Nachdem Anastasios
inbrünstig um ein Zeichen gefleht hatte, wurde ihm offenbart, sein
Nachfolger werde der Mann sein, der am folgenden Tag als erster sein Schlafzimmer
betrete. In der Regel war dies sein persönlicher Haushofmeister, aber
der Zufall wollte es, dass just an jenem Morgen Justin,
der Comes Excubitorum, eintrat, gekommen, um die Ausführung
gewisser kaiserlicher Befehle zu melden. Anastasios
neigte den Kopf, wußte er doch, es war der Wille Gottes. So jedenfalls
will es die Legende.
Justin war ein thrakischer
Bauer, Mitte Sechzig, ungebildet, ja Analphabet. Wie
der
Ostgoten-König
Theoderich soll er eine Schablone benutzt haben - und zwar eine
hölzerne, keine goldene -, in die das Wort LEGI ("Ich habe es gelesen")
geschnitten war. Da nur er das Recht hatte, Purpurtinte zu verwenden, war
eine persönliche Unterschrift gar nicht nötig. Und trotzdem,
erzählt uns Prokop, mußte die Hand des Kaisers geführt
werden.
Aus derselben Quelle erfahren wir, wie Justin
mit seinen beiden Brüdern vom Heimatdorf Bederiana rund 100 Kilometer
südlich von Naissus zu Fuß nach Konstantinopel wanderte, "auf
ihren Schultern Säcke, in die sie daheim hartes Brot gesteckt hatten".
Seine Frau Lupicina war von
noch bescheidenerer Herkunft; sie war Sklavin und Konkubine des
Mannes gewesen, dem Justin sie abgekauft
hatte.
Deshalb war der neue Herrscher trotz des in Isaurien
geleisteten hervorragenden Kriegsdienstes und unbestrittener militärischer
Fähigkeiten kaum von kaiserlichem Format. Justin
war
immerhin vom einfachen Soldaten zum Comes Excubitorum
aufgestiegen, zum Kommandeur einer Elitetruppe im Palast. Er scheint
sehr
viel Selbstvertrauen und Ehrgeiz besessen zu haben und nicht
wenig
Bauernschläue. Einem anderen Bericht zufolge hatte der
Obereunuch Amantios nämlich in der Nacht des 9. Juli 518, als
Anastasios starb, einen eigenen Kandidaten
für den Purpur in petto. Er vertraute
Justin
seine Pläne an und übergab ihm eine beträchtliche Summe
in Gold, um damit die Soldaten zu bestechen.
Justin
behielt das Geld jedoch für sich und versetzte seine Männer in
Alarmbereitschaft. Als die Menge am folgenden Morgen ins Hippodrom strömte
und der Senat hinter verschlossenen Türen über die Nachfolge
beriet, brach Streit aus. Man holte die Exkubitoren, um Ordnung zu schaffen,
und sie begannen von sich aus ihren Comes als nächsten
Kaiser zu verlangen. Dieser hielt sich zunächst zurück, doch
als der Senat, der wie immer den Weg des geringsten Widerstandes ging,
den Soldaten zustimmte, ließ er sich übberreden.
Der Bericht, seine Männer hätten darauf einen
Schutzschirm um ihren Kommandanten gebildet, und als sie wieder zur Seite
getreten seien, habe er in kaiserlicher Aufmachung dagestanden, deutet
daraufhin, dass Justin allem Anschein
zum Trotz nicht ganz unvorbereitet auf seine Erhebung in den Kaiserstand
gewesen sein kann. Man mag sich trotzdem fragen, wie es kam, dass ein derart
ungehobelter
und ungebildeter Mann soviel Unterstützung genoß.
Da war zuallererst wohl die Tatsache, dass er kompromißlos
orthodox war; er stellte sich entschieden gegen
Anastasios' Partei und ihre monophysitischen Sympathien und
setzte sich offen für die Blauen und gegen die mittlerweile höchst
unbeliebten Grünen ein.
