Norwich John Julius: Band I Seite 219,225-235,246-255,289-296,299,307
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"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches."

Justins I. größter Pluspunkt war aber sein Neffe, die treibende Kraft hinter dem Thron, eine graue Eminenz, die ihn unfehlbarer lenkte als alle Sekretäre, die ihm die unsichere Hand die hölzerne Schablone entlangführten. Dieser Neffe hatte höchstwahrscheinlich schon Justins Inthronisation in die Wege geleitet; er war es, der mit Vitalian nach typisch byzantinischem Muster verfuhr; er war es der nach fünfunddreißig Jahren Schisma die Versöhnung mit dem Papsttum herbeiführte; und er war es auch, der 521 seine Einsetzung als Konsul mit den aufwendigsten Spielen und Spektakeln im Hippodrom feierte, die Konstantinopel je erlebt hatte.
Justinian wurde im Jahre 482 in Tauresium, einem kleinen Dorf unweit des Heimatortes seines Onkels, geboren. Seine Muttersprache war wie die Justins mit ziemlicher Sicherheit Thrakisch. Die gesamte Region der Balkanhalbinsel war jedoch schon lange gründlich romanisiert, und Justinian wuchs wahrscheinlich zweisprachig auf. Wir wissen nicht, wie und wann er nach Konstantinopel kam, ziemlich sicher aber auf Justins Initiative und noch als Kind. Er galt später als Mann von Bildung und Kultur, die er sich kaum an einem anderen Ort als in der Hauptstadt angeeignet haben konnte. Als er seine Ausbildung beendet hatte, muß sein Onkel ein Offizierspatent für ihn arrangiert haben, denn zur Zeit von Anastasios' Tod war er Offizier der Scholae, einer der Palasttruppen. Auch scheint ihn Justin bereits offiziell adoptiert zu haben, denn er hatte seinen ursprünglichen Namen Petrus Sabbatius abgelegt und als Zeichen der Dankbarkeit gegenüber seinem Wohltäter den Namen angenommen, unter dem er Geschichte machen sollte.
Doch all dies sind kaum mehr als Spekulationen. Erst nach 518 ist Justinians außergewöhnliche Laufbahn historisch belegt. Eine der ersten Amtshandlungen seines Onkels nach der Thronbesteigung war, ihn in den Rang eines Patrikios zu erheben und ihn zum Comes der Hofangestellten zu ernennen, eine Position die ihm Zugang zu den innersten Machtzentren gewährte. Damit begann seine eigentliche Herrschaft.
Kurz nach 520 - das genaue Datum ist nicht belegt - kam es zur zweiten großen Wende in Justinians Leben: Er lernte seine zukünftige Kaiserin kennen. Theodora erscheint, milde gesagt, nicht als die ideale Partnerin.
Justinian bevorzugte ebenfalls die Blauen und hatte vor seiner Inthronisation viel Zeit und Energie darauf verwandt, sich ihre Unterstützung zu sichern. Wahrscheinlich lernte er dabei Theodora kennen. Sie war unterdessen Mitte Dreißig, schön und intelligent wie eh und je, hinzu kam jedoch jene Weisheit und Reife, an der es ihr in früheren Jahren offenbar gemangelt hatte: Sie bezauberte ihn auf der Stelle, und er war ihr in kurzer Zeit verfallen. Die beiden wurden ein Liebespaar und zeugten ein Kind, das aber schon als Baby starb. Doch nicht genug damit: Trotz ihrer Herkunft war Justinian entschlossen, dass sie seine Frau werden sollte. Dabei gab es zwangsläufig gewisse Hindernisse zu überwinden. Nachdem 524 Kaiserin Euphemia gestorben war, stimmte Kaiser Justin einem Gesetz zu, das Schauspielerinnen im Ruhestand, denen ein hoher Rang verliehen worden war, freistellte, zu heiraten, wen sie wollten. Damit war der Weg frei und im Jahre 525 erklärte der PatriarchJustinian und Theodora in der Hagia Sophia zu Mann und Frau. Nur zwei Jahre später, am 4. April 527, wurden sie zu Mit-Kaiser und Kaiserin gekrönt, und als der alte Justin am 1. August starb, besaßen sie die alleinige und unumschränkte Herrschaft über das Byzantinische Reich.
Während der Sommers 542 erkrankte auch Kaiser Justinian an der Beulenpest, die 300.000 Opfer gefordert hatte. Während jenes unseligen Sommers schwebte er wochenlang zwischen Leben und Tod. In dieser Zeit lag die oberste Staatsgewalt in den Händen seiner Frau Theodora; gleichzeitig galt es, sich mit einem neuen, dringenden Problem zu befassen, nämlich mit der Nachfolge. Theodora wußte, dass ihre Zukunft auf dem Spiel stand. Sie und Justinian hatten keine Kinder, und falls er starb, konnte sie ihre Macht nur behalten, wenn sie für ihn einen Nachfolger ihrer Wahl durchzusetzen vermochte. Während Justinians Krankheit hatten die höheren Offiziere des im Osten stehenden Heeres bei einem Treffen in Mesopotamien geeinigt, keinen in ihrer Abwesenheit und ohne ihre Zustimmung gewählten Herrscher anzuerkennen. Nach Justinians Genesung fielen die Heerführer Buzes und Belisar als Anstifter des Treffens der Rache der Kaiserin Theodora zum Opfer.
Erst im folgenden Jahr, also 543, hatte sich Justinian so weit erholt, dass er die Amtsgeschäfte wiederaufnehmen konnte. Kurz darauf wurde Belisar begnadigt und kam teilweise wieder zu Ehren. Auch seine Schätze wurden ihm zurückerstattet, allerdings um rund 30 Zentner Gold geschrumpft, die Theodora großzügig ihrem Mann geschenkt hatte. Die Versöhnung wurde durch die Verlobung von Joannina, Antonianas und Belisars einzigem Kind, mit Anastasios, dem Enkel Theodoras, besiegelt.
Justinian begrüßte 549 seinen Heerführer Belisar wie einen lange verlorenen Freund, was er in gewissem Sinn ja auch war. Über Jahre hinweg hatte Theodora die beiden Männer von einander ferngehalten. Sie traute Belisar nie ganz und warnte ihren Mann fortwährend vor dessen möglicher Treulosigkeit, Doppelzüngigkeit und kaiserlichen Ambitionen. Justinian scheint ihr allerdings nie wirklich geglaubt zu haben. Dennoch genügten die Zweifel, die sie gesät hatte, um in ihm ein unbestimmtes Gefühl des Mißtrauens zu wecken, und dies hielt so lange an wie Theodora lebte. Justinian trauerte zwar Zeit seines Lebens um seine Frau, aber er hatte sich, bis Belisar nach Konstantinopel zurückkehrte, doch vom ersten Schock über den Verlust erholt und begrüßte ihn mit offenen Armen. Belisar wurde zu seinem engsten Vertrauten, und Justinian ließ von ihm sogar im Augusteum eine goldene Statue neben der seines Onkels Justin aufstellen.
Dann starb Justinian in der Nacht auf den 15. November 565, plötzlich, ohne jede Vorwarnung, vermutlich an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall. Der einzige Beamte, der sich zu der Zeit bei ihm befand, war Patriklios Callinicus, der Vorsteher des Heiligen Schlafzimmers, und dieser berichtete darauf, der Kaiser habe mit dem letzten Atemzug einen Nachfolger bestimmt: seinen Neffen Justin, den Sohn seiner Schwester Vigilantia.