Norwich John Julius: Band II Seite 455-457, Band III Seite 15-78
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"Byzanz. Der Aufstieg des oströmischen Reiches"

Als Entgelt boten sie ihnen die formelle Abtretung jener Gebiete an, die sie ohnehin bereits besaßen, was einer grenzenlosen Stärkung der türkischen Machtstellung in Kleinasien gleichkam. Roussel gelang aber trotzdem die Flucht. Erst ein Heer, das unter der Führung von Alexios Komnenos, einem der fähigsten jüngeren Feldherren des Reichs, von Konstantinopel ausgesandt wurde, schaffte es, ihn schließlich aufzustöbern und in Ketten in die Hauptstadt zurückzubringen. Alexios Komnenos konnte jedoch nicht überall gleichzeitig sein. Aufgrund der Vernachlässigung der Armee in den 50 Jahren zuvor gab es nur wenige Feldherren mit Erfahrung. Als Byzanz deshalb ein, zwei Jahre später einer erneuten und viel gefährlicheren Revolte gegenüberstand, wurde Roussel aus der Gefangenschaft entlassen und kämpfte Seite an Seite mit Alexios gegen zwei neue Thronanwärter. Der erste hieß Nikephoros Bryennios. Schon eine Woche nach seiner Ausrufung zum Basileus stand er mit seinem Heer vor den gewaltigen Mauern von Konstantinopel. Seinem Aufstand hätte durchaus Erfolg beschieden sein können - hätte nicht beinahe gleichzeitig auch im Osten eine ähnliche Revolte stattgefunden. Deren Anführer hieß ebenfalls Nikephoros, aber mit Nachnamen Botaneiates, und amtierte als Strategos im Thema Anatolikon. Der Feldherr während der Herrschaft Romanos IV. auf seine ausgedehnten Ländereien in Anatolien zurückgekehrt, wo er kurz nach Michaels Thronbesteigung sein gegenwärtiges Amt übernahm. Nun erhob jedoch auch er, vermutlich aus denselben höchst ehrenwerten Motiven wie Bryennios, die Waffen gegen seinen Kaiser. Im März des Jahres 1078 brachen überall in Konstantinopel Unruhen aus. Der erbärmliche Michael, der gerade noch das Glück hatte, mit dem Leben davonzukommen, dankte umgehend ab und zog sich ins Studioskloster zurück. Am 24. März zog Nikephoros Botaneiates im Triumph in Konstantinopel ein. Dort ließ er als erstes seinen Rivalen Bryennios festnehmen und blenden. Dies war kein besonders verheißungsvoller Beginn für die neue Herrschaft. Botaneiates war ein fähiger Truppenführer gewesen, verstand jedoch nichts von Politik oder Staatskunst. Auch stand er bereits in hohem Alter, war er doch weit über siebzig. Obwohl von Erfolg gekrönt, hatte ihn die Machtergreifung viel Kraft gekostet. Vollkommen unfähig, mit der von seinem Vorgänger geerbten Krise fertig zu werden, konnte er nicht viel mehr tun, als dem weiteren Zerfall des Reichs hilflos zuzusehen. Eine Revolte folgte der nächsten, und der Staat glitt immer tiefer in die Anarchie. Die alte Faktion des Beamtenadels war mit dem Mord an Nikephoritzes zusammengebrochen und mit ihr die Macht des Senats. Der byzantinischen Bevölkerung blieb bald nichts mehr übrig, als zu beten, dass sich einer der Militärköpfe, die jetzt offen gegeneinander um die Macht rangen, durchsetzte und danach als eine Führungspersönlichkeit erwies, die dem Chaos ein Ende setzen konnte.
Drei Jahre später, gerade noch rechtzeitig, wurden ihre Gebete erhört, und zwar in größerem Umfang, als irgend jemand zu hoffen gewagt hätte. Der bemitleidenswerte alte Botaneiates dankte ab und machte einem aristokratischen jungen Feldherrn Platz, der nach der Thronbesteigung zu Ostern 1081 37 Jahre herrschte und dem Reich die Stabilität gab, die es so dringend benötigte, indem er mit ruhiger, fester Hand regierte. Es handelt sich um Alexios Komnenos, den Neffen Kaiser Isaaks I. und Vater der berühmten Anna Komnena, Verfasserin einer der erfreulichsten mittelalterlichen Biographien. Aber auch er konnte den Schaden nicht wiedergutmachen, den die Schlacht von Mantzikert angerichtet hatte: die lag leider über dem noch zu heilenden Maß. Alexios brachte es jedoch fertig, Byzanz' Ruf unter den Völkern wiederherzustellen, and bereitete das Reich damit auf die Rolle vor, die es in der nachfolgenden Tragödie spielte und die ihren Anfang noch vor Ablauf jenes turbulenten Jahrhunderts nahm: die Kreuzzüge.
Am Ostersonntag des Jahres 1081, der auf den 4. April fiel, bestieg in der Hagia Sophia zu Konstantinopel der 24-jährige Feldherr Alexios Komnenos offiziell den Thron eines Reichs, das in jämmerlichem Zustand daniederlag.
