Norwich John Julius: Band I Seite 222-231,233,240,248,251,268,270,274
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"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches."

Theodora erscheint, milde gesagt, nicht als ideale Partnerin. Ihr Vater war ein von den Grünen im Hippodrom angestellter Bärenhalter gewesen, ihre Mutter eine Art Zirkusartistin, vermutlich Akrobatin. Diese Abstammung hätte bereits genügt, sie von der respektablen Gesellschaft auszuschließen. Doch das war noch lange nicht alles. Schon als Kind war sie mit ihrer Schwester in seichten Komödien, Farcen und Burlesken aufgetreten: Sehr attraktiv und lebhaft, eine hervorragende Schauspielerin. Schon bald hatte sie eine begeisterte Anhängerschaft erworben. Es dauerte nicht lange und sie war zu Konstantinopels berühmtester Kurtisane avanciert. Trotzdem ist es mehr als zweifelhaft, dass sie selbst in ihren abenteuerlichsten Zeiten die Beschreibung, die Prokop von ihr gibt, auch nur annähernd verdiente; es ist eine der schlimmsten Schmähreden, die über eine Königin oder Kaiserin in der gesamten Geschichte jemals verfaßt wurde:
Damals konnte sich Theodora, für intimen Verkehr mit Männern noch nicht reif, zwar noch nicht als Frau betätigen; doch hielt sie dies nicht ab, mit üblen Burschen wie ein Lustknabe schmählichen Umgang zu pflegen, und dies mit Sklaven, die ihren Herrn ins Theater begleiteten und als Nebenbeschäftigung mit diesem günstigen Augenblick solche Schandtat begingen. Mit dieser widernatürlichen Preisgabe ihres Körpers brachte sie ziemlich lange Zeit in einem Bordell zu. Sobald sie erwachsen und reif war, ging sie gleich unter die Schauspielerinnen und wurde eine gewöhnliche Hetäre, eine "Hetäre zu Fuß", wie die Alten sagten. Nie kannte das Weib irgendeine Scham, und niemals sah sie irgendeiner verlegen; ohne jedes Bedenken fand sie sich zu unzüchtigen Dienstleistungen bereit. Sie entblößte Vorder- und Hinterteil und zeigte dem Nächstbesten unverhüllt, was Männern verborgen und unsichtbar sein sollte. Nirgends war eine Frau jeder Art von Lust so unterworfen. Mit zehn oder mehr jungen Männern auf der Höhe ihrer Kraft, die selber Wollust als Tagewerk betrieben, ging sie oft zu einem gemeinschaftlichen Mahl und schlief dann bei sämtlichen Gästen die ganze Nacht hindurch. Wenn aber alle davon genug hatten, suchte dieses Weib noch deren Sklaven auf, etwa dreißig an Zahl, und schlief mit jedem einzelnen von ihnen. Auch dann bekam sie dieses Schandleben nicht satt.
Sie kleidete sich wiederholt auch im Theater vor den Augen des ganzen Publikums aus und trat so mitten auf die Bühne. Lediglich um die Hüfte und Brust trug sie eine Binde. Mit dieser Bekleidung lag sie ausgestreckt rücklings auf dem Boden. Einige Bühnenarbeiter streuten über den Schoß Gerstenkörner, und die Gänse, die dazu abgerichtet waren, pickten sie mit ihren Schnäbeln einzeln auf. Theodora aber schämte sich dessen auch nicht im mindesten, im Gegenteil, man konnte den Eindruck gewinnen, als tue sie sich darauf noch etwas zu gute.
So geht es weiter, und der scheinheilige alte Lüstling kostet offensichtlich jedes Wort aus, das er schreibt. Ebenso eindeutig ist diese Schilderung mit größter Vorsicht zu genießen. Prokop haßte beide, Theodora wie ihren Mann, und dies ist nicht die einzige Passage in seiner skurrilen "Geheimgeschichte", in der er sich anschickt, Justinians oder Theodoras Ruf zu zerstören. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass er Theodora jemals auftreten gesehen hätte, deshalb kann seine Quelle nur der Klatsch von der Straße sein, und der war durch das Nacherzählen bestimmt nicht ärmer geworden. Trotzdem bestehen wohl kaum Zweifel, dass Theodora, wie es unsere Großeltern ausgedrückt hätten, eine "Vergangenheit" hatte. Ob sie schlimmer war, als andere, bleibt offen.
Jedenfalls begann sie sich bald nach Besserem umzusehen und nahm sich als Liebhaber einen nicht allzu hervorragenden Beamten, den sie nach Nord-Afrika begleitete. Dort kam es zu einem heftigen Streit. Theodora wurde weggeschickt und soll sich ihre Heimreise, natürlich laut Prokop, auf die einzige Art verdient haben, die sie kannte. Dabei gelangte sie nach Alexandria. Es hieß, sie habe dort Kontakt zu führenden Kirchenmännern gehabt, was einen guten Teil der ausgeprägten monophysitischen Neigungen erklären dürfte, die sie später an den Tag legte. Vielleicht widerfuhr ihr sogar eine besonders religiöse Erfahrung, denn als sie nach Konstantinopel zurückkam, scheint sie völlig verändert gewesen sein.
Ein Merkmal, das ihr ganzes kennzeichnete, war ihre starke Bindung an die blaue Partei und ihr Haß auf die Grünen. Es hieß, ihre Mutter habe nach dem Tod ihres Vaters, als Theodora sechs Jahre alt war, sogleich wieder geheiratet, in der Hoffnung, ihr zweiter Mann könne die Stelle seines Vorgängers als Bärenhalter der Grünen übernehmen. Doch sie wurde enttäuscht: Die Stelle wurde einem anderen Kandidaten gegeben. Am Rande der Verzweiflung sei sie eines Tages im Zirkus erschienen, ihre drei kleinen Mädchen mit Blumenkränzen im Haar neben sich, und habe an das versammelte Volk appelliert. Die Grünen, von denen man eine gewisse moralische Verpflichtung gegenüber der Witwe ihres ehemaligen Angestellten erwartet hätte, ignorierten sie. Die Blauen aber - wahrscheinlich eher aus dem Wunsch heraus, ihre Rivalen im schlechten erscheinen zu lassen, als aus echtem  Mitleid - erbarmten sich ihrer und boten ihr eine Stelle für ihren Mann. Von diesem Augenblick an habe Theodoras Loyalität festegestanden - und sie sei ihr Leben lang nicht mehr davon abgewichen.
Am 4. April 527 wurden Justinian und Theodora zu Mit-Kaiser und Kaiserin gekrönt, und als der alte Justin am 1. August starb, besaßen sie die alleinige und unumstrittene Herrschaft über das Byzantinische Reich. Diese Mehrzahl ist wichtig. Theodora war keine Kaisergemahlin, die ihr Leben zurückgezogen mit ihren Hofdamen im Gynäceum verbrachte und nur bei höchst feierlichen Anlässen mit ihrem Mann auftrat. Justinian bestand sogar darauf, dass sie an seiner Seite regierte, Entscheidungen traf und in seinem Namen ausführte sowie ihn in den wichtigsten Staatsgeschäften beriet. Sie hatte es in fünf Jahren sehr weit gebracht. Ihre künftigen öffentlichen Auftritte unterschieden sich stark von den aus der Vergangenheit überlieferten.
Theodora erlag am 28. Juni 548 einem Krebsleiden.