BEAUVAIS
Lexikon des Mittelalters:
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Beauvais
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I. Stadt:
Der ursprüngliche Name von Beauvais
(Caesaromagus) legt eine römische Gründung im Sumpfgebiet
zwische den Armen des Thérain, unterhalb seiner Einmündung
in den Avelon, nahe, unweit der alten Siedlung Bratuspantium.
Im Itinerarium Antonini und der Tabula Peutingeriana erwähnt, doch
von zweitrangiger Bedeutung, wurde die Stadt bei der Invasion von
275-277 wahrscheinlich zerstört; die Mauer, mit der sie
anschließend befestigt wurde, bestimmte mit ihrem Innenraum von
etwas mehr als 10 ha den Umfang der eigentlichen civitas, die im Mittelalter
»châtel« (castellum)
genannt wurde. Die Wahl der befestigten spätrömischen Stadt
als Ausgangspunkt für die städtische Siedlung des
Mittelalters beeinflußte deren Topographie grundlegend. Diese
erste Ummauerung beherbergte den Bischofspalast (der sich an die Mauer
anlehnte und zwei der Mauertürme benutzte), die Kathedrale (in der
sich infolge der Tatsache, daß der gotische Bau des 13. Jh.
unvollendet blieb, karolingisches
Mauerwerk erhielt) und mehrere, im 11.-12. Jh. gegründete
oder erneuerte Kirchen. Die sehr alte Kirche St-Étienne lag
jedoch im Suburbium südlich der Mauer.
War auch die wirtschaftliche Bedeutung von Beauvais
im frühen Mittelalter nicht völlig geschwunden, so erreichte
sie doch erst im 11. Jh. ein höheres Niveau. Besonders das
Tuchgewerbe blühte auf; am Ende des 12. Jh. besaßen die
Kaufleute aus Beauvais ihre
Hallen unter anderem in Paris, Compiègne, Orléans und
besuchten die Champagne-Messen. Seit dem 11. Jh. bildeten sich um
St-Étienne, St-Lucien (im Norden-Nordwesten) sowie die beiden
bischöflichen Gründungen St-Symphorien (1035, im
Südwesten) und St-Quentin (1067, im Nordwesetn) suburbane
Siedlungen. Angesichts der Intensivierung des Verkehrs mit der civitas wurden Breschen in die
Mauern geschlagen (bezeugt durch die Straßennamen »Frette
du Mur« [fractura muri]); die mittelalterlichen Wehranlagen
umschlossen bald eine fünfmal so große Fläche wie die
ursprüngliche Befestigung.
Gegen Ende des 11. Jh. gewährte der Bischof den Bürgern consuetudines (coutumes); eine Kommune wurde
errichtet, sanktioniert durch eine (verlorene) Urkunde König Ludwigs VI. sowie durch
Urkunden Ludwigs
VII. (1144) und Philipps
II. August
(1182). Ohne Gewaltanwendung begründet, tastete die Kommune
zunächst die stadtherrlichen Rechte des Bischofs (Grundzins, Bann,
Gericht) nicht an. Erst im 13. Jh. brachen starke Spannungen aus,
auch innerhalb der Kommune, wo die
minores gegen die städtische Oberschicht der Wechsler und
Tuchhändler einen heftigen, aber letztlich erfolglosen Kampf
austrugen (1232-1233). Die Auseinandersetzungen mit dem Bischof
(1212,1266-1268,1305) weiteten sich immer mehr aus; der eigentliche
Gewinner bei diesen Konflikten war jedoch das Königtum (vgl.
Abschnitt II). - In den 30er/40er Jahren des 13. Jh. wurde mit dem
Bau der (nie vollendeten) Kathedrale begonnen (der Chor, eines der
Hauptwerke der französischen Gotik, ist erhalten). Durch die
Stadtrechnungen von 1260 sind finanzielle Schwierigkeiten belegt; sie
verstärkten sich durch die Bußen, die den Bürgern wegen
der städtischen Revolten auferlegt wurden. Doch konnte diese Krise
im 14. Jh. durch eine hervorragende Finanzverwaltung
überwunden werden. Dennoch geriet die Stadt aus mehreren Ursachen
(unter anderem den Notwendigkeiten der Verteidigung im
14.-15. Jh.) eng unter königliche Verwaltung. Die Stadt litt
- wie ihr Umland - sehr unter dem Hundertjährigen Krieg
und den französisch-burgundischen Kriegen (1472 Belagerung, die
durch die tapfere Verteidigung der
Jeanne Hachette berühmt wurde). Wenn auch nach dem Ende der
Feindseligkeiten die Wirtschaft wieder aufblühte, so vermochte die
Stadt sich nur wenige politische Privilegien zu erhalten, an die sie
sich, je begrenzter sie waren, mit um so größerem Stolz
klammerte.
II. Bistum und Grafschaft:
Die civitas, die in der
Nachfolge der civitas Bellovacorum
(Provinz Belgica II) stand, bildete insgesamt ein nördlich
ausgerichtetes Dreieck und umfaßte die vier ursprüngliche
pagi: Beauvais, Vendeuil, Ressons und Chambly. Im Zuge einer langsamen
Entwicklung entstanden drei Grafschaften:
Beauvais, Clermont (eine Herrschaft, die sehr wahrscheinlich von Beauvais
durch Usurpation abgetrennt wurde und deren Inhaber sich infolge einer
Heiratsverbindung vom Ende des 11. Jh. Grafen nannten) und
Beaumont, wobei Clermont durch Heirat in der 2. Hälfte des
12. Jh. der Herrschaft Breteuil angeschlossen wurde. Die
Christianisierung, deren einzelne Etappen im dunkeln liegen, scheint
erst nach der Mitte des 3. Jh. erfolgt zu sein. Wahrscheinlich
leitete der hl. Vedastus
(Vaast), Bischof von Arras,
gleichzeitig die Kirche von Beauvais.
