Die nachfolgenden Ereignisse schildern eine
Episode aus dem Jahre 1853, als der große deutsche
Afrikaforscher Heinrich Barth bei Ssai den Niger erreichte. Er
durchquerte von dort aus den Nigerbogen, zog durch die wilden
Homboriberge und betrat am 7. November als dritter Europäer
(nach Major Laing und René Caillié) das legendäre Timbuktu.
Sein Rückweg führte ihn über Gao, immer am Ufer des Flusses
entlang, bis er schließlich nach fast elf Monaten Reise wieder
Ssai erreichte.
»Wir waren
jetzt nahe am Niger und ich durfte mich der Hoffnung hingeben, am
nächsten Tage mit meinen eigenen Augen jenen großen Strom
Westafrikas zu schauen, der die Aufmerksamkeit der Europäer in
so hohem Grade auf sich gezogen hat.
Mir mußte dieser
hehre Strom als ein alter Freund und Gefährte meiner Wanderungen
um so lieber und werter sein; hatte ich doch den oberen Lauf
seines großen östlichen Armes selbst entdeckt.
(Montag, 20. Juni.) Nach ruhelos
durchträumter Nacht und gehoben von den erhabensten Gefühlen
brach ich mit meinem rüstigen Reisetroß in früher Morgenstunde
auf, und nach einem Marsche von etwas weniger als 2 Stunden und
durch felsige, mit dichtem Buschwerk bedeckte Wildnis traf der
erste Schimmer der silbernen Wasserfläche des Niger mein
Gesicht. Bald lag der mächtige Strom ganz vor mir und in
geringer Entfernung von seinem Ufer ging es entlang. Noch eine
Stunde und ich stand mit meinem Rosse auf dem
Einschiffungsplatze, der Stadt Ssai gegenüber.
Eine jede begünstigte Nation des
zentralafrikanischen Binnenlandes hat ihren Fluß, und wie
derselbe Fluß die Gebiete verschiedener Zungen durchströmt,
erhält er auch einen anderen Namen. So ist der große Strom
Westafrikas: der »große Fluß«, der »Dhiúliba« oder
»Yuli-ba« der Mandingo (Yuli) oder Wákore, der »Mayo« der
Fulbe, der »Eghírrëu« der Imo-scharh oder Tuáreg, der
»I'-ssa« oder »Ssai« der Sonrhay, der »Kuara«
(wahrscheinlich) der Kómbori, der »Baki-n-rua« der Haussaua.
So war endlich der berühmte Strom erreicht, der den Europäern
seit der Eröffnung der afrikanischen Geographie und Forschung
mystisch vor Augen und Sinnen schwebende Niger. Ruhig glitt er
von NNO nach SSW dahin, mit einer mäßigen Bewegung von
ungefähr 3 Meilen in der Stunde; seine Breite betrug hier nur
etwa 1000 Schritt. Er ist von felsigem Ufer eingeschlossen, das
im allgemeinen eine Höhe von 20 bis 30 Fuß hat; aber der Strom
selbst war ungebrochen, einen einzigen kleinen Felsen
ausgenommen, der beinahe in der Mitte des Flusses, nur etwas
näher am westlichen Ufer, gegenwärtig 12 bis 15 Fuß über die
Oberfläche des Wassers emporragte. Ein kleinerer Fels, etwas
weiter hin, war schon beinahe vom Flusse überströmt.
Dem Einschiffungsplatze gegenüber, und zwar
auf flacherem Ufer, breitete sich eine bedeutende Stadt aus,
deren niedrige Wälle und Hütten malerisch von einer Menge
schlanker Dumpalmen überrragt wurden; es war dies die
»Flußstadt«, der Überfahrtsort »Ssai« (dies Wort bedeutet
nämlich in dem östlichen Sonrhay-Dialekt »Fluß«). Ich glaube
übrigens nicht, daß es vor der Zeit der Fulbe der gewöhnliche
Überfahrtsort war; meiner Meinung nach befand sich dieser
vielmehr bei der Insel Oitílli, die von den Tuáreg und Fulbe
»Ghútil« oder »Ghúdil« genannt wird, obgleich dieser Name
später zuweilen auch auf Ssai angewandt worden sein mag. Die
Ufer hier bei Ssai ragten augenblicklich nicht hoch über das
Niveau des Flusses empor, und sowie der Fluß noch höher steigt,
erreicht er sogar den niedrigeren Rand.
Ich hatte schon am vorhergehenden Tage einen
Boten vorausgeschickt, um bei meiner Ankunft am Flusse geräumige
Boote zur Überfahrt bereit zu finden; aber es hatte sich bis
jetzt keines sehen lassen, und ich besaß daher hinreichende
Muße, die Fluß-Szenerie zu betrachten, von der das
gegenüberstehende Bild eine Vorstellung zu geben versucht. Eine
große Menge Reisender, sowohl Fulbe wie Sonrhay, wartete
ebenfalls am sandigen Ufer mit ihren Ochsen und Eseln auf die
Überfahrt, und es fehlte nicht an kleineren Booten, um sie
aufzunehmen. Zuletzt kamen denn auch die größeren Fahrzeuge an,
die mich und mein Gepäck übersetzen sollten. Sie waren von
ziemlicher Größe, nämlich etwa 40 Fuß lang, aber in der Mitte
nur 4 bis 5 Fuß breit, und bestanden aus je zwei ausgehöhlten,
in der Mitte zusammengebundenen Baumstämmen; das größte faßte
drei meiner Kamele, und das Wasser wurde viel besser
ausgeschlossen, als ich sonst bei den Fahrzeugen der Einwohner
des Negerlandes zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte. Diese
größeren Boote werden hauptsächlich zum Transport des Kornes
von Ssínder, das weiter aufwärts am Flusse liegt, nach Ssai
benutzt und waren bei dieser Gelegenheit ausdrücklich vom
Hafenbeamten für mich requiriert worden. Letzterer führte den
Titel »Herr der Fahrzeuge« - »sserki-n-djirgí« (auf Haussa),
»lámido-lala« (auf Fulfúde), »hiokeu« (in Sonrhay) - und
entspricht dem »Wasserkönig« - »sserki-n-rua« - in anderen
am Flusse gelegenen Ortschaften. Ich legte ihm später meine
Erkenntlichkeit durch ein Geschenk von 1000 Muscheln an den Tag.
Meine Kamele, Pferde, Leute und das Gepäck
wurden zuerst übergesetzt, und nachdem alles ohne Unfall am
anderen Ufer angekommen war, folgte ich selbst nach; es war
ungefähr 1 Uhr nachmittags. Ich fühlte unendliches Behagen, als
ich mich auf diesem gepriesenen Strome, dessen Erforschung schon
so manchem kühnen Wanderer das Leben gekostet hat, eingeschifft
fand; aber leider sollte dies nicht auf lange Zeit sein. Der
Eindruck, den der Anblick des Flusses auf mich machte, mußte um
so tiefer sein, als ich mich bald wieder von ihm trennen sollte,
denn ich hatte in Gándo volle Gelegenheit gehabt, mich von der
Richtigkeit meiner früheren Ansicht zu überzeugen, daß ich im
günstigsten Falle Timbuktu nicht anders als über Libtako
erreichen könnte, und nährte nur eine schwache Hoffnung, daß
ich vielleicht später imstande sein möchte, jenen Teil des
Flusses zwischen Timbuktu und Ssai zu besuchen. Von Anfang an war
es mir höchst zweifelhaft, ob ich je die westliche Küste
erreichen würde; auch erschien es mir weit wichtiger, den Niger
zwischen dem Punkt, wo er durch Mungo Parks und René Cailliés
Arbeiten leidlich bekannt geworden ist, und seinem unteren Laufe,
wo er von den Gebrüdern Lander bereist wurde, zu erforschen, als
von Timbuktu aus meine Reise an die Westküste fortzusetzen, um
sagen zu können, ich hätte Zentralafrika der Breite nach
durchwandert.
So betrat ich denn die Stadt Ssai und erhielt,
nachdem ich mich am Hause des Statthalters gezeigt hatte, alsbald
Quartier, aber dies war keineswegs wie ich es wünschte, sondern
klein und eng. Die Stadt liegt so niedrig, daß kein Luftzug sie
erfrischt, und hat daher im allgemeinen eine sehr drückende
Atmosphäre. Die Hütten in diesen Sonrhay-Städten sind mehr
für Frauen als für Männer gemacht, und der größere Teil
einer jeden wird von der »alkílla« (d.i. Frauengemach)
eingenommen, nämlich dem Rohrlager, welches sich in einem
besonderen Mattenzimmerchen befindet, das nur einen kleinen
Eingang hat; dadurch wird natürlich das Innere der so schon
beschränkten Hütte noch mehr beengt. (Schon bei der Schilderung
meines Aufenthaltes in Agades habe ich Gelegenheit gehabt, auf
die Sorgfalt hinzuweisen, mit der die Sonrhay ihre Ehelager
ausstatten.) So sah ich mich denn genötigt, sogleich dieses
kleine freundliche Schlafgemach einzureißen, um nur etwas
frische Luft in meine Wohnung gelangen zu lassen. Als ich es mir
so einigermaßen behaglich gemacht hatte, erhielt ich vom
Statthalter ein Gastgeschenk von zwei Schalen mit rohem Reis und
zwei anderen mit Hirse, aber keine zubereitete Erfrischung,
obwohl ich einer solchen, da ich während der heißesten
Tageszeit lange der Sonne ausgesetzt gewesen war, wohl bedurft
hätte. Bis jetzt war in der Umgegend nur sehr wenig Regen
gefallen, und auch ein Gewitter, das nachmittags am Himmel stand,
erreichte uns nicht. Die Luft war denn auch in diesem niedrigen
Tale, dessen absolute Höhe wahrscheinlich 350 Fuß nicht
übersteigt, so drückend, daß es mir zuweilen vorkam, als müßte
ich ersticken, und ganz unfähig war, Luft zu schöpfen.
