Als Entgelt boten sie ihnen die formelle Abtretung jener
Gebiete an, die sie ohnehin bereits besaßen, was einer grenzenlosen
Stärkung der türkischen Machtstellung in Kleinasien gleichkam.
Roussel gelang aber trotzdem die Flucht. Erst ein Heer, das unter der Führung
von Alexios Komnenos, einem der fähigsten
jüngeren Feldherren des Reichs, von Konstantinopel ausgesandt wurde,
schaffte es, ihn schließlich aufzustöbern und in Ketten in die
Hauptstadt zurückzubringen. Alexios Komnenos
konnte jedoch nicht überall gleichzeitig sein. Aufgrund der Vernachlässigung
der Armee in den 50 Jahren zuvor gab es nur wenige Feldherren mit Erfahrung.
Als Byzanz deshalb ein, zwei Jahre später einer erneuten und viel
gefährlicheren Revolte gegenüberstand, wurde Roussel aus der
Gefangenschaft entlassen und kämpfte Seite an Seite mit Alexios
gegen zwei neue Thronanwärter. Der erste hieß Nikephoros
Bryennios. Schon eine Woche nach seiner Ausrufung zum Basileus
stand er mit seinem Heer vor den gewaltigen Mauern von Konstantinopel.
Seinem Aufstand hätte durchaus Erfolg beschieden sein können
- hätte nicht beinahe gleichzeitig auch im Osten eine ähnliche
Revolte stattgefunden. Deren Anführer hieß ebenfalls Nikephoros,
aber mit Nachnamen Botaneiates,
und amtierte als Strategos im Thema Anatolikon. Der Feldherr während
der Herrschaft Romanos IV. auf seine
ausgedehnten Ländereien in Anatolien zurückgekehrt, wo er kurz
nach Michaels
Thronbesteigung sein
gegenwärtiges Amt übernahm. Nun erhob jedoch auch er, vermutlich
aus denselben höchst ehrenwerten Motiven wie Bryennios,
die Waffen gegen seinen Kaiser. Im März des Jahres 1078 brachen überall
in Konstantinopel Unruhen aus. Der erbärmliche Michael,
der gerade noch das Glück hatte, mit dem Leben davonzukommen, dankte
umgehend ab und zog sich ins Studioskloster zurück. Am 24. März
zog Nikephoros Botaneiates im Triumph
in Konstantinopel ein. Dort ließ er als erstes seinen Rivalen Bryennios
festnehmen und blenden. Dies war kein besonders verheißungsvoller
Beginn für die neue Herrschaft. Botaneiates
war ein fähiger Truppenführer gewesen, verstand jedoch nichts
von Politik oder Staatskunst. Auch stand er bereits in hohem Alter, war
er doch weit über siebzig. Obwohl von Erfolg gekrönt, hatte ihn
die Machtergreifung viel Kraft gekostet. Vollkommen unfähig, mit der
von seinem Vorgänger geerbten Krise fertig zu werden, konnte er nicht
viel mehr tun, als dem weiteren Zerfall des Reichs hilflos zuzusehen. Eine
Revolte folgte der nächsten, und der Staat glitt immer tiefer in die
Anarchie. Die alte Faktion des Beamtenadels war mit dem Mord an Nikephoritzes
zusammengebrochen und mit ihr die Macht des Senats. Der byzantinischen
Bevölkerung blieb bald nichts mehr übrig, als zu beten, dass
sich einer der Militärköpfe, die jetzt offen gegeneinander um
die Macht rangen, durchsetzte und danach als eine Führungspersönlichkeit
erwies, die dem Chaos ein Ende setzen konnte.
Drei Jahre später, gerade noch rechtzeitig, wurden
ihre Gebete erhört, und zwar in größerem Umfang, als irgend
jemand zu hoffen gewagt hätte. Der bemitleidenswerte alte Botaneiates
dankte
ab und machte einem aristokratischen jungen Feldherrn Platz, der nach der
Thronbesteigung zu Ostern 1081 37 Jahre herrschte und dem Reich die Stabilität
gab, die es so dringend benötigte, indem er mit ruhiger, fester Hand
regierte. Es handelt sich um Alexios Komnenos,
den Neffen Kaiser
Isaaks I. und Vater der
berühmten Anna Komnena, Verfasserin
einer der erfreulichsten mittelalterlichen Biographien. Aber auch er konnte
den Schaden nicht wiedergutmachen, den die Schlacht von Mantzikert angerichtet
hatte: die lag leider über dem noch zu heilenden Maß. Alexios
brachte
es jedoch fertig, Byzanz' Ruf unter den Völkern wiederherzustellen,
and bereitete das Reich damit auf die Rolle vor, die es in der nachfolgenden
Tragödie spielte und die ihren Anfang noch vor Ablauf jenes turbulenten
Jahrhunderts nahm: die Kreuzzüge.
Am Ostersonntag des Jahres 1081, der auf den 4. April
fiel, bestieg in der Hagia Sophia zu Konstantinopel der 24-jährige
Feldherr Alexios Komnenos offiziell
den Thron eines Reichs, das in jämmerlichem Zustand daniederlag.
Vor vollendete Tatsachen gestellt, blieb Alexios
nichts anderes übrig, als sich dem neuen Kaiser Nikephoros
zu
unterwerfen; dieser verlieh ihm den Rang eines Nobilissimus und
übertrug ihm das Amt des Parakoimomenos, was soviel heißt
wie den Oberbefehl, und schickte ihn in dieser Funktion sogleich gegen
Bryennios
ins Feld. Ein paar Monate später brachte Alexios
den zweiten aufständischen Feldherrn zur Strecke und als Gefangenen
nach Konstantinopel. Er wurde jedoch dort nicht wie erhofft dankbar empfangen;
kaum hatte er - widerwillig eingelassen - die Stadt betreten, beorderte
man ihn stehenden Fußes zurück nach Anatolien, wo erneut ein
Aufstand auszubrechen drohte. Bryennios
verschwand in einem Verlies des Palastes. Dort wurde er bald darauf geblendet.
Zwar fügte sich Alexios
den Anweisungen des Kaisers, verhehlte aber seinen Ärger über
diesen kühlen Empfang keineswegs, da er den Grund dafür nur zu
gut verstand. Nikephoros Botaneiates fürchtete
sich nämlich nicht weniger als er. Der alte, weit über 70-jährige
Mann war bereits nicht mehr Herr der Lage. In den folgenden beiden Jahren
schlidderte das Reich immer tiefer ins Chaos. Ein Aufstand löste den
anderen ab, eine Revolte die nächste aus. Die Türken rückten
unaufhaltsam vor, so dass Alp Arslans
Sohn Malik-Schah das Seldschuken-Sultanat
Rum 1080 von Kilikien bis zum Hellespont über ganz Kleinasien ausgedehnt
hatte. Dieweil wurde Nikephoros Botaneiates
von Tag zu Tag unbeliebter. Frühere Usurpatoren wie Nikephoros
Phokas, Johannes Tzimiskes
oder Romanos Diogenes hatten Wert darauf
gelegt, über jene Kinder ihrer jeweiligen Vorgänger ihre Hand
zu halten, die den Titel eines Mit-Kaisers trugen, um sich auf diese Weise
wenigstens äußerlich einen Anschein von Legalität zu geben.
Botaneiates
dagegen hatte gar nicht erst Anstalten gemacht,
Michaels VII. 4-jährigen Sohn Konstantin
neben
sich auf den Thron zu setzen, und sich in den Augen aller rechtlich gesinnten
Untertanen moralisch disqualifiziert. Erschwerend kam hinzu, dass er nach
dem Tod seiner zweiten Frau kurz nach der Thronbesteigung die Ehe mit der
hinreißenden
Kaiserin
Maria von Alania einging - nach Anna
Komnena
soll sie sogar Phidias' Standbilder an Schönheit
übertroffen haben -, obwohl deren Ehemann
Michael
Dukas noch lebte. Zwar war
Maria ihrer
ehelichen Verpflichtungen seit dem Eintritt ihres Ehemannes ins Studioskloster
enthoben, doch stand natürlich der Klerus solchen Verbindungen mißbilligend
gegenüber; zudem galten dritte Ehen seit dem heiligen Basilius als
leichte Form der Unzucht und hatten für ein Paar als Strafe den Ausschluß
von den Sakramenten für volle vier Jahre zu Folge. Bei den vergeblichen
Versuchen, sein gänzlich unnötig eingebüßtes Ansehen
zurückzukaufen, hatte Nikephoros Botaneiates
praktisch den gesamten Staatsschatz verschleudert, und die schon unter
Michael
VII. in Bewegung geratene Inflationsspirale schraubte sich in
schwindelnde Höhe. Ohne eine starke Hand am Ruder gab es für
Byzanz keine Hoffnung. Im selben Maß wie
Nikephoros' Popularität sank, nahm die von Alexios
Komnenos zu, so dass man schließlich in Konstantinopel
wie anderswo in ihm den einzig möglichen Retter des Reichs sah. Er
hatte sich bereits als 14-jähriger unter dem Kommando seines älteren
Bruders Manuel im Feldzug gegen die türkischen Seldschuken
im Jahre 1070 hervorgetan und seither weder gegen türkische Eindringlinge
noch gegen byzantinische Rebellen jemals eine Schlacht verloren. Er hatte
sich als Feldherr glänzend bewährt, und weil er seine Soldaten
von Sieg zu Sieg geführt hatte, waren sie ihm ergeben und vertrauten
ihm. Doch hatte er noch etwas zu bieten, und das stand bei der byzantinischen
Bevölkerung mindestens ebenso hoch im Kurs. Er war von kaiserlichem
Geblüt. Sein Onkel Isaak Komnenos
hatte rund 20 Jahre zuvor kurze Zeit den Thron innegehabt; und seine Mutter,
die außerordentlich zielstrebige Anna Dalassena, hatte all
ihre fünf Söhne, von denen Alexios
der dritte war, im Glauben erzogen, dass sie eines Tages in den Besitz
der Kaiserkrone gelangen könnten. Außerdem sicherte ihm seine
Ehefrau Irene Dukas, Enkelin
des Cäsars
Johannes Dukas und Tochter jenes Andronikos Dukas,
der Romanos Diogenesbei Mantzikert
so schändlich im Stich gelassen hatte, die Unterstützung nicht
nur der reichsten und einflußreichsten Familie im Reich, sondern
auch des Klerus (dem bis zu seinem Tod 1075 Johannes Xiphilinos,
ein Günstling der DUKAS, als Patriarch
vorstand) und des größten Teils der Aristokratie dazu. Aus eben
diesen Gründen hatte Alexios jedoch
Feinde am Hof. Er benötigte vor allem dort Fürsprache und fand
sie schließlich in der Person der Kaiserin. Maria
von Alania liebte ihren neuen Ehemann, der so alt war, dass
er ihr Großvater hätte sein können, natürlich nicht.
Als Ex-Frau Michaels VII. war
sie vor allem gegenüber den DUKAS loyal,
zu denen Alexios durch Irene
nun
auch gehörte. Vielleicht wußte sie, dass - wie der zeitgenössische
Chronist Johannes Zonaras berichtet - zwei Busenfreunde ihres Mannes, ein
finsteres Paar bajuwarischer Herkunft namens Borilos und Germanos,
am Sturz des jungen Feldherrn arbeiteten, und fühlte sich verpflichtet,
ihn davor zu beschützen. Vielleicht war ihr aber auch zu Ohren gekommen,
dass ihr Mann Nikephoros
mit dem Gedanken
spielte, einen fernen Verwandten zum Nachfolger zu ernennen, und sie wollte
die Ansprüche ihres Sohnes Konstantin
sichern.
Und möglicherweise hatte sie sogar selbst ein Auge auf Alexios
geworfen
- und die folgenden Ereignisse bestärken diese Hypothese - und sah
sich schon in der Rolle der Theophano.
Von all diesen Annahmen kann jede zutreffen oder auch keine; das läßt
sich heute nicht mehr klären. Wir wissen nur, dass Maria
von Alania im Jahre 1080 Alexios Komnenos
adoptierte. Nikephoros Botaneiates scheint
dagegen nicht protestiert zu haben. Dem politisch heillos unfähigen
Kaiser, dem seine Frau ohnehin völlig überlegen war, machte das
Alter wohl allmählich ziemlich zu schaffen. Statt etwas einzuwenden,
vertraute er gegen Ende des Jahres ganz überraschend seinem Adoptivsohn
den Oberbefehl in einem neuen Feldzug gegen die Türken an, die vor
kurzem Kyzikos eingenommen hatten. Auf eine solche Gelegenheit hatte Alexios
gerade
gewartet. Er war schon seit geraumer Zeit der Ansicht, dass der zittrige
alte Kaiser beseitigt werden müsse, bevor es zu spät sei, und
zwar am besten auf dem Weg direkter militärischer Aktion, denn Mord
war ihm zuwider.
