Norwich John Julius: Band I Seite 218-225
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"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches."

Nachdem Anastasios inbrünstig um ein Zeichen gefleht hatte, wurde ihm offenbart, sein Nachfolger werde der Mann sein, der am folgenden Tag als erster sein Schlafzimmer betrete. In der Regel war dies sein persönlicher Haushofmeister, aber der Zufall wollte es, dass just an jenem Morgen Justin, der Comes Excubitorum, eintrat, gekommen, um die Ausführung gewisser kaiserlicher Befehle zu melden. Anastasios neigte den Kopf, wußte er doch, es war der Wille Gottes. So jedenfalls will es die Legende.
Justin war ein thrakischer Bauer, Mitte Sechzig, ungebildet, ja Analphabet. Wie der Ostgoten-König Theoderich soll er eine Schablone benutzt haben - und zwar eine hölzerne, keine goldene -, in die das Wort LEGI ("Ich habe es gelesen") geschnitten war. Da nur er das Recht hatte, Purpurtinte zu verwenden, war eine persönliche Unterschrift gar nicht nötig. Und trotzdem, erzählt uns Prokop, mußte die Hand des Kaisers geführt werden.
Aus derselben Quelle erfahren wir, wie Justin mit seinen beiden Brüdern vom Heimatdorf Bederiana rund 100 Kilometer südlich von Naissus zu Fuß nach Konstantinopel wanderte, "auf ihren Schultern Säcke, in die sie daheim hartes Brot gesteckt hatten". Seine Frau Lupicina war von noch bescheidenerer Herkunft; sie war Sklavin und Konkubine des Mannes gewesen, dem Justin sie abgekauft hatte.
Deshalb war der neue Herrscher trotz des in Isaurien geleisteten hervorragenden Kriegsdienstes und unbestrittener militärischer Fähigkeiten kaum von kaiserlichem Format. Justin war immerhin vom einfachen Soldaten zum Comes Excubitorum aufgestiegen, zum Kommandeur einer Elitetruppe im Palast. Er scheint sehr viel Selbstvertrauen und Ehrgeiz besessen zu haben und nicht wenig Bauernschläue. Einem anderen Bericht zufolge hatte der Obereunuch Amantios nämlich in der Nacht des 9. Juli 518, als Anastasios starb, einen eigenen Kandidaten für den Purpur in petto. Er vertraute Justin seine Pläne an und übergab ihm eine beträchtliche Summe in Gold, um damit die Soldaten zu bestechen. Justin behielt das Geld jedoch für sich und versetzte seine Männer in Alarmbereitschaft. Als die Menge am folgenden Morgen ins Hippodrom strömte und der Senat hinter verschlossenen Türen über die Nachfolge beriet, brach Streit aus. Man holte die Exkubitoren, um Ordnung zu schaffen, und sie begannen von sich aus ihren Comes als nächsten Kaiser zu verlangen. Dieser hielt sich zunächst zurück, doch als der Senat, der wie immer den Weg des geringsten Widerstandes ging, den Soldaten zustimmte, ließ er sich übberreden.
Der Bericht, seine Männer hätten darauf einen Schutzschirm um ihren Kommandanten gebildet, und als sie wieder zur Seite getreten seien, habe er in kaiserlicher Aufmachung dagestanden, deutet daraufhin, dass Justin allem Anschein zum Trotz nicht ganz unvorbereitet auf seine Erhebung in den Kaiserstand gewesen sein kann. Man mag sich trotzdem fragen, wie es kam, dass ein derart ungehobelter und ungebildeter Mann soviel Unterstützung genoß.
Da war zuallererst wohl die Tatsache, dass er kompromißlos orthodox war; er stellte sich entschieden gegen Anastasios' Partei und ihre monophysitischen Sympathien und setzte sich offen für die Blauen und gegen die mittlerweile höchst unbeliebten Grünen ein.
Zweitens war er in der Armee beliebt und geachtet, und man konnte darauf vertrauen, dass er gegen erneute Aufstandsversuche seitens Vitalians, der sich in Thrakien immer noch in Freiheit befand, hart durchgreifen würde. Sein größter Pluspunkt war aber sein Neffe, die treibende Kraft hinter dem Thron, eine graue Eminenz, die ihn unfehlbarer lenkte als alle Sekretäre, die ihm die unsichere Hand die hölzerne Schablone entlangführten. Dieser Neffe hatte höchstwahrscheinlich schon Justins Inthronisation in die Wege geleitet; er war es, der mit Vitalian nach typisch byzantinischer Manier verfuhr, ihn nach Konstantinopel einlud, seinen Argwohn zerstreute, indem er ihm das Konsulat und den Rang des Magister militum verlieh, um ihn dann ohne Aufsehen ermorden zu lassen; er war es, der nach fünfunddreißig Jahren Schisma die Versöhnung mit dem Papsttum herbeiführte; und er war es auch, der 521 seine Einsetzung als Konsul mit den aufwendigsten Spielen und Spektakeln im Hippodrom feierte, die Konstantinopel je erlebt hatte.
Eine der ersten Amtshandlungen Justins nach der Thronbesteigung war, Justinianus in den Rang eines Patrikios zu erheben und ihn zum Comes der Hofangestellten zu ernennen, eine Position, die ihm Zugang zu den innersten Machzentren gewährte. Damit begann seine eigentliche Herrschaft. Auch wenn Justin die Inthronisation nicht seinem Neffen verdankt haben sollte, so war er doch bereit, sich in allen Bereichen von ihm leiten zu lassen, und es genügte ihm für den Rest seines Lebens - abgesehen von wenigen Monaten im Winter 524/25, als Justinian schwer krank war -, diesem als Sprachrohr und Marionette zu dienen.
Die wichtigste Leistung von Justins Regierungszeit, nämlich das Überwinden des Zerwürfnisses mit Rom ist also das Verdienst seines Neffen.
Trotz Theodoras Herkunft war Justinian entschlossen, dass sie seine Frau werden sollte. Dabei gab es zwangsläufig gewisse Hindernisse. Eines war das Gesetz, das die Heirat von Senatoren und anderen ranghohen Männern mit Schauspielerinnen ausdrücklich verbot. Ein zweites, viel ernster zu nehmendes Hindernis stellte die unnachgiebige Opposition der Kaiserin dar. Bei der Einsetzung ihres Mannes hatte sie den Namen Lupicina zugunsten des vornehmeren, wenn auch weniger ausgefallenen Euphemia abgelegt. Im Grunde war sie aber eine einfache Bäuerin geblieben, und nachdem sie nun in ihrer unmittelbaren Umgebung jemanden von noch niedriger Abkunft als sie selbst gefunden hatte, machte sie Theodora auf jede erdenkliche Weise schlecht. Solange Euphemia lebte, war an eine Heirat daher selbst nicht zu denken; doch zu seinem Glück starb sie im Jahre 524. Der alte Kaiser machte keine Schwierigkeiten, denn er versuchte ohnehin nie, sich seinem Neffen entgegenzustellen. In wenigen Wochen stimmte er einem Gesetz zu, das Schauspielerinnen im Ruhestand, denen ein hoher Rang verliehen worden war, freistellte, zu heiraten, wen sie wollten. Damit war der Weg frei, und im Jahre 525 erklärte der Patriarch Justinian und Theodora in der Hagia Sophia zu Mann und Frau. Nur zwei Jahre später, am 4. April 527, wurden sie zu Mit-Kaiser und Kaiserin gekrönt, und als der alte Justin am 1. August an seinem langwierigen Krebsleiden starb, besaßen sie die alleinige und unumschränkte Herrschaft über das Byzantinische Reich.