Vor vollendete Tatsachen gestellt, blieb Alexios nichts anderes übrig, als sich dem neuen Kaiser Nikephoros zu unterwerfen; dieser verlieh ihm den Rang eines Nobilissimus und übertrug ihm das Amt des Parakoimomenos, was soviel heißt wie den Oberbefehl, und schickte ihn in dieser Funktion sogleich gegen Bryennios ins Feld. Ein paar Monate später brachte Alexios den zweiten aufständischen Feldherrn zur Strecke und als Gefangenen nach Konstantinopel. Er wurde jedoch dort nicht wie erhofft dankbar empfangen; kaum hatte er - widerwillig eingelassen - die Stadt betreten, beorderte man ihn stehenden Fußes zurück nach Anatolien, wo erneut ein Aufstand auszubrechen drohte. Bryennios verschwand in einem Verlies des Palastes. Dort wurde er bald darauf geblendet.
Zwar fügte sich Alexios den Anweisungen des Kaisers, verhehlte aber seinen Ärger über diesen kühlen Empfang keineswegs, da er den Grund dafür nur zu gut verstand. Nikephoros Botaneiates fürchtete sich nämlich nicht weniger als er. Der alte, weit über 70-jährige Mann war bereits nicht mehr Herr der Lage. In den folgenden beiden Jahren schlidderte das Reich immer tiefer ins Chaos. Ein Aufstand löste den anderen ab, eine Revolte die nächste aus. Die Türken rückten unaufhaltsam vor, so dass Alp Arslans Sohn Malik-Schah das Seldschuken-Sultanat Rum 1080 von Kilikien bis zum Hellespont über ganz Kleinasien ausgedehnt hatte. Dieweil wurde Nikephoros Botaneiates von Tag zu Tag unbeliebter. Frühere Usurpatoren wie Nikephoros Phokas, Johannes Tzimiskes oder Romanos Diogenes hatten Wert darauf gelegt, über jene Kinder ihrer jeweiligen Vorgänger ihre Hand zu halten, die den Titel eines Mit-Kaisers trugen, um sich auf diese Weise wenigstens äußerlich einen Anschein von Legalität zu geben. Botaneiates dagegen hatte gar nicht erst Anstalten gemacht, Michaels VII. 4-jährigen Sohn Konstantin neben sich auf den Thron zu setzen, und sich in den Augen aller rechtlich gesinnten Untertanen moralisch disqualifiziert. Erschwerend kam hinzu, dass er nach dem Tod seiner zweiten Frau kurz nach der Thronbesteigung die Ehe mit der hinreißenden Kaiserin Maria von Alania einging - nach Anna Komnena soll sie sogar Phidias' Standbilder an Schönheit übertroffen haben -, obwohl deren Ehemann Michael Dukas noch lebte. Zwar war Maria ihrer ehelichen Verpflichtungen seit dem Eintritt ihres Ehemannes ins Studioskloster enthoben, doch stand natürlich der Klerus solchen Verbindungen mißbilligend gegenüber; zudem galten dritte Ehen seit dem heiligen Basilius als leichte Form der Unzucht und hatten für ein Paar als Strafe den Ausschluß von den Sakramenten für volle vier Jahre zu Folge. Bei den vergeblichen Versuchen, sein gänzlich unnötig eingebüßtes Ansehen zurückzukaufen, hatte Nikephoros Botaneiates praktisch den gesamten Staatsschatz verschleudert, und die schon unter Michael VII. in Bewegung geratene Inflationsspirale schraubte sich in schwindelnde Höhe. Ohne eine starke Hand am Ruder gab es für Byzanz keine Hoffnung. Im selben Maß wie Nikephoros' Popularität sank, nahm die von Alexios Komnenos zu, so dass man schließlich in Konstantinopel wie anderswo in ihm den einzig möglichen Retter des Reichs sah. Er hatte sich bereits als 14-jähriger unter dem Kommando seines älteren Bruders Manuel im Feldzug gegen die türkischen Seldschuken im Jahre 1070 hervorgetan und seither weder gegen türkische Eindringlinge noch gegen byzantinische Rebellen jemals eine Schlacht verloren. Er hatte sich als Feldherr glänzend bewährt, und weil er seine Soldaten von Sieg zu Sieg geführt hatte, waren sie ihm ergeben und vertrauten ihm. Doch hatte er noch etwas zu bieten, und das stand bei der byzantinischen Bevölkerung mindestens ebenso hoch im Kurs. Er war von kaiserlichem Geblüt. Sein Onkel Isaak Komnenos hatte rund 20 Jahre zuvor kurze Zeit den Thron innegehabt; und seine Mutter, die außerordentlich zielstrebige Anna Dalassena, hatte all ihre fünf Söhne, von denen Alexios der dritte war, im Glauben erzogen, dass sie eines Tages in den Besitz der Kaiserkrone gelangen könnten. Außerdem sicherte ihm seine Ehefrau Irene Dukas, Enkelin des Cäsars Johannes Dukas und Tochter jenes Andronikos Dukas, der Romanos Diogenesbei Mantzikert so schändlich im Stich gelassen