Das einzige Problem, nämlich ohne Argwohn zu erregen,
die nötigen Truppen um sich zu scharen, hatte sich nun mit einem Schlag
erledigt. Sofort gab er Befehl, das Heer beim kleinen Dorf Zurulos zu sammeln,
das in einiger Entfernung von Konstantinopel an der Straße nach Adrianopel
lag. Borilos und Germanos hätte nichts ungelegener kommen
können als Alexios' Adoption
durch Kaiserin Maria
und seine neue Aufgabe. Niemals zuvor hatte ihr alter Gegner eine so starke
Position innegehabt. Als Angehöriger der Kaiserfamilie konnte er im
Palast aus und ein gehen, hatte tagtäglich Kontakt mit dem Kaiser
und - was noch viel gefährlicher war - der Kaiserin, deren Spione
allgegenwärtig waren und die ihn über alles, was vorging, auf
dem laufenden halten konnte. Als sie von der Mobilisierung des Heeres erfuhren,
sahen sie ihre letzte Chance in sofortigem Handeln. Doch Alexios,
der vorgewarnt war, war schneller als sie. Am frühen Morgen des Sonntags
Quinquagesima, am 14. Februar 1081, machte er sich mit seinem Bruder
Isaak
in aller Heimlichkeit auf den Weg zum Blachernenpalast im
Norden, wo die Landmauer sich zum Goldenen Horn hinabzicht. Sie erzwangen
sich Zugang zu den kaiserlichen Stallungen, holten so viele Pferde heraus,
wie sie benötigten. Den übrigen schnitten sie kurzerhand die
Sehnen durch, um zu verhindern, dass man auf ihnen die Verfolgungsjagd
aufnehmen konnte. Dann sprengten sie in scharfem Galopp davon. Ihr erstes
Ziel war das sogenannte Kosmidion, das Kloster der Heiligen Kosmas und
Damian am nördlichen Ende des Goldenen Horns, wo sie Alexios'
Schwiegermutter Maria Traiana Dukas alarmierten. Sie
hatten das Glück, dort auf den reichen und mächtigen Georgios
Palaiologos zu treffen, der mit
Irene Dukas'
Schwester Anna verheiratet war, und versicherten sich
sogleich dessen Unterstützung. Dann eilten sie, so schnell sie konnten,
nach Zurulos, wo die Streitmacht schon fast vollständig versammelt
war, und schickten eine Nachricht an den Cäsar
Johannes Dukas, ihnen zu Hilfe zu eilen. Johannes
lebte
damals ein paar Meilen entfernt zurückgezogen auf seinem Gut bei Morobundos.
Als der Bote eintraf, hielt er gerade Mittagsschlaf, wurde jedoch von seinem
kleinen Enkel mit der Nachricht über die Revolte aufgestört.
Zuerst wollte er es nicht glauben und gab dem Knaben eine Ohrfeige, dann
wurde ihm die Botschaft überreicht; laut Anna
Komnena handelte es sich um die kaum verhüllte Einladung,
die diesem Kapitel vorangestellt ist. Johannes
Dukas reichte sie aus. Er ließ sich sein Pferd bringen
und machte sich unverzüglich auf den Weg nach Zurulos. Schon bald
traf er auf einen kaiserlichen Steuereintreiber, der mit einer beträchtlichen
Menge Goldes für den Reichsschatz nach Konstantinopel unterwegs war
und den er überreden konnte, ihn zu begleiten. Später kam ein
Trupp Türken des Wegs, die sich gegen das Versprechen einer saftigen
Belohnung ebenfalls der Rebellion anzuschließen versprachen. Klar,
dass das wartende Heer die ganze Runde beim Eintreffen freudig willkommen
hieß. Zwei oder drei Tage später - in denen mehrere weitere
und namhafte Sympathisanten zu den Rebellen stießen - gaben Alexios
und Isaak den Marschbefehl. Bis zu diesem Augenblick scheint überraschenderweise
niemand auf die Idee gekommen zu sein, einen neuen Kaiser zu proklamieren.
Erst als man bei Einbruch der Nacht beim Weiler Schiza haltmachte, tauchte
diese Frage unter den Soldaten auf, und zwar selbst jetzt noch in Form
einer Alternative: ob Alexios oder
Isaak
als Basileus vorzuziehen sei. Es stand durchaus nicht fest, wem sie den
Vorzug geben würden. Isaak war älter, und seine militärischen
Erfolge im Osten hatten ihm bereits das Herzogtum Antiochia eingetragen.
Er hatte unter den Soldaten viele Anhänger, schien dagegen selbst
bereitwillig seinem Bruder den Vortritt zu lassen. Die Machtposition der
DUKAS
gab schließlich den Ausschlag. Alexios
erhielt die
kaiserlichen Titel begeistert an Ort und Stelle zugesprochen.
Man zog ihm in aller Form jene Purpurstiefel mit dem Doppeladler von Byzanz
in Goldstickerei über, die dem Kaiser vorbehalten waren und die er
vermutlich in kluger Voraussicht vor seinem Aufbruch aus dem Palast entwendet
hatte.
Der neue Bewerber und sein Bruder waren nicht die einzigen
der Familie, die sich gegen Nikephoros Botaneiates
erhoben.
Am Tag der Zeremonie zu Schiza hatte Schwager Nikephoros Melissenos,
Ehemann ihrer Schwester Eudokia, seine eigene Rebellenarmee
bei Chrysopolis, direkt gegenüber Konstantinopel auf der asiatischen
Seite des Bosporus, zusammengezogen. Der erst gerade aus dem fernen Anatolien
eingetroffene Nikephoros Melissenos hatte bis zu diesem Zeitpunkt
noch nichts von den Aktivitäten der Brüder vernommen. Als dies
geschah, sandte er sogleich einen Brief an Alexios
und
unterbreitete ihm darin den Vorschlag, das Reich zwischen ihm und sich
aufzuteilen, wobei der eine den Osten, der andere den Westen regieren sollte.
Zwar hatte Alexios nicht die Absicht,
sein Reich mit irgendwem zu teilen, da er jedoch fürchtete, eine kategorische
Weigerung könnte zu einem Bündnis seines Schwagers mit Botaneiates
gegen
ihn führen, gab er mit Vorbedacht eine unverbindliche Antwort, die
ihn zu nichts verpflichtete. Unterdessen machte er sich in aller Eile auf
den Weg nach Konstantinopel. Noch wußte er nicht sicher, was er als
nächstes tun sollte. Eine Belagerung schied von vornherein aus. Da
er dreieinhalb Jahre zuvor Konstantinopel selbst gegen die Streitmacht
des Bryennios mitverteidigt hatte,
wußte er, dass dieses gewaltige dreifache Bollwerk einem weit größeren
Heer zu trotzen vermochte, als er jemals dagegen würde führen
können. Nach ein- oder zweitägiger gemeinsamer Erkundung mit
Johannes
Dukas gewann er jedoch den Eindruck, dass einige Regimenter,
welche die einzelnen Abschnitte der Mauer zu verteidigen hatten (zum Beispiel
die warägische Garde der sogenannten Unsterblichen), zwar für
den regierenden Kaiser bis zum Tod kämpfen würden, andere dagegen
durchaus empfänglich wären für Verlockungen der einen oder
anderen Art, vor allem ein Verband aus germanischen Stammesangehörigen,
welcher das Adrianopel-Tor bewachte. Es gelang Georgios Palaiologos,
Kontakt zu deren Anführer zu bekommen, und dann war die Sache rasch
abgemacht. Eines Abends stellten er und ein paar seiner Leute kurz nach
Einbruch der Dunkelheit Leitern an einen der von den Germanen gehaltenen
Türme und überkletterten das Bollwerk. Dann zog Alexios
im
Schutz der Nacht seine gesamte Streitmacht bei diesem Turm zusammen. Bei
Tagesanbruch stand alles bereit. Palaiologos gab von der Mauer herab
das Signal, und seine Leute öffneten von innen sofort die Tore, so
dass das Heer in die Stadt strömen konnte. Es traf auf keinen nennenswerten
Widerstand. Die Bevölkerung hatte für ihren alten Kaiser nicht
viel übrig. Ein Großteil muß damit gerechnet haben, dass
er früher oder später abgesetzt würde, und war vermutlich
ganz damit einverstanden, ihn durch einen energischen, populären jungen
Feldherrn ersetzt zu sehen. Man hatte freilich nicht erwartet, wie eine
besiegte feindliche Macht behandelt zu werden. Da jedoch das fremde Element
in Alexios' Heer stark vertreten war,
sprang der Funke schnell über. Kaum hatten die Soldaten die Stadt
betreten, stoben sie in alle Richtungen auseinander und gingen auf Raub,
Plünderung und Vergewaltigung aus. Bald schloß sich ihnen der
Pöbel der Stadt an, so dass überall ein solches Durcheinander
entstand, dass der Erfolg der ganzen Aktion in Frage gestellt war und die
dem legitimen Kaiser treu Ergebenen sich fragten, ob man die Aufständischen
nicht vielleicht doch noch besiegen könnte. Zu ihnen gehörten
Nikephoros, Georgios Palaiologos' Vater, den
der Abfall seines Sohnes entsetzt hatte, aber auch Alexios'
alter Feind Borilos, der offenbar ein militärisches Kommando
innehatte; er ließ die warägische Garde und andere verläßliche
Einheiten zwischen dem Konstantinsforum und dem Milion dicht gestaffelt
aufmarschieren. Botaneiates dagegen
wußte, dass er geschlagen war. Den Versuch, sich Melissenos
und seine Leute dienstbar zu machen, hatte die Reichsflotte vereitelt,
die Georgios Palaiologos für sich gewonnen hatte und die jetzt
die Meerengen blockierte. Außerdem war auch seine Widerstandskraft
gebrochen. Der betagte und hochangeschene Patriarch Kosmas beschwor
ihn abzudanken, damit nicht noch mehr Christenblut fließe. Es bedurfte
hierbei keiner großen Überzeugungskraft. Nikephoros Palaiologos
unterbreitete daher in seinem Namen den KOMNENEN
als erstes Angebot, Nikephoros Botaneiates werde
Alexios
an
Sohnes Statt annehmen, ihn zum Mit-Kaiser machen, ihm alle Gewalt
übertragen und selbst nur den kaiserlichen Titel und die Privilegien
behalten. Als der
Cäsar Johannes
Dukas dies jedoch verächtlich zurückwies, bestand
er nicht weiter darauf. In einem lose über seine kaiserlichen Gewänder
geworfenen Mantel schritt
Botaneiates
über den Platz zur Hagia Sophia, um in aller Form abzudanken. Später
wurde er in das Kloster der Muttergottes Peribleptos gebracht, jenes ausgedehnte,
unzugängliche Bauwerk auf dem siebten Hügel, das sein Vorgänger
Romanos
Argyros ein halbes Jahrhundert zuvor gestiftet hatte. Dort widmete
er sich, wenn auch zuerst nur sehr widerstrebend, dem Klosterleben. Anna
Komnena
überliefert die Bemerkung eines Bekannten, der
ihn einige Zeit später dort aufgesucht und sich nach seinem Befinden
erkundigt habe. Die Enthaltung des Genusses von Fleisch, habe der alte
Mann erwidert, sei das einzige, was ihm schwerfalle; alles andere mache
ihm wenig aus."
Der junge Mann, der nun als 76. Kaiser von Byzanz
den Thron innehatte, war klein und vierschrötig; er hatte breite
Schultern und einen mächtigen Brustkorb. Die Augen unter
den geschwungenen, buschigen Augenbrauen blickten wohlwollend, jedoch seltsam
durchdringend. Er trug einen dichten Vollbart. Sogar seine Tochter
Anna
räumt ein, dass er im Stehen die Leute nicht sonderlich beeindruckte.
Auf dem Thron dagegen soll sich dieser Eindruck grundlegend geändert
haben: Dann habe er, einem Wirbelsturm ähnlich, Schönheit ausgestrahlt,
Anmut, Würde und unnahbare Majestät. Zwar muß man immer
dann, wenn Anna über ihren Vater
schreibt, ihr Zeugnis besonders kritisch betrachten. Gleichzeitig waren
indes jene, die mit Alexios
in
Berührung
kamen, zweifellos davon überzeugt, dass er sich als der tüchtigste
Herrscher seit
Basileios II. erweisen
und dass das Reich erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder von einer
starken und fähigen Hand regiert werde. Nach seinem Eintreffen im
Großen Palast machte Kaiser
Alexios I. Komnenos sich unverzüglich an die Arbeit. Die
vordringlichste Aufgabe bestand darin, die Disziplin unter den Soldaten
wiederherzustellen. Nicht allein, weil man ihr gegenwärtiges Betragen
zu Recht ihm zur Last legen würde, sondern auch weil, falls sie nicht
unter Kontrolle zu bringen waren, ständig die Möglichkeit einer
offenen Meuterei bestand. Es war keine leichte Aufgabe, denn sie hatten
zu diesem Zeitpunkt schon jeden Bezirk und alle Durchgangsstraßen
der Stadt heimgesucht. Binnen 24 Stunden waren sie jedoch zusammengetrieben
und zur Ausnüchterung in ihre Kasernen gebracht worden. In Konstantinopel
herrschte wieder Ruhe. Doch als Byzantiner plagten Alexios
selbst da noch Gewissensbisse; schließlich war er es gewesen, der
diese Barbaren in die Stadt eingeschleust hatte. Mußte er sich da
nicht schuldig, ja sogar schuldiger als sie fühlen? Kaiser-Mutter
Anna Dalassena riet ihm, seine Gewissensnöte dem Patriarchen anzuvertrauen,
und dieser berief ein Kirchentribunal ein, das die Angelegenheit klären
sollte. Es kam zum Schluß, es liege tatsächlich eine Verfehlung
vor; dem Kaiser, seiner Familie und allen, die am dem Staatsstreich teilgenommen
hatten, auch den Frauen, wurde eine angemessene Zeit des Fastens und diverse
andere Bußen auferlegt. Ihm selbst genügte laut Annas Zeugnis
auch das noch nicht; 40 Tage und Nächte darüber hinaus trug er
unter dem kaiserlichen Purpur einen Mantel aus grobem Sackleinen und schlief
auf dem Erdboden, wobei ihm ein Stein als Kopfkissen diente. Doch schon
standen dringende Staatsaufgaben an, nicht zuletzt der sich bereits abzeichnende
Bruch zwischen seiner eigenen Gefolgschaft und den
DUKAS. Grund für die Entzweiung war das Verhältnis
zwischen ihm und Kaiserin
Maria von Alania. Als Ehefrau des abgesetzten Basileus hätte
sie eigentlich nach Einzug des neuen Kaisers den Palast verlassen müssen;
aber das fiel ihr nicht im Traum ein. Allerdings war sie auch dessen Adoptiv-Mutter;
aber selbst dieser Umstand rechtfertigte noch lange nicht, dass Alexios
seine 15-jährige Ehefrau Irene Dukas in
einem anderen, kleineren und tiefer gelegenen Palast gemeinsam mit ihrer
Mutter, ihren Schwestern und ihrem Großvater väterlicherseits
unterbrachte, mit der hinreißenden Maria
dagegen im Bukoleon residierte.
