Reinhard Wenskus

"Sächsischer Stammesadel und fränkischer Reichsadel"  1976
 

Genau so wenig wie für die PLESSER brauchen wir nun für die NORTHEIMER damit anzunehmen, dass sie billingische Agnaten waren, wenn auch der Name Bennos (= Bernhard) von Northeim in diese Richtung deutet. Wir haben andererseits den Grafen Bernhard als Sohn der Weltrud kennen gelernt. Dieser in Sachsen ungebräuchliche Frauenname taucht nun als der der Frau eines Sigifridus comes etwa 17 Jahre später noch einmal auf und zwar in einer Tradition, die die Orte Hirisuitherode und Reginwerkshusen betrifft. Der erste Ortsname enthält den Namen Hirisutis, die wir als Tochter des BILLINGS Luthard aus einer Corveyer Schenkung von etwa 975 kennen. Der zweite Ortsnamen ist korrumpiert. Er enthät den immedingischen Personennamen Reginwerk, der auch vielfach Reginwerth oder Reginward geschrieben wird. Es ist deshalb möglich, dass es sich um das später wüst gewordene Reinwardeshusen handelt, aus dem der NORTHEIMER Heinrich der Fette 1093 10 Hufen an Bursfeld gibt. Dieser Graf Siegfried der Corveyer Tradition könnte also Siegfried I. von Northeim sein, wenn wir nicht dessen erste Gemahlin aus dem Annalisto Saxo (ad. a. 1083) kennen würden, der sie Mathilde nennt, während die zweite, Ethelind, uns aus Thietmar bekannt ist. Nun könnten wir ja annehmen, dass der sächsische Annalist hier - wie auch sonst gelegentlich für länger zurückliegende Zeit - falsch informiert oder dass Siegfried dreimal verheiratet war, aber es ist doch sehr mißlich, dies ad hoc anzunehmen, wenn keine strengere Begründung vorliegt.
Es gibt aber noch eine zweite Möglichkeit, den ersten NORTHEIMER mit dem Grafen Bernhard in Verbindung zu bringen, dessen Namen einer seiner zwei Söhne zeigt. Wenn wir annehmen, dass Siegfried I. der Sohn jenes Paares Siegfried/Christina ist, das wir oben besprochen haben, und Christina die Schwester Graf Bernhards war, lösten sich alle Schwierigkeiten und die Abfolge der Grafenrechte wird einleuchtend. Der Name Christina ist bei den BILLINGEN ja seit dem 9. Jahrhundert gebräuchlich und auch die bekannten Güter dieser Gräfin liegen in einem Raum, der gleichzeitig Besitzlandschaft des Grafen Billing war. Da Graf Bernhards Mutter Weltrud vermutlich die Schwester Burkhards III. und Tochter Burkhards II. von Schwaben war, erklärt sich so auch auf ganz zwanglose Weise, dass der Sohn und Nachfolger des Grafen Siegfried (II) im Hassegau eben wieder Burchard hieß. Die Chronologie bietet keine Schwierigkeiten. Während Siegfried (II) im Hassegau 980 zuletzt erwähnt wird, ist Siegfried I. von Northeim (+ 1004) zuerst 982 als comes in Medenheim erwähnt worden.
Auch besitzgeschichtlich lassen sich manche Argumente als Stütze dieser Auffassung beibringen. Wenn wir uns auf die Verhältnisse in kleinen Wüstungen beschränken, die undifferenziertere Besitzzustände zeigen, wäre etwa auf Dodenhusen (bei Gieboldeshausen) hinzuweisen, wo der von uns erschlossene Vater Siegfrieds (II, der Gemahl der Christine), Daedi, mit seiner Gattin Alfered tradierte, und wo auch Siegfried IV. (von Boyneburg) eine Hufe an St. Blasius in Northeim vergibt.