hatte, die Unterstützung nicht nur der reichsten und einflußreichsten Familie im Reich, sondern auch des Klerus (dem bis zu seinem Tod 1075 Johannes Xiphilinos, ein Günstling der DUKAS, als Patriarch vorstand) und des größten Teils der Aristokratie dazu. Aus eben diesen Gründen hatte Alexios jedoch Feinde am Hof. Er benötigte vor allem dort Fürsprache und fand sie schließlich in der Person der Kaiserin. Maria von Alania liebte ihren neuen Ehemann, der so alt war, dass er ihr Großvater hätte sein können, natürlich nicht. Als Ex-Frau Michaels VII. war sie vor allem gegenüber den DUKAS loyal, zu denen Alexios durch Irene nun auch gehörte. Vielleicht wußte sie, dass - wie der zeitgenössische Chronist Johannes Zonaras berichtet - zwei Busenfreunde ihres Mannes, ein finsteres Paar bajuwarischer Herkunft namens Borilos und Germanos, am Sturz des jungen Feldherrn arbeiteten, und fühlte sich verpflichtet, ihn davor zu beschützen. Vielleicht war ihr aber auch zu Ohren gekommen, dass ihr Mann Nikephoros mit dem Gedanken spielte, einen fernen Verwandten zum Nachfolger zu ernennen, und sie wollte die Ansprüche ihres Sohnes Konstantin sichern. Und möglicherweise hatte sie sogar selbst ein Auge auf Alexios geworfen - und die folgenden Ereignisse bestärken diese Hypothese - und sah sich schon in der Rolle der Theophano. Von all diesen Annahmen kann jede zutreffen oder auch keine; das läßt sich heute nicht mehr klären. Wir wissen nur, dass Maria von Alania im Jahre 1080 Alexios Komnenos adoptierte. Nikephoros Botaneiates scheint dagegen nicht protestiert zu haben. Dem politisch heillos unfähigen Kaiser, dem seine Frau ohnehin völlig überlegen war, machte das Alter wohl allmählich ziemlich zu schaffen. Statt etwas einzuwenden, vertraute er gegen Ende des Jahres ganz überraschend seinem Adoptivsohn den Oberbefehl in einem neuen Feldzug gegen die Türken an, die vor kurzem Kyzikos eingenommen hatten. Auf eine solche Gelegenheit hatte Alexios gerade gewartet. Er war schon seit geraumer Zeit der Ansicht, dass der zittrige alte Kaiser beseitigt werden müsse, bevor es zu spät sei, und zwar am besten auf dem Weg direkter militärischer Aktion, denn Mord war ihm zuwider.
Das einzige Problem, nämlich ohne Argwohn zu erregen, die nötigen Truppen um sich zu scharen, hatte sich nun mit einem Schlag erledigt. Sofort gab er Befehl, das Heer beim kleinen Dorf Zurulos zu sammeln, das in einiger Entfernung von Konstantinopel an der Straße nach Adrianopel lag. Borilos und Germanos hätte nichts ungelegener kommen können als Alexios' Adoption durch Kaiserin Maria und seine neue Aufgabe. Niemals zuvor hatte ihr alter Gegner eine so starke Position innegehabt. Als Angehöriger der Kaiserfamilie konnte er im Palast aus und ein gehen, hatte tagtäglich Kontakt mit dem Kaiser und - was noch viel gefährlicher war - der Kaiserin, deren Spione allgegenwärtig waren und die ihn über alles, was vorging, auf dem laufenden halten konnte. Als sie von der Mobilisierung des Heeres erfuhren, sahen sie ihre letzte Chance in sofortigem Handeln. Doch Alexios, der vorgewarnt war, war schneller als sie. Am frühen Morgen des Sonntags Quinquagesima, am 14. Februar 1081, machte er sich mit seinem Bruder Isaak in aller Heimlichkeit auf den Weg zum Blachernenpalast im Norden, wo die Landmauer sich zum Goldenen Horn hinabzicht. Sie erzwangen sich Zugang zu den kaiserlichen Stallungen, holten so viele Pferde heraus, wie sie benötigten. Den übrigen schnitten sie kurzerhand die Sehnen durch, um zu verhindern, dass man auf ihnen die Verfolgungsjagd aufnehmen konnte. Dann sprengten sie in scharfem Galopp davon. Ihr erstes Ziel war das sogenannte Kosmidion, das Kloster der Heiligen Kosmas und Damian am nördlichen Ende des Goldenen Horns, wo sie Alexios' Schwiegermutter Maria Traiana Dukas alarmierten. Sie hatten das Glück, dort auf den reichen und mächtigen Georgios Palaiologos zu treffen, der mit Irene Dukas' Schwester Anna verheiratet war, und versicherten sich sogleich dessen Unterstützung. Dann eilten sie, so schnell sie konnten, nach Zurulos, wo die Streitmacht schon fast vollständig versammelt war, und schickten eine Nachricht an den Cäsar Johannes Dukas, ihnen zu Hilfe zu eilen. Johannes lebte damals ein paar Meilen