Die Reaktion der DUKAS auf
diese Maßnahme läßt sich leicht ausmalen. Sie hatten die
KOMNENEN
schließlich nicht aus besonderer Zuneigung unterstützt, sondern
nur weil Alexios
mit einer DUKAS
verheiratet war. Darauf hatte Irenes
Schwager Georgios Palaiologos schon aufmerksam gemacht, als sich
ein Trupp von KOMNENEN-Anhängern
weigerte, in ihren Hochrufen Irenes
Namen mit dem ihres Mannes in einem Atemzug zu nennen. - Nicht um ihretwillen
habe er einen so großen Sieg erfechten, sondern für eben jene
Irene, von der sie sprächen. Und
als er die Flotte auf seine Seite gebracht, hatte er dann auch darauf bestanden,
dass die Matrosen ein Hoch auf Irene und
Alexios ausriefen - in dieser Reihenfolge.
Alexios
brüskierte jedoch nicht nur Georgios und die Familie der
DUKAS. In der Stadt verbreiteten sich
in Windeseile Gerüchte: der Kaiser wolle sich von seiner Kindfrau
scheiden lassen und dritten Ehemann der Kaiserin werden; aber auch, dass
als treibende Kraft hinter dieser undurchsichtigen Entwicklung seine Mutter
stehe, die gefürchtete Anna Dalassena, welche die DUKAS
schon immer gehaßt habe und nun, da ihr Sohn des Thrones sicher sei,
diese Familie ein für allemal um Macht und Einfluß zu bringen
gewillt sei. Mochte das erste dieser Gerüchte der Wahrheit nahekommen,
so traf das zweite mit Sicherheit zu. Schon wenige Tage später, am
Ostersonntag, wurde noch mehr Öl ins Feuer gegossen, denn Alexios
wollte seine Frau nicht zu den Krönungsfeierlichkeiten zulassen. Die
DUKAS, ja die ganze achtbare Bevölkerung
von Byzanz, sahen darin eine unverdiente Beleidigung. Nach alter Tradition
war eine Kaiserin viel mehr als nur Ehefrau eines Kaisers. Wenn sie gekrönt
war, bekleidete sie einen anerkannten Rang, der auch vor den Kulissen erhebliche
Macht mit sich brachte. Sie gebot über einen eigenen Hofstaat und
uneingeschränkt über eigene, unermeßliche Einkünfte.
Außerdem übernahm sie bei vielen bedeutenden Reichsfeierlichkeiten
eine unerläßliche Rolle.
Manches weist darauf hin, dass Alexios
alles andere als zufrieden war, seine Frau von der Krönung auszuschließen,
an der sie beide gemeinsam hätten teilnehmen sollen. Er mag ja für
die DUKAS nicht besonders viel empfunden
haben, aber er hatte ihnen fraglos viel zu verdanken. Und war es denn klug,
sich mit der mächtigsten Familie des gesamten byzantinischen Adels
zu verfeinden, noch bevor er die Regierung angetreten hatte? Im Augenblick
gab er Anna Dalassena nach. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er
erkannte, dass sie, und folglich auch er, diesmal erheblich zu weit gegangen
war. Die ganze Angelegenheit trieb schließlich nicht ein Mitglied
der Hauptparteien auf die Spitze, sondern der Patriarch. Zwar hatte der
alte Kosmas die Krönung widerstrebend vorgenommen, doch konnte er
die Stimme seines Gewissens nicht zum Schweigen bringen. Als Anna Dalassena
ihm ein paar Tage später durch einige Abgesandte den deutlichen Wink
gab, dass es besser wäre, im eigenen Interesse zugunsten des Kandidaten
ihrer Wahl, des Eunuchen Eustratios Garidas, zurückzutreten,
geriet er außer sich vor Wut.
"Bei Kosmas", soll er geschrien haben - beim eigenen
Namen zu schwören galt in Byzanz als besonders nachhaltig -, "bei
Kosmas, bevor Irene die Krone nicht
aus meinen Händen erhalten hat, werde ich niemals freiwillig von diesem
Patriarchenthron herabsteigen." Ob er sich zu diesem Eid öffentlich
bekannt hat, ist nicht überliefert. Fest steht jedoch, dass am 7.
Tag nach der öffentlichen Proklamation der Thronbesteigung ihres Ehemannes
die junge Kaiserin
Irene ordnungsgemäß in der Hagia Sophia gekrönt
wurde und dass am 8. Mai desselben Jahres Patriarch Kosmas sich
ins Kallias-Kloster zurückzog. Wie es vorherzusehen war, folgte ihm
Eustratios Garidas auf dem Patriarchenthron.
Angesichts dieser zweiten Krönung binnen Wochenfrist
wußte die Familie
DUKAS, dass sie sich behauptet hatte; Alexios
hatte die erste Lektion gelernt. Sollte zwischen ihm und seiner
Adoptiv-Mutter,
Kaiserin
Maria von Alania, eine gefühlsmäßige Bindung
bestanden haben, so war diese jetzt zerrissen. Maria
erklärte sich bereit, das Bukoleon zu verlassen, unter der Bedingung
jedoch, dass ihre persönliche Sicherheit sowie jene Konstantins,
ihres Sohnes aus der Ehe mit Michael VII.,
durch ein Dokument in scharlachroter Schrift und mit goldenem Siegel beglaubigt,
garantiert werde. Zudem sollte Konstantin Alexios'
Mit-Kaiser
werden. Beide Forderungen wurden umgehend gewährt. Darauf zog Maria
sich mit ihrem Sohn in die prunkvolle Villa direkt am Manganenkloster zurück,
die Konstantin IX. knapp 40 Jahre zuvor
für seine geliebte Sklerina hatte einrichten lassen. Ihnen
schloß sich Isaak Komnenos an.
Da der Cäsarentitel bereits Nikephoros
Melissenos versprochen war, erhob Alexios
ihn in den neugeschaffenen Rang eines Sebastokrators, über dem nur
noch die beiden Mit-Kaiser standen. Alexios
brachte Kaiserin
Irene nun umgehend zurück ins Bukoleon. Ihr Eheleben verlief
weit harmonischer als erwartet; aus der Verbindung gingen insgesamt neun
Kinder hervor.
Doch wie hell die Sonne über dem Privatleben des
Kaisers auch scheinen mochte, am politischen Horizont zogen schnell Wolken
auf. Noch im Monat der Krönung von Alexios
und Irene eröffnete Robert
Guiscard, der normannische Herzog von Apulien, seinen Großangriff
auf das Byzantinische Reich.
Alexios Komnenos hatte,
gleich nachdem man ihm Guiscards Landung auf byzantinischem Territorium
gemeldet hatte, ein dringendes Hilfegesuch an den Dogen Domenico Selvo
gerichtet. Dessen hätte es indes vermutlich gar nicht bedurft, ging
doch für Venedig durch die normannische Beherrschung der Straße
von Otranto keine geringere Gefahr aus als für Byzanz. Selvo
hatte jedenfalls nicht gezögert. Unter seinem persönlichen Kommando
stach der Flottenverband sogleich in See, und bei Einbruch der Dunkelheit
fiel er über die normannischen Schiffe her. Deren Besatzung leistete
hartnäckig Widerstand, war aber einfach zu unerfahren im Seekrieg.
Die venezianische Flotte griff auf die alte byzantinische List zurück,
die Belisar schon mehr als 500 Jahre zuvor angewendet hatte, nämlich
bemannte Beiboote auf die Rahnocken zu hieven und von dort auf die feindlichen
Kräfte darunter herabzuschießen. Außerdem scheinen sie
das Geheimnis des Griechischen Feuers gekannt zu haben, denn der normannische
Chronist Gottfried Malaterra berichtet, sie hätten durch Rohre unter
der Wasseroberfläche das sogenannte Griechische Feuer geblasen, welches
im Wasser nicht erlösche, und auf diese Weise hinterlistig eines der
normannischen Schiffe unter Wasser angezündet, so dass es ausbrannte.
Solchen Taktiken und Waffen hatten die Normannen nichts entgegenzusetzen.
Ihre Formation löste sich auf, die venezianischen Schiffe dagegen
konnten sich den Weg in den sicheren Hafen Durazzo freikämpfen. Doch
dadurch ließ sich Herzog Robert Guiscard noch lange nicht
entmutigen. Das Landheer (klugerweise vor der Schlacht an Land gesetzt)
war noch völlig intakt und richtete sich nun auf die Belagerung der
Stadt ein. Alexios hatte seinen Verbündeten
Georgios Palaiologos mit dem Auftrag in die Garnison von Durazzo entsandt,
dem Feind unter allen Umständen so lange standzuhalten, bis er genügend
Truppen gegen die Eindringlinge zusammengezogen habe. Da die Garnisonssoldaten
wußten, dass bald Hilfe eintreffen würde, schlugen sie sich
tapfer. Die Belagerung zog sich den ganzen Sommer über hin. Immer
wieder gab es Ausfälle. Dabei kämpfte Palaiologos einmal
einen ganzen Tag lang in der Bruthitze mit einer normannischen Pfeilspitze
im Schädel. Am 15. Oktober traf
Kaiser Alexios'
Heer mit ihm an der Spitze ein. Drei Tage später erfolgte der Angriff.
Die Normannen hatten bis dahin etwas nördlich von Durazzo Stellung
bezogen und das Heer zur Schlacht formiert. Robert befehligte das
Zentrum, sein Sohn Bohemund den linken Flügel landeinwärts
und die lombardische Prinzessin Sichelgaita von Salerno, seine Frau,
den rechten Flügel.
Wie immer wenn der Kaiser persönlich in den Kampf
eingriff, scharte sich seine warägische Garde vollzählig um ihn.
Zu dieser Zeit bestand sie zum großen Teil aus Angelsachsen, die
nach der Schlacht bei Hastings England voller Abscheu den Rücken gekehrt
hatten und in byzantinische Dienste getreten waren. Da viele von ihnen
seit 15 Jahren darauf warteten, an den verhaßten Normannen Rache
zu nehmen, stürzten sie sich wutentbrannt in die Schlacht. Mit beiden
Händen schwangen sie ihre riesigen Streitäxte über dem Kopf,
ließen sie auf Pferd und Reiter gleichermaßen niedersausen
und verbreiteten großen Schrecken unter den apulischen Rittern, von
denen nur wenige jemals einer Front von Fußsoldaten begegnet waren,
die nicht sofort beim Anstürmen der Kavallerie auseinandergebrochen
wäre. Auch die Pferde gerieten in Panik. Schon nach kurzer Zeit herrschte
auf dem ganzen rechten normannischen Flügel ein solches Durcheinander,
dass viele ins offene Meer galoppierten, um der sicheren Abschlachtung
zu entgehen. Da schlug gemäß zeitgenössischen Berichten
Sichelgaitas größte Stunde. Anna
Komnena schildert das Ereignis besonders anschaulich:
Als Roberts Frau Gaita (die an seiner Seite ritt,
eine zweite Pallas, wenn nicht gar Athene) die Soldaten weglaufen sah,
blickte sie ihnen wild nach und rief mit dröhnender Stimme in ihrer
Landessprache, was bei Homer etwa so lauten würde: "Wie weit wollt
ihr noch fliehen? Haltet ein und erweist euch als Männer." Und als
sie sah, dass sie weiter flohen, ergriff sie einen langen Speer und jagte
den Flüchtlingen in gestrecktem Galopp nach. Bei ihrem Anblick rafften
sie sich wieder auf und kehrten in die Schlacht zurück. Mittlerweile
war auch Bohemunds linker Flügel zur Rettung eingeschwenkt,
und zwar mit einer Abteilung Bogenschützen, gegen welche die Waräger
machtlos waren, denn sie konnten mit ihren Äxten gar nicht an sie
herangelangen. Und da sie der Hauptmasse des griechischen Heeres zu weit
vorausgeeilt waren, fanden sie den Rückzug versperrt. So blieb ihnen
keine andere Wahl mehr, als dort zu kämpfen, wo sie sich gerade befanden.
Schließlich wichen die wenigen noch Lebenden und suchten Zuflucht
in der nahe gelegenen Kapelle des Erzengels Michael. Diese setzten die
Normannen sogleich in Brand - nun weit entfernt vom Monte Gargano -, und
die Warägergarde kam fast vollzählig in den Flammen um.
Im Zentrum kämpfte Kaiser
Alexios immer noch tapfer. Aber der beste Teil des byzantinischen
Heeres war bei Mantzikert vernichtet worden, und der bunt zusammengewürfelte
Haufen fremder Söldner, auf den er sich nun verlassen mußte,
besaß weder die Disziplin noch die Ergebenheit, um gegen die normannischen
Truppen aus Apulien die Oberhand zu gewinnen. Ein Entlastungsausfall von
Durazzo aus, unter der Leitung von Georgios Palaiologos, hatte die
Situation nicht entschärft. Als Alexios
schließlich merkte, dass ihn sein Vasall, König
Konstantin Bodin von Zeta, und auch ein ganzes Regiment von
7.000 Türken, das der seldschukische Sultan
Suleiman
entsandt und auf welches
er große Hoffnung gesetzt hatte, im Stich ließen, schwand seine
letzte Hoffnung auf den Sieg. Von seinen Leuten abgeschnitten, betrübt
über die in der Schlacht gefallenen Nikephoros Palaiologos (Georgios'
Vater) und Konstantios (Bruder
Michaels
VII.), geschwächt von Erschöpfung und Blutverlust
und geplagt von starken Schmerzen, die von einer Stirnwunde herrührten,
ritt er langsam ohne Begleitung über das Gebirge nach Ochrid zurück,
um dort neue Kräfte zu sammeln und die Überreste seiner versprengten
Streitmacht zu reorganisieren.