Auch die Herkunft des größten Teils des Northeimer Besitzkomplexes läßt sich auf diese Weise erklären. Unter der Annahme, dass die NORTHEIMER von Daedi und Alfered abstammen, wären sie IMMEDINGER im Mannesstamm. Tatsächlich befinden sich einige der wichtigsten immedingischen Besitzzentren in ihrer Hand. An erster Stelle ist hier Meinwerks Haupthof Imbshausen zu nennen. Auch Benno von Northeim kann hier Güter an Paderborn übereignen. Neben der curtis in Moringen, im Komitat Bennos von Northeim, die vom IMMEDINGER Unwan 1016 an Paderborn gegeben wird, haben hier auch die NORTHEIMER beträchtlichen Besitz, der zum Teil an Kloster Northeim, zum Teil an Kloster Burdfelde geht. Wenn wir die Verhältnisse in den alten großen Orten Waake, Weende unter anderem als mehrdeutig übergehen, sind auch an einzelnen kleinen, relativ spät gegründeten und daher beweiskräftigere Argumente liefernden Orten ähnliche Beziehungen zu beobachten. Etwa in der Wüstung Radolfershusen (bei Steinkuhle südlich Hollenstedt), das sowohl unter dem ehemaligen Besitz Bernwards wie unter dem northeimischen Stiftungsgut genannt wird. Der aus dem Gut seiner immedingischen Gemahlin Hadeburg stammende Besitz in der Wüstung Nena (zwischen Körbecke und Bühne), den der Graf Osdag um 968 an Corvey tradiert, ist hier mit Gütern der NORTHEIMER Heinrich des Fetten und Siegfrieds IV. vergesellt. In Lagershausen (nördlich Northeim), das schon durch seinen Namen (ursprünglich Landwardeshusen) seinen immedingischen Ursprung zu erkennen gibt, war neben Bernwards Gut auch NORTHEIMER Besitz vorhanden. Aber auch PLESSER Güter sind hier wieder zu nennen, die wohl ebenfalls aus immedingischem Erbe stammen.
Gemeinsames immedingisches Erbe der PLESSER und NORTHEIMER kann für zahlreiche Orte vermutet werden. Deutlich erkennbar wird dies an jenen Orten, an denen der IMMEDINGER Gottschalk in der 1. Hälfte  des 9. Jahrhunderts an Fulda schenkte: Hammenstedt, Echte und Edesheim. Hammenstedt ist zur Gänze plessisch geworden. Im Umkreis von Echte ging der Ausbauort Willershausen (mit einer Bonifaziuskirche) noch im 14. Jahrhundert von Fulda zu Lehen, während der den Namen der Siedlungskammer bewahrende Zentralort Echte im wesentlichen welfisch war, wohl aus northeimischen Erbe. In Edesheim schließlich finden wir in der Frühzeit wieder nur NORTHEIMER und PLESSER Güter mit fuldischen Hufen. Es sieht also so aus, als ob der Komplex der Gottschalk-Stiftung zum großen Teil von den Erben weiter genutzt und aufgeteilt worden ist.
Die vermutete esikonische Großmutter Siegfrieds I. von Northeim, Alfered, erklärt dann wiederum jene diemelländischen Besitzkomplexe der NORTHEIMER, die sich bemerkenswerterweise wieder zum großen Teil in solchen Orten befinden, die esikonische Traditionen an Fulda im 9. Jahrhundert sahen. Von den vier Orten, an denen der ESIKONE Hohrich de Saxonia an Fulda tradiert, befinden sich allein drei mit später northeimischen Besitz: Elsungen, Nothfelden und Beichlingen in Thüringen, von denen das letztere sogar dem NORTHEIMER Kuno, dem Sohn des berühmten Herzogs Otto von Northeim, seinen Beinamen "von Beichlingen" verschaffte, also wohl ein bedeutsamer Komplex war. Esiko selbst hatte außer in Elsungen unter anderem Orten auch in Haweda (östlich Warburg) tradiert, wo sich ebenfalls später northeimischer Besitz befand, der freilich von Corvey zu Lehen ging. Auch in Groß/Lütge-Neder, wo noch Esic de Mesheri Güter besaß, hatte Siegfried IV. Grund und Boden.
Die immer wieder deutlich werdende enge Beziehung der NORTHEIMER zu Fulda läßt es auch wahrscheinlich werden, dass die von Eberhard von Fulda überlieferten Vogteirechte Heinrichs des Löwen über die fuldischen Villikationen an Unter-Werra und Ober-Weser (Tudenhausen bei Jestädt, Hottenhausen südwestlich Vaake) ebenfalls von den NORTHEIMERN ererbt worden sind.
