ALMORAVIDEN


Lexikon des Mittelalters:
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Almoraviden (arabisch al-murabitun)
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Eine über Marokko, West-Algerien und al-Andalus herrschende Berber-Dynastie (ca. 1056-1147) bzw. die diese tragende islamische Reformbewegung strikt malikitisch-orthodoxer Richtung. Sie wurde begründet von dem faqih (Islamisches Recht) Abdallah ibn Yasin (
1059) aus dem südmarokkanischen Sanhaga-Stamm der Gazula, der ab 1048 unter den schleiertragenden (mulattamun) Sahara-Sanhaga missionierte und durch sein Wirken einen der Versuche der Sanhaga einleitete, die Hegemonie über ganz Marokko zu erringen, dem später andere folgen sollten. Obwohl meist nur als religiöse Bewegung verstanden, waren handfeste wirtschaftliche Faktoren im Spiel, da der einträgliche Karawanenhandel zwischen den Niger-Gebieten und dem Südrand des Mittelmeerraumes durch die Westbewegung der Zanata, Erbfeinde der Sanhaga (Berber), ihnen verloren gegangen war. Auch dürfte der Wunsch, die Masmuda, die die atlantischen Ebenen Marokkos von Tanger bis zum Hohen Atlas bewohnten, zu unterwerfen, wirksam gewesen sein.
Gegen 1058 begannen unter dem Lamtuna-Chef Abu Bakr (
1087/88) die Eroberungszüge, wobei Ibn Yasin umkam und 1070 Marrakesch von Abu Bakr als künftige Hauptstadt gegründet wurde. Sein Vetter, Yusuf ibn Tasufin (sprich Tasfin; 1061-1106), verstand es, ihn vom Oberbefehl zu verdrängen, beließ ihm aber die saharischen Gebiete (mit dem Tafilalt), die ab 1076 einen eigenen Staat bildeten. Die ALMORAVIDEN wendeten sich von der Wüste ab und nach Norden. Zwischen 1071 und 1082 (Fall Algiers) gewann Yusuf, zumeist kampflos, Marokko und West-Algerien; seit 1073 titulierte er sich amir al-muslimin. Ab 1082 erreichten ihn die Hilferufe der hispanischen muluk at-tawa>if (Klein-Könige), die Alfons VI. von León-Kastilien tributpflichtig geworden waren und seinem Druck zu erliegen fürchteten. Insgesamt viermal (1086, 1088, 1090, 1102-03) setzte Yusuf nach Spanien über, schlug Alfons VI. 1086 bei az-Zallaqa (Aftasiden); 1090 beseitigte er mit Zustimmung der orthodoxen Theologen die muluk at-tawa>if unter dem Vorwand, nicht-kanonische Steuern erhoben und mit den Christen paktiert zu haben und verbannte sie nach Marokko, soweit sie nicht getötet wurden. Seine Heerführer eroberten zwischen 1091 und 1095 den Rest des muslimischen Spanien von Lissabon bis Murcia. Nur der Cid, der 1094 Valencia besetzt und sich damit sein eigenes Reich geschaffen hatte, sowie die HUDIDEN in Saragossa blieben unbesiegt. Erst bei Yusufs viertem Feldzug räumten des Cids Witwe und Alfons VI. 1102 Valencia. Nach Yusufs Tod bestieg sein Sohn Ali (1106-1143) den Thron. Er schlug zwar erfolgreich Aufstände im Innern nieder, setzte wie sein Vater viermal nach Spanien über, gewann 1110 Saragossa und 1115/16 die Balearen dem Reich, besaß aber doch nicht das Genie des Vaters. 1118 ging mit Saragossa die ganze »Obere Mark« dem Islam endgültig verloren; ihr Eroberer, Alfons I. von Aragón »el Batallador«, unternahm 1125-1126 seinen kühnen Zug durch den Süden der Halbinsel, bei dem er von den Mozarabern unterstützt wurde, was allerdings 1125-1127 zur Deportation der meisten Mozaraber nach Marokko führte und das Ende ihrer Gemeinden und Kirchenorganisation bedeutete. Ab 1126 macht die Wühlarbeit der ALMOHADEN den ALMORAVIDEN zu schaffen. Ein erster Ansturm auf Marrakesch konnte abgewehrt werden, aber von da ab mehrten sich die Schwierigkeiten in Nord-Afrika wie in al-Andalus. Die Thronbesteigung des Tasufin ibn Ali 1143 leitet die kurze Agonie der almoravidischen Herrschaft ein. 1144 fiel der Kommandeur der christlichen Garde der ALMORAVIDEN, der barcelonesische Vizegraf Reverter (ar-Rubartair), letzte Stütze der Dynastie; Tasufin kam 1145 nahe Oran ums Leben, sein Sohn Ibrahim wurde von dessen Bruder Ishaq ausgeschaltet, und dieser selbst kam beim Fall von Marrakesch 1147 zu Tode. Schon 1146 waren Fes und Sala von den ALMOHADEN eingenommen worden.
Trotz der relativen Kürze der Dauer der almoravidischen Dynastie wurden die Grundlagen des späteren marokkanischen Staates unter ihrer Herrschaft gelegt und dieses Land mit einem Hof und einer zentralen Verwaltung (Mahzan) ausgestattet; in al-Andalus wurde die Reconquista gestoppt und Nord-Afrika weithin den Einflüssen der maurischen Kultur Spaniens geöffnet. Die in ihrem afrikanischen Machtbereich von jeher starken heterodoxen Richtungen wurden ausgeschaltet und der Triumph der Orthodoxie malikitischen Ritus vollendet. Hof und Verwaltung wurden »hispanisiert«, Dichter, Gelehrte und Künstler strömten von jenseits der Meerenge herbei und machten das nordwestliche Afrika zu einem Teil der hispano-maurischen. Kulturprovinz. Als verderblich für das Geistesleben muß jedoch der allzugroße Einfluß angesehen werden, den das Regime den Theologen-Juristen einräumte. Mit der von diesen durchgesetzten Verbrennung der Bücher des al-Gazzali wurde das Beste dessen abgelehnt, was der Islam jener Zeit zu bieten hatte.

H.-R. Singer