Schneider Reinhard: Seite 177-180
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„Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter“

Der sterbende König Dagobert III. hatte ohne Zweifel einen Sohn hinterlassen, jenen später im Jahre 721 zum König erhobenen Theuderich IV. Gewiß wird dieser beim Tod seines Vaters minderjährig gewesen sein, was aber angesichts zahlreicher Erhebungen von Minderjährigen und bei dem eingespielten Mechanismus von Thronsetzungen unbedeutender "Schattenfiguren", die den arnulfingischen Herrschaftsanspruch nicht gefährdeten, kaum als Erklärung ausreicht, weshalb hier im Jahre 715/16 nicht der Sohn auf den Vater folgte. Die Erklärung wird in der Richtung einer Rivalität zwischen ARNULFINGERN und fränkischen, vorwiegend neustrischen Großen (Franci) zu suchen sein, die sich in den Nachfolgeregelungen diesmal in überraschender Weise durchzusetzen vermochten, eine Tatsache, die geeignet ist, auf das von Einhard so verspottete Marionetten-Königtum der späten MEROWINGER besseres Licht zu werfen.
Es ist zwar nirgends vermerkt in der Überlieferung, darf aber unterstellt werden, daß der Mönch Daniel ein MEROWINGER war, wahrscheinlich sogar ein Sohn Childerichs II., der nach des Vaters Tod 675 von der Herrschaftsnachfolge ausgeschlossen worden war. Weshalb er ins Kloster gegangen war, ist also nur zu vermuten, eine gewaltsame Einweisung nicht auszuschließen. Jetzt verließ er sein Kloster und den kirchlichen Stand, und "zum Zeichen der Rückkehr in die Welt und zur Herrschaft ließ er sich das Haupthaar wieder wachsen". Ebenso wie die bisherige Tonsur war auch sein Name Daniel für die ausersehene Aufgabe ungeeignet. Vielleicht erhält der ehemalige Mönch sogar seinen usprünglichen Namen, seinen Taufnamen zurück, denn der biblische Name Daniel ist im MEROWINGER-Geschlecht eine krasse Ausnahme und andererseits Namenswechsel beim Eintritt ins Kloster seit dem 6. Jahrhundert üblich, bei politisch motivierten Zwangseinweisungen sogar zweckmäßig. Dieser Daniel wird also von einer Adesgruppe, die in politischem Gegensatz zu Karl Martell und unter Führung des neustrischen Hausmeiers Raganfred stand, als Chilperich II. zum König erhoben (715 nach September 2 und vor 716 Februar 29).
Wie die letzten MEROWINGER-Könige vor ihm residierte Chilperich II. in Neustrien, es wäre aber falsch, ihn deshalb lediglich als König von Neustrien bezeichnen zu wollen. Sein Hof "vereinigte führende Mitglieder des Hofes seiner Vorgänger", die ausnahmlos als politische Gegner der ARNULFINGER anzusprechen sind und nach Karl Martells Sieg von ihm nicht übernommen wurden, wie auch von dieser Zeit an die Tradition des alten Refendariats als Hofamt abriß.
Chilperichs II. Königtum trägt nach allem, was die Überlieferung erkennen läßt, den Charakter einer gegen die ARNULFINGER gerichteten Politik, die aus Pippins des Mittleren Tod am 16. Dezember 714 und der sich anschließenden Regentschaft seiner Ehefrau Plektrudis zu profitieren suchte. Da auch innerhalb des Pippinschen Hauses starke Differenzen bestanden und Pippins Sohn Karl (Martell) gegen seine Stiefmutter um seine eigenen Herrschaftsansprüche als princeps Francorum kämpfen mußte, waren die Voraussetzungen nicht einmal ungünstig. Die relative Bedeutung des Königtums in dieser Phase innerfränkischer Politik wird durch Karl Martell selbst unterstrichen, der nach seinem Sieg über die Neustrier und nachdem er sich erfolgreich gegen Plektrude durchgesetzt hatte, regnum sibi statuit Chlotarium nomine. Dieser Chlothar IV. (718 vor Februar 3-719) war bestimmt ein MEROWINGER, wie alt und wessen Sohn er gewesen sein könnte, verschweigt die Überlieferung. Man hat in ihm, dem König Karl Martells, den Typ eines in der fränkischen Geschichte so seltenen Gegen-Königs zu sehen, auf den der ARNULFINGER gegenüber seinen politischen Gegnern offenbar nicht verzichten konnte. Chlothar IV. starb 719 zu einem Zeitpunkt, als Karl Martell alle innerfränkischen Widerstände aus dem Weg geräumt hatte und gewiß vor der Frage gestanden hätte, ob er von seinen Gegnern und insbesondere den neustrischen Großen die Anerkennung "seines" Königs gewaltsam erzwingen sollte. So wird Karl Martell selbst Chilperich II. schließlich "anerkannt" haben, denn eine auf Karls placitium in Glamanvilla im Dezember 720 ausgefertigte Urkunde des Hausmeiers rechnet nach dem Königsjahr Chilperichs. Dessen Königtum hatte sich aber unzweifelhaft ganz anders gestaltet, als es bei seinem Herrschaftsantritt 715/16 konzipiert worden war.