Zweitens war er in der Armee beliebt und geachtet,
und man konnte darauf vertrauen, dass er gegen erneute Aufstandsversuche
seitens
Vitalians, der sich in Thrakien
immer noch in Freiheit befand, hart durchgreifen würde. Sein größter
Pluspunkt war aber sein Neffe, die treibende Kraft hinter dem Thron, eine
graue Eminenz, die ihn unfehlbarer lenkte als alle Sekretäre, die
ihm die unsichere Hand die hölzerne Schablone entlangführten.
Dieser Neffe hatte höchstwahrscheinlich schon
Justins
Inthronisation
in die Wege geleitet; er war es, der mit Vitalian
nach
typisch byzantinischer Manier verfuhr, ihn nach Konstantinopel einlud,
seinen Argwohn zerstreute, indem er ihm das Konsulat und den Rang des Magister
militum verlieh, um ihn dann ohne Aufsehen ermorden zu lassen; er war es,
der nach fünfunddreißig Jahren Schisma die Versöhnung mit
dem Papsttum herbeiführte; und er war es auch, der 521 seine Einsetzung
als Konsul mit den aufwendigsten Spielen und Spektakeln im Hippodrom feierte,
die Konstantinopel je erlebt hatte.
Eine der ersten Amtshandlungen Justins
nach der Thronbesteigung war, Justinianus
in den Rang eines Patrikios zu erheben und ihn zum Comes der
Hofangestellten zu ernennen, eine Position, die ihm Zugang zu den innersten
Machzentren gewährte. Damit begann seine eigentliche Herrschaft. Auch
wenn Justin die Inthronisation nicht
seinem Neffen verdankt haben sollte, so war er doch bereit, sich in allen
Bereichen von ihm leiten zu lassen, und es genügte ihm für den
Rest seines Lebens - abgesehen von wenigen Monaten im Winter 524/25, als
Justinian schwer krank war -, diesem als Sprachrohr und Marionette
zu dienen.
Die wichtigste Leistung von Justins
Regierungszeit,
nämlich das Überwinden des Zerwürfnisses mit Rom ist also
das Verdienst seines Neffen.
Trotz Theodoras Herkunft
war Justinian entschlossen, dass sie
seine Frau werden sollte. Dabei gab es zwangsläufig gewisse Hindernisse.
Eines war das Gesetz, das die Heirat von Senatoren und anderen ranghohen
Männern mit Schauspielerinnen ausdrücklich verbot. Ein zweites,
viel ernster zu nehmendes Hindernis stellte die unnachgiebige Opposition
der Kaiserin dar. Bei der Einsetzung ihres Mannes hatte sie den Namen
Lupicina zugunsten des vornehmeren, wenn auch weniger ausgefallenen
Euphemia abgelegt. Im Grunde war sie aber eine einfache Bäuerin
geblieben, und nachdem sie nun in ihrer unmittelbaren Umgebung jemanden
von noch niedriger Abkunft als sie selbst gefunden hatte, machte sie Theodora
auf jede erdenkliche Weise schlecht. Solange Euphemia
lebte, war an eine Heirat daher selbst nicht zu denken; doch zu seinem
Glück starb sie im Jahre 524. Der alte Kaiser machte keine Schwierigkeiten,
denn er versuchte ohnehin nie, sich seinem Neffen entgegenzustellen. In
wenigen Wochen stimmte er einem Gesetz zu, das Schauspielerinnen im Ruhestand,
denen ein hoher Rang verliehen worden war, freistellte, zu heiraten, wen
sie wollten. Damit war der Weg frei, und im Jahre 525 erklärte der
Patriarch Justinian und
Theodora in der Hagia Sophia zu Mann und Frau. Nur zwei Jahre
später, am 4. April 527, wurden sie zu Mit-Kaiser und Kaiserin
gekrönt, und als der alte Justin
am 1. August an seinem langwierigen Krebsleiden starb, besaßen
sie die alleinige und unumschränkte Herrschaft über das Byzantinische
Reich.