entfernt zurückgezogen auf seinem Gut bei Morobundos. Als der Bote eintraf, hielt er gerade Mittagsschlaf, wurde jedoch von seinem kleinen Enkel mit der Nachricht über die Revolte aufgestört. Zuerst wollte er es nicht glauben und gab dem Knaben eine Ohrfeige, dann wurde ihm die Botschaft überreicht; laut Anna Komnena handelte es sich um die kaum verhüllte Einladung, die diesem Kapitel vorangestellt ist. Johannes Dukas reichte sie aus. Er ließ sich sein Pferd bringen und machte sich unverzüglich auf den Weg nach Zurulos. Schon bald traf er auf einen kaiserlichen Steuereintreiber, der mit einer beträchtlichen Menge Goldes für den Reichsschatz nach Konstantinopel unterwegs war und den er überreden konnte, ihn zu begleiten. Später kam ein Trupp Türken des Wegs, die sich gegen das Versprechen einer saftigen Belohnung ebenfalls der Rebellion anzuschließen versprachen. Klar, dass das wartende Heer die ganze Runde beim Eintreffen freudig willkommen hieß. Zwei oder drei Tage später - in denen mehrere weitere und namhafte Sympathisanten zu den Rebellen stießen - gaben Alexios und Isaak den Marschbefehl. Bis zu diesem Augenblick scheint überraschenderweise niemand auf die Idee gekommen zu sein, einen neuen Kaiser zu proklamieren. Erst als man bei Einbruch der Nacht beim Weiler Schiza haltmachte, tauchte diese Frage unter den Soldaten auf, und zwar selbst jetzt noch in Form einer Alternative: ob Alexios oder Isaak als Basileus vorzuziehen sei. Es stand durchaus nicht fest, wem sie den Vorzug geben würden. Isaak war älter, und seine militärischen Erfolge im Osten hatten ihm bereits das Herzogtum Antiochia eingetragen. Er hatte unter den Soldaten viele Anhänger, schien dagegen selbst bereitwillig seinem Bruder den Vortritt zu lassen. Die Machtposition der DUKAS gab schließlich den Ausschlag. Alexios erhielt die kaiserlichen Titel begeistert an Ort und Stelle zugesprochen. Man zog ihm in aller Form jene Purpurstiefel mit dem Doppeladler von Byzanz in Goldstickerei über, die dem Kaiser vorbehalten waren und die er vermutlich in kluger Voraussicht vor seinem Aufbruch aus dem Palast entwendet hatte.
Der neue Bewerber und sein Bruder waren nicht die einzigen der Familie, die sich gegen Nikephoros Botaneiates erhoben. Am Tag der Zeremonie zu Schiza hatte Schwager Nikephoros Melissenos, Ehemann ihrer Schwester Eudokia, seine eigene Rebellenarmee bei Chrysopolis, direkt gegenüber Konstantinopel auf der asiatischen Seite des Bosporus, zusammengezogen. Der erst gerade aus dem fernen Anatolien eingetroffene Nikephoros Melissenos hatte bis zu diesem Zeitpunkt noch nichts von den Aktivitäten der Brüder vernommen. Als dies geschah, sandte er sogleich einen Brief an Alexios und unterbreitete ihm darin den Vorschlag, das Reich zwischen ihm und sich aufzuteilen, wobei der eine den Osten, der andere den Westen regieren sollte. Zwar hatte Alexios nicht die Absicht, sein Reich mit irgendwem zu teilen, da er jedoch fürchtete, eine kategorische Weigerung könnte zu einem Bündnis seines Schwagers mit Botaneiates gegen ihn führen, gab er mit Vorbedacht eine unverbindliche Antwort, die ihn zu nichts verpflichtete. Unterdessen machte er sich in aller Eile auf den Weg nach Konstantinopel. Noch wußte er nicht sicher, was er als nächstes tun sollte. Eine Belagerung schied von vornherein aus. Da er dreieinhalb Jahre zuvor Konstantinopel selbst gegen die Streitmacht des Bryennios mitverteidigt hatte, wußte er, dass dieses gewaltige dreifache Bollwerk einem weit größeren Heer zu trotzen vermochte, als er jemals dagegen würde führen können. Nach ein- oder zweitägiger gemeinsamer Erkundung mit Johannes Dukas gewann er jedoch den Eindruck, dass einige Regimenter, welche die einzelnen Abschnitte der Mauer zu verteidigen hatten (zum Beispiel die warägische Garde der sogenannten Unsterblichen), zwar für den regierenden Kaiser bis zum Tod kämpfen würden, andere dagegen durchaus empfänglich wären für Verlockungen der einen oder anderen Art, vor allem ein Verband aus germanischen Stammesangehörigen, welcher das Adrianopel-Tor bewachte. Es gelang Georgios Palaiologos, Kontakt zu deren Anführer zu bekommen, und dann war die Sache rasch abgemacht. Eines Abends stellten er und ein paar seiner Leute kurz nach