Durazzo vermochte sich noch vier Monate lang zu halten.
Erst im Februar 1082 konnten die Normannen die Stadttore einrennen, und
auch dies nur, weil ein venezianischer Einwohner zum Verräter geworden
war (Malaterra zufolge soll er zur Belohnung die Hand einer Nichte Roberts
gefordert haben). Nach dem Fall Durazzos ging die Eroberung schneller
vonstatten. Die ansässige Bevölkerung leistete angesichts der
Niederlage des Kaisers den vorrückenden Eindringlingen keinen Widerstand,
und binnen weniger Wochen befand sich ganz Illyrien in normannischer Hand.
Anschließend marschierte das normannische Heer in östlicher
Richtung weiter nach Kastoria, und diese Garnison kapitulierte gleichfalls
sofort, obwohl sie aus über 300 Mitgliedern der Warägergarde
bestand. Die Entdeckung dieses Umstands beflügelte die Normannen noch
mehr.
Wenn nicht einmal die Elitetruppen des Reiches den weiteren Vormarsch aufhalten
konnten, dann war Konstantinopel bereits so gut wie eingenommen.
Doch, ach, zu Roberts Unglück geschah nichts
dergleichen. Im April, noch während er sich in Kastoria aufhielt,
trafen Boten aus Italien mit der Nachricht ein, Apulien und Kalabrien hätten
sich mit Waffengewalt erhoben, und ein großer Teil Kampaniens ebenfalls.
Außerdem hatten sie ein Schreiben Papst Gregors VII. im Gepäck.
Sein Erzfeind HEINRICH IV., deutscher
König, stand vor den Toren Roms und forderte seine Krönung
zum Kaiser des Westens. Die Anwesenheit Guiscards in der Heimat war also
dringend erfordelich. Er übertrug seinem Sohn Bohemund den
Oberbefehl und gelobte bei der Seele seines Vaters Tankred, sich
den Bart nicht zu scheren, bevor er wieder in Griechenland sei; dann eilte
er zur Küste zurück und setzte über die Adria.
Alexios hatte indes
nicht allein Venedig um Hilfe gegen Robert Guiscard ersucht. Da
ihm schon bei der Thronbesteigung die gegen ihn gerichteten Kriegsvorbereitungen
nicht entgangen waren, hatte er unverzüglich nach potentiellen Verbündeten
Ausschau gehalten. Ein Neffe Roberts eignete sich dazu ganz besonders:
Abelard, der Sohn seines ältesten Bruders Hunfried,
der, von seinem Onkel enterbt, in Konstantinopel Zuflucht gesucht hatte.
Er war leicht dafür zu gewinnen, heimlich nach Italien zurückzukehren
und mit Unterstützung seines Bruders Hermann und einem Batzen
byzantinischen Goldes einen Aufstand dort anzuzetteln. In der Zwischenzeit
schickte Kaiser Alexios
einen Gesandten zu HEINRICH IV., um
diesem die Gefahren einer ungehinderten Machtausbreitung Robert Guiscards
vom Herzogtum Apulien aufzuzeigen. Der daraufhin erfolgte Gedankenaustausch
führte zu einer Übereinkunft: Als Gegenleistung für einen
feierlich beschworenen Beistandspakt schickte Alexios
HEINRICH 360.000 Goldstücke, das Gehalt von 20 hohen Höflingen,
ein goldenes und perlenbesetztes Brustkreuz, einen Kristallbecher, einen
Pokal aus Achat und ein Reliquiar mit Einlegearbeiten in Gold, das Reliquien
mehrerer, mit Hilfe von Namensschildchen identifizierbarer Heiliger enthielt.
Der Vertrag kam Alexios zwar sehr teuer
zu stehen, als er aber im Frühjahr 1082 von Roberts plötzlicher
Abreise erfuhr, dürfte er sich gesagt haben, dass sich seine jüngsten
diplomatischen Schritte nun auszahlten. Er hatte den Winter in Thessalonike
verbracht, um Truppen für den Feldzug im folgenden Sommer auszuheben.
Bohemund und sein Heer dehnten ihre Macht stetig über die ganzen
westlichen Reichsprovinzen aus, und Robert würde über kurz oder
lang zurück sein und dann gegen Konstantinopel marschieren. Wenn man
dem normannischen Heer Widerstand leisten wollte, bedurfte es daher starker,
gut ausgebildeter Verteidigungstreitkräfte. Aber Söldner kosten
Geld - wie schon ihr Name sagt -, die Schatzkammer des Reichs stand leer,
und von der bereits schwer von Steuern gedrückten byzantinischen Bevölkerung
noch mehr zu verlangen, wäre einer Aufforderung zum Aufstand gleichgekommen.
Alexios wandte sich an seine Mutter Anna Dalassena,
an seinen Bruder und seine Frau, und sie stellten allesamt soviel zur Verfügung,
wie sie konnten, indem sie ihre Ausgaben auf das Notwendigste beschränkten.
Dennoch reichte dies alles für sein Vorhaben bei weitem nicht aus.
Schließlich berief sein Bruder Isaak Sebastokrator
in der Hagia Sophia eine Synode ein und erklärte nach altem kanonischem
Recht, nach weichem Kirchengold und -silber eingeschmolzen und zur Auslösung
byzantinischer Kriegsgefangener verwendet werden durfte, den gesamten Kirchenschatz
für konfisziert. In der ganze byzantinischen Geschichte kennt man
nur einen einzigen vergleichbaren Vorfall: Nach dem Einmarsch des
persischen Königs
Chosrau II. im Jahre 618 hatte Patriarch Sergios aus
eigenem Antrieb den Reichtum aller Kirchen und Klöster dem Staat zur
Verfügung gestellt; Kaiser Herakleios
hatte dieses Angebot dankbar angenommen. Nun ging die Initiative von staatlicher
Seite aus, und diesmal ließ die Geistlichkeit den alten Gemeinschaftsgeist
vermissen und verhehlte ihren Mißmut nicht. Es blieb ihr indes nichts
anderes übrig, als sich zu fügen. Auf diese Weise war
Alexios imstande, sein Heer neu aufzubauen. Doch auch dieses
Heer vermochte Bohemunds Vormarsch im ersten Jahr nicht aufzuhalten.
Nach zwei weiteren wichtigen Siegen bei Janina und Arta drängte er
die byzantinischen Truppen nach und nach zurück, bis ganz Makedonien
und der überwiegende Teil Thessaliens in normannische Gewalt gebracht
war. Erst im Frühjahr 1083 vermochten die kaiserlichen Truppen bei
Larissa den Gang der Ereignisse umzukehren. Der Plan war simpel. Als Alexios
sah, dass es zur Schlacht kommen würde, vertraute er die
Hauptmasse des Heeres mit allen kaiserlichen Standarten seinem Schwager
Georgios Melissenos und einem anderen fähigen Feldherrn,
namens Basilios Kurtikios, an. Sie hatten Befehl, dem Feind zunächst
entgegen zu marschieren, und wenn sich dann die beiden Schlachtreihen gegenüberstanden,
plötzlich wie in wilder Flucht davonzulaufen. In der Zwischenzeit
schlichen er und ein Trupp sorgfältig ausgewählter Elitesoldaten
sich im Schutz der Nacht zu einem Hinterhalt im Rücken des normannischen
Lagers. Als Bohemund bei Tagesanbruch das Heer mit den Standarten
erblickte, blies er sogleich zum Angriff. Melissenos
und Kurtikios führten ihren Befehl getreulich aus, und schon nach
kurzer Zeit stürmte das byzantinische Heer in die vorgegebene Richtung
davon, und die normannischen Verbände folgten ihm blindlings. Unterdessen
überrannten Alexios und seine
Leute das feindliche Lager, metzeltem die dort Zurückgebliebenen nieder
und machten große Beute. Danach waren Bohemund und seine Leute
gezwungen, die Belagerung von Larissa aufzugeben und sich nach Kastoria
zurückzuziehen. Von diesem Augenblick an war er verloren. Entmutigt,
heimwehkrank und angesichts des längst überfälligen Solds
und der fürstlichen Belohnungen, die Alexios
allen Deserteuren auszurichten versprach, zusätzlich demoralisiert,
bröckelte das normannische Heer auseinander. Bohemund mußte
nach Italien zurückkehren, um mehr Geldmittel aufzubringen; seine
Heerführer kapitulierten, sobald er ihnen den Rücken gekehrt
hatte. Als nächstes eroberte eine venezianische Flotte Durazzo und
Korfu zurück. Gegen Endes des Jahres 1083 beschränkte sich das
von den Normannen gehaltene Territorium auf dem Balkan wieder auf ein oder
zwei Inseln vor der Küste und einen schmalen Küstenstreifen.
Einige Wochen nach der Eroberung Roms machte Robert
Guiscard sich auf den Weg zurück nach Griechenland. Anna
Komnena hatte Grund für ihre Feststellung, dass er äußerst
hartnäckig war. Trotz seiner 68 Jahre ließ er sich vom Umstand,
dass er seinen Feldzug noch einmal ganz von vorn anfangen mußte,
offnbar nicht im geringsten entmutigen. Schon im Herbst 1084 war er wieder
da, zusammen mit seinen Söhnen Bohemund, Roger und Guy
und einer neuen Flotte von 150 Schiffen. Bei seinem Aufbruch hätten
die Zeichen kaum ungünstiger stehen können. Stürmisches
Wetter hielt die Schiffe zwei Monate in Butrinto fest. Und als sie schließlich
nach Korfu übersetzen konnten, wurden sie von einer venezianischen
Flotte aufgebracht und auf offener See zweimal innerhalb dreier Tage tüchtig
geschlagen. Die Verluste wogen so schwer, dass die venezianischen Pinassen
mit der Siegesmeldung in die Lagune zurückkehrten. Aber sie hatten
Guiscard unterschätzt. Zwar befanden sich nur noch ganz wenige
normannische Schiffe in so gutem Zustand, dass eine dritte Schlacht gewagt
werden konnte. Als Robert die Pinassen aber am Horizont verschwinden
sah und die Gelegenheit witterte, den Feind zu überrumpeln, sammelte
er geschwind alle noch seetauglichen und warf sie in einem letzten Ansturm
nach vorn. Seine Rechnung ging vollkommen auf, denn die Venezianer waren
völlig unvorbereitet. Zudem lagen ihre großen Galeeren, die
ihren Ballast bereits abgeworfen hatten, so hoch im Wasser, dass viele
kenterten, als in der Hitze der Schlacht die gesamte Besatzung an Soldaten
und Matrosen auf eine Seite des Decks eilte. (Zumindest behauptet dies
Anna Komnena, obwohl ihre Geschichte
mit dem, was man von dem Können der venezianischen Seefahrer weiß,
fast nicht in Einklang zu bringen ist.) Nach Annas
Bericht kamen 13.000 Venezianer um, und 2.500 gerieten in Gefangenschaft;
bei deren anschließender Verstümmelung durch die Sieger verweilt
sie mit jener morbiden Lust, die zu ihren unsympathischen Charakterzügen
gehört. Nach dem Fall Korfus begab sich ein rundum zufriedenes und
hoffnungsvolleres Heer in seine Winterquartiere auf dem Festland. Doch
im Verlauf des Winters tauchte eine neue Feindmacht auf, und sie wirkte
sich auf Guiscards Leute tödlicher aus als das venezianische
und das byzantinische Heer zusammen. Es brach eine heftige Seuche aus (vermutlich
Typhus), die kein Erbarmen kannte. Bis zum Frühjahr waren 500 normannische
Ritter tot und ein großer Teil des Heeres kampfunfähig. Doch
selbst da blieb Robert zuversichtlich und guter Dinge. Von seiner
engeren Familie war nur Bohemund erkrankt und zur Genesung nach
Bari geschickt worden. Als Robert sich im Frühsommer entschloß,
mit seinen Leuten wieder aufzubrechen, schickte er Roger Borsa zur
Eroberung Kephallonias voraus. Ein paar Wochen später folgte er ihm
nach. Doch auf der Fahrt Richtung Süden spürte er, wie die bedrohliche
Krankheit ihre Hand nach ihm ausstreckte. Als sein Schiff am Kap Ather
an der Nordspitze Kephalionias eintraf, war er sterbenskrank. Man ging
bei der ersten Gelegenheit in einer kleinen, geschützten Bucht vor
Anker, die heute noch zum Andenken an ihn Phiscardo heißt, und dort
starb er am 17. Juni 1085 im Beisein seiner treuen und tüchtigen Gefährtin
Sichelgaita.
In den vergangenen vier Jahren waren die beiden bedeutendsten
Herrscher Europas, der Kaiser des Westens wie jener des Ostens, bei seinem
Herannahen geflüchtet; er hatte den wohl furchteinflößendsten
mittelalterlichen Papst gerettet und wiedereingesetzt. Ein paar Monate
mehr, und er hätte sein Ziel vielleicht erreicht und
Alexios Komnenos wäre nur einer jener kurzlebigen, ja möglicherweise
sogar der letzte griechische Kaiser von Byzanz gewesen. Durch Robert
Guiscards Tod war die unmittelbare Gefahr für das Byzantinische
Reich gebannt, denn es konnte nicht ausbleiben, dass seine Nachkommen und
Verwandten sich unverzüglich um das Erbe stritten und schon bald den
ehrgeizigen Plan seiner letzten Lebensjahre aus den Augen verloren. Aber
sie ignorierten die neuen Horizonte, die er ihnen eröffnet hatte,
nicht vollständig. Von nun an sehen wir den normannischen Süden
immer lüsterner nach Osten blicken. Schon 12 Jahre später wird
sich Roberts Guiscards Sohn Bohemund auf Kosten des byzantinischen
Kaisers als erster Kreuzfahrerfürst präsentieren.
