Als Theodosius starb,
war sein älterer Sohn Arkadios
noch keine 18 Jahre alt. Honorius,
wie wir gesehen haben, war 10. Er hatte sie deshalb beide der Obhut seines
angeheirateten Neffen Stilicho übergeben, dem vertrauenswürdigsten
seiner noch lebenden männlichen Familienmitglieder. Stilichos Stern
war im Aufgehen. Über sein früheres Leben ist nur wenig bekannt,
außer, daß sein Vater ein Vandalen-Führer
gewesen war, der loyal, aber ohne sich besonders auszuzeichnen, unter Valens
gekämpft
hatte, und daß er selbst Mitglied der diplomatischen Mission gewesen
war, die in Persien ein Abkommen mit Schapur III.
ausgehandelt hatte. Damals hatte er vermutlich Theodosius'
Aufmerksamkeit
auf sich gezogen. Wenige Monate später war er nämlich mit Serena
verheiratet, der Nichte und Adoptiv-Tochter des Kaisers und dessem
ganz besonderen Liebling. Gerüchten zufolge war sie die einzige, die
ihn bei seinen schrecklichen Anfällen von Jähzorn beruhigen konnte,
wenn sich sonst niemand in seine Nähe traute. Der Dichter Claudian,
dessen Bewunderung für Stilicho allerdings an Vergötterung
grenzt, schreibt, der große, gutaussehende junge Vandale mit
dem vorzeitig ergrauten Haar habe eine so starke Ausstrahlung gehabt, daß
ihm die Leute auf der Straße intuitiv Platz machten. Trotz dieses
Vorzugs und seiner Verbindungen zum Hof scheint er die Aufmerksamkeit zeitgenössischer
Chronisten jedoch erst anläßlich der Schlacht am Wippach geweckt
zu haben. In Anerkennung seiner Tatkraft in dieser Begegnung wurde er zum
Magister militum in Italien ernannt. Deshalb kümmerte sich
Stilicho vor allem um Honorius,
der nun Kaiser des Westens war, obwohl er genaugenommen für
beide jungen Kaiser verantwortlich war.
Als die aufständischen Goten 395 die Hauptstadt
Konstantinopel bedrohten, war die Situation so bedrohlich gewesen, daß
Arkadios
an Stilicho
eine dringende Botschaft
mit dem Befehl nach Mailand sandte, die Ostarmee so rasch wie möglich
zurückzuführen.
Stilicho brach auf, sobald er konnte, nachdem
er die Truppen mit mehreren Elitekontingenten aus dem Westen verstärkt
hatte. Anstatt direkt nach Konstantinopel, marschierte er mit dem Heer
jedoch geradewegs nach Süden, um Alarich
in Thessalien entgegenzutreten. Zu seinem Ärger hatten sich die Goten
dort jedoch hinter befestigten Palisaden verschanzt. Er versuchte immer
noch, sie zum Kampf zu bewegen, da erhielt er einen neuerlichen Befehl
des Kaisers: Die Armee solle umgehend in die Hauptstadt kommen. Er selbst
aber dürfe sie nicht mehr weiter begleiten, sondern müsse in
den Westen zurückkehren, wo er hingehöre. Dieser Befehl war vermutlich
ein harter Schlag für Stilicho, der gewiß bereits Appetit
auf das Oströmische Reich verspürte. Er tat jedoch, wie ihm geheißen
wurde. Die Armee des Ostens unterstellte er dem Befehl des gotischen
Truppenführers Gainas, und sie setzte sich gleich in Marsch.
Darauf machte er sich mit den westlichen Einheiten auf den Weg nach Hause.
Am Ostersonntag des Jahres 402 fand eine unentschieden
gebliebene Schlacht vor der Handwerkerstadt Pollentia gegen die Westgoten
statt, die er aber in der Nähe von Verona besiegte. Einmal mehr erlaubte
der Vandale Stilicho dem Goten Alarich
jedoch, sich mit seiner noch immer schlagkräftigen Armee hinter die
Grenzen von Illyrien zurückzuziehen.
Alarich war Stilicho
nun schon zweimal ausgeliefert gewesen, ja, möglicherweise sogar dreimal,
wenn wir den eigenartigen Vorfall im Jahre 395 in Thessalien mitrechnen,
und jedesmals hatte ihn dieser wieder ziehen lassen. Es ist an der Zeit,
seine Gründe dafür genauer unter die Lupe zu nehmen. Stilichos
Haltung
Alarich gegenüber scheint von
Anfang an merkwürdig zweideutig gewesen zu sein. J.B. Bury äußert
in einer History of the Later Roman Empire zum ersten Mal mögliche
Begründungen im Zusammenhang mit der Tatsache, daß
Stilicho
nach der Schlacht am Wippach mit der Armee des Ostens in Mailand blieb.