Einbruch der Dunkelheit Leitern an einen der von den Germanen gehaltenen Türme und überkletterten das Bollwerk. Dann zog Alexios im Schutz der Nacht seine gesamte Streitmacht bei diesem Turm zusammen. Bei Tagesanbruch stand alles bereit. Palaiologos gab von der Mauer herab das Signal, und seine Leute öffneten von innen sofort die Tore, so dass das Heer in die Stadt strömen konnte. Es traf auf keinen nennenswerten Widerstand. Die Bevölkerung hatte für ihren alten Kaiser nicht viel übrig. Ein Großteil muß damit gerechnet haben, dass er früher oder später abgesetzt würde, und war vermutlich ganz damit einverstanden, ihn durch einen energischen, populären jungen Feldherrn ersetzt zu sehen. Man hatte freilich nicht erwartet, wie eine besiegte feindliche Macht behandelt zu werden. Da jedoch das fremde Element in Alexios' Heer stark vertreten war, sprang der Funke schnell über. Kaum hatten die Soldaten die Stadt betreten, stoben sie in alle Richtungen auseinander und gingen auf Raub, Plünderung und Vergewaltigung aus. Bald schloß sich ihnen der Pöbel der Stadt an, so dass überall ein solches Durcheinander entstand, dass der Erfolg der ganzen Aktion in Frage gestellt war und die dem legitimen Kaiser treu Ergebenen sich fragten, ob man die Aufständischen nicht vielleicht doch noch besiegen könnte. Zu ihnen gehörten Nikephoros, Georgios Palaiologos' Vater, den der Abfall seines Sohnes entsetzt hatte, aber auch Alexios' alter Feind Borilos, der offenbar ein militärisches Kommando innehatte; er ließ die warägische Garde und andere verläßliche Einheiten zwischen dem Konstantinsforum und dem Milion dicht gestaffelt aufmarschieren. Botaneiates dagegen wußte, dass er geschlagen war. Den Versuch, sich Melissenos und seine Leute dienstbar zu machen, hatte die Reichsflotte vereitelt, die Georgios Palaiologos für sich gewonnen hatte und die jetzt die Meerengen blockierte. Außerdem war auch seine Widerstandskraft gebrochen. Der betagte und hochangeschene Patriarch Kosmas beschwor ihn abzudanken, damit nicht noch mehr Christenblut fließe. Es bedurfte hierbei keiner großen Überzeugungskraft. Nikephoros Palaiologos unterbreitete daher in seinem Namen den KOMNENEN als erstes Angebot, Nikephoros Botaneiates werde Alexios an Sohnes Statt annehmen, ihn zum Mit-Kaiser machen, ihm alle Gewalt übertragen und selbst nur den kaiserlichen Titel und die Privilegien behalten. Als der Cäsar Johannes Dukas dies jedoch verächtlich zurückwies, bestand er nicht weiter darauf. In einem lose über seine kaiserlichen Gewänder geworfenen Mantel schritt Botaneiates über den Platz zur Hagia Sophia, um in aller Form abzudanken. Später wurde er in das Kloster der Muttergottes Peribleptos gebracht, jenes ausgedehnte, unzugängliche Bauwerk auf dem siebten Hügel, das sein Vorgänger Romanos Argyros ein halbes Jahrhundert zuvor gestiftet hatte. Dort widmete er sich, wenn auch zuerst nur sehr widerstrebend, dem Klosterleben. Anna Komnena überliefert die Bemerkung eines Bekannten, der ihn einige Zeit später dort aufgesucht und sich nach seinem Befinden erkundigt habe. Die Enthaltung des Genusses von Fleisch, habe der alte Mann erwidert, sei das einzige, was ihm schwerfalle; alles andere mache ihm wenig aus."
Der junge Mann, der nun als 76. Kaiser von Byzanz den Thron innehatte, war klein und vierschrötig; er hatte breite Schultern und einen mächtigen Brustkorb. Die Augen unter den geschwungenen, buschigen Augenbrauen blickten wohlwollend, jedoch seltsam durchdringend. Er trug einen dichten Vollbart. Sogar seine Tochter Anna räumt ein, dass er im Stehen die Leute nicht sonderlich beeindruckte. Auf dem Thron dagegen soll sich dieser Eindruck grundlegend geändert haben: Dann habe er, einem Wirbelsturm ähnlich, Schönheit ausgestrahlt, Anmut, Würde und unnahbare Majestät. Zwar muß man immer dann, wenn Anna über ihren Vater schreibt, ihr Zeugnis besonders kritisch betrachten. Gleichzeitig waren indes jene, die mit Alexios in Berührung kamen, zweifellos davon überzeugt, dass er sich als der tüchtigste Herrscher seit Basileios II. erweisen und dass das Reich erstmals seit einem halben Jahrhundert wieder von einer starken und fähigen Hand regiert werde. Nach seinem Eintreffen im Großen Palast machte Kaiser Alexios