Die unmittelbare Gefahr für das Byzantinische Reich
war gebannt: Das sind kühne Worte aus der Feder eines Mannes, der
dessen Geschichte zu schreiben unternimmt. Byzanz war niemals für
längere Zeit sicher. Die westlichen Nachbarvölker verhielten
sich bestenfalls unzuverlässig und haben das Reich immer wieder im
Stich gelassen. Die östlichen begegneten ihm sogar durchweg feindselig
- um ihm eines Tages schließlich den Todestoß zu versetzen.
Mehr Mühe als diese bereiteten ihm jedoch über viele Jahrhunderte
hinweg jene, die aus dem Norden kamen: die "barbarischen Horden" gotischer
und hunnischer, awarischer und siawischer, gepidischer und bulgarischer,
ungarischer und uzenischer Herkunft, die in großen Wellen aus den
zentralasiatischen Steppen heranbrausten und, wenn sie auch Konstantinopel
nicht erobern konnten, Stadt und Reich schon durch ihre bloße Existenz
bedrohten. So lebten in Byzanz Herrschende wie Untertanen nur selten ohne
Angst.
Nachdem nun die Normannen vorerst einmal von der Bildfläche
verschwunden waren, traten die Petschenegen auf den Plan, allerdings keineswegs
als Neuankömmlinge. Schon seit mehr als 200 Jahren mußte man
mit ihnen rechnen. In diesem Zeitraum hatten sie sich als ein besonders
habgieriger (und harter) Volksstamm erwiesen. Wer den zweiten Band gelesen
hat, erinnert sich vielleicht noch, wie in der Mitte des 9. Jahrhunderts
Konstantin
VII. Porphyrogennetos seinen Sohn Romanos
beschwor,
sie um jeden Preis mit Freundschaftspakten, Bündnissen und Verträgen
sowie einem nie versiegenden Strom von Geschenken bei Laune zu halten.
Doch Byzanz hatte in der jüngsten Vergangenheit diesen Rat nicht beherzigt,
und die petschenegische Bedrohung, von bogomilischen Häretikern im
östlichen Balkan noch geschürt, war stetig gewachsen. Im Frühjahr
des Jahres 1087 fiel ein gewaltiges fremdes Heer, das Anna
auf
80.000 Mann schätzt, in byzantinisches Reichsgebiet ein. Nur drei
Tage später stand es nach mehreren heißen Schlachten mit wechselhaftem
Ausgang in Sichtweite Konstantinopels.
Die Petschenegen und Bogomilen waren indes nicht die
einzigen feindlichen Mächte, mit denen Alexios
zu schaffen bekam. Chaka, der türkische Emir von Smyrna,
hatte in den vergangenen zehn Jahren seinen Machtbereich die ganze Ägäis-Küste
entlang ausgedehnt und während eines einjährigen oder noch längeren
Aufenthaltes in Konstantinopel von Botaneiates
den Titel eines Protonobilissimos verliehen bekommen. Seine Ambitionen
zielten jedoch, wie jene Robert Guiscards vor ihm, auf nichts Geringeres
als den byzantinischen Thron. Die petschenegische Invasion bot ihm nun
die längst erwartete Gelegenheit. Schon vor geraumer Zeit hatte er
den Bau einer Flotte veranlaßt. Im Spätherbst des Jahres 1090
eroberte er ohne große Mühe die für Byzanz (strategisch)
lebenswichtigen Inseln Lesbos, Chios, Samos und Rhodos. Zum Glück
für Byzanz hatte Alexios ebenfalls
seine Seestreitmacht aufgerüstet, so dass im folgenden Jahr ein byzantinisches
Geschwader unter dem Befehl seines Verwandten Konstantin Dalassenos
den Emir vom Eingang zum Marmarameer vertreiben konnte. Doch damit war
Chaka keineswegs besiegt. Er hätte sicherlich erneut angegriffen,
wäre er nicht 1092 von seinem Sultan
Kilidsch Arslan während eines Banketts ermordet worden.
Die Petschenegen bedrängten weiterhin Konstantinopel.
Alexios'
Truppen kämpften aufopfernd, und es gelang ihnen auch, sie in Schach
zu halten, doch sie vermochten sie infolge des chronischen Mangels an Soldaten
nicht dorthin zurückzutreiben, woher sie gekommen waren. In dieser
verzweifelten Lage griff Alexios auf
einen alten byzantinischen Trick zurück, nämlich sich der Hilfe
des einen Stammes zu versichern, um ihn gegen den anderen auszuspielen
- eine gefährliche Kriegslist, da jederzeit das Risiko bestand, dass
die beiden gemeinsame Sache machten und Byzanz sich dann zwei feindlichen
Völkern statt nur einem gegenübersah. Da jedoch der größte
Teil des byzantinischen Heeres bei Mantzikert verlorengegangen war, blieb
ihm gar nichts anderes übrig. Und wie Leon
der Weise fast genau 200 Jahre zuvor die Ungarn gegen
Symeon von Bulgarien ins Land gerufen hatte, wandte sich Alexios
nun an die Kumanen.
Diese sind hier schon unter dem ebenfalls geläufigen
Namen Skythen aufgetaucht, unter dem sie früher gewöhnlich bekannt
waren. Der kriegerische Nomaden- und Viehzüchterstamm türkischen
Ursprungs kam im 11. Jahrhundert aus dem Osten und siedelte sich in der
Ukraine an. Zwar gab es keine Fehde zwischen Kumanen und Petschenegen -
1087 hatten beide Stämme sich an Thrakien schadlos gehalten -, aber
Alexios schürte das Feuer und
unterbreitete ihnen ein Angebot, dem sie nicht widerstehen konnten und
auf das sie bereitwillig eingingen. Im späten Frühjahr waren
sie zur Stelle; am 28. April 1091, einem Montag, trafen die beiden Heere
am Fuße des Levunion, unweit der Mündung des Flusses Maritza,
aufeinander.
Am Abend rief Alexios
seine Soldaten zum Gebet. Anna Komnena
berichtet, als die Sonne am Horizont versunken sei, habe man den Himmel
aufleuchten sehen, aber nicht vom Sonnenlicht, sondern vom Schein vieler
anderer Gestirne, denn ein jeder habe eine Fackel (oder Wachskerze, je
nachdem, was ihm gerade zur Hand war) auf die Spitze seines Speeres gesteckt;
das Gebet des Heeres sei zweifellos ans Himmelsgewölbe gedrungen,
wenn nicht sogar direkt an Gottes Ohr.
Diesen Eindruck könnte man in der Tat gewinnen.
Denn tags darauf erlitt das petschenegische Heer, in dem sich nach ihrer
Sitte auch Frauen und Kinder befanden, in der Schlacht eine so vernichtende
Niederlage, dass der Stamm dabei fast ausgerottet wurde. Anna
behauptet sogar, sie seien gänzlich vernichtet worden. Das ist zweifellos
übertrieben, wenn auch nur leicht. Ein paar Gefangene überlebten
und kamen in byzantinischen Dienst. Die überwiegende Mehrheit aber
- es sollen noch immer auf jeden byzantinischen Soldaten etwa 30 gekommen
sein - metzelte das Heer aus dem christlichen Byzanz kurzerhand nieder.
Weder das kaiserliche Heer noch Alexios
Komnenos als dessen Oberbefehlshaber bedeckte sich also bei
diesem Blutbad am Levunion mit Ruhm, und doch handelt es sich dabei um
den entscheidendsten Sieg, den ein byzantinisches Heer im Feld seit
Basileios II. erringen konnte. Man befreite sich durch diese
Totallösung nicht nur für die nächsten 30 Jahre von der
petschenegischen Bedrohung, sie diente auch andern Völkern als warnendes
Beispiel. Außerdem hob sie in entscheidender Weise die byzantinische
Moral. Dass hierdurch die Position des Kaisers gestärkt wurde, ist
besonders wichtig. Es sei daran erinnert, dass er durch einen Gewaltakt
auf den Thron gelangte. Eine ganze Reihe anderer ehrgeiziger Jungmilitärs
aus einem Dutzend byzantinischer Adelhäuser hätte ihn ebenso
für sich beanspruchen können. Dass Alexios
offensichtlich
fähig war, durchzugreifen, hatte ihm in der zurückliegenden Zeit
kaum Schutz vor den Intrigen eifersüchtiger Rivalen gewährt.
Nun aber hatte er unter Beweis gestellt, dass er willens und in der Lage
war, Byzanz in seiner einstigen Größe mit allen Mitteln wenigstens
teilweise wieder herzustellen. Der Basileus, der wenige Tage nach der blutigen
Schlacht mit stolzgeschwellter Brust unter den von allen Seiten widerhallenden
Hochrufen seines Volkes durch das Goldene Tor nach Konstantinopel ein-
und die geschmückten Straßen entlang zur Hagia Sophia ritt,
konnte nun zuversichtlicher in die Zukunft blicken als während der
gesamten zehn Jahre seit seiner Thronbesteigung.
(1108-1118)
Hört man ihnen zu, könnte man glauben, dass meine Straßen mit Käse gepflastert waren und von meinen Bergen Milch und Honig flossen, dass mir selbst unermeßliche Reichtümer beschieden waren, dass ich lebte wie ein Satrap, dass der Luxus von Medien nichts war im Vergleich zu meinem und die Paläste von Susa und Ekbatan, verglichen mit meinem Sitz, elende Hütten.
Theophylax, Erzbischof von Ochrid, über die Reichssteuereintreiber (Brief 41)
Alexios Komnenos kehrte
im Verlauf der letzten Wochen des Jahres 1108 nach Konstantinopel zurück,
sehr zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. In seinem Reich herrschte,
für den Augenblick zumindest, Frieden. Wohl traf es zu, dass Tankred
von Antiochia den Vertrag von Dewol bereits gebrochen hatte, wodurch
dieser im Grunde hinfällig geworden war, doch der Vertrag hatte mit
der Unterwerfung Bohemunds seinen Zweck ausreichend erfüllt,
und zur Zeit war Tankred, gemeinsam mit seinen Kreuzfahrergefährten,
zu sehr mit den sarazenischen Gegnern beschäftigt, um dem Byzantinischen
Reich ernsthafte Schwierigkeiten bereiten zu können. So konnte sich
Alexios während der folgenden
zwei Jahre um eigene, innenpolitische Angelegenheiten kümmern. Und
da auch wir durch den Druck der Ereignisse auf internationaler Ebene dazu
kaum Gelegenheit hatten, könnte es sinnvoll sein, ganz kurz dasselbe
zu tun.
Das erste Jahrzehnt von Alexios'
Herrschaft war hart gewesen. Als hervorragender und scheinbar unbesiegbarer
junger Heerführer während der Herrschaft von Nikephoros
Botanoiates war er vielen seiner Untertanen als einzige noch
verbleibende Hoffnung für das belagerte Reich erschienen; doch kaum
hielt er die höchste Macht erst in Händen, verflüchtigte
sich der Zauber schnell. Noch im Jahr seiner Krönung erlitt er bei
Durazzo die vernichtendste Niederlage seiner Laufbahn. Sicher, er bekam
18 Monate später in der Schlacht von Larissa Gelegenheit zur Rache.
Aber die Normannen standen 1084 schon wieder da, und wäre Robert
Guiscard nicht so plötzlich und unerwartet gestorben, wäre
es ihnen möglicherweise gelungen, bis nach Konstantinopel vorzudringen.
In der Zwischenzeit aber hatte Alexios,
abgesehen von einem relativ bedeutungslosen und nur halbherzigen Feldzug
gegen den Emir Chaka von Smyrna, keinen ernsthaften Versuch unternommen,
die türkischen Völker aus Kleinasien zu vertreiben. An Ostern
1091, nach zehn Jahren Thronherrschaft, in denen er keine wesentlichen
Leistungen erzielt hatte, die ihm als Verdienst hätten angerechnet
werden können, galt
Alexios
im
allgemeinen als Versager, und die Leute begannen sich allmählich zu
fragen, ob das europäische Byzanz unter dem konstanten Druck der Normannen,
Petschenegen oder Bogomilen nicht den gleichen Weg gehen würde wie
weiland das asiatische. Würde es, so fragten sie sich, in einigen
Jahren noch ein Reich außerhalb der Mauern von Konstantinopel geben,
das den Namen verdiente?
Der Patriarch von Antiochia, Johannes Oxites,
ging noch weiter und beschwor den Niedergang des Reiches in zwei um diese
Zeit veröffentlichten bitteren Schmähreden gegen Alexios
als unabwendbare Tatsache. Die Menschen, so fuhr er fort, seien niedergeschlagen
und desillusioniert. In der Vergangenheit hätten sie noch geglaubt,
Niederlagen und Schicksalsschläge seien Gottes Strafe für begangene
Sünden, nun aber nehme immer mehr das Gefühl überhand, Gott
kümmere sich überhaupt nicht mehr um ihr Geschick. Die Reichen
würden arm, und die Armen, besonders in Makedonien, Thrakien und dem
nördlichen Balkan, drohten auf der Flucht vor den barbarischen Invasoren
zu verhungern oder zu erfrieren. Die einzige Ausnahme in dieser allgemeinen
Not bildeten die Mitglieder der kaiserlichen Familie, die zur größten
Geißel des Reiches und dessen Volk geworden seien.
