Schneider Reinhard: Seite 66-69
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„Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter“

Mit der Gestalt Childerichs (460-482) und späterer Könige werden die Bereiche sagenhafter und verzerrender bis falscher Überlieferung zwar nie ganz verlassen werden, aber doch ein Boden betreten, der historisch gesicherter ist. Childerich I. ist auch der erste MEROWINGER, für den ein objektives Zeugnis seines Königtums existiert bzw. bis zum Jahre 1831 noch konkret vorgelegen hat, als der Siegelring mit der Umschrift CHILDERICH REGIS verloren ging, den man bei seiner Graböffnung in Tournai 1655 gefunden hatte. In ihrer Selbstaussage benutzten die merowingischen Könige nach Childerich I. den Königstitel "N. rex Francorum", welcher auch für Chlodwig I. schon anzusetzen ist, der das Königtum der Franken monopolisert hatte. In seiner Nachfolge konnte es dann geschehen, daß auch mehrere "reges Francorum" gleichzeitig nebeneinander existierten, die aber alle ihre Herkunft und ihren Herrschaftsanspruch von Chlodwig als dem ersten fränkischen "Großkönig" herleiteten.
König Childerich I. selbst soll so zügellos gelebt haben, daß die gens Francorum sich darüber empörte und ihn von der Königsherrschaft verstieß. In Gregors Berichte leuchtet die Vorstellung von der notwendigen Eignung eines Königs durch, der ohne diese "unwürdig" der Herrschaft und verstoßen oder verlassen wird. Dabei handelt es sich zunächst um eine Verstoßung ohne Tötung, obwohl diese nicht ausgeschlossen ist und in der Folgezeit Childerichs Furcht vor einem gewaltsamen Tode das Motiv für eine Flucht nach Thüringen wird. Eine eventuelle Ermordung des Abgesetzten erscheint in des Chronisten Bericht als eine Steigerungsstufe, nicht als zwangsläufige Folge oder gar Voraussetzung der Absetzung. Die Verstoßung Childerichs bedeutet keinen Verzicht auf einen König überhaupt; vielmehr "begehren" die Franci einmütig Aegidius, den kaiserlichen Heermeister von Gallien, zu ihrem König. Die Erhebung eines Romanen ist angesichts besonders ostgotischer Parallelen nicht ungewöhnlich, sie unterstreicht in diesem Falle die politische Bedeutung der Entscheidung und kann vielleicht auch als ein Zeugnis für eine größere Bedeutung des Ideoneitätsgedankens angesehen werden. Gleichzeitig weist die Erhebung eines römischen magister militum bzw. genauer magister equitum zu einem fränkischen König eine derzeit vorwiegend militärische Funktion desselben aus. Acht Jahre währte des Aegidius fränkisches Königtum, bis Childerich, der eine Rückkehr nie ausgeschlossen hatte, aus seinem thüringischen Exil zurückgerufen und in seine Königsherrschaft wieder eingesetzt wurde. Gregor stellt die Rückkehr ausdrücklich als ein Verlangen der Franken dar, wenngleich er auch deutlich macht, daß Childerichs Anhänger diesem in die Hände spielten. Offen bleibt, ob das Verlangen der Franken zu einer förmlichen "Einladung" geführt hat. Es gilt aber festzuhalten, daß hier wie bei Childerichs Verstoßung und des Aegidius Erhebung die gens Francorum bzw. die Franci in der uns vorliegenden Überlieferung als bestimmenden Faktoren der Herrschaftsbestellung entgegentreten. Childerichs Wiedereinsetzung setzt gewiß auch dessen sittliche Läuterung voraus, die herauszustellen Gregor sehr am Herzen lag. Hierbei steht die utilitas im Mittelpunkt, deren Rühmen einer Frau in den Mund gelegt wird: Weil Basina, die Gattin des Thüringer-Königs Bisin, bei dem Childerich jahrelang im Exil lebte, niemanden kennengelernt hatte, der utilior als Childerich gewesen, folgte sie diesem in das Franken-Reich nach. Ihrer neuen Ehe entstammte Chlodwig.