Norwich John Julius: Seite 132,135,143,146,151,153,199
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"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches."

Als Theodosius starb, war sein älterer Sohn Arkadios noch keine 18 Jahre alt. Honorius, wie wir gesehen haben, war 10. Er hatte sie deshalb beide der Obhut seines angeheirateten Neffen Stilicho übergeben, dem vertrauenswürdigsten seiner noch lebenden männlichen Familienmitglieder. Stilichos Stern war im Aufgehen. Über sein früheres Leben ist nur wenig bekannt, außer, daß sein Vater ein Vandalen-Führer gewesen war, der loyal, aber ohne sich besonders auszuzeichnen, unter Valens gekämpft hatte, und daß er selbst Mitglied der diplomatischen Mission gewesen war, die in Persien ein Abkommen mit Schapur III. ausgehandelt hatte. Damals hatte er vermutlich Theodosius' Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Wenige Monate später war er nämlich mit Serena verheiratet, der Nichte und Adoptiv-Tochter des Kaisers und dessem ganz besonderen Liebling. Gerüchten zufolge war sie die einzige, die ihn bei seinen schrecklichen Anfällen von Jähzorn beruhigen konnte, wenn sich sonst niemand in seine Nähe traute. Der Dichter Claudian, dessen Bewunderung für Stilicho allerdings an Vergötterung grenzt, schreibt, der große, gutaussehende junge Vandale mit dem vorzeitig ergrauten Haar habe eine so starke Ausstrahlung gehabt, daß ihm die Leute auf der Straße intuitiv Platz machten. Trotz dieses Vorzugs und seiner Verbindungen zum Hof scheint er die Aufmerksamkeit zeitgenössischer Chronisten jedoch erst anläßlich der Schlacht am Wippach geweckt zu haben. In Anerkennung seiner Tatkraft in dieser Begegnung wurde er zum Magister militum in Italien ernannt. Deshalb kümmerte sich Stilicho vor allem um Honorius, der nun Kaiser des Westens war, obwohl er genaugenommen für beide jungen Kaiser verantwortlich war.
Als die aufständischen Goten 395 die Hauptstadt Konstantinopel bedrohten, war die Situation so bedrohlich gewesen, daß Arkadios an Stilicho eine dringende Botschaft mit dem Befehl nach Mailand sandte, die Ostarmee so rasch wie möglich zurückzuführen.
Stilicho brach auf, sobald er konnte, nachdem er die Truppen mit mehreren Elitekontingenten aus dem Westen verstärkt hatte. Anstatt direkt nach Konstantinopel, marschierte er mit dem Heer jedoch geradewegs nach Süden, um Alarich in Thessalien entgegenzutreten. Zu seinem Ärger hatten sich die Goten dort jedoch hinter befestigten Palisaden verschanzt. Er versuchte immer noch, sie zum Kampf zu bewegen, da erhielt er einen neuerlichen Befehl des Kaisers: Die Armee solle umgehend in die Hauptstadt kommen. Er selbst aber dürfe sie nicht mehr weiter begleiten, sondern müsse in den Westen zurückkehren, wo er hingehöre. Dieser Befehl war vermutlich ein harter Schlag für Stilicho, der gewiß bereits Appetit auf das Oströmische Reich verspürte. Er tat jedoch, wie ihm geheißen wurde. Die Armee des Ostens unterstellte er dem Befehl des gotischen Truppenführers Gainas, und sie setzte sich gleich in Marsch. Darauf machte er sich mit den westlichen Einheiten auf den Weg nach Hause.
Am Ostersonntag des Jahres 402 fand eine unentschieden gebliebene Schlacht vor der Handwerkerstadt Pollentia gegen die Westgoten statt, die er aber in der Nähe von Verona besiegte. Einmal mehr erlaubte der Vandale Stilicho dem Goten Alarich jedoch, sich mit seiner noch immer schlagkräftigen Armee hinter die Grenzen von Illyrien zurückzuziehen.