Vielleicht übertrieb der Patriarch ein wenig: schließlich
lag sein Patriarchat Antiochia rund 1.000 Kilometer von der Hauptstadt
entfernt und stand noch immer unter sarazenischer Herrschaft. So oder so
war er also nicht besonders geeignet, die Situation der in Europa gelegenen
Provinzen zu beurteilen. Dennoch lag viel Wahres in dem, was er sagte.
Weniger klar ist, in welchem Maße er zu Recht dem Kaiser dafür
die Verantwortung zuschob. Alexios traf
keine Schuld, dass erst die Normannen und dann die Petschenegen weite Gebiete
der Balkanhalbinsel verwüstet, Dörfer und Städte niedergebrannt
und so Tausende getötet und Abertausende obdachlos gemacht hatten.
Fr und seine Truppen hatten sich heftig gewehrt, und nur wenige Wochen
nach den Vorwürfen des Patriarchen schlugen sie die Petschenegen am
Fuße des Levunion in entscheidender Weise. Zugegeben, die Normannen
forderten etwas mehr Zeit ab, doch ist nur schwer einzusehen, wie Alexios
noch mehr hätte tun können. Der Vorwurf des Nepotismus ist schwieriger
zu beurteilen. Auch war Patriarch Johannes von Antiochia bei weitem
nicht der einzige, der ihn erhob. So erhält er wie folgt Schützenhilfe
vom Chronisten Johannes Zonaras:
Er jedoch bot den Verwandten und einigen Dienern öffentliche
Mittel in ganzen Wagenladungen dar und wies ihnen reichliche jährliche
Zuwendungen zu, so dass sie sich mit großem Reichtum umgaben und
sich eine Dienerschaft zulegten, die nicht Privatleuten, sondern Kaisern
entsprach, und Häuser erwarben, die an Größe Städten
glichen, an Pracht aber Kaiserpalästen nicht unähnlich waren.
Natürlich ließe sich einwenden, dass alle
herrschenden Familien in allen Ländern und zu allen Zeiten in den
Genuß der einen oder anderen Art besonderer Privilegien kamen. Auch
müssen wir uns vor Augen halten, dass es, zumindest in den frühen
Jahren seiner Herrschaft, im Gefolge von Alexios
nur wenig Menschen außerhalb seiner engsten Familie gab, denen er
trauen konnte. Zieht man die chaotischen Bedingungen in Betracht, die Mitte
des 11. Jahrhunderts über einige Jahrzehnte hinweg in Byzanz herrschten,
sowie die Umstände seiner Thronbesteigung und die Zahl seiner Feinde
in Konstantinopel, war ein gewisses Maß an Nepotismus sicherlich
erlaubt. Ohne den Rückhalt einer mächtigen Familie wäre
er nicht lange Kaiser geblieben. War er deshalb nicht bis zu einem gewissen
Grad berechtigt, seine Mutter Anna Dalassena, seinen Bruder Isaak,
seinen Schwager Nikephoros
Melissenos sowie
seinen Sohn Johannes und seinen Schwiegersohn Nikephoros
Bryennios und dazu ein paar
weitere Mitglieder der näheren Verwandtschaft in Schlüsselpositionen
zu versetzen und sie entsprechend zu ent schädigen?
Mag sein, dass dem so ist. Nur begnügte er sich
leider nicht damit, die Mitglieder seiner Familie mit hochdotierten Ämtern
und speziell geschaffenen neuen Titeln zu versehen, sondern verlieh ihnen
auch regionale Machtbefugnisse. Zu früheren Zeiten waren die staatlichen
Ländereien - also jene, die dem Staat gehörten und nicht Teil
des persönlichen kaiserlichen Besitztums bildeten - direkt der reichsherrschaftlichen
Verantwortung unterstellt gewesen, Alexios
jedoch überließ deren Verwaltung, und damit auch deren Einkünfte,
zu einem Großteil seinen Verwandten. Diese Lehen, auch Pronoia genannt,
unterlagen zwar zeitlicher Begrenzung, das heißt, er konnte sie wieder
aufheben, wann immer er dies wünschte, und sie fielen in jedem Fall
beim Tode der Begünstigten wieder an ihn zurück, aber handelte
es sich doch jeweils um gefährliche Präzedenzfälle und um
einen weiteren Aderlaß des ohnehin stark beanspruchten Staatsschatzes.
Schon ein gutes halbes Jahrhundert vor seiner Thronbesteigung
hatte ein stetiger Niedergang der byzantinischen Wirtschaft eingesetzt.
Dass die Goldmünze Nomisma schon 20 Jahre zuvor bereits ein Viertel
ihres ursprünglichen Wertes eingebüßt hatte, haben wir
bereits gehört. Sowohl unter Botaneiates
als auch unter Alexios ging diese Entwertung
weiter, bis schließlich sechs verschiedene Nomisata aus sechs unterschiedlichen
Legierungen in Umlauf waren, wobei das kaiserliche Schatzamt, das sie geprägt
hatte, zunächst darauf beharrte, dass sämtliche bei ihm eingehenden
Zahlungen in der ursprünglichen Goldwährung zu entrichten seien.
Die daraus resultierende Verwirrung verursachte im ganzen Reich ein wirtschaftliches
Chaos. 1092 führte Alexios den
goldenen Hyperpyron (den "Superveredelten") ein, der in den folgenden 200
Jahren in Byzanz als Standardmünze diente, doch gelang es erst 1109
wieder, eine gewisse Ordnung herzustellen, indem für das ganze Münzsystem
ein eigentlicher Wechselkurs festgelegt wurde. Damit herrschte zwar noch
immer bei weitem keine befriedigende Situation, aber sie ermöglichte
zumindest ein effizientes Funktionieren des fiskalischen Systems - und
das war für Alexios Komnenos von
vorrangiger Bedeutung.
Und es mußte so sein. Denn die meiste Zeit seiner
Herrschaft sah sich das Reich entweder durch Angriffe aus dem Osten oder
aus dem Westen bedroht und oft genug von beiden Seiten gleichzeitig. Von
seinen Vorgängern hatte er nur eine mehr schlecht als recht ausgerüstete
und zusammengewürfelte Armee sowie eine kleine, lange vernachlässigte
Flotte geerbt, derart untauglich, dass er 1081 gegen einen Seeangriff seitens
Robert Guiscards Venedig um Hilfe angehen mußte. Sollte indes
das Byzantinische Reich überleben, galt es, das Heer neu zu organisieren
und die Flotte sozusagen von Null wieder aufzubauen, und keines dieser
beiden Ziele ließ sich ohne beträchtliche Kosten erreichen.
Ohne Umschweife begann Alexios mit
der Umsetzung dieser Ziele und sammelte das notwendige Geld, wo er es nur
kriegen konnte. Zehn Jahre später verbuchte er dann, wie wir sahen,
wichtige Siege zu Wasser und zu Land. Für ihn bedeutete es gern getane
Arbeit, war er doch stets zuallererst und zur Hauptsache Soldat gewesen.
Die Kunst der Kriegsführung faszinierte ihn. Wie Anna
Komnena in ihrer Alexias ein übers andere Mal aufzeigt,
fühlte er sich nie so glücklich wie bei der Vermittlung militärischen
Drills, wenn er die Soldaten von schlecht disziplinierten Barbaren zu geschulten
Kämpfer formte. Hatte er seine Armee aber erst einmal so geformt,
wie er sie haben wollte, gedachte er sie unter keinen Umständen aus
der Hand zu geben. Wie kein anderer wußte er nämlich, wie einfach
es für einen hervorragenden und erfolgreichen Befehlshaber ist, die
Unterstützung seiner Leute zu gewinnen, um dann bei den ersten Anzeichen
von Schwäche innerhalb der Regierung einen Staatsstreich zu inszenieren,
und er hatte nicht die Absicht, einem seiner Untergebenen zu ermöglichen,
ihn so zu stürzen wie er seinen Vorgänger. Sowohl aus diesem
Grund als auch aus echter Begeisterung für Kampf und Schlacht übernahm
er, wenn immer möglich, persönlich das Kommando und führte
seine Truppen an, womit er sich, sozusagen nebenbei, als der tüchtigste
Oberbefehlshaber erwies, über den Byzanz seit Kaiser
Basileios II. fast 100 Jahre zuvor verfügte.
Geht man von den riesigen Ausgaben aus, die eine angemessene
Verteidigung des Reiches erforderte, ist es verständlich, dass Alexios'
Steuerpolitik harsch gewesen sein muß, ja geradezu skrupellos.
Zu den Maßnahmen, mit denen er - oder genauer gesagt sein Bruder
Isaak
- sich zu Beginn des Jahres 1082 der Kirchenschätze bemächtigte,
um den Feldzug gegen Bohemund finanzieren zu können, griff
er zwar kein zweites Mal, doch litten der Adel (ausgenommen natürlich
seine Familienmitglieder und andere Günstlinge), die Senatorenfamilien
(die er haßte) sowie die reicheren Klöster gewaltig unter seinem
Wucher. Angesichts des wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Chaos ließ
sich von den Eintreibern leicht behaupten, die letzten Zahlungen seien
ungenügend gewesen, in der falschen Währung bezahlt oder überhaupt
nicht entrichtet worden, und daraufhin eine gewaltige Strafgebühr
erheben.
Auch für die ärmeren Reichsuntertanen waren
die Zeiten hart, ein Thema, das Patriarch Johannes Oxites von Antiochia,
wie wir gesehen haben, schon 1091 aufgegriffen hatte. Nun, fast 20 Jahre
später, präsentierte sich die Lage nicht viel besser. So beschrieb
Theophytax, Erzbischof von Ochrid - dessen Bemerkungen über
die kaiserlichen Steuereintreiber am Eingang zu diesem Kapitel das Herz
all jener, die Luxussteuer zu entrichten haben, erwärmen dürften
-, Herzog Johannes von Durazzo (Dyrrhachion), einem Neffen des
Kaisers, die Zustände in einer seiner Diözesen, die wieder
und wieder von Normannen, Petschenegen und Kreuzritterhorden überrannt
worden war, wie folgt.
Kaum vermochte ich die Tränen zurückzuhalten.
In der Kirche wird nicht mehr gesungen, und die Kerzen werden nicht mehr
entzündet; der Bischof und die Geistlichen mußten fliehen, und
die Stadtbevölkerung hat ihre Häuser verlassen, um versteckt
im Gehölz und in den Wäldern zu leben. Und zu all diesen Übeln,
die der Krieg gebracht hat, kommt hinzu, dass sich die Großgrundbesitzer
- weltliche wie kirchliche - Grund und Boden der Bauernfamilien angeeignet
haben, welche sowohl durch ihre Dienstpflicht wie durch Steuern auf das
Schwerste belastet sind.'
Zwar berichtet er nur über eine bestimmte Diözese,
doch konnte man die von ihm beschriebenen Zustände in allen europäischen
Provinzen des Reichs antreffen. Auch hatte er recht, was den Zwang zum
Militärdienst betraf, der überall auf Empörung stieß,
wo immer er durchgesetzt wurde. Die Landbevölkerung lebte, noch viel
mehr als die städtische, in ständiger Furcht vor den kaiserlichen
Rekrutierungsbeamten, die das Reich unablässig auf der Suche nach
kräftigen, jungen Männern für den Kriegsdienst durchstreiften,
und ihre Angst war durchaus gerechtfertigt, nicht nur weit sie deren Arbeitskraft
dringend benötigten, um ihre verwüsteten Felder wiederherzustellen,
sondern auch weil die reale Gefahr bestand, dass diese jungen Männer
sich nach dem Ende ihrer Dienstzeit in Konstantinopel oder in einer anderen
Gegend niederließen und nie mehr nach Hause zurückkehrten. Es
ließ sich gut und gern sagen - wie dies Alexios
wohl getan hätte -, dass jede einigermaßen intelligente
Familie es doch sicher vorziehe, dem Reich einen Soldaten zu stellen, statt
zuzulassen, dass fremde Eindringlige ihr Haus zerstörten, die Söhne
abschlachteten und die Töchter vergewaltigten, doch ausgehungerte
und verängstigte Menschen lassen sich von derart logischen Argumenten
kaum beeindrucken. Tatsache ist, dass die große Mehrheit des Volkes
Alexios, der für all die Drangsal
verantwortlich gemacht wurde, haßte. Und er wußte darum.
Was für Schritte, wenn überhaupt welche, unternahm
nun Alexios Komnenos, um seinen Ruf
beim Volk zu verbessern? Von Anbeginn seiner Regentschaft hatte er sich
abgemüht, wenn nicht seine Liebe, so doch wenigstens seine Achtung
zu gewinnen. In den 56 Jahren zwischen dem Tod Basileios'
II. im Jahre 1025 und seiner eigenen Thronbesteigung 1081 sah
das Reich nicht weniger als 13 Kaiser, und so bestand seine erste Aufgabe
darin, klarzustellen, dass er nicht die Absicht hegte, nur ein weiterer
dieser Art zu werden. Seine Botschaft lautete deutlich. Die armseligen
Vorgänger waren Produkte eines durch und durch faulen Systems, verdorben,
dekadent und korrupt; er aber würde dieses System reformieren und
das Reich wieder zu seiner früheren Größe zurückführen.
Doch zuvor mußte es gereinigt und geläutert
werden. Während Anna Dalassena den erklärten Augiasstall
im Gymnaeceum des kaiserlichen Palastes in Angriff nahm, begann er mit
einer Kampagne, um das Reich von jeglicher Ketzerei zu befreien. Sein erstes
Opfer war ein Schüler von Michael Psellos namens Johannes Italos,
dessen Fürsprache für die Werke von Plato und Aristoteles auf
Kosten jener der ersten Kirchenväter Alexios
für
zu weitgehend hielt und der daher anläßlich eines ausführlichen
Schauprozesses für schuldig befunden und zu lebenslänglicher
Isolierung in einem Kloster verurteilt wurde. Ähnliche Prozesse bildeten
die Begleitmusik zu Alexios'
ganzer
Regentschaft, zuletzt jener in seinem letzten Lebensjahr, bei dem der bekannteste
Bogomilenvertreter - uns nur unter seinem christlichen Namen Basileios
bekannt - im Hippodrom auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, in Konstantinopel
bis dahin eine praktisch unbekannte Strafe.
