachkommen Tafel IV, 29 und Seite 456) eine Enkelin und Erbin
des 883 ermordeten Grafen Witbert gewesen sein dürfte. Die
Tatsache, daß Rotgars II. Sohn Hugo ein consanguineus König
Lothars von Frankreich war (vgl. Receuil des actes de Lothaire
et de Louis V, ed. L. Halphen - F. Lot (1908) Seite 29ff., nr. 14: Schenkung
der in der Nähe von Val-de-Rognon gelegenen curtis Condes an
König
Lothar und von diesem weiter an S. Remy de Reims), vermag aber
die hier angedeuteten Zusammenhänge nicht ohne weiteres bestätigen,
da Rotgars II. Vater Rotgar I. ja der 2. Gemahl Heilwigs, einer Tochter
des Markgrafen Eberhard von Friaul und Giselas,
der Schwester KARLS DES KAHLEN,
gewesen ist. Diese consanguineus-Angabe dürfte also auch von
da her zu erklären sein. Andererseits könnte gleichwohl einer
solchen hier ins Auge gefaßten Möglichkeit einer Verbindung
einer Witbert-Enkelin mit Rotgar II. kein eherechtliches Bedenken
mehr im Wege gestanden haben. Es müßte sich dann ja um eine
bereits gestattete Ehe von Verwandten 8. Grades (5:3) gehandelt haben,
wobei die beiden Aszendenzäste auch noch aus zwei verschiedenen Ehen
LUDWIGS
DES FROMMEN hervorgegangen sind.]. In einem etwas weiter
nördlich gelegenen Bereich, und zwar in Preisch nördlich von
Diedenhofen, trifft man sodann den
Witbertus comes neben
den Grafen Stephan und Matfried am 18. September 882 an; diese Personen
unterzeichnen dort eine Urkunde, mit der ein gewisser Hildebert, ein Sohn
des einstigen Grafen Berengar, den Weiler Bures an das Verduner Kloster
S. Vanne schenkte. Betrachtet man aber das Ornois als Wiberts Hauptbereich,
so darf man vermuten, daß dort auch seine Nachkommen anzutreffen
sind. Nach diesen wollen wir Ausschau halten. - Da findet man am 21. Dezember
896 im westlich an das Ornois angrenzenden Gebiet, und zwar in Courtenot
bei Bar-s.-S., wieder einen Vuibertus comes; er ist Teilnehmer
eines Gerichstages, den der Herzog Richard von der Bourgogne für das
Kloster Montieramey abhielt. Vuibert gehörte damals zu den
Befürwortern des in höchster Bedrängnis stehenden Königs
Karl des Einfältigen, der von seinem Rivalen, dem Nicht-KAROLINGER
König Odo, seit dem Herbst 895 aus der Francia vertrieben
war. Und als Anhänger Karls des Einfältigen
dürfte er mit anderen westfränkischen Großen sowie Adligen
aus der Bourgogne in Remiremont in den Südvogesen gewesen sein, als
Karl der Einfältige, und sein leitender Staatsmann Erzbischof
Fulco von Reims etwa im Februar 896 dort mit dem Kaiser
LAMBERT aus Italien zusammentrafen, um ein Freundschafts-
und Schutzbündnis abzuschließen. Der Name Vuitbertus
erscheint - neben Rotrudis und Adeldrudis
- jedenfalls in einem bei dieser Gelegenheit angefertigten Gedenkeintrag
im Liber memorialis von Remiremont [22 Liber memorialis von Remiremont
(Edition demnächst von E. Hlawitschka, K. Schmid und G. Tellenbach
in MGH Antiquitates) f. 11 v nr. 2. Dazu vgl. E. Hlawitschka, Lotharingien
und das Reich Seite 147ff. ]. Bei einem Verwandten Karls
des Einfältigen braucht eine solche Stellungnmahme nicht
zu verwundern [23 Daß er auch noch ein naher Verwandter der
italiensichen
WIDONEN und Kaiser
LAMBERTS war, wird sich weiter unten ergeben.].
Dieser jüngere Graf Witbert, den man wahrscheinlich
als Sohn des 883 von Lothars II. Sohn
Hugo,
seinem einstigen Mündel bzw. Schützling, erschlagenen Grafen
Witbert betrachten darf, wurde um die gleiche Zeit noch einmal in den
Liber memorialis des Südvogesenklosters Remiremont eingetragen: Uuitbertus,
Adheldrudis, Berengarius,
Lantbertus, (Rampo
- dieser Name wurde jedoch wieder getilgt),
Uuitbertus, Uuido,
Heldigardis, Quelodini,
Bolso).
Wie diese Namengruppe im einzelnen zu deuten ist - ob
Adeldrud, die auch in dem voran erwähnten Eintrag aus Remiremont neben
Witbert
genannt ist, die Gemahlin des jüngeren Grafen Witbert
gewesen
ist und ob vielleicht aus dem Auftauchen des Namens Berengar eine Verbindung
zur Familie jenes Grafen Berengar zu erschließen ist, für dessen
Sohn Hildebert der ältere Witbert am 18. September 882 in Preisch
bei Diedenhofen als Urkundenzeuge tätig war - mag dahingestellt bleiben.
Auffällig ist aber auf alle Fälle das Auftauchen der Namen Lambert
und Wido (evtl. auch Rampo) in dieser Reihe. Es zeigt uns
- was schon aus dem Namen Lanbert in der Urkunde aus Tournus
zu vermuten war -, daß der ältere Graf Witbert, der Gemahl
der KAROLINGERIN Rotrud und Sohn jenes
Lanbert, in "widonischen" Zusammenhängen
zu sehen ist [26 Daß die WIDONEN
auch mit Trägern des Namens Rampo verwandt waren, dazu vgl.
MG SS XIII Seite 566.].