I. Komnenos sich unverzüglich an die Arbeit. Die vordringlichste Aufgabe bestand darin, die Disziplin unter den Soldaten wiederherzustellen. Nicht allein, weil man ihr gegenwärtiges Betragen zu Recht ihm zur Last legen würde, sondern auch weil, falls sie nicht unter Kontrolle zu bringen waren, ständig die Möglichkeit einer offenen Meuterei bestand. Es war keine leichte Aufgabe, denn sie hatten zu diesem Zeitpunkt schon jeden Bezirk und alle Durchgangsstraßen der Stadt heimgesucht. Binnen 24 Stunden waren sie jedoch zusammengetrieben und zur Ausnüchterung in ihre Kasernen gebracht worden. In Konstantinopel herrschte wieder Ruhe. Doch als Byzantiner plagten Alexios selbst da noch Gewissensbisse; schließlich war er es gewesen, der diese Barbaren in die Stadt eingeschleust hatte. Mußte er sich da nicht schuldig, ja sogar schuldiger als sie fühlen? Kaiser-Mutter Anna Dalassena riet ihm, seine Gewissensnöte dem Patriarchen anzuvertrauen, und dieser berief ein Kirchentribunal ein, das die Angelegenheit klären sollte. Es kam zum Schluß, es liege tatsächlich eine Verfehlung vor; dem Kaiser, seiner Familie und allen, die am dem Staatsstreich teilgenommen hatten, auch den Frauen, wurde eine angemessene Zeit des Fastens und diverse andere Bußen auferlegt. Ihm selbst genügte laut Annas Zeugnis auch das noch nicht; 40 Tage und Nächte darüber hinaus trug er unter dem kaiserlichen Purpur einen Mantel aus grobem Sackleinen und schlief auf dem Erdboden, wobei ihm ein Stein als Kopfkissen diente. Doch schon standen dringende Staatsaufgaben an, nicht zuletzt der sich bereits abzeichnende Bruch zwischen seiner eigenen Gefolgschaft und den DUKAS. Grund für die Entzweiung war das Verhältnis zwischen ihm und Kaiserin Maria von Alania. Als Ehefrau des abgesetzten Basileus hätte sie eigentlich nach Einzug des neuen Kaisers den Palast verlassen müssen; aber das fiel ihr nicht im Traum ein. Allerdings war sie auch dessen Adoptiv-Mutter; aber selbst dieser Umstand rechtfertigte noch lange nicht, dass Alexios seine 15-jährige Ehefrau Irene Dukas in einem anderen, kleineren und tiefer gelegenen Palast gemeinsam mit ihrer Mutter, ihren Schwestern und ihrem Großvater väterlicherseits unterbrachte, mit der hinreißenden Maria dagegen im Bukoleon residierte.
Die Reaktion der DUKAS auf diese Maßnahme läßt sich leicht ausmalen. Sie hatten die KOMNENEN schließlich nicht aus besonderer Zuneigung unterstützt, sondern nur weil Alexios mit einer DUKAS verheiratet war. Darauf hatte Irenes Schwager Georgios Palaiologos schon aufmerksam gemacht, als sich ein Trupp von KOMNENEN-Anhängern weigerte, in ihren Hochrufen Irenes Namen mit dem ihres Mannes in einem Atemzug zu nennen. - Nicht um ihretwillen habe er einen so großen Sieg erfechten, sondern für eben jene Irene, von der sie sprächen. Und als er die Flotte auf seine Seite gebracht, hatte er dann auch darauf bestanden, dass die Matrosen ein Hoch auf Irene und Alexios ausriefen - in dieser Reihenfolge. Alexios brüskierte jedoch nicht nur Georgios und die Familie der DUKAS. In der Stadt verbreiteten sich in Windeseile Gerüchte: der Kaiser wolle sich von seiner Kindfrau scheiden lassen und dritten Ehemann der Kaiserin werden; aber auch, dass als treibende Kraft hinter dieser undurchsichtigen Entwicklung seine Mutter stehe, die gefürchtete Anna Dalassena, welche die DUKAS schon immer gehaßt habe und nun, da ihr Sohn des Thrones sicher sei, diese Familie ein für allemal um Macht und Einfluß zu bringen gewillt sei. Mochte das erste dieser Gerüchte der Wahrheit nahekommen, so traf das zweite mit Sicherheit zu. Schon wenige Tage später, am Ostersonntag, wurde noch mehr Öl ins Feuer gegossen, denn Alexios wollte seine Frau nicht zu den Krönungsfeierlichkeiten zulassen. Die DUKAS, ja die ganze achtbare Bevölkerung von Byzanz, sahen darin eine unverdiente Beleidigung. Nach alter Tradition war eine Kaiserin viel mehr als nur Ehefrau eines Kaisers. Wenn sie gekrönt war, bekleidete sie einen anerkannten Rang, der auch vor den Kulissen erhebliche Macht mit sich brachte. Sie gebot über einen eigenen Hofstaat und uneingeschränkt über eigene, unermeßliche Einkünfte. Außerdem übernahm sie bei vielen bedeutenden Reichsfeierlichkeiten eine unerläßliche Rolle.