Obwohl in all diesen Verfahren eindeutig ein starker
Hang zur Propaganda zum Ausdruck kommt, ist an Alexios'
profunder Gläubigkeit nicht zu zweifeln. Wie sehr er auch mit anderen,
unmittelbar dringenderen Angelegenheiten beschäftigt sein mochte -
einem Feldzug gegen Robert Guiscard oder Bohemund, der Verteidigung
des Reichs gegen Petschenegenüberfälle oder dem Versuch, der
Kreuzfahrerflut zu wehren, die über die Reichsgrenzen schwappte -,
keinen Augenblick vernachlässigte er seine religiöse Verantwortung
als den Aposteln gleicher Basileus. Auch beschränkte sie sich niemals
auf Fragen der Doktrin; die kirchenpolitischen Angelegenheiten lagen ihm
ebenso am Herzen,
und zu Beginn seiner Regentschaft setzte er eine radikale
Reform des seit langer Zeit üblichen und unter der Bezeichnung Charisticum
bekannten Brauchs durch, die Verwaltung von Klöstern und klösterlichem
Besitz in weltliche Hände zu legen. Diese Praxis - sie hatte im 11.
Jahrhundert drastisch zugenommen - zielte hauptsächlich auf die wirtschaftliche
Entwicklung solcher Besitztümer ab und wirkte sich in der Regel positiv
aus, doch lauerten in der Verweltlichung auch Gefahren. So konnte ein Schutzherr
rein weltliche Brüder einbringen, die vom Kloster lebten, ohne etwas
zu dessen geistigem Leben beizutragen, er konnte das klösterliche
Oberhaupt - und sogar die echten Mönche und Nonnen - unter Druck setzen
und sie in den Handel einbinden, ja, wenn er wollte, das Kloster aussaugen.
Als Gründer mehrerer großzügig subventionierter Klöster
war Alexios entschlossen, solche Mißbräuche
zu verhindern. Nicht dass er das System aufgehoben hätte, welches
ihm selbst äußerst zupaß kam, als er in den ersten Monaten
seiner Thronherrschaft seine Günstlinge belohnen und Familienmitglieder
großzügig mit allerhand Gaben versehen wollte. Er ordnete jedoch
an, dass künftig alle Transaktionen, die klösterlichen Besitz
betrafen, vom zuständigen Patriarchen zu zeichnen seien, und erhöhte
damit die Kontrolle der Patriarchen über die Klöster und das
Klosterleben. 1107 ging er noch einen Schritt weiter, indem er eine allgemeine
Reform des Klerus durchführte und insbesondere einen eigenen Predigerorden
gründete, dessen Angehörige in einer "Pfarrgemeinde" arbeiteten
und dort als Einmanntruppe gegen das Laster und als Hüter der öffentlichen
Moral wirkten. Wie erfolgreich sie tatsächlich waren, bleibt ungewiß;
spätere Chroniken erwähnen sie kaum. Als viel wirkungsvoller
erwies sich das weitläufige "Waisenhaus" - oder vielmehr Krankenhaus
und Obdachlosenheim -, das er neben der Pauluskirche auf der Akropolis
von Konstantinopel (auf dem Gelände des heutigen Topkapi-Palastes)
errichten ließ und welches Anna Komnena
als "eine Stadt innerhalb der Stadt" bezeichnet:
Ringsum standen im Kreis zahllose Gebäude, Unterkünfte
für die Armen und - ein noch größerer Beweis seiner Menschlichkeit-Wohnungen
für die Behinderten. Erblickte man diesen Bereich voller Menschen,
verkrüppelt oder völlig hilflos, glaubte man, Salomons
Vorhalle vor sich zu haben. Die Gebäude waren in einem Doppelkreis
angeordnet und zweistöckig. So groß war der Kreis, dass, wollte
man all diese Menschen besuchen und zöge frühmorgens los, es
Abend würde, bevor man damit zu einem Ende käme. Sie besaßen
zwar weder Land noch Weinberge, doch lebten sie alle in der ihnen zugewiesenen
Behausung und für all ihre Bedürfnisse an Nahrung und Kleidung
kam die Großzügigkeit des Kaisers auf. Für wie viele
Personen auf diese Weise gesorgt wurde, war nicht abzuschätzen. Tatsächlich
gründeten Alexios' Motive nicht
ausschließlich auf reiner Menschenliebe. Zu den Erscheinungen des
moralischen Zusammenbruchs, der sich unter seinen Vorgängern vollzogen
hatte, gehörten auch die zahllosen Menschen in der Stadt, die sich
den Lebensunterhalt mit Betteln verdienten. Von allen Ministern oder höheren
Staatsbeamten, die vor der Beförderung in einen höheren Rang
oder in ein höheres Amt standen, wurde erwartet, dass sie den Armen
großzügige Zuwendungen überreichen ließen, und ihre
Häuser waren gelegentlich regelrecht belagert von den vielen, die
an ihre Großzügigkeit appellierten. Die fast unüberschaubare
Zahl der Beförderungen, mit denen Nikephoros Botaneiates seine schwindende
Popularität zu stärken versucht hatte, hatte ihre Anzahl noch
vergrößert. Im übrigen erfreuten sie sich bei denen, die
sie so bedrängten, einiger Beliebtheit, denn den sozialen Status im
damaligen Konstantinopel bestimmten nicht nur Rang und Namen, sondern auch
Mäzenatentum und karitative Spenden, und so lechzten viele Reiche
förmlich nach einer Gelegenheit, das Ausmaß ihrer Freigebigkeit
öffentlich zeigen zu können. Natürlich erlaubte die Eröffnung
des Asyls Alexios auch, die Bettler
der Stadt zu kontrollieren, aber sie zielte ebenso darauf ab, das Ansehen
seiner höheren Beamten in dem Maße zu vermindern, wie sie das
seinige erhöhte.
Es erstaunt nicht, dass Alexios,
als meisterhafter Diplomat, der er war, während seiner Regierungszeit
alles daransetzte, die Kluft zwischen Ost- und Westkirche zu schließen.
Zu seinem Pech hing er jedoch zu überzeugt - um nicht zu sagen, stur
- an seinem orthodoxen Glauben, um bei Verhandlungen die nötige Flexibilität
an den Tag legen zu können. Als Papst Urban II. 1089 den Abt
von Grottaferrata mit dem dringenden Ersuchen nach Konstantinopel entsandte,
das Lesen der heilige Messe nach lateinischem Ritus zu gestatten, beschränkte
Alexios sich
in seiner Antwort auf den Vorschlag, einen gemeinsamen Rat einzuberufen,
um die Angelegenheit zu besprechen. Die Beschlüsse dieser Synode sind
nicht überliefert; sie scheint indes mindestens bis zu einem gewissen
Grad von Erfolg gekrönt gewesen zu sein, denn man weiß, dass
Papst Urban bei deren Abschluß den bis dahin über das
Ostreich verhängten Kirchenbann aufhob. Obwohl der Bruch noch lange
nicht völlig verheilte, gestaltete sich die Beziehung doch freundschaftlich
genug, dass Alexios Papst Urban II.
nur gerade zwei Jahre später um Hilfe im Kampf gegen die petschenegische
Gefahr bat. Hin und wieder fanden weitere Verhandlungen statt. 1108 war
ein päpstlicher Gesandter als Zeuge bei der Unterzeichnung des Vertrags
von Dewol anwesend, und 1112 soll Kaiser
Alexios - wenn wir der Chronik von Monte Cassino glauben dürfen
- als Gegenleistung für die Krone des Westreichs gar die Vereinigung
der beiden Kirchen vorgeschlagen und geplant haben, im Sommer jenes Jahres
Rom zu besuchen.
Dass dieser Bericht zutrifft, wird allerdings bezweifelt,
und wahrscheinlich aus gutem Grund. Vor allem anderen stand das Westreich
gewiß nicht zum Verkauf. Kaiser
HEINRICH V. war ein erklärter und erbitterter Feind Papst
Paschalis II. und hatte ihn und 16 Kardinäle 1111 sogar zwei Monate
lang gefangen gehalten. Paschalis II. erkaufte sich seine Freiheit
schließlich, indem er HEINRICH
am 13. April krönte, und so konnte er wohl kaum nur etwas mehr als
ein Jahr danach einen "Gegen-Kaiser" küren. Viel eher hatte Alexios
wohl ein Auge auf Süd-Italien geworfen, ein Gebiet,
das nach dem Tod von Bohemund und dessen Halbbruder Roger Borsa
im Abstand von nur einer Woche ebenfalls im Jahre 1111 ohne Oberhaupt dastand
und das er zu gerne für Byzanz zurückgewonnen hätte. Doch
obwohl seine Stellung inzwischen ein gutes Stück sicherer war als
früher, ist es unwahrscheinlich, dass er unter den damals herrschenden
Umständen überhaupt je mit dem Gedanken gespielt hat, so lange
von Konstantinopel wegzubleiben.
Was auch immer er indes für Pläne hegte, sie
hätten sich als unausführbar erwiesen, denn im Sommer 1112 erkrankte
er schwer und mußte offenbar mehrere Wochen lang das Bett hüten.
Der Briefwechsel mit Rom setzte zeitweise aus, doch beharrte der Papst
nach wie vor fest auf seiner Oberherrschaft, und Byzanz weigerte sich,
seine Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. So änderte sich nichts.
Und Alexios fand seine Aufmerksamkeit
ohnehin bald durch andere, dringlichere Probleme in Anspruch genommen.
Der Friede, der Ende 1108 mit dem Vertrag von Dewol begonnen
hatte, hielt drei Jahre an; dann brachen die Kämpfe erneut aus und
setzten sich bis zum Ende seiner Regentschaft fort. In jenem Herbst 1111
gelang es Alexios knapp, zu verhindern,
dass seine Truppen gleichzeitig an zwei Fronten kämpfen mußten,
als erneute türkische Übergriffe mit der Ankunft von genuesischen
und pisanischen Flottenverbänden zusammenfielen, welche die ionische
Küste zu verwüsten drohten. Zum Glück kam es zu einem Vertrag
mit Pisa, in dem Byzanz sich verpflichtete, dessen Kreuzzugaktivitäten
nicht zu behindern, dem Dom jährlich ein Geschenk in Form von Gold
und Seide zukommen zu lassen und - viel wichtiger noch - den pisanischen
Kaufleuten erlaubte, in Konstantinopel eine ständige Handelskolonie
einzurichten, deren führende Angehörige in den Genuß von
Sitzplätzen sowohl für die heiligen Messen in der Hagia Sophia
wie für die Spiele im Hippodrom kamen.
Mit den Türken ließ sich nicht ganz so einfach
verfahren. Zum Glück für Alexios
waren sie noch nicht auf Eroberung aus, denn in Kleinasien gab es noch
mehr als genug Territorium zu vereinnahmen und zu konsolidieren. Ihre Einfälle
glichen eher sorgfältig geplanten Überfällen; sie vermieden
konzentrierte Schlachten wenn immer möglich und griffen stets auf
breiter Front und an verschiedenen Punkten gleichzeitig an - was die byzantinischen
Streitkräfte zur Aufspaltung zwang -, um sich dann rasch wieder davonzumachen,
mit soviel Beute und so vielen Gefangenen wie nur möglich. 1111 überquerten
sie den Hellespont und brachen in Thrakien ein, wo, laut Anna
Komnena, ihres Vaters Truppen zu Beginn des darauffolgenden
Jahres gegen sie kämpften. 1113 belagerte ein weiteres türkisches,
diesmal auf rund 45.000 Mann geschätztes Heer Nikäa; doch der
Versuch scheiterte, es wurde bei Dorylaion von Alexios'
Truppen
überrascht und nachhaltig geschlagen. Ein Jahr später waren die
kaiserlichen Truppen mit Alexios
an
der Spitze dann wieder in Thrakien anzutreffen, um die Nordgrenzen gegen
eine neue Invasion durch die Kumanen zu verteidigen, und kaum hatten sie
diese erfolgreich zurückgetrieben, waren 1115 auch schon die Türken
einmal mehr auf dem Vormarsch, diesmal unter dem Banner von Malik-Schah,
dem seldschukischen Sultan von Ikonion.
Doch Alexios' Kraft
ließ langsam nach. Inzwischen gut 60 Jahre alt - laut Johannes Zonaras
68 - und bereits von der Krankheit befallen, an der er sterben sollte,
verschob er den Gegenstoß auf das folgende Jahr und zog erst im Herbst
1116 mit seinem Heer los, um den Sultan im eigenen anatolischen Kernland
anzugreifen. Sie rückten bis Philomelion vor und trafen dabei auf
wesentlich geringeren Widerstand als erwartet; der Vormarsch wurde jedoch
merklich beeinträchtigt durch die große Zahl heimatloser griechischer
Flüchtlinge, die in jeder Marschpause auftauchten, Familien, die vor
den türkischen Invasoren geflohen waren und nun aus den unterschiedlichsten
Verstecken hervorkamen, um sich in den Schutz der byzantinischen Truppen
zu begeben. Aus ungeklärten Gründen blies Alexios
an
dieser
Stelle zum Rückzug, und das byzantinische Heer befand sich bereits
auf dem Heimweg, als Malik-Schah
anzugreifen
beschloß. Dies erwies sich gemäß
Anna
Komnena als schwerwiegender Fehler. Des Sultans Heer sei, so
berichtet sie, von den byzantinischen Soldaten derart niedergemacht worden,
dass er gezwungen war, um Frieden zu bitten, seine jüngsten Eroberungen
aufzugeben und die Grenzen des Kaiserreichs anzuerkennen, wie sie kurz
vor der Schlacht bei Mantzikert unter der Herrschaft
Kaiser
Romanos Diogenes' bestanden.
Es habe sich, fährt sie fort, wahrlich um einen
historischen Sieg gehandelt. Aber ach, sie scheint hier einmal mehr ihrem
Wunschdenken nachgegeben zu haben. Die alten Grenzen während
Romanos' Herrschaft verliefen ostwärts bis Armenien, ein
Gebiet, das - von ganz anderen Überlegungen einmal abgesehen - der
Sultan gar nicht zurückgeben konnte; auf jeden Fall deuten die folgenden
Ereignisse stark darauf hin, dass es zu keiner derartigen Gebietsabtretung
gekommen ist. Möglich, dass Malik-Schah
seine Vorposten in West-Anatolien abzog, aber er blieb in Ikonion, und
es ist unwahrscheinlich, dass Alexios mit
irgendwelchen größeren territorialen Zugeständnissen in
Händen zurückkehrte. Angesichts des hoffnungslosen Durcheinanders
in Annas
Bericht und ihrer offensichtlichen
Voreingenommenheit sowie der geringen Anzahl anderer Quellen, werden wir
die Wahrheit über Philomelion nie erfahren. Ob entscheidend oder unbedeutend,
sicher ist, dass dieser Sieg Alexios'
letzter war. Er kehrte als kranker Mann nach Konstantinopel zurück
und fand sich dort inmitten erbitterter Familienzwistigkeiten wieder.
Das bedeutete für ihn allerdings keine neue Erfahrung,
denn die Familie war bereits seit seiner Thronbesteigung entzweit. Von
Anfang an hatte die Schuld daran hauptsächlich bei ihm gelegen. Wir
haben gesehen, welche Machtstellung seine Mutter Anna Dalassena
innehatte und wie er seine 15-jährige Ehefrau Irene
Dukas in den Hintergrund schob und sogar ihre Krönung zu
verhindern versuchte, um mit seiner Adoptiv-Mutter
Maria von Alania zu regieren. Maria
verschwand dann bald von der Bildfläche, und Irene kehrte an seine
Seite zurück, doch
Anna Dalassena wirkte für einige weitere
Jahre als treibende Kraft hinter dem Thron, mächtiger und einflußreicher
als ihr zweiter Sohn, der Sebastokrator Isaak, mit dem sie die Herrschaft
theoretisch teilte, wenn sich Alexios
auf einem seiner zahlreichen Feldzüge befand. In Konstantinopel sah
man ihre Macht je länger, desto weniger gern, bis es soweit kam, dass
Alexios
in
ihr eine ernsthafte Belastung zu sehen begann. Deshalb zog sie sich um
1090, angeblich freiwillig, in das Kloster Pantepoptes zurück, wo
sie einige Jahre später, nicht in völliger Ungnade, das Zeitliche
segnete.
Mit dem Rückzug von Anna Dalassena kommt
nun endlich Kaiserin
Irene zum Zug. Ihre Tochter Anna Komnena,
bei der die Tugend kindlicher Achtung schon fast lästerlich wirkt,
beschreibt sie wie folgt:
Ihrer natürlichen Neigung nach hätte sie das
öffentliche Leben gänzlich gemieden. Den größten Teil
ihrer Zeit widmete sie ihren häuslichen Pflichten und ihren eigenen
Studien - sie las die Bücher der Heiligen oder befaßte sich
mit guten Werken und karitativer Arbeit. Wann immer sie als Kaiserin im
Rahmen einer wichtigen Zeremonie öffentlich in Erscheinung zu treten
hatte, überkam sie Verlegenheit, und sie errötete. Da gibt es
die Geschichte der Philosophin Theano, die einmal versehentlich ihren Ellbogen
entblößte, und als jemand leichtfertig bemerkte: "Was für
ein schöner Ellbogen!", antwortete: "Aber nicht für die Öffentlichkeit
bestimmt." Genauso verhielt es sich mit meiner Mutter, der Kaiserin [...]
Weit davon entfernt, Gefallen daran zu finden, ihren Ellbogen oder ihre
Augen dem Blick des gewöhnlichen Volkes auszusetzen, gab sie sogar
nur unwillig zu, dass Fremde ihre Stimme zu hören bekamen [..] Aber
da, wie der Dichter sagt, gegen das Unvermeidliche selbst Götter nicht
kämpfen, mußte sie den Kaiser auf seinen häufigen Expeditionen
begleiten. Ihre angeborene Bescheidenheit hielt sie im Palast, doch ihre
Hingabe und ihre brennende Liebe zu ihm drängten sie, wenn auch unwillig,
ihr Zuhause zu verlassen [...] Die Krankheit, die seine Füße
befallen hatte, verlangte umsichtigste Pflege; er litt durch die Gicht
unter qualvollen Schmerzen und schätzte mehr als alles andere die
Hand meiner Mutter, denn sie kannte ihn durch und durch und wußte
seine Pein bis zu einem gewissen Grad durch sanfte Massage zu lindern."
Dies mag soweit ja alles zutreffen, aber es könnte
neben der Gicht noch einen weiteren Grund dafür gegeben haben,
weshalb
Alexios
so nachdrücklich
darauf beharrte, dass Irene ihn auf
seinen Feldzügen begleitete: Er traute ihr nicht über den Weg.
Dabei fürchtete er nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um die
seines ältesten Sohnes, des gesetzmäßigen Thronerben
Johannes
Komnenos, den sie, wie er wußte, ebenso wie ihre Tochter
Anna
erbittert
haßte und gegen den sie ständig Komplotte schmiedete, um ihn
in Ungnade zu stürzen oder aus dem Weg zu schaffen, damit Anna
ihren Mann, den Cäsar Nikephoros Bryennios,
an seiner Statt als Nachfolger auf den Thron hieven konnte. Mit der Zeit
wurden die zwei eigene Pläne schmiedenden Frauen zum Brennpunkt für
die Mißgunst verschiedener anderer Unzufriedener, unter ihnen besonders
des zweiten Kaiser-Sohnes Andronikos.
Irene
ließ keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, um
Johannes bei seinem Vater zu verunglimpfen und stellte ihn als
Trunkenbold und Wüstling und damit als Regentschaftskandidaten hoffnungslos
ungeeignet hin. Alexios jedoch wollte
davon absolut nichts hören. Er vertraute auf Johannes
und
hielt - zu Recht, wie sich später herausstellte - an diesem Vertrauen
in seine Fähigkeiten fest. Vor allem aber ging es ihm darum, als Gründer
einer Dynastie in die Geschichte einzugehen. Er sah den Verfall von
Byzanz im vorangegangenen Jahrhundert in erster Linie als Folge der dauernden
Instabilität, welcher der Thron unterworfen war, indem er entweder
an Unzuverlässige wie Zoes Ehemänner
ging oder als Spielball innerhalb der reichsten und mächtigsten Familien
im Reich von der einen zur anderen Hand sprang.
Alexios hatte ihn zwar schließlich auf eben diese Weise
erlangt, aber nun wollte er der letzte sein, dem dies gelungen war. Falls
seine eigenen beachtlichen Leistungen von Dauer sein sollten, gab es für
ihn nichts anderes, als dass die Krone in ordentlicher Folge an seinen
erstgeborenen Sohn und, so Gott wollte, danach an dessen Sohn überging.
In Konstantinopel ging es mit Alexios'
Gesundheit bergab, und im Sommer 1118 erkannten alle, dass er nicht mehr
allzu lange zu leben hatte. Mittlerweile litt er unter ständigen
Schmerzen und an ernsthaften Atembeschwerden; bald konnte er
nur noch aufrecht sitzen, damit er überhaupt Luft bekam. Dann begannen
Bauch und Füße anzuschwellen, und Mund, Zunge und Hals waren
derart wund, dass er nicht mehr schlucken konnte. Irene
ließ ihn in ihren eigenen Palast, den Manganenpalast,
bringen, sie verbrachte täglich Stunden an seinem Bett und ordnete
an, dass im ganzen Reich Gebete für seine Genesung gesprochen wurden.
Allein, auch sie konnte ihm keine Erleichterung verschaffen und mußte
wie alle anderen erkennen, dass es rasch mit ihm zu Ende ging. In den Nachmittagsstunden
des 15. August überbrachte ein Bote Johannes
Komnenos die Nachricht, sein Vater habe nur noch wenige Stunden
zu leben und wünsche ihn dringend zu sehen. Er eilte zu Irenes
Palast, wo ihm der sterbende Alexios den
kaiserlichen Ring übergab und ihn anwies, keinerlei Zeit zu verlieren
und sich als Basileus ausrufen zu lassen. Johannes
tat so und eilte dann hinüber zur Hagia Sophia, wo er vom Patriarchen
in einer Kurzzeremonie gekrönt wurde. Als er zum Palast zurückkehrte,
verwehrte ihm - vielleicht auf fremdes Geheiß - die Warägergarde
zunächst den Zutritt. Erst nachdem er den Ring vorgewiesen und sie
vom unmittelbar bevorstehenden Ende seines Vaters unterrichtet hatte, traten
sie zurück und ließen ihn ein.
Was aber unternahm Irene in
der Zwischenzeit? Gewiß noch immer entschlossen, Byrennios
die Nachfolge zu sichern, wäre sie der letzten Unterhaltung zwischen
ihrem Mann und ihrem Sohn nie und nimmer freiwillig ferngeblieben. Und
dennoch hatte man es, obwohl sie seiten von seinem Lager wich, irgendwie
zuwege gebracht, sie genau zu diesem, für ihre Pläne entscheidenden
Zeitpunkt davon wegzulocken. Als sie schließlich zurückkehrte,
war es bereits zu spät. Sie soll noch einen letzten Versuch unternommen
haben, Alexios zur Anerkennung der
Rechte ihres Schwiegersohnes zu bewegen, doch er lächelte nur und
hob - zum Sprechen zu schwach - die Hände wie zum Dank. Er starb noch
am selben Abend und wurde am folgenden Tag im Rahmen einer bescheidenen
Feier im Philanthropos-Kloster begraben, das Irene
15
Jahre zuvor gegründet hatte.
Er hätte einen feierlicheren Abschied verdient,
denn das Volk verdankte seiner Herrschaft mehr, als es wußte. Zum
ersten hatte er sein Hauptziel erreicht, nämlich dem politischen
und moralischen Niedergang, der 1025 mit dem Tod
Basileios' II. eingesetzt hatte, Einhalt zu gebieten und dem
Reich eine neue Stabilität zu verleihen. Nach 56 Jahren mehr schlechter
als rechter Regentschaft 13 verschiedener Personen auf dem Thron hatte
er 37 Jahre lang regiert; nach ihm sollte sein Sohn Johannes
bis zu seinem Unfalltod 25 Jahre und sein Enkel wiederum 37 Jahre auf dem
Thron sitzen. Hinzu kamen die militärischen Leistungen. Kein anderer
Kaiser hatte sein Volk kämpferischer und entschiedener und gegen eine
größere Anzahl von Feinden verteidigt und kein anderer sich
konsequenter um den Aufbau einer kaiserlichen Land- und Seestreitmacht
bemüht. Und zum dritten fiel in seine Regierungszeit die herausragend
organisierte Weiterleitung der Kreuzzugheere, in deren Verlauf an die 100.000
Männer, Frauen und Kinder aller Stände und sozialen Schichten
durch Reichsgebiet geschleust, ernährt und, soweit möglich, vom
einen Ende des Reiches bis zum anderen beschützt worden waren. Wären
diese Kreuzzugheere ein Vierteljahrhundert früher durch die Lande
marschiert, hätte sich dies für sie selbst wie für Byzanz
verheerend auswirken können.
So kann man sagen, dass Alexios
Komnenos auf drei verschiedenen Ebenen und mit drei unterschiedlichen
Begabungen, nämlich als Staatsmann, Feldherr und Diplomat, das Reich
vor dem Verfall bewahrte. Natürlich hatte er auch Mißerfolge
zu verbuchen. So gelang es ihm nicht, die Wirtschaft wiederaufzurichten,
den Riß zwischen Rom und Konstantinopel zu kitten und Süd-Italien
wiederzugewinnen. Doch von diesen war nur der erste Punkt wirklich von
Belang, die beiden anderen dagegen kaum mehr als Träume, die weder
er noch sonst jemand auf dem kaiserlichen Thron jemals verwirklichen konnte.
Auch hatte er klare Schwächen, darunter sein schamloser Nepotismus,
und er stand weit mehr unter dem Einfluß vor allem von Frauen, als
er dies in seiner Stellung hätte zulassen dürfen; Maria
von Alania, Anna Dalassena und Irene
besaßen beträchtliche Macht über ihn. Selbst in der außerordentlich
wichtigen Frage der Nachfolge traute er sich nicht, seinen Willen Irene
gegenüber
offen zu äußern, sondern bediente sich einer List, statt eines
klaren kaiserlichen Befehls, um sein Ziel durchzusetzen.
Ob er bedauerte, dass er - außer bei seinen Soldaten,
die ihn verehrten - sich nie allgemeiner Beliebtheit erfreute? Wohl kaum.
Er hat nie darum geworben und ganz bestimmt keins seiner Prinzipien aufgegeben,
um den Beifall der Massen zu gewinnen. Nachdem er sich die Herrschaft angeeignet
hatte, regierte er gewissenhaft, tatkräftig und nach bestem Vermögen.
Seinem Sohn hinterließ er ein Reich, das ungleich stärker dastand
und besser organisiert war als die ganzen 100 Jahre zuvor. Er starb zufrieden
- das sei ihm gegönnt.