Vielleicht, so Bury, sei er vor Alarichs
Revolte gewarnt worden und habe sich absichtlich zurückgehalten, damit
sein Eingreifen zu einem späteren Zeitpunkt um so wichtiger würde.
Als nächstes folgte der Vorfall mit den Palisaden in Thessalien: Hört
sich denn das, so fragt man sich, überhaupt wahrscheinlich an? Widerstrebte
es Alarich wirklich zu kämpfen?
Oder widerstrebte es vielleicht eher Stilicho, ihn zu schwächen?
Am merkwürdigsten aber ist die Flucht der Goten in Pholoe. Sollten
wir sie vielleicht mit Stilichos bekanntem Ziel in Verbindung bringen,
Illyrien und die Balkanhalbinsel dem Osten zu entreißen und der westlichen
Reichshälfte - möglicherweise unter der Herrschaft seines
Sohnes Eucherios als Mit-Kaiser - hinzuzufügen, und daraus schließen,
daß Alarich zustimmte, als Gegenleistung
für seine Freilassung als Komplize in diesem Plan mitzuwirken? Im
Licht der nachfolgenden Ereignisse erscheint diese Hypothese recht glaubwürdig.
Wir wissen zudem, daß Stilicho immer größeren dynastischen
Ehrgeiz entwickelte. Tatsächlich war er bereits Schwiegervater
des Kaisers, denn er hatte im Jahre 398 seine Tochter Maria
mit Honorius verheiratet [6 Man
sagt jedoch, Maria habe jungfräulich
gelebt und sei auch so gestorben]. Aber was auch immer der Wahrheit entspricht,
klar scheint jedenfalls, daß Stilicho die Goten als potentiell
nützliche Verbündete in künftigen Aktionen gegen den Ostteil
des Reiches betrachtete und nicht die Absicht hatte, ihre Stärke völlig
zu brechen oder ihr Wohlwollen zu verwirken.
Als Johannes Chrysostomos im September 407 starb,
war das Römische Reich tief gespalten, und Stilicho befand
die Zeit für reif, um seinen lange geplanten Anschlag auf Illyrien
in die Tat umzusetzen. Er wußte, daß sich Alarich
in Bereitschaft hielt, um ihm zu helfen, und nur auf das Zeichen zum Abmarsch
wartete. Als ersten Schritt ordnete er eine Blockade in die östliche
Reichshälfte an und schloß alle italienischen Häfen für
Arkadios'
Schiffe. Dies kam einer Kriegserklärung gleich. Als Stilicho
sich aber noch in Ravenna befand, um die Armee für den bevorstehenden
Feldzug vorzubereiten, traf ein Bote von Honorius
ein, der zu dieser Zeit in Rom weilte. Dieser überbrachte ihm Neuigkeiten,
die ihn abrupt innehalten ließen. Alarich,
so lauteten sie, sei tot. In der Zwischenzeit hatte sich Constantinus,
der römische Gouverneur von Britannien, zum Augustus ausrufen
lassen, nach Gallien übergesetzt und dort einen Aufstand angezettelt.
Klar, daß Illyrien noch etwas länger warten mußte. Stilicho
ließ die Armee in Ravenna zurück und eilte nach Rom, um sich
mit Honorius abzusprechen. Dort eingetroffen,
erfuhr er, daß die erste Hälfte der Botschaft auf einem falschen
Gerücht beruht hatte. In Wirklichkeit befand sich Alarich
gesund und munter in Illyrien, war allerdings sehr ungehalten, daß
das von ihm und Stilicho geplante Unternehmen weiter aufgeschoben
worden war. Er betonte, die Vorbereitungen hätten ihn viel Zeit und
beträchtliche Summen gekostet und er erwarte dafür unverzüglich
eine Entschädigung in der Höhe von 4.000 Pfund Gold. Unter Ausschöpfung
seines besonderen Ansehens als Schwiegervater des Kaisers gelang es ihm
schließlich, die anderen zu überzeugen.
Anfang Mai 408 starb Kaiser
Arkadios im Alter von 31 Jahren und überließ den
Thron Eudoxias 7-jährigem Sohn,
den sie nach seinem Großvater Theodosius
benannt
hatte. Für Stilicho hätte es kaum erfreulichere Nachrichten
geben können. Wenn er seine Karten nur richtig ausspielte, konnte
er nun im Osten all seine Pläne verwirklichen, und das ohne Blutvergießen
oder großen Aufwand. Für Alarich
und seine Goten würde keinerlei Bedarf mehr bestehen, so daß
sie sich mit dem Usurpator Konstantin in
Gallien befassen konnten. Indem Stilicho hervorhob, daß die
Ankunft eines weströmischen Kaisers in der Hauptstadt des Ostens mehr
Probleme schaffen als lösen würde, brachte er Honorius
schnell davon ab, persönlich nach Konstantinopel zu reisen: Es sei
viel besser, wenn Honorius in Ravenna
bleibe, wo er nach der Schlacht von Pollentia sechs Jahre zuvor seinen
Hof eingerichtet hatte; als Magister militum habe er, Stilicho,
keine Schwierigkeiten, alles im Interesse seines Schwiegersohnes zu regeln.
Doch zum zweiten Mal in nur zwei Jahren sollte nichts
aus seinen Plänen werden. Vielleicht war sein persönlicher Ehrgeiz
etwas zu offensichtlich geworden. Gewiß waren zahlreiche Christen
darüber schockiert gewesen, wie rasch er Honorius
nach dem Tode seiner Tochter, der Kaiserin Maria,
dazu gebracht hatte, deren jüngere Schwester Thermantia
zu ehelichen. Vielleicht hatte er mit seinem Beharren auf den enormen Zahlungen
an Alarich auch mehr Unwillen erregt,
als ihm bewußt war. Möglicherweise kam auch der alte Neid wieder
zum Tragen: Stilicho war schließlich kein Römer, sondern
ein Vandale, und als solcher sollte er wissen, wo sein Platz war. Im übrigen
hatte er mit seiner unnachgiebig strengen Disziplin in der Armee ernstzunehmenden
Mißmut ausgelöst. Im vergangenen Jahr war es zweimal, zuerst
in Bologna und dann noch einmal in Pavia, zu Meutereien gekommen. Kurzum,
Stilicho
war gefährlich unbeliebt geworden. Am ausgeprägtesten manifestierte
sich die feindselige Stimmung am Hof von Ravenna bei einem geistlichen
Würdenträger, einem gewissen Olympios. Er war es denn
auch, dem es auf seiner Reise mit Honorius
durch Italien in Stilichos Abwesenheit gelang, den Kaiser davon
zu überzeugen, daß sein Schwiegervater plane, ihn zu verraten.
Weder ist die Art der Vorwürfe genau bekannt, noch
läßt sich im nachhinein beurteilen, ob sie fundiert waren. Die
einzigen gesicherten Tatsachen dieser Geschichte sind, daß Stilicho
festgenommen, unter Anklage vor Gericht gestellt, schuldig gesprochen und
am 23. August 408 umgebracht wurde. Sein Sohn Eucherius
floh nach Rom, wo es ihm gelang, seinen Tod um ein paar Monate hinauszuzögern.
Dessen Schwester Thermantia
wurde aus dem Kaiserpalst verbannt, wie es heißt, ohne die ehe vollzogen
zu haben, wie vor ihr schon Maria.
Mit Stilichos Hinrichtung fand der ganze angestaute
Haß Roms gegen alles Barbarische plötzlich ein Ventil. Im ganzen
Reich griffen die römischen Legionäre in einer Garnision nach
der anderen zu den Waffen, fielen über die gotischen, hunnischen und
vandalischen Hilfstruppen her und verschonten auch ihre Familien nicht.
Die Massaker waren schrecklich, und ihren Grausamkeiten entsprachen die
Folgen. Die nichtrömischen Überlebenden, die dem Tod hatten entrinnen
können, schlossen sich zum eigenen Schutz in Gruppen zusammen und
zogen raubend und plündernd durch die Kande, bis sie bei Alarich
anlangten; sie verstärkten sein Heer um rund 30.000 Mann.
Außerdem wurde klar, daß dem Weströmischen
Reich ein Befehlshaber fehlte, und zwar in einem besonders kritischen Augenblick
seiner Geschichte. Was für dunkle Pläne Stilicho auch
gegen den Ostteil des Reiches geschmiedet haben mag, dem Westen war er
immer ein treuer Diener gewesen. Sonst hätte er den schwachsinnigen
Kaiser
Honorius mit Sicherheit schon Jahre zuvor
ohne Schwierigkeiten aus dem Weg geräumt. Seine engen Verbindungen
mit dem Kaiserhaus hätten dann wahrscheinlich mehr Gewicht gehabt
als der Makel seiner nichtrömischen Herkunft und ihm gewiß erlaubt,
den Purpur anzulegen oder zumindest für einen fähigen und vertrauenswürdigen
Nachfolger zu sorgen. Wenn wir also Olympios' Anschuldigungen
nicht glauben wollen, dürfen wir annehmen, daß Stilichos
Loyalität nie ins Wanken geriet. Er war vielmehr ein Nicht-Römer,
der an das Reich glaubte, und trotz seiner Strenge und gelegentlichen Unaufrichtigkeit
war er den Soldaten ein guter Führer gewesen. Erst als er tot war,
merkte man in Rom, daß er nicht leicht zu ersetzen war.