Manches weist darauf hin, dass Alexios alles andere als zufrieden war, seine Frau von der Krönung auszuschließen, an der sie beide gemeinsam hätten teilnehmen sollen. Er mag ja für die DUKAS nicht besonders viel empfunden haben, aber er hatte ihnen fraglos viel zu verdanken. Und war es denn klug, sich mit der mächtigsten Familie des gesamten byzantinischen Adels zu verfeinden, noch bevor er die Regierung angetreten hatte? Im Augenblick gab er Anna Dalassena nach. Es dauerte jedoch nicht lange, bis er erkannte, dass sie, und folglich auch er, diesmal erheblich zu weit gegangen war. Die ganze Angelegenheit trieb schließlich nicht ein Mitglied der Hauptparteien auf die Spitze, sondern der Patriarch. Zwar hatte der alte Kosmas die Krönung widerstrebend vorgenommen, doch konnte er die Stimme seines Gewissens nicht zum Schweigen bringen. Als Anna Dalassena ihm ein paar Tage später durch einige Abgesandte den deutlichen Wink gab, dass es besser wäre, im eigenen Interesse zugunsten des Kandidaten ihrer Wahl, des Eunuchen Eustratios Garidas, zurückzutreten, geriet er außer sich vor Wut.
"Bei Kosmas", soll er geschrien haben - beim eigenen Namen zu schwören galt in Byzanz als besonders nachhaltig -, "bei Kosmas, bevor Irene die Krone nicht aus meinen Händen erhalten hat, werde ich niemals freiwillig von diesem Patriarchenthron herabsteigen." Ob er sich zu diesem Eid öffentlich bekannt hat, ist nicht überliefert. Fest steht jedoch, dass am 7. Tag nach der öffentlichen Proklamation der Thronbesteigung ihres Ehemannes die junge Kaiserin Irene ordnungsgemäß in der Hagia Sophia gekrönt wurde und dass am 8. Mai desselben Jahres Patriarch Kosmas sich ins Kallias-Kloster zurückzog. Wie es vorherzusehen war, folgte ihm Eustratios Garidas auf dem Patriarchenthron.
Angesichts dieser zweiten Krönung binnen Wochenfrist wußte die Familie DUKAS, dass sie sich behauptet hatte; Alexios hatte die erste Lektion gelernt. Sollte zwischen ihm und seiner Adoptiv-Mutter, Kaiserin Maria von Alania, eine gefühlsmäßige Bindung bestanden haben, so war diese jetzt zerrissen. Maria erklärte sich bereit, das Bukoleon zu verlassen, unter der Bedingung jedoch, dass ihre persönliche Sicherheit sowie jene Konstantins, ihres Sohnes aus der Ehe mit Michael VII., durch ein Dokument in scharlachroter Schrift und mit goldenem Siegel beglaubigt, garantiert werde. Zudem sollte Konstantin Alexios' Mit-Kaiser werden. Beide Forderungen wurden umgehend gewährt. Darauf zog Maria sich mit ihrem Sohn in die prunkvolle Villa direkt am Manganenkloster zurück, die Konstantin IX. knapp 40 Jahre zuvor für seine geliebte Sklerina hatte einrichten lassen. Ihnen schloß sich Isaak Komnenos an. Da der Cäsarentitel bereits Nikephoros Melissenos versprochen war, erhob Alexios ihn in den neugeschaffenen Rang eines Sebastokrators, über dem nur noch die beiden Mit-Kaiser standen. Alexios brachte Kaiserin Irene nun umgehend zurück ins Bukoleon. Ihr Eheleben verlief weit harmonischer als erwartet; aus der Verbindung gingen insgesamt neun Kinder hervor.
Doch wie hell die Sonne über dem Privatleben des Kaisers auch scheinen mochte, am politischen Horizont zogen schnell Wolken auf. Noch im Monat der Krönung von Alexios und Irene eröffnete Robert Guiscard, der normannische Herzog von Apulien, seinen Großangriff auf das Byzantinische Reich.
Alexios Komnenos hatte, gleich nachdem man ihm Guiscards Landung auf byzantinischem Territorium gemeldet hatte, ein dringendes Hilfegesuch an den Dogen Domenico Selvo gerichtet. Dessen hätte es indes vermutlich gar nicht bedurft, ging doch für Venedig durch die normannische Beherrschung der Straße von Otranto keine geringere Gefahr aus als für Byzanz. Selvo hatte jedenfalls nicht gezögert. Unter seinem persönlichen Kommando stach der Flottenverband sogleich in See, und bei Einbruch der Dunkelheit fiel er über die normannischen Schiffe her. Deren Besatzung leistete hartnäckig Widerstand, war aber einfach zu unerfahren im Seekrieg. Die venezianische Flotte griff auf die alte byzantinische List zurück, die Belisar schon mehr als 500 Jahre zuvor angewendet hatte, nämlich bemannte Beiboote auf die Rahnocken zu hieven und von dort auf die feindlichen Kräfte darunter herabzuschießen. Außerdem scheinen sie das Geheimnis des Griechischen Feuers gekannt zu haben, denn der normannische Chronist Gottfried Malaterra berichtet, sie hätten durch Rohre unter der Wasseroberfläche das sogenannte Griechische Feuer geblasen, welches im Wasser nicht erlösche, und auf diese Weise hinterlistig eines der normannischen Schiffe unter Wasser angezündet, so dass es ausbrannte. Solchen Taktiken und Waffen hatten die Normannen nichts entgegenzusetzen. Ihre Formation löste sich auf, die venezianischen Schiffe dagegen konnten sich den Weg in den sicheren Hafen Durazzo freikämpfen. Doch dadurch ließ sich Herzog Robert Guiscard noch lange nicht entmutigen. Das Landheer (klugerweise vor der Schlacht an Land gesetzt) war noch völlig intakt und richtete sich nun auf die Belagerung der Stadt ein. Alexios hatte seinen Verbündeten Georgios Palaiologos mit dem Auftrag in die Garnison von Durazzo entsandt, dem Feind unter allen Umständen so lange standzuhalten, bis er genügend Truppen gegen die Eindringlinge zusammengezogen habe. Da die Garnisonssoldaten wußten, dass bald Hilfe eintreffen würde, schlugen sie sich tapfer. Die Belagerung zog sich den ganzen Sommer über hin. Immer wieder gab es Ausfälle. Dabei kämpfte Palaiologos einmal einen ganzen Tag lang in der Bruthitze mit einer normannischen Pfeilspitze im Schädel. Am 15. Oktober traf Kaiser Alexios' Heer mit ihm an der Spitze ein. Drei Tage später erfolgte der Angriff. Die Normannen hatten bis dahin etwas nördlich von Durazzo Stellung bezogen und das Heer zur Schlacht formiert. Robert befehligte das Zentrum, sein Sohn Bohemund den linken Flügel landeinwärts und die lombardische Prinzessin Sichelgaita von Salerno, seine Frau, den rechten Flügel.
