VANNES


Lexikon des Mittelalters:
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Vannes
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Stadt und Bistum in der westlichen Bretagne, am Golfe du Morbihan (Hauptstadt des dép. Morbihan)
Darioritum (von 'ritum', keltisch 'Furt'), der Civitas-Vorort der gallorömischen 'Veneti', lag auf dem Hügel von Boismoreau (später: St-Paterne, heutige Präfektur); die archäologische Erforschung des ca. 40 ha umfassenden römischen Stadtareals bemüht sich um Erhellung des (rechteckigen) Grundrisses; es gelang die Lokalisierung des Hafens (Speicher, Gewerbeviertel [Leder-, Tuchverarbeitung]), eines Wohnquartiers (Thermen) sowie reicher 'villae' (um St-Symphorien).
Die Stadt des 3. Jh. wurde angesichts wachsender Bedrohung in die Schutzlage der Anhöhe von Le Mené verlegt. Dieses 'castrum' (5 ha), umwehrt mit einer dreieckigen Befestigung (Substruktionen von neuerer Wohnbebauung überlagert), bildete den Kern der mittelalterlichen Stadt. Die christliche Gemeinschaft des hl. Paternus (465) verlegte hierhin die Kathedrale St-Pierre; seit dem 9. Jh. diente eine Turmburg ('Château de la Motte') der Grafengewalt als Sitz. Die vom karolingischen Dichter Ermoldus Nigellus erwähnte 'Venada' war eine von 'comites' regierte, loyale Grenzregion des Franken-Reiches, widerstand in merowingischer Zeit den Einfällen der sächsischen Piraten sowie der Bretonen unter Waroc (594), dann der Invasion der Normannen (855), um einen Kernbereich der sogenannten 'Bretonischen Mark' (Bretagne, A) zu bilden.
Der Fürst Nominoë, 'princeps Venetice civitatis' unter LUDWIG DEM FROMMEN, und seine Nachfolger, die zum Teil den Königstitel führten, bauten V
annes zu einem ihrer wichtigsten Herrschaftszentren aus. Im Hoch- und Spät-Mittelalter entwickelten sich die Stadt und ihr Hinterland zu einem Kernstück der Domäne der Herzöge von Bretagne, doch war Vannes auch Sitz eines weiträumigen Bistums, gegründet auf die Tradition des hl. Paternus.
Unter den Herzögen Jean I. (1237-1286) und Jean II. (1286-1305) begann V
annes, über sein altes Stadtareal hinauszuwachsen und den alten Mauerzug zu erweitern. Die aus Quellen des 15. Jh. bekannte 'cloison ancienne' vermochte den Konflikten des 'Bretonischen Erbfolgekrieges' nur unzureichend standzuhalten; verheerende Belagerungen (insbesondere Sommer/Herbst 1342: Truppen Karls von Blois, dann Roberts von Artois und Eduards III.) schädigten empfindlich den Wohlstand der Stadt. Ab 1342 stand Vannes 20 Jahre lang unter englischer Besatzungsherrschaft, die Vannes als Festung und für ihre Fiskalverwaltung nutzte.
Im späten 14. Jh., unter dem Haus MONTFORT, setzte ein wirtschaftlicher Aufstieg ein. Der Hafen von Calmont war Umschlagplatz des Regional- und Fernhandels (Einfuhr von Weinen aus Bordeaux und Nantes sowie von Baumaterial und Salz; Ausfuhr einheimisches Agrarprodukte). Reiche Bautätigkeit ließ vor allem eine neue Stadtbefestigung (30 ha umschlossenes Areal) entstehen, eine Meisterleistung spätmittelalterliche Festungsbaukunst (befestigte Häfen: St-Patern, Calmont, Gréguenic; Wehrtürme: Tour du Connétable). Das alte 'Château de la Motte' wurde im 13. Jh. an den Bischof abgetreten und diente als Bischofspalast; der Herzog errichtete stattdessen 1379-1399 die mächtige Festung L'Hermine (nicht erhalten). Das Stadtbild des 14. und 15. Jh. umfaßte die reichgegliederte Kathedrale, Hallen, Kirchenbauten (St-Patern, St-Salomon), Konvente der Franziskaner (1260) und Karmeliter (1425,1463), herzogliches (Château de Plaisance) und private Palais (Château-Gaillard), Kämmerei (Chambre des Comptes), Bürgerhäuser in Fachwerk (Rue Latine, Rue des Chauvines), Handwerkerviertel (Produktion von Tuchen, Pergament, Leder) und halbländliche Vorstädte (Le Mené, St-Patern, Calmont). Die Stadt hatte 1455 ca. 5.000 Einwohner.
Städtische Institutionen (15. Jh.) sind nachweisbar, aber schwach belegt: städtische Versammlung und Ratsherren (procureur des bourgeois; miseur/comptable, eine Art städtische Kämmerer); V
annes genoß fiskalische Privilegien (Befreiung von der Herdsteuer/fouage) und war auf den États provinciaux vertreten. Aufgrund der Rechnungen der 'Fabrica ecclesiae' umfaßte die städtische Gesellschaft mehr als hundert wohlhabende Kaufleute und Schiffseigner sowie spezialisierte Handwerker (Teppichwirker, Goldschmiede, am Ende des Mittelalter auch Buchdrucker). Das von Bischof und Kathedralklerus gesteuerte religiöse Leben war intensiv, unter anderem geprägt durch die großen und einträgliche Wallfahrten (Tro-Breiz: Pilgerumfahrt der Bretagne). Denkwürdig waren Predigt und Tod Vicent Ferrers (1419), dessen Grabstätte in der Kathedrale zahlreiche Pilger anzog, so den frommen König Ludwig XI.
Während der französischen Offensive gegen Herzog Franz II. kapitulierte die Stadt 1487 schmachvoll vor den Eindringlingen und wurde im Februar 1489 definitiv der königlichen französischen Herrschaft unterstellt. König Karl VIII. hielt hier im Oktober 1491 eine Ständeversammlung (États) ab.
J.-P. Leguay