Die Bischöfe der merowingischen
Zeit sind jedoch kaum namentlich bekannt.
Über die karolingerzeitlichen
Bischöfe existieren bessere Nachrichten. Im 9. Jh.
besaß besonders Bischof Odo I.
Bedeutung, nach dessen Tod ein Nachfolgestreit (881-883) einsetzte.
Verschiedene Anzeichen deuten seit dem 10. Jh. auf ein Wachsen der
weltlichen Gewalt der Bischöfe hin, ohne daß bekannt ist, ob
sich diese nur auf eine Reihe von Aneignungen gräflicher
Machtpositionen stützte. Seit dem Ende des 10. Jh.
(vielleicht aber auch schon seit der Mitte des 10. Jh.)
prägten die Bischöfe Münzen. Schon im Besitz der
Stadtherrschaft, dehnte der Bischof seinen Besitz auf dem flachen Land
durch bedeutende Lehen aus, die ihm durch die Grafen überlassen
wurden und die er zu vollem Eigen durch Odo II., Grafen von Blois erhielt (1015).
Der
Tod Odos, des letzten
Laien im
Besitz der Grafenwürde, ließ der Macht des Bischofs freies
Spiel. Territorial gesehen, verdichtete sich der Besitz der Kirche von Beauvais
um den Thérain, von der Grenze zur Normandie
bis zur Oise; hier besaß der Bischof alle Rechte
öffentlicher Gewalt. Doch feudale Besitzkomplexe (casamenta) und Usurpation
mündeten im Lauf des 11. Jh. in die Bildung von weitgehend
unabhängigen Herrschaften ein, vor allem diejenige der vidames (vicedomini), Consenioren von
Gerberoy. In Beauvais
selbst bestand die Machtstellung der bischöflichen Kastellane
ungebrochen bis zum 12. Jh. fort; auch danach blieb die Stadt
weitgehend von der Schutzherrschaft ihres früheren Herrn
losgelöst. Seit dem 12./13. Jh. wurde die bischöfliche
Stadtherrschaft zeitweise durch die Entwicklung der Kommune von Beauvais
weitgehend ausgeschaltet. Die Schwächung der bischöflichen
Gewalt zeigte sich auch in der starken Einflußnahme des
örtlichen Adels auf die Besetzung des Bischofssitzes. Unter diesen
Bedingungen gelang es der gregorianischen Reform nur langsam, Fuß
zu fassen. Nach einer Reihe von Auseinandersetzungen und Krisen gewann
die Reform erst um die Mitte des 12. Jh. die Oberhand, dank des
Auftretens mehrerer Bischöfe, die energisch ihre Rechte
verteidigten und Nutzen aus ihrer hohen Stellung zogen, so Heinrich (Henri
de France), der spätere
Erzbischof von Reims,
Bruder
König Ludwigs VII.,
und Philippe
de Dreux, Neffe von König Philipp II. August.
Unterstützt durch seine Vasallen und den wirtschaftlichen
Aufschwung seiner Bischofsstadt nutzend, wird der Prälat einer der
sechs geistlichen pairs de France.
Nachdem der Bischof etwa Ende des 12./Anfang des 13. Jh. unter
wenig bekannten Umständen das Vizedominat (vidamé) von Gerberoy
zurückerworben hatte, begann er im Nordwesten der Seigneurie, der
sich der bischöflichen Gewalt seit der Mitte des 11. Jh.
zunehmend entzogen hatte, wieder eine Machtstellung einzunehmen. Doch
wurde diese durch die Ausdehnung der königlichen Gewalt
beeinträchtigt. Hatten die Maßnahmen der Krone zur
Stärkung der eigenen Position am Ende des 11. Jh. noch
begrenzten Charakter, so verdichteten sie sich im Laufe des
12. Jh., um in den gewaltsamen Aktionen König Ludwigs IX. und der
Zentralisierungspolitik König
Philipps IV.,
der
erfolgreich Zwietracht zwischen Bischof und Kommune von Beauvais
säte, zu kulminieren.
Die Unterordnung des Bistums unter die
königliche Oberhoheit, die durch die Einsetzung von Bischöfen
wie Jean de Marigny und Jean de Dormans, beide Kanzler von
Frankreich, sowie Thomas
d' Estouteville deutlich wird, wird
für kurze Zeit durch den Einfluß Herzog Philipps
des Guten, der Pierre
Cauchon einsetzt, abgelöst; mit Jean Jouvenel des Ursins wird
unter
Karl VII.
wieder die königliche Einflußnahme sichtbar.
Die
Repräsentanz des Königtums wird (nach einer Phase des
Experimentierens mit verschiedenen Systemen) ab 1417, definitiv ab 1432
durch die Einsetzung eines lieutenant
des bailli von Senlis geregelt. Die weltliche Gewalt der
Bischöfe des 15. Jh. scheint im übrigen durch die
Verwüstungen des Hundertjährigen
Krieges und der
Auseinandersetzungen mit Burgund geschwächt worden zu sein; der
Bischofspalast, der bei der Belagerung von 1472 zerstört wurde,
konnte erst 1500 (gleichzeitig mit der Fortsetzung des Kathedralbaus)
durch Bischof Louis de Villiers
wieder aufgebaut werden.
O. Guyotjeannin