Pätzold Stefan: Seite 8-10
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"Die frühen Wettiner. Adelsfamilie und Hausüberlieferung bis 1221"

Die Herkunft der Wettiner [1 Diese adlige Verwandtengruppe wird nach einem ihrer Herrschaftszentren, der Burg Wettin nördlich von Halle, benannt. Das erste Mitglied der Familie, für das eine Bezeichnung nach diesem Sitz in zeitgenössischen Quellen belegt ist, war Markgraf Konrad "von Wettin" (1123-1156). Die zusammenfassende Bezeichnung seiner Vorfahren unter dem Namen "WETTINER" entspricht zwar den Gepflogenheiten der Namengebung während des 10. und 11. Jahrhunderts, sie soll aber der Einfachheit halber beibehalten werden.]

Den besten Überblick über die frühen WETTINER bietet die im 13. Jahrhundert entstandene Genealogia Wettinensis. Die Reihe der dort verzeichneten Familienmitglieder setzt mit dem gegen Ende des 10. Jahrhunderts lebenden Dietrich I. ein, über dessen Herkunft keine Angaben gemacht werden [2 Gen. Wettinensis, Seite 226 Zeile 36f.]. Der Verfasser der Genealogia bezog seine Kenntnisse über die frühesten ihm bekannten Angehörigen dieser Verwandtengruppe aus dem Werk des Annalista Saxo, der seinerseits auf die Chronik Thietmars von Merseburg stützte [3 Vgl. Annalista Saxo zu 983 und 1009, Seite 630 Zeile 31 und Seite 659 Zeile 51 und Thietmari Chronicon VI, 50, Seite 336. Zur Genealogia Wettinensis und ihre Quellen vgl. im einzelnen unten Abschnitt III.2.a) passim.]. Thietmar berichtet, daß Dietrich I. agnatisch mit dem Markgrafen Rikdag verwandt war und von der "tribus, quae Buzici dicitur," abstammte [4 Thietmari Chronicon VI 50, Seite 336 Zeile 15-18: "Sed si te lectorem audire delectat, unde is fuerit [sc. Dedo I., der Sohn Dietrichs I.], de tribu, quae Buzici dicitue, et de patre Thiedrico originem duxisse accipies. Hic Rigdago marchioni, agnato suimet, ab infancia serviebat [...]." Zwar beziehen sich die Angaben über die Herkunft der WETTINER auf Dietrichs Sohn Dedo, sie gelten aber natürlich sinngemäß auch für den Vater.]. Diese Informationen reichten für Thietmars Zeitgenossen allem Anschein nach aus, um sich ein Bild von dem Rang und den verwandtschaftlichen Beziehungen des WETTINERS zu machen. Für den ungefähr zweihundert Jahre später schreibenden Verfasser der Genealogie galt dies jedoch offenbar nicht mehr, da er den für ihn unverständlichen Hinweis auf die "tribus Buzici" aus seiner Vorlage nicht übernahm [5 Vgl. Annalista Saxo zu 1009, Seite 659 Zeile 50-52.]. So war wohl spätestens im 13. Jahrhundert die Kenntnisse von der tatsächlichen Herkunft der WETTINER erloschen. Angesichts dieses Umstandes verwundert es nicht, daß der Autor der Schrift De origine principum marchionum Missnensium et Thuringiae lantgraviorum, in welcher er zu Beginn  des 15, Jahrhunderts Auskunft über die Abstammmung des sächsischen Fürstengeschlechts gab, Dietrich I. zum Urenkel des sächsischen Herzogs Widukind erklärte, den er auch als Erbauer der Burg Wettin betrachtete [6 Ann. Vetero-Cellenses, ed. Opel, Seite 164: ""Iste Witkint dux fundavit primo castrum prope Salam fluvium, quod dicitur Wittin [...]". -  Seite 166: "Theodericus, egregie libertatis vir, pronepos Witkindi, magni ducis, comes paterni castri in Wittin, genuit duos filios Dedonem et Fredericum et filiam Mechthildam, quae fuit uxor Heinrici primi imperatoris et mater Ottonis, magni imperatoris". - Zu Königin Mathilde, einer IMMEDINGERIN, vgl. Widukindi Res Gestae I 31, Seite 43f. sowie R. Wenskus, Stammesadel, Seite 131-135, K. Schmid, Nachfahren, Seite 69-76 und Seite 99-105.]. Daß er sich überdies veranlaßt sah, Mathilde, die Ehefrau König HEINRICHS I., als Tochter des wettinischen Spitzenahns auszugeben, zeugt zugleich vom gesteigerten Selbstbewußtsein der Markgrafen zu jener Zeit [7 Zum Zeitpunkt der Entstehung von De origine principum, der wohl vor der Eerlangung der sächsischen Herzogs- und Kurwürde durch Friedrich den Streitbaren im Jahre 1423 anzusetzen ist, vgl. Ann. Vetero-Cellenses, ed. Opel, Einleitung, Seite 132-137. - Zum adligen Selbstverständnis und seinen schriftlichen Erscheinungsformen vgl. allgemein O. G. Oexle, Aspekte, Seite 27-35 sowie unten Abschnitt III. 2. c.) passim.]. Erst zu Beginnn des 18. Jahrhunderts stieß diese sagenhafte Version auf Skepsis [8 Zur älteren Forschung vgl. O. Posse, Meißen, Seite 213 A. 9.].
Die jüngeren Untersuchungen zur Herkunft beziehen sich vornehmlich auf die von Thietmar gebotenen Hinweise [9 Daneben werden aufgrund der Gewohnheiten bei der Namengebung mehrere Grafen berücksichtigt, die in ottonischer Zeit lebten, den Namen Dietrich beziehungsweise dessen Kurzform Dedi oder Dedo trugen und möglicherweise mit verschiedenen WETTINERN gleichzusetzen sind; vgl. dazu allgemein R. Wenskus, Stammesadel, Seite 41-46 sowie speziell zum Namen Dietrich beziehungsweise Dedo A. Bach, Band 1, Seite 253 § 225 und W. Schlaug, Seite 71. So begegnen in diesem Kontext wiederholt:
1.) ein Thüringer namens Dadi beziehungsweise Dadanus, von dem Widukindi Res Gesta II 18 zu
     939 und III 16 zu 953, Seite 83 Zeile 9 und 112 Zeile 23 berichten
2.) ein Graf Teti, der 949 im Hassegau amtierte, wie aus DO. I. 114 hervorgeht
3.) mehrere Männer dieses Namens, deren Todesdatum im Totenbuich von Lüneburg, Seite 11 d4 und
     in den Fuldaer Todesannalen zu 957 und zu 981/82, Band 1, Seite 334 und 342f. verzeichnet sind;
     von ihnen werden die folgenden drei als WETTINER angesehen:
a) der Verstorbene vom 14. März [957] (vielleicht der Thüringer Dadi), vgl. G. Althoff,
    Memorialüberlieferung, Seite 392 G 26, K. Schmid, Klostergemeinschaft von Fulda, Band 2.1, Seite
    392 G 77 und weiter unten Seite 11 A. 24
b) der Verstorbene vom 10. Juli [982] (vielleicht Dietrich I.), vgl. G. Althoff, Memorialüberlieferung,
    Seite 405 G 81, K. Schmid, Klostergemeinschaft von Fulda, Band 2.1, Seite 392 G 77 und unten
    Seite 11
c) der Verstorbene vom 13. November [1009] (vielleicht Dedo I.), vgl. G. Althoff,
    Memorialüberlieferung, Seite 422f. G 161 und unten Seite 12-14; vgl. zu den Genannten ferner F.J.
    Jakobi, Seite 872-875
4.) ein Graf Dedi, der nach dem Bericht des Thietmari Chronicon III 20, Seite 124 Zeile 5 im Sommer
     982 in der Schlacht bei Kap Colonne in Kalabrien fiel.].
Dabei handelt es sich im wesentlichen um drei eigenständige Ansätze, die besonders in der Interpretation der "tribs, quae dicitur Buzici" voneinander abweichen [10 Einen Überblick bietet Lübke, Regesten 2, 191 III c 5 und C. Lübke, Seite 412 A. 52.].
Die Vertreter des ersten Ansatzes verstehen diese Formulierung als die Bezeichnung für eine Verwandtengruppe und leiten "Buzuci" von Buco oder Buzo, der Kurzform von Burchard/Burkhard ab [11 Vgl. A. Bach, Band 1, Seite 100 § 93.2b. Den zweiten Teil des Kompositums Buz-ici versteht W. Schlesinger, Landesherrschaft, Seite 171 A. 301 als die slavische patronymische Endung.]. Da in einer von Thietmar überlieferten Liste der 982 bei Kap Colonne Gefallenen auf einen Grafen Burchard unmittelbar ein Graf Dedi folgt, sehen sie beide als Brüder an und fügen ihnen ohne nähere Begründung Dietrich I. als dritten hinzu [12 Thietmari Chronicon III 20, Seite 124 Zeile 2-6. Vgl. dazu die Ausführungen bei O. Posse, Genealogie, Seite 38 und unten Seiite 11 A. 26.].
So wird der Anschluß an eine Reihe von Adligen namens Burchard gewonnen, die man bis auf den im Jahre 908 gestorbenen Markgrafen der karolingischen Sorbenmark zurückführt [13 So vornehmlich F. Kurze, Seite 315-317. O. Posse, Meißen, Seite 214 lehnt Kurzes These zunächst noch als "genealogische Willkür" ab, schließt sich ihm jedoch in seiner Genealogie, Seite 37-39 an, wo er Seite 38 A. 7-9 die älteren Vertreter dieser Ansicht verzeichnet. R. Schölkopf, Seite 99 weist zwar auf die Probleme des so rekonstruierten Stammbaumes hin, behandelt die WETTINER aber Kurze und Posse folgend im Kapitel über die BURCHARDINGER. Auch H. Philippi, Seite 1 betrachtet Markgraf Burchard noch als Ahnherrn der WETTINNER.].
Diese Auffassung wird hingegen im zweiten Ansatz bestritten, der auf der Annahme beruht, daß es sich bei der "tribus Buzici" lediglich um eine slavische Gau- oder Ortsbezeichnung handelt, die für die Frage nach der Herkunft der WETTINER keinen Aufschluß bietet. Da jedoch ein Gau Buzici unbekannt ist, wird er aufgrund eines nicht näher begründeten Lautwandels mit dem um das Jahr 1000 unter wettinischer Kontrolle befindlichen Gau Quezizi gleichgesetzt [14 K. A. Eckhardt, Seite 76-90. Ihm folgen K. Blaschke, Raum, Gesellschaft und Persönlichkeit, Seite 415f. und eingeschränkt J. Fleckenstein, Wettiner, Seite 91f.]. Überdies hebt man die agnatische Beziehung Dietrichs I. zu Markgraf Rikdag hervor, der als Angehöriger der Harzgrafen gilt [15 Zu ihnen vgl. R. Schölkopf, Seite 83-93.], und leitet die WETTINER von dieser adligen Verwandtengruppe her [16 K. A. Eckhardt, Seite 70-90. Ihm folgen K. Blaschke, Raum, Gesellschaft und Persönlichkeit Seite 415f. und eingeschränkt J. Fleckenstein, Wettiner, Seite 91f.].
Der dritte Ansatz nimmt schließlich die Vermutung wieder auf, daß die WETTINER von einem Spitzenahn namens Burkhard abstammten, sucht allerdings ihre Heimat in Schwaben, da man der Aussage des Sachsenspiegels folgt, daß die Markgrafen von Meißen nach schwäbischem Recht lebten [17 Sachsenspiegel: Landrecht, Seite 53.]. Diese Ansicht wird durch zwei Indizien gestützt. Zum einen läßt ein Eintrag im Gedenkbuch des Klosters Pfäfers vermuten, daß um 950 Beziehungen zwischen den im Jahre 926 gestorbenen schwäbischen Herzog Burkhard I. und seinem Sohn Burkhard II. sowie mehreren sächsischen Adligen aus dem Umfeld der Harzgrafengruppe, der Rikdag-Sippe und der IMMEDINGER bestanden [18 Libri Confraternitatum, Seite 383, Nr. 109. Vgl. dazu H. Decker-Hauff, Ottonen und Schwaben, Seite 247ff., G. Tellenbach, Adelsgeschichte, Seite 174ff., R. Wenskus, Stammesadel, Seite 331f. und zusammenfassend M. Kobuch in den EErgänzungen zu O. Posse, Genealogie Tafel 1,, Nachträge Seite 2.]. Zum anderen legt das Eindringen der ursprünglich in Sachsen nicht vorkommenden Namen Burkhard und Wieldrut in das Namengut der immedingischen Liesgaugrafen, die wohl in das Umfeld der Harzgrafen gehörten, eine Verbindung der schwäbischen und der sächsischen Verwandtengruppe nahe [19 Vgl. dazu R. Wenskus, Stammesadel, Seite 143f. und 3332f.]. So ist zum Jahre 965 im Liesgau ein Graf Burkhard bezeugt [20 DO. I. 312.]. Daraus leitet man die Vermutung ab, daß die WETTINER von den schwäbischen BURKHARDINGERN abstammten, wobei es als denkbar angesehen wird, daß der Liesgaugraf Burkhard und Dietrich I. die Söhne von Burkhard II. waren, der in erster Ehe eine Frau aus der immedingisch-harzgräflichen Verwandtengruppe geheiratet hatte [21 Vgl. dazu R. Wenskus, Stammesadel, Seite 333: "So wie sich die Quellen auf diese Weise zusammenordnen, wird man daher auf folgende Vermutung geführt. Burkhard II. wurde nach dem Tod seines Vaters 926 nach Sachsen verbracht und dort mit einer IMMEDINGERIN vermählt, um die Kreise des neuen Herzogs Hermann in Schwaben nicht zu stören. Der 'Sachse' Burkhard mag sein Sohn gewesen sein, der dann 965 als Graf im Liesgau bezeugt ist. Er ist mit seinem Bruder Dedi (Dietrich), der seinen Namen von der immedingischen Mutter vermittelt erhielt, 982 in Calabrien gegen die Araber gefallen". - Zum Problem der (unwahrscheinlichen) Identifikation des wettinischen Spitzenahns mit dem 982 getöteten Grafen Dedi vgl. unten Seite 11 A. 26.].
Jeder genannten Ansätze beruht in hohem Maß auf Vermutungen, deren Plausibilität gleichwohl sehr unterschiedlich ist. Während der erst eine methodisch bedenkliche und logisch nicht einwandfreie Aneinanderreihung von Hypothesen darstellt [22], bleibt der zweite wegen seiner unhaltbaren Interpretation der "tribus Buzici" als Gaubezeichnung unbefriedigend [23]. Hingegen erweisen sich die Annahmen als weiterführend, daß die WETTINER von einer Verwandtengruppe abstammten, deren Leitname Burkhard war, und gleichzeitig durch den "agnatus" Rikdag mit den Harzgrafen in Beziehung standen. Jedoch gelingt es erst dem dritten Ansatz, diese beiden Erkenntnisse und die Nachricht des Sachsenspiegels in überzeugender Weise zu verbinden. Daher ist es am wahrscheinlichsten, dass die WETTINERväterlicherseits von den schwäbischen BURKHARDINGERN und mütterlicherseits von den immedingischen Harzgrafen herzuleiten sind [24 Problematisch bleibt bei dieser Sicht der Dinge allerdings, dass Thietmar den Markgrafen Rikdag ausdrücklich als "agnatus" Dedos I. bezeichnete, während Wenskus sich für einen cognatischen Zusammenhang entscheidet. Es ist jedoch sehr fraglich, ob "agnatus", das in Thietmars Werk nach Ausweis des Wortverzeichnisses der von R. Holtzmann vorgelegten Edition des Thietmari Chronicon, S. 584 nur ein einziges Mal an der genannten Stelle Chron. VI 50 vorkommt, im Sprachgebrauch des Bischofs tatsächlich ausschließlich das verwandtschaftliche Verhältnis von Schwertmagen umschreibt, wie K. A. Eckhardt, S. 77-79 meint. Vgl. dazu Mittellateinisches Wörterbuch, s.v. agnatus, S. 389, wo Thietmari Chronicon VI 50 als Beleg Verwendung "latius de quibuslibet vel incertis propinquis" herangezogen wird. - Die anzunehmende schwäbische Herkunft der WETTINER macht im übrigen die häufig geäußerte Vermutung unwahrscheinlich, dass der bei Widukind genannte Thüringer Dadi, mit dem wiederholt auch der im D O. I. 114 erwähnte Graf Teti und der 957 gestorbene Träger dieses Namens gleichgesetzt werden, zu dieser Verwandtengruppe gehörte. Vgl. dazu K. A. Eckhardt, S. 73 f., R. Wenskus, Hassegau, S. 50 f., G. Althoff, Memorialüberlieferung, S. 392 G 26 sowie C. Lübke, S. 412.].