Lexikon des Mittelalters: Band II Spalte 499
********************
Boulogne-sur-Mer
-----------------------
Stadt, Bistum und ehemalige Grafschaft in
Nord-Frankreich,
am Kanal (Dep. Pas-de-Calais), Zentrum der Landschaft Boulonnais.
Am
Ästuar
des Flusses Liane und auf der ihn beherrschenden Höhe lagen die
beiden
keltischen Siedlungen Bononia (als oppidum) und Gesoriacum (mit Hafen).
Es ist fraglich, ob hier der römische Portus Itius zu suchen ist
(Ortsname:
Isques); gesichert ist Boulogne-sur-Mer aber als Liegeplatz der classis
britannica (zur Zeit wichtige Ausgrabungen) und ab dem 3. Jh. - als
militärisches
Zentrum der Verteidigungsorganisation des litus saxonicum. Die Stadt
war
Endpunkt der strategisch wichtigen römischen Straße von
Lyon.
Die Passage des Kanals wurde durch einen Leuchtturm, die "Tour d'Odre",
möglicherweise unter Kaiser Caligula (37-41
n. Chr.)
errichtet, verbessert. Bononia war eine bedeutende
römische Provinzstadt von kosmopolitischem Charakter, offen
für
zahlreiche spätantike Religionen; das Christentum fand hier
vielleicht
um 385 durch Vitrix Eingang. Die Loslösung der Britannia
führte
jedoch vom 5. Jh. an zum völligen Bedeutungsrückgang der
Stadt;
sie wurde möglicherweise von Sachsen besetzt. Die Geschichte von
Boulogne-sur-Mer
bis 900 liegt im dunkeln. Es ist die Existenz einer Gauorganisation
(pagus
bononiensis) zu vermuten, doch ist für diesen Zeitraum kein Graf
namentlich
bekannt. Die Stadt diente im 9. Jh. einer Anzahl von Mönchen, die
mit ihren Reliquien vor den Dänenüberfällen geflohen
waren,
als Zufluchtsort. Echte Bedeutung gewann Boulougne-sur-Mer jedoch erst,
nachdem es 918 von Balduin II.,
Grafen von Flandern,
eingenommen
worden war; der Graf ließ die in Boulogne-sur-Mer
bestehende Burg
neu errichten.
Nach der Krise der gräflichen Macht in Flandern,
die dem Tod Arnulfs I.
im Jahre 965 folgte, kam Boulogne-sur-Mer
unter die Macht eigener Grafen, die mit den Grafen von Flandern
verwandt
waren und Boulogne-sur-Mer von
ihnen zu Lehen hatten. Sie vermochten sich
eine weitgehend selbständige politische Stellung zu schaffen.
Eustachius II. († 1086/1088),
Graf von
Boulogne, nahm an der Eroberung Englands
durch den Normannen-Herzog
Wilhelm
(1066) teil. Seine Heirat mit Ida
von Bouillon,
Schwester des Herzogs Gottfried V. von
Nieder-Lothringen († 1076, ohne
Nachkommen aus seiner Ehe mit Mathilde
von Tuszien), zog einen bedeutenden
Aufstieg des Hauses BOULOGNE nach sich: Eustachius'
Bruderwurde Bischof von Paris, einer der
Söhne des Eustachius,
Gottfried
("von Bouillon"), erhielt von Kaiser
HEINRICH IV. das Herzogtum
Nieder-Lothringen zu Lehen (1093)
und wurde später als einer der Führer des 1. Kreuzzuges "advocatus
S. Sepulchri" und damit Begründer
des lateinischen
Königreiches
Jerusalem. Sein Bruder Balduin
wurde Graf von Edessa und
später erster König
von Jerusalem.
Eustachius
III. (1088-1125) jedoch ergriff wieder Besitz von der Grafschaft
Boulogne,
die seine Tochter Mathilde in ihre
Ehe mit dem König von England, Stephan von
Blois († 1154),
einbrachte. Dieser überließ die
Grafschaften
Boulogne und Mortain seinem Sohn und erklärten
Thronfolger, Eustachius
IV. (oo 1140
Konstanze,
die Tochter Ludwigs VI., König von Frankreich),
der 1153 verstarb. In Ermangelung direkter Erben gingen die
Grafschaften
an seine Schwester Marie
über,
die sie schließlich ihrem Gatten
Matthias von Elsaß
(1159-1190)
[Persönlicher Einwurf: Mathias
(Mattheus) von Elsaß starb
bereits im Jahre 1173.], dem jüngeren
Bruder Philipps von Elsaß,
des Grafen von Flandern,
einbrachte, wodurch Boulogne
unter unmittelbare
flandrische Beherrschung geriet. Doch nach dem Tode Philipps von Elsaß
(† 1191) brachte
die älteste Tochter des Matthias,
Ida,
die Grafschaften Boulogne und Mortain
an ihren 3. Gemahl, Rainald
von
Dammartin, familiaris Philipps II. August,
König von Frankreich, in die Ehe; Rainald
war Lehnsmann
des Prinzen
Ludwig, des Herrn des
Artois.
Philipp
August benutzte Boulogne
als Sammelpunkt seines Heeres und seiner
Flotte für seine geplante Invasion Englands. Doch stellte sich Rainald
auf die Seite der Gegner des Königs von Frankreich; daher
wurden
ihm,
nachdem er in der Entscheidungsschlacht von Bouvines (1214) in die
Gefangenschaft
des siegreichen französischen Königs geraten war, alle seine
Güter aberkannt. Seine Tochter
Mathilde wurde um 1216
mit Philipp
Hurepel, dem Sohn von
Philipp August
und
Agnes
von Meran-Meranien, verheiratet. Die Burg
Boulogne-sur-Mer
wurde nun stark ausgebaut.
Ludwig der Heilige
hielt hier 1264 mit dem päpstlichen Legaten und Simon
de Montfort
eine Konferenz zur Beendigung der inneren Auseinandersetzungen in
England
ab. Die Erbschaft fiel anschließend an die leibliche Cousine
der
Mathilde,
Alix von Brabant, und den
aus deren Verbindung mit Wilhelm
X.
von Auvergne hervorgegangenen Sohn: Robert V., Grafen
von Auvergne
und Boulogne (1243-1277). Boulogne
teilte nun die historischen Geschicke
der Auvergne: Es regierten in Boulogne Wilhelm XI. (1277-1279),
danach sein Bruder Robert
VI. (1279-1314),
Robert VII. (1314-1326);
einer seiner Söhne war der Kardinal
Gui de Boulogne,
während
seine Tochter Mathilde de
Boulogne den Grafen Amadeus III. von Genf
heiratete (dieser Verbindung entstammte der spätere Papst Clemens
VII.).
Nach Robert VII. regierte
Wilhelm XII. (1326-1332).
Seine Erb-Tochter Johanna (Jeanne de Boulogne)
heiratete 1350 in 2.Ehe Johann (Jean), Herzog
der Normandie, den späteren
französischen
König Johann II. Nach seinem Tode (1360)
[Richtigstellung:
Johann II. starb am
8.4.1364 in London.] fiel die Grafschaft an Philipp
de Rouvre († 1361), Herzog
von Burgund,
einen Sohn Johannas
aus 1. Ehe, dann an den Neffen der Johanna, Johann (Jean)
I. (1361-1386).
Dessen Enkelin Johanna
(Jeannae)
de Boulogne,
(* 1396, † 1422), Gattin
des Herzogs
Johanna (Jean) von Berry,
erbte die Grafschaft. Doch bemächtigte sich ab 1416 der Herzog von
Burgund, Philipp der Gute
[Richtigstellung:
Herzog von Burgund war bis zu seiner Ermordung im Jahre 1419
Philipps Vater Johann Ohnefurcht.],
der Grafschaft Boulogne; der
Vertrag von Arras (1435)
bestätigte ihm
deren Besitz. 1477, nach dem Tode Karls des
Kühnen,
bemächtigte sich Ludwig XI., König von
Frankreich, des Artois und gab die Grafschaft
Boulogne (nominell)
an Bertrand de La Tour, Grafen der Auvergne (der offiziell
den Titel Graf
von Boulogne führte) zurück, ließ sie jedoch sogleich
gegen
das Lauragais austauschen. Um alle möglichen
Rückforderungsansprüche
auszuschließen, tradierte er die Grafschaft an die heilige
Jungfrau
Maria, als deren Vasall er sich und seine Nachfolger erklärte.