Die Herkunft der Wettiner [1 Diese adlige Verwandtengruppe wird nach einem ihrer Herrschaftszentren, der Burg Wettin nördlich von Halle, benannt. Das erste Mitglied der Familie, für das eine Bezeichnung nach diesem Sitz in zeitgenössischen Quellen belegt ist, war Markgraf Konrad "von Wettin" (1123-1156). Die zusammenfassende Bezeichnung seiner Vorfahren unter dem Namen "WETTINER" entspricht zwar den Gepflogenheiten der Namengebung während des 10. und 11. Jahrhunderts, sie soll aber der Einfachheit halber beibehalten werden.]
Den besten Überblick über die frühen WETTINER
bietet die im 13. Jahrhundert entstandene Genealogia Wettinensis. Die Reihe
der dort verzeichneten Familienmitglieder setzt mit dem gegen Ende des
10. Jahrhunderts lebenden Dietrich
I. ein, über dessen Herkunft keine Angaben gemacht werden
[2 Gen. Wettinensis, Seite 226 Zeile 36f.]. Der Verfasser der Genealogia
bezog seine Kenntnisse über die frühesten ihm bekannten Angehörigen
dieser Verwandtengruppe aus dem Werk des Annalista Saxo, der seinerseits
auf die Chronik Thietmars von Merseburg stützte [3 Vgl. Annalista
Saxo zu 983 und 1009, Seite 630 Zeile 31 und Seite 659 Zeile 51 und Thietmari
Chronicon VI, 50, Seite 336. Zur Genealogia Wettinensis und ihre Quellen
vgl. im einzelnen unten Abschnitt III.2.a) passim.]. Thietmar berichtet,
daß Dietrich I. agnatisch mit dem Markgrafen
Rikdag verwandt war und von der "tribus, quae Buzici
dicitur," abstammte [4 Thietmari Chronicon VI 50, Seite 336
Zeile 15-18: "Sed si te lectorem audire delectat, unde is fuerit
[sc. Dedo
I., der Sohn Dietrichs I.], de tribu, quae
Buzici dicitue, et de patre Thiedrico originem duxisse
accipies. Hic Rigdago marchioni, agnato suimet, ab infancia serviebat
[...]." Zwar beziehen sich die Angaben über die Herkunft der WETTINER
auf Dietrichs Sohn Dedo, sie gelten aber natürlich sinngemäß
auch für den Vater.]. Diese Informationen reichten für Thietmars
Zeitgenossen allem Anschein nach aus, um sich ein Bild von dem Rang und
den verwandtschaftlichen Beziehungen des WETTINERS zu machen. Für
den ungefähr zweihundert Jahre später schreibenden Verfasser
der Genealogie galt dies jedoch offenbar nicht mehr, da er den für
ihn unverständlichen Hinweis auf die "tribus Buzici"
aus seiner Vorlage nicht übernahm [5 Vgl. Annalista Saxo zu
1009, Seite 659 Zeile 50-52.]. So war wohl spätestens im 13. Jahrhundert
die Kenntnisse von der tatsächlichen Herkunft der WETTINER
erloschen. Angesichts dieses Umstandes verwundert es nicht, daß der
Autor der Schrift De origine principum marchionum Missnensium et Thuringiae
lantgraviorum, in welcher er zu Beginn des 15, Jahrhunderts Auskunft
über die Abstammmung des sächsischen Fürstengeschlechts
gab, Dietrich I. zum Urenkel des sächsischen Herzogs Widukind
erklärte, den er auch als Erbauer der Burg Wettin betrachtete
[6 Ann. Vetero-Cellenses, ed. Opel, Seite 164: ""Iste Witkint
dux fundavit primo castrum prope Salam fluvium, quod dicitur Wittin
[...]". - Seite 166: "Theodericus, egregie libertatis vir,
pronepos Witkindi, magni ducis, comes paterni castri in Wittin,
genuit duos filios Dedonem et Fredericum et filiam Mechthildam,
quae fuit uxor Heinrici primi imperatoris
et mater Ottonis, magni
imperatoris". - Zu Königin
Mathilde, einer IMMEDINGERIN, vgl. Widukindi Res
Gestae I 31, Seite 43f. sowie R. Wenskus, Stammesadel, Seite 131-135, K.
Schmid, Nachfahren, Seite 69-76 und Seite 99-105.]. Daß er sich überdies
veranlaßt sah, Mathilde, die
Ehefrau König
HEINRICHS I., als Tochter des wettinischen Spitzenahns
auszugeben, zeugt zugleich vom gesteigerten Selbstbewußtsein der
Markgrafen zu jener Zeit [7 Zum Zeitpunkt der Entstehung von De
origine principum, der wohl vor der Eerlangung der sächsischen Herzogs-
und Kurwürde durch Friedrich den Streitbaren im Jahre 1423
anzusetzen ist, vgl. Ann. Vetero-Cellenses, ed. Opel, Einleitung, Seite
132-137. - Zum adligen Selbstverständnis und seinen schriftlichen
Erscheinungsformen vgl. allgemein O. G. Oexle, Aspekte, Seite 27-35 sowie
unten Abschnitt III. 2. c.) passim.]. Erst zu Beginnn des 18. Jahrhunderts
stieß diese sagenhafte Version auf Skepsis [8 Zur älteren
Forschung vgl. O. Posse, Meißen, Seite 213 A. 9.].
Die jüngeren Untersuchungen zur Herkunft beziehen
sich vornehmlich auf die von Thietmar gebotenen Hinweise [9 Daneben
werden aufgrund der Gewohnheiten bei der Namengebung mehrere Grafen berücksichtigt,
die in ottonischer Zeit lebten, den
Namen Dietrich beziehungsweise dessen Kurzform Dedi oder
Dedo trugen und möglicherweise mit verschiedenen WETTINERN
gleichzusetzen sind; vgl. dazu allgemein R. Wenskus, Stammesadel, Seite
41-46 sowie speziell zum Namen Dietrich beziehungsweise Dedo
A. Bach, Band 1, Seite 253 § 225 und W. Schlaug, Seite 71. So begegnen
in diesem Kontext wiederholt:
1.) ein Thüringer namens Dadi beziehungsweise
Dadanus, von dem Widukindi Res Gesta II 18 zu
939 und III 16 zu 953, Seite
83 Zeile 9 und 112 Zeile 23 berichten
2.) ein Graf Teti, der 949 im Hassegau amtierte,
wie aus DO. I. 114 hervorgeht
3.) mehrere Männer dieses Namens, deren Todesdatum
im Totenbuich von Lüneburg, Seite 11 d4 und
in den Fuldaer Todesannalen
zu 957 und zu 981/82, Band 1, Seite 334 und 342f. verzeichnet sind;
von ihnen werden die folgenden
drei als WETTINER angesehen:
a) der Verstorbene vom 14. März [957]
(vielleicht der Thüringer Dadi), vgl. G. Althoff,
Memorialüberlieferung, Seite
392 G 26, K. Schmid, Klostergemeinschaft von Fulda, Band 2.1, Seite
392 G 77 und weiter unten Seite 11
A. 24
b) der Verstorbene vom 10. Juli [982] (vielleicht
Dietrich I.), vgl. G. Althoff, Memorialüberlieferung,
Seite 405 G 81, K. Schmid, Klostergemeinschaft
von Fulda, Band 2.1, Seite 392 G 77 und unten
Seite 11
c) der Verstorbene vom 13. November [1009]
(vielleicht Dedo I.), vgl. G. Althoff,
Memorialüberlieferung, Seite
422f. G 161 und unten Seite 12-14; vgl. zu den Genannten ferner F.J.
Jakobi, Seite 872-875
4.) ein Graf Dedi, der nach dem Bericht des Thietmari
Chronicon III 20, Seite 124 Zeile 5 im Sommer
982 in der Schlacht bei Kap
Colonne in Kalabrien fiel.].
Dabei handelt es sich im wesentlichen um drei eigenständige
Ansätze, die besonders in der Interpretation der "tribs,
quae dicitur Buzici" voneinander abweichen [10 Einen
Überblick bietet Lübke, Regesten 2, 191 III c 5 und C. Lübke,
Seite 412 A. 52.].
Die Vertreter des
ersten Ansatzes verstehen diese
Formulierung als die Bezeichnung für eine Verwandtengruppe und leiten
"Buzuci"
von Buco oder Buzo, der Kurzform von Burchard/Burkhard
ab [11 Vgl. A. Bach, Band 1, Seite 100 § 93.2b. Den zweiten
Teil des Kompositums Buz-ici versteht W. Schlesinger, Landesherrschaft,
Seite 171 A. 301 als die slavische patronymische Endung.]. Da in einer
von Thietmar überlieferten Liste der 982 bei Kap Colonne Gefallenen
auf einen Grafen Burchard unmittelbar ein Graf Dedi folgt,
sehen sie beide als Brüder an und fügen ihnen ohne nähere
Begründung Dietrich I. als dritten hinzu [12 Thietmari
Chronicon III 20, Seite 124 Zeile 2-6. Vgl. dazu die Ausführungen
bei O. Posse, Genealogie, Seite 38 und unten Seiite 11 A. 26.].
So wird der Anschluß an eine Reihe von Adligen
namens Burchard gewonnen, die man bis auf den im Jahre 908 gestorbenen
Markgrafen der karolingischen Sorbenmark
zurückführt [13 So vornehmlich F. Kurze, Seite 315-317.
O. Posse, Meißen, Seite 214 lehnt Kurzes These zunächst noch
als "genealogische Willkür" ab, schließt sich ihm jedoch in
seiner Genealogie, Seite 37-39 an, wo er Seite 38 A. 7-9 die älteren
Vertreter dieser Ansicht verzeichnet. R. Schölkopf, Seite 99 weist
zwar auf die Probleme des so rekonstruierten Stammbaumes hin, behandelt
die WETTINER aber Kurze und Posse folgend im Kapitel über die
BURCHARDINGER. Auch H. Philippi, Seite 1 betrachtet Markgraf Burchard
noch als Ahnherrn der WETTINNER.].
Diese Auffassung wird hingegen im zweiten Ansatz bestritten,
der auf der Annahme beruht, daß es sich bei der "tribus Buzici"
lediglich
um eine slavische Gau- oder Ortsbezeichnung handelt, die für die Frage
nach der Herkunft der WETTINER keinen
Aufschluß bietet. Da jedoch ein Gau Buzici unbekannt ist, wird er
aufgrund eines nicht näher begründeten Lautwandels mit dem um
das Jahr 1000 unter wettinischer
Kontrolle befindlichen Gau Quezizi gleichgesetzt [14 K. A. Eckhardt,
Seite 76-90. Ihm folgen K. Blaschke, Raum, Gesellschaft und Persönlichkeit,
Seite 415f. und eingeschränkt J. Fleckenstein, Wettiner, Seite 91f.].
Überdies hebt man die agnatische Beziehung Dietrichs I. zu
Markgraf Rikdag hervor, der als Angehöriger der Harzgrafen
gilt [15 Zu ihnen vgl. R.
Schölkopf, Seite 83-93.], und leitet die
WETTINER von dieser adligen Verwandtengruppe
her [16 K. A. Eckhardt, Seite 70-90. Ihm folgen K. Blaschke, Raum,
Gesellschaft und Persönlichkeit Seite 415f. und eingeschränkt
J. Fleckenstein, Wettiner, Seite 91f.].
Der dritte Ansatz nimmt schließlich die
Vermutung wieder auf, daß die WETTINER
von einem Spitzenahn namens Burkhard abstammten, sucht allerdings
ihre Heimat in Schwaben, da man der Aussage des Sachsenspiegels folgt,
daß die Markgrafen von Meißen nach schwäbischem Recht
lebten [17 Sachsenspiegel: Landrecht, Seite 53.]. Diese Ansicht
wird durch zwei Indizien gestützt. Zum einen läßt ein Eintrag
im Gedenkbuch des Klosters Pfäfers vermuten, daß um 950 Beziehungen
zwischen den im Jahre 926 gestorbenen schwäbischen Herzog Burkhard
I. und seinem Sohn Burkhard II. sowie mehreren sächsischen Adligen
aus dem Umfeld der Harzgrafengruppe, der Rikdag-Sippe und der IMMEDINGER
bestanden [18 Libri Confraternitatum, Seite 383, Nr. 109. Vgl. dazu
H. Decker-Hauff, Ottonen und Schwaben, Seite 247ff., G. Tellenbach, Adelsgeschichte,
Seite 174ff., R. Wenskus, Stammesadel, Seite 331f. und zusammenfassend
M. Kobuch in den EErgänzungen zu O. Posse, Genealogie Tafel 1,, Nachträge
Seite 2.]. Zum anderen legt das Eindringen der ursprünglich in Sachsen
nicht vorkommenden Namen Burkhard und Wieldrut in das Namengut
der immedingischen Liesgaugrafen, die wohl in das Umfeld der Harzgrafen
gehörten, eine Verbindung der schwäbischen und der sächsischen
Verwandtengruppe nahe [19 Vgl. dazu R. Wenskus, Stammesadel, Seite
143f. und 3332f.]. So ist zum Jahre 965 im Liesgau ein Graf
Burkhard bezeugt [20 DO.
I. 312.]. Daraus leitet man die Vermutung ab, daß die WETTINER
von den schwäbischen BURKHARDINGERN abstammten,
wobei es als denkbar angesehen wird, daß der Liesgaugraf
Burkhard und Dietrich I. die Söhne von Burkhard
II. waren, der in erster Ehe eine Frau aus der immedingisch-harzgräflichen
Verwandtengruppe
geheiratet hatte [21 Vgl. dazu R. Wenskus, Stammesadel, Seite 333:
"So wie sich die Quellen auf diese Weise zusammenordnen, wird man daher
auf folgende Vermutung geführt. Burkhard II. wurde nach dem
Tod seines Vaters 926 nach Sachsen verbracht und dort mit einer IMMEDINGERIN
vermählt, um die Kreise des neuen Herzogs Hermann in Schwaben nicht
zu stören. Der 'Sachse'
Burkhard mag sein Sohn gewesen sein, der dann 965 als Graf im
Liesgau bezeugt ist. Er ist mit seinem Bruder Dedi (Dietrich), der
seinen Namen von der
immedingischen Mutter vermittelt erhielt, 982
in Calabrien gegen die Araber gefallen". - Zum Problem der (unwahrscheinlichen)
Identifikation des wettinischen
Spitzenahns
mit dem 982 getöteten Grafen Dedi vgl. unten Seite 11 A. 26.].
Jeder genannten Ansätze beruht in hohem Maß
auf Vermutungen, deren Plausibilität gleichwohl sehr unterschiedlich
ist. Während der erst eine methodisch bedenkliche und logisch nicht
einwandfreie Aneinanderreihung von Hypothesen darstellt [22], bleibt der
zweite wegen seiner unhaltbaren Interpretation der "tribus Buzici"
als Gaubezeichnung unbefriedigend [23]. Hingegen erweisen sich die Annahmen
als weiterführend, daß die WETTINER
von einer Verwandtengruppe abstammten, deren Leitname Burkhard war,
und gleichzeitig durch den "agnatus" Rikdag mit den Harzgrafen
in Beziehung standen. Jedoch gelingt es erst dem dritten Ansatz, diese
beiden Erkenntnisse und die Nachricht des Sachsenspiegels in überzeugender
Weise zu verbinden. Daher ist es am wahrscheinlichsten, dass die WETTINERväterlicherseits
von den schwäbischen BURKHARDINGERN und mütterlicherseits
von den immedingischen Harzgrafen
herzuleiten
sind [24 Problematisch bleibt bei dieser Sicht der Dinge allerdings,
dass Thietmar den Markgrafen Rikdag ausdrücklich als "agnatus"
Dedos I. bezeichnete, während Wenskus sich für einen cognatischen
Zusammenhang entscheidet. Es ist jedoch sehr fraglich, ob "agnatus", das
in Thietmars Werk nach Ausweis des Wortverzeichnisses der von R. Holtzmann
vorgelegten Edition des Thietmari Chronicon, S. 584 nur ein einziges Mal
an der genannten Stelle Chron. VI 50 vorkommt, im Sprachgebrauch des Bischofs
tatsächlich ausschließlich das verwandtschaftliche Verhältnis
von Schwertmagen umschreibt, wie K. A. Eckhardt, S. 77-79 meint. Vgl. dazu
Mittellateinisches Wörterbuch, s.v. agnatus, S. 389, wo Thietmari
Chronicon VI 50 als Beleg Verwendung "latius de quibuslibet vel incertis
propinquis" herangezogen wird. - Die anzunehmende schwäbische
Herkunft der WETTINER macht im übrigen
die häufig geäußerte Vermutung unwahrscheinlich, dass der
bei Widukind genannte Thüringer Dadi, mit dem wiederholt auch
der im D O. I. 114 erwähnte Graf Teti und der 957 gestorbene
Träger dieses Namens gleichgesetzt werden, zu dieser Verwandtengruppe
gehörte. Vgl. dazu K. A. Eckhardt, S. 73 f., R. Wenskus, Hassegau,
S. 50 f., G. Althoff, Memorialüberlieferung, S. 392 G 26 sowie C.
Lübke, S. 412.].