Wie immer wenn der Kaiser persönlich in den Kampf eingriff, scharte sich seine warägische Garde vollzählig um ihn. Zu dieser Zeit bestand sie zum großen Teil aus Angelsachsen, die nach der Schlacht bei Hastings England voller Abscheu den Rücken gekehrt hatten und in byzantinische Dienste getreten waren. Da viele von ihnen seit 15 Jahren darauf warteten, an den verhaßten Normannen Rache zu nehmen, stürzten sie sich wutentbrannt in die Schlacht. Mit beiden Händen schwangen sie ihre riesigen Streitäxte über dem Kopf, ließen sie auf Pferd und Reiter gleichermaßen niedersausen und verbreiteten großen Schrecken unter den apulischen Rittern, von denen nur wenige jemals einer Front von Fußsoldaten begegnet waren, die nicht sofort beim Anstürmen der Kavallerie auseinandergebrochen wäre. Auch die Pferde gerieten in Panik. Schon nach kurzer Zeit herrschte auf dem ganzen rechten normannischen Flügel ein solches Durcheinander, dass viele ins offene Meer galoppierten, um der sicheren Abschlachtung zu entgehen. Da schlug gemäß zeitgenössischen Berichten Sichelgaitas größte Stunde. Anna Komnena schildert das Ereignis besonders anschaulich:
Als Roberts Frau Gaita (die an seiner Seite ritt, eine zweite Pallas, wenn nicht gar Athene) die Soldaten weglaufen sah, blickte sie ihnen wild nach und rief mit dröhnender Stimme in ihrer Landessprache, was bei Homer etwa so lauten würde: "Wie weit wollt ihr noch fliehen? Haltet ein und erweist euch als Männer." Und als sie sah, dass sie weiter flohen, ergriff sie einen langen Speer und jagte den Flüchtlingen in gestrecktem Galopp nach. Bei ihrem Anblick rafften sie sich wieder auf und kehrten in die Schlacht zurück. Mittlerweile war auch Bohemunds linker Flügel zur Rettung eingeschwenkt, und zwar mit einer Abteilung Bogenschützen, gegen welche die Waräger machtlos waren, denn sie konnten mit ihren Äxten gar nicht an sie herangelangen. Und da sie der Hauptmasse des griechischen Heeres zu weit vorausgeeilt waren, fanden sie den Rückzug versperrt. So blieb ihnen keine andere Wahl mehr, als dort zu kämpfen, wo sie sich gerade befanden. Schließlich wichen die wenigen noch Lebenden und suchten Zuflucht in der nahe gelegenen Kapelle des Erzengels Michael. Diese setzten die Normannen sogleich in Brand - nun weit entfernt vom Monte Gargano -, und die Warägergarde kam fast vollzählig in den Flammen um.
Im Zentrum kämpfte Kaiser Alexios immer noch tapfer. Aber der beste Teil des byzantinischen Heeres war bei Mantzikert vernichtet worden, und der bunt zusammengewürfelte Haufen fremder Söldner, auf den er sich nun verlassen mußte, besaß weder die Disziplin noch die Ergebenheit, um gegen die normannischen Truppen aus Apulien die Oberhand zu gewinnen. Ein Entlastungsausfall von Durazzo aus, unter der Leitung von Georgios Palaiologos, hatte die Situation nicht entschärft. Als Alexios schließlich merkte, dass ihn sein Vasall, König Konstantin Bodin von Zeta, und auch ein ganzes Regiment von 7.000 Türken, das der seldschukische Sultan Suleiman entsandt und auf welches er große Hoffnung gesetzt hatte, im Stich ließen, schwand seine letzte Hoffnung auf den Sieg. Von seinen Leuten abgeschnitten, betrübt über die in der Schlacht gefallenen Nikephoros Palaiologos (Georgios' Vater) und Konstantios (Bruder Michaels VII.), geschwächt von Erschöpfