Schneider Reinhard: Seite 151,169-173
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"Königswahl und Königserhebung im Frühmittelalter"

Für Sigibert und besonders Grimoald komplizierte sich die derart geregelte austrasische Nachfolgefrage, als Sigibert doch noch ein eigener Sohn geboren wurde, der natürlich vor Childebert Herrschaftsansprüche geltend machen konnte. Sigibert soll auch nach Angaben der im 11. Jahrhundert von Sigibert von Gembloux geschriebene Vita Sigeberti Childebert nur als Erben eingesetzt haben, si ipsum contingeret sine liberis obire. Nach Dagoberts Geburt aber habe der König seine frühere testamentarische Verfügung widerrufen und den eigenen Sohn seinem Hausmeier Grimoald zur Erziehung übergeben, ut eius potentia contra omnes tutus sublimaretur in Austrasiorum regno. Diese Nachrichten decken sich zum Teil mit solchen der Herigeri gesta episcoporum Leodiensium, deren Abfassungszeit zwischen 972 und 980 angesetzt wird. Danach sah der sterbende König in seinem Hausmeier mit Recht den für die Nachfolgeentscheidung maßgeblichen Mann, dem er seinen Sohn anvertraute und den er vielleicht durch einen Eid zusätzlich band. Trotz dieser Nachrichten bleibt ein Skepsis, ob Erbansprüche eines zum Zweck der Herrschaftsnachfolgeregelung Adoptierte so eindeutig widerrufen werden konnten, zumal wenn die merowingische Namengebung den Adoptierten auch als MEROWINGER auswies. Zusätzlich kann verwiesen werden auf das Beispiel König Guntrams, der im Jahre 577 gelobt hatte, seinen Adoptivsohn Childebert auch im Falle, daß er "noch Söhne bekommen sollte", "doch gleich wie einen von ihnen (zu) halten". Da auch die sehr zuverlässige Vita Boniti Childebert den Adoptierten und Dagobert II. gemeinsam als Söhne Sigiberts III. anspricht, die zur Zeit der Erhebung Childerichs II. (in Austrasien 662) bereits tot waren, ergibt sich als ziemlich sicher, daß Grimoalds Sohn neben Dagobert II. Erbansprüche auf das nach SigibertsTod verwaiste Ost-Reich rechtens geltend machen konnte. Dadurch fällt auf Grimoalds sogenannten Staatsstreich ein etwas anderes Licht. Gleichzeitig läßt sich die ca. 6 Jahre währende Königsherrschaft Childeberts des Adoptierten in ihrer relativ langen Dauer bis zu Grimoalds Sturz natürlich ebenfalls besser erklären.
Für die Situation nach Sigiberts III. Tod ist der im Jahre 727 geschriebene Liber historiae Francorum die Hauptquelle, deren Angaben zugrundegelegt werden müssen, obwohl entscheidende chronologische Ansätze nicht haltbar sind: Gleich nach des Königs Tod ließ Grimoald dessen filium parvolum nomine Dagobertum zum Mönch scheren und durch Bischof Dido von Poitiers in ein fern gelegenes Kloster nach Irland bringen, während er seinen eigenen Sohn, Sigiberts Adoptivsohn Childebert, in die Königsherrschaft einsetzte. "Darüber waren die Großen des neustrischen Nachbarreiches empört, möglicherweise weil ihre eigenen westlichen Einigungsbestrebungen durchkreuzt worden waren. Sie schritten zu politischen Gegenmaßnahmen. Dabei gelang es im Bündnis mit einer austrasischen Opposition, Grimoald gefangen zu nehmen und angeblich zu Chlodwig II. nach Paris zu schaffen, wo der Hausmeier hingerichtet wurde. Aus verschiedenen Gründen schwankt nun die Datierung seiner Entmachtung zwischen 656/57 (liber hist. Franc.) mit Chlodwigs II. Tod zwischen dem 11. September und dem 16. November 657 als terminus ante und dem durch die jüngste Forschung glaubhafter gemachten Ansatz auf das Jahr 661. Entscheidend für letzteren gegen den Liber historiae Francorum ist letztlich, daß sich der Grimoald-Sohn Childbert nach dem Fall des mächtigen Vaters noch bis 661 in der austrasischen Königsherrschaft behauptet hatte".
Während noch Ebroin für den falschen Chlodwig im West-Reich Kriege führte, war im Osten Sigiberts III. Sohn Dagobert II. zum König erhoben worden. Lange Zeit war es ein strittiges Forschungsproblem, ob Dagoberts II. Erhebung von 675/76 eine zweite Regierungszeit begründete oder ob nur mit einer einzigen zu rechnen sei. Hatten noch vor allem Krusch, Levison, Dupraz und Fischer für zwei Herrschaftsabschnitte von 656-661 und 675-679 plädiert, so dürften nunmehr die Hinweise von Ewig und Debus den Streit zugunsten einer einmaligen Regierungszeit gültig gelöst haben. Dagoberrts Geschichte klingt abenteuerlich. Der Biograph und ehemalige Gefährte des Erzbischofs von York berichtet, Dagoberts Freunde und Verwandte hätten etwa zur Zeit nach Childerichs Tod von Seeleuten erfahren, daß der von Grimoald tonsurierte und zur peregrinatio nach Irland bestimmte Dagobert noch lebe und in seinem besten Alter stünde. Darauf hätten sie sich an den Erzbischof von York gewandt mit der Bitte, er solle Dagoert aus Irland zu ihnen einladen und ihn als König (bzw. als König für sie schicken). Erzbischof Wilfiried entsprach der Bitte, nahm den aus Irland anreisenden Dagobert bei sich feierlich auf, stattete ihn mit allem Notwendigen (und stattlichem Gefolge) aus, wie es einem König wohl gebührte, und verabschiedete ihn glanzvoll zur Reise ins ein Reich.
Nach etwa vierjähriger Herrschaft in Austrasien wurde Dagobert II. am 23. Dezember 679 bei Stenay ermordet. Er war das Opfer einer Verschwörung der duces geworden, die sich mit den Bischöfen verbündet hatten. Die gewiß auch tendenziöse Darstellung unseres angelsächsischen Gewährsmannes stellt Dagoberts Ermordung als tückischen und hinterhältigen Akt dar. Von einer förmlichen Verlassung des Königs wird man daher kaum sprechen könen. Ansprechend ist die Vermutung, daß die mit dem Metropoliten Reolus von Reims verbündete arnulfingische Partei den Anschlag auf Dagobert durch Abmachungen mit dem neustrischen Hausmeier Ebroin gesichert haben wird. Dazu gehörte wohl auch der Sturz des austrasischen Hausmeiers Wulfoad, der nach Dagoberts Tod nirgends mehr erwähnt wurde. Aus Andeutungen im Liber historiae Francorum und in der Fortseztzung der Fredegar-Chronik läßt sich ziemlich sicher erschließen, daß König Dagobert II. einen einzigen Sohn besaß, der aber etwa gleichzeitig mit seinem Vater umgebracht worden sein muß. Das Motiv für seine Ermordung lag gewiß in der begründeten Annahme, er könne oder würde - trotz wahrscheinlicher Minderjährigkeit - seinem Vater Dagobert II. in der Herrschaft über Austrasien nachfolgen, was also verhindert werden sollte.