Doch es lassen sich nicht alle northeimischen Besitzungen im Diemelgebiet auf esikonische Titel zurückführen. Im Jahre 944 schenkte OTTO I. der Matrone Helmburg, die allgemein mit der späteren Äbtissin von Hilwartshausen identifiziert wird, ehemaliges Gut eines Hampo in Haselbeki (östlich Holzminden), Würgassen (bei Karlshafen), Gottesbüren (Reinhardswald) oder Bühren bei Dransfeld, Beberbeck (Kreis Hofgeismar), Echen (bei Borgentreich) und Dinkelburg (Kreis Warburg). In mindestens dreien dieser Orte, in Dinkelburg, Würgassen und Echen sind dann auch die NORTHEIMER stark vertreten. In andern, wie in Haselbeki, können die späteren welfischen Rechte auf northeimischen Erbe beruhen. Bei der unvollständigen Überlieferung muß eine so große Übereinstimmung erklärt werden. Vielleicht liegt diese Erklärung darin, dass die angenommene zweite Gemahlin Graf Bernhards, Frithuburg, dieses Gut zugebracht hat, denn eine Tochter der Helmburg hieß Fritheburg. Sie war 1003 Nonne in Gandersheim. Ob sie selber mit der Gemahlin Bernhards identisch war, ist nicht sicher, aber möglich. Es kann aber auch eine Tochter oder eine Nichte von ihr gewesen sein.
Neu überdacht muß auch die Herkunft der Northeimer Güter an der Unterelbe werden, die an Umfang offenbar noch weit über die ausführlichen Listen Langes hinausgehen, da auch in Dithmarschen (villa Wesselburen) und Holstein Besitz der NORTHEIMER anzunehmen ist. Für R. Hucke und K. H. Lange war dies kein Problem, da sie - eine These Kimpens aufgreifend - Richenza von Werl, die Gemahlin Ottos von Northeim, als Schwester der in jenem Raum begüterten Ida von Elsdorf und als Tochter des EZZONEN Otto von Schwaben (+ 1047) auffaßten, die den NORTHEIMERN dieses Gut zugebracht haben soll. Doch hat Kimpen seine Theorie später selbst wieder aufgeben müssen und K. Schmid hat ihre Unhaltbarkeit noch einmal bestätigt.
Eine neue Möglichkeit der Erklärung ergibt sich aus der Tatsache, dass Graf Bernhards erste Frau Hathui hieß, wie die eine Generation jüngere Tochter des Staders Heinrichs des Kahlen. Da wir sie auf Grund der Verwandtschaftsangaben der Äbtissin Hildegund von Geseke als HAOLDIN ansprechen mußten, ergibt sich, dass - wenn wir eine Ehe Haolds (I) mit einer STADERIN annehmen können - auch dieses Gut aus der Erbmasse des Grafen Bernhard stammt, der Siegfried von Northeim ja anscheinend auch Grafschaftsrechte im Liesgau/Rittigau vererbte (974 Bernhard; 982 Siegfried I.), während die Grafschaftsrechte des IMMEDINGERS Sigbert im Liesgau auf die stadischen KATLENBURGER übergingen. Nicht auszuschließen ist aber auch die Möglichkeit, dass die Güter im Unterelberaum über die ESIKONIN Alfered an die NORTHEIMER kamen, denn wir können unter Umständen eine esikonisch-stadische Ehe für das 10. Jahrhundert annehmen. Das legt die Tatsache nahe, das Asic comes einen Bruder mit dem "stadischen" Namen Luidhar hatte. Um für diesen Komplex zu sicherer Aussage zu kommen, werden weitere Untersuchungen notwendig sein.
Auf alle Fälle kann durch unsere Annahme der Übergang jenes Teils der Grafschaft Dodicos, die durch seinen Vetter, den spurius Bernhard und Vorfahren der PLESSER, zeitweilig verwaltet wurde, an dessen Vetter Benno von Northeim wirklich zum ersten Mal wirklich erklärt werden.
Wenn die NORTHEIMER auch IMMEDINGER im Mannesstamm waren, so haben sie doch aus geronischem Erbe nibelungische Namenstradition weitergeführt. Wir kennen nicht weniger als vier NORTHEIMER mit dem Namen Siegfried, was bei insgesamt 9 bekannten Männern dieses Geschlechts (drei Otto, je ein Benno/Bernhard und Heinrich) fast die Hälfte ausmacht. Daher ist es vielleicht abwegig, auf jenen einzigen im sächsischen Raum genannten Welsinc hinzuweisen, der in Dalheim (bei Minden) an Fulda tradiert, einem Ort, aus dem aus früher Zeit nur northeimischer später welfischer Besitz bekannt ist.