Besonders hatte ich dies Gefühl bei der Annäherung eines
Gewitters, und einmal war ich in einem ganz verzweifelten
Zustande, gerade als wenn mir jemand die Kehle zuschnürte.
Immerhin ist Ssai für die Europäer der
bedeutendste Punkt in dieser ganzen Flußlandschaft, wenn es
ihnen einmal gelingt, die Flußschnellen zu passieren, welche den
Niger oberhalb Rabba und besonders zwischen Bu-ssa und Yaúri
hemmen, und so dieses schöne offene Wasserbecken, die große
Verkehrsstraße vom westlichen Zentralafrika, zu erreichen. Der
Handel und Verkehr der Eingeborenen am Flusse entlang ist nicht
unbedeutend, aber auch dieser Zweig der Betriebsamkeit hat
natürlich durch den aufrührerischen Zustand der benachbarten
Provinzen, ganz vorzüglich der Landschaften Sabérma und
Déndina, bedeutend gelitten. Die Folge davon war, daß Boote von
Ssai augenblicklich den Fluß nicht weiter abwärts gehen
konnten, als bis Kirotáschi (eine bedeutende, etwa 15 Meilen
weiter abwärts am westlichen Ufer gelegene Stadt), während sich
in entgegengesetzter Richtung, am Flusse aufwärts, ein
ununterbrochener Verkehr bis nach Kindádji erstreckte, jener
Inselstadt, mit der ich auf meiner Rückreise persönliche
Bekanntschaft machte.
Am Mittag des zweiten Tages meines
Aufenthaltes in Ssai stattete ich dem Statthalter einen Besuch
ab. Er heißt A'bu-Bakr und ist der Sohn des berühmten Màllem
Mohammed Djébbo. Ich fand in ihm eine ziemlich freundliche,
lebensvolle Persönlichkeit, aber es fehlte ihm jener Zug ernster
Männlichkeit, welcher einen bleibenden Eindruck macht, und es
schien mir aus verschiedenen Anzeichen klar zu sein, daß er von
einer Sklavin abstammte. Dabei hatte sein Benehmen etwas, was
sich dem jüdischen Charakter annäherte. Er war höchst
entzückt, mich zu sehen, denn ich war nicht allein der erste
Christ, der diesen Platz je besucht hatte - Mungo Park scheint
auf seiner ewig denkwürdigen Niger-Fahrt ganz unbemerkt hier
vorbeigeschifft zu sein, wenn anders die Stadt Ssai damals schon
bestand -, sondern (und das war ein Umstand, der ganz besonders
meinem Besuche eine erhöhte Bedeutung gab) ich war auch zu einer
Zeit gekommen, wo der gesamte Verkehr des Landes unterbrochen war
und Araber sowohl wie Eingeborene aus Furcht vor der Unsicherheit
der Straßen den Besuch der Stadt mieden. A'bu-Bakr hatte viel
von der Überlegenheit des Europäers über den Araber, sowohl in
geistiger Entwicklung als in Kunstfertigkeit der Hände, gehört
und hegte den ernstlichen Wunsch, daß, wenn es ohne Nachteil
für die Wohlfahrt der Provinz möglich wäre, ein Dampfschiff
oder ein anderes Fahrzeug der Europäer den Fluß heraufkommen
und seinen unbedeutenden Markt mit allen möglichen
Prachterzeugnissen versehen möge. In dieser Beziehung hörte er
mit nicht geringer Verwunderung, daß ich keinen Handel treibe;
ja er ward dadurch zu dem Argwohn verleitet, daß ich, um mich so
großen Gefahren auszusetzen, notwendig eine sehr geheimnisvolle
Absicht haben müßte. So wurde er denn bald unruhig und ließ,
weil ich meinen Aufbruch einen Tag hinausschob, wiederholt
anfragen, warum ich meine Reise noch nicht fortsetzte.«
Aus: Heinrich Barth, Die große Reise, Horst Erdmann
Verlag für Internationalen Kulturaustausch, Tübingen und Basel,
1977.
Gerhard Rohlfs |
Mungo Park