Alarich war Stilicho nun schon zweimal ausgeliefert gewesen, ja, möglicherweise sogar dreimal, wenn wir den eigenartigen Vorfall im Jahre 395 in Thessalien mitrechnen, und jedesmals hatte ihn dieser wieder ziehen lassen. Es ist an der Zeit, seine Gründe dafür genauer unter die Lupe zu nehmen. Stilichos Haltung Alarich gegenüber scheint von Anfang an merkwürdig zweideutig gewesen zu sein. J.B. Bury äußert in einer History of the Later Roman Empire zum ersten Mal mögliche Begründungen im Zusammenhang mit der Tatsache, daß Stilicho nach der Schlacht am Wippach mit der Armee des Ostens in Mailand blieb. Vielleicht, so Bury, sei er vor Alarichs Revolte gewarnt worden und habe sich absichtlich zurückgehalten, damit sein Eingreifen zu einem späteren Zeitpunkt um so wichtiger würde. Als nächstes folgte der Vorfall mit den Palisaden in Thessalien: Hört sich denn das, so fragt man sich, überhaupt wahrscheinlich an? Widerstrebte es Alarich wirklich zu kämpfen? Oder widerstrebte es vielleicht eher Stilicho, ihn zu schwächen? Am merkwürdigsten aber ist die Flucht der Goten in Pholoe. Sollten wir sie vielleicht mit Stilichos bekanntem Ziel in Verbindung bringen, Illyrien und die Balkanhalbinsel dem Osten zu entreißen und der westlichen Reichshälfte - möglicherweise unter der Herrschaft seines Sohnes Eucherios als Mit-Kaiser - hinzuzufügen, und daraus schließen, daß Alarich zustimmte, als Gegenleistung für seine Freilassung als Komplize in diesem Plan mitzuwirken? Im Licht der nachfolgenden Ereignisse erscheint diese Hypothese recht glaubwürdig. Wir wissen zudem, daß Stilicho immer größeren dynastischen Ehrgeiz entwickelte. Tatsächlich war er bereits Schwiegervater des Kaisers, denn er hatte im Jahre 398 seine Tochter Maria mit Honorius verheiratet [6 Man sagt jedoch, Maria habe jungfräulich gelebt und sei auch so gestorben]. Aber was auch immer der Wahrheit entspricht, klar scheint jedenfalls, daß Stilicho die Goten als potentiell nützliche Verbündete in künftigen Aktionen gegen den Ostteil des Reiches betrachtete und nicht die Absicht hatte, ihre Stärke völlig zu brechen oder ihr Wohlwollen zu verwirken.
Als Johannes Chrysostomos im September 407 starb, war das Römische Reich tief gespalten, und Stilicho befand die Zeit für reif, um seinen lange geplanten Anschlag auf Illyrien in die Tat umzusetzen. Er wußte, daß sich Alarich in Bereitschaft hielt, um ihm zu helfen, und nur auf das Zeichen zum Abmarsch wartete. Als ersten Schritt ordnete er eine Blockade in die östliche Reichshälfte an und schloß alle italienischen Häfen für Arkadios' Schiffe. Dies kam einer Kriegserklärung gleich. Als Stilicho sich aber noch in Ravenna befand, um die Armee für den bevorstehenden Feldzug vorzubereiten, traf ein Bote von Honorius ein, der zu dieser Zeit in Rom weilte. Dieser überbrachte ihm Neuigkeiten, die ihn abrupt innehalten ließen. Alarich, so lauteten sie, sei tot. In der Zwischenzeit hatte sich Constantinus, der römische Gouverneur von Britannien, zum Augustus ausrufen lassen, nach Gallien übergesetzt und dort einen Aufstand angezettelt. Klar, daß Illyrien noch etwas länger warten mußte. Stilicho ließ die Armee in Ravenna zurück und eilte nach Rom, um sich mit Honorius abzusprechen. Dort eingetroffen, erfuhr er, daß die erste Hälfte der Botschaft auf einem falschen Gerücht beruht hatte. In Wirklichkeit befand sich Alarich gesund und munter in Illyrien, war allerdings sehr ungehalten, daß das von ihm und Stilicho geplante Unternehmen weiter aufgeschoben worden war. Er betonte, die Vorbereitungen hätten ihn viel Zeit und beträchtliche Summen gekostet und er erwarte dafür unverzüglich eine Entschädigung in der Höhe von 4.000 Pfund Gold. Unter Ausschöpfung seines besonderen Ansehens als Schwiegervater des Kaisers gelang es ihm schließlich, die anderen zu überzeugen.
Anfang Mai 408 starb Kaiser Arkadios im Alter von 31 Jahren und überließ den Thron Eudoxias 7-jährigem Sohn, den sie nach seinem Großvater Theodosius benannt hatte. Für Stilicho hätte es kaum erfreulichere Nachrichten geben können. Wenn er seine Karten nur richtig ausspielte, konnte er nun im Osten all seine Pläne verwirklichen, und das ohne Blutvergießen oder großen Aufwand. Für Alarich und seine Goten würde keinerlei Bedarf mehr bestehen, so daß sie sich mit dem Usurpator Konstantin in Gallien befassen konnten. Indem Stilicho hervorhob, daß die Ankunft eines weströmischen Kaisers in der Hauptstadt des Ostens mehr Probleme schaffen als lösen würde, brachte er Honorius schnell davon ab, persönlich nach Konstantinopel zu reisen: Es sei viel besser, wenn Honorius in Ravenna bleibe, wo er nach der Schlacht von Pollentia sechs Jahre zuvor seinen Hof eingerichtet hatte; als Magister militum habe er, Stilicho, keine Schwierigkeiten, alles im Interesse seines Schwiegersohnes zu regeln.
Doch zum zweiten Mal in nur zwei Jahren sollte nichts aus seinen Plänen werden. Vielleicht war sein persönlicher Ehrgeiz etwas zu offensichtlich geworden. Gewiß waren zahlreiche Christen darüber schockiert gewesen, wie rasch er Honorius nach dem Tode seiner Tochter, der Kaiserin Maria, dazu gebracht hatte, deren jüngere Schwester Thermantia zu ehelichen. Vielleicht hatte er mit seinem Beharren auf den enormen Zahlungen an Alarich auch mehr Unwillen erregt, als ihm bewußt war. Möglicherweise kam auch der alte Neid wieder zum Tragen: Stilicho war schließlich kein Römer, sondern ein Vandale, und als solcher sollte er wissen, wo sein Platz war. Im übrigen hatte er mit seiner unnachgiebig strengen Disziplin in der Armee ernstzunehmenden Mißmut ausgelöst. Im vergangenen Jahr war es zweimal, zuerst in Bologna und dann noch einmal in Pavia, zu Meutereien gekommen. Kurzum, Stilicho war gefährlich unbeliebt geworden. Am ausgeprägtesten manifestierte sich die feindselige Stimmung am Hof von Ravenna bei einem geistlichen Würdenträger, einem gewissen Olympios. Er war es denn auch, dem es auf seiner Reise mit Honorius durch Italien in Stilichos Abwesenheit gelang, den Kaiser davon zu überzeugen, daß sein Schwiegervater plane, ihn zu verraten.
Weder ist die Art der Vorwürfe genau bekannt, noch läßt sich im nachhinein beurteilen, ob sie fundiert waren. Die einzigen gesicherten Tatsachen dieser Geschichte sind, daß Stilicho festgenommen, unter Anklage vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und am 23. August 408 umgebracht wurde. Sein Sohn Eucherius floh nach Rom, wo es ihm gelang, seinen Tod um ein paar Monate hinauszuzögern. Dessen Schwester Thermantia wurde aus dem Kaiserpalst verbannt, wie es heißt, ohne die ehe vollzogen zu haben, wie vor ihr schon Maria.
Mit Stilichos Hinrichtung fand der ganze angestaute Haß Roms gegen alles Barbarische plötzlich ein Ventil. Im ganzen Reich griffen die römischen Legionäre in einer Garnision nach der anderen zu den Waffen, fielen über die gotischen, hunnischen und vandalischen Hilfstruppen her und verschonten auch ihre Familien nicht. Die Massaker waren schrecklich, und ihren Grausamkeiten entsprachen die Folgen. Die nichtrömischen Überlebenden, die dem Tod hatten entrinnen können, schlossen sich zum eigenen Schutz in Gruppen zusammen und zogen raubend und plündernd durch die Kande, bis sie bei Alarich anlangten; sie verstärkten sein Heer um rund 30.000 Mann.
Außerdem wurde klar, daß dem Weströmischen Reich ein Befehlshaber fehlte, und zwar in einem besonders kritischen Augenblick seiner Geschichte. Was für dunkle Pläne Stilicho auch gegen den Ostteil des Reiches geschmiedet haben mag, dem Westen war er immer ein treuer Diener gewesen. Sonst hätte er den schwachsinnigen Kaiser Honorius mit Sicherheit schon Jahre zuvor ohne Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Seine engen Verbindungen mit dem Kaiserhaus hätten dann wahrscheinlich mehr Gewicht gehabt als der Makel seiner nichtrömischen Herkunft und ihm gewiß erlaubt, den Purpur anzulegen oder zumindest für einen fähigen und vertrauenswürdigen Nachfolger zu sorgen. Wenn  wir also Olympios' Anschuldigungen nicht glauben wollen, dürfen wir annehmen, daß Stilichos Loyalität nie ins Wanken geriet. Er war vielmehr ein Nicht-Römer, der an das Reich glaubte, und trotz seiner Strenge und gelegentlichen Unaufrichtigkeit war er den Soldaten ein guter Führer gewesen. Erst als er tot war, merkte man in Rom, daß er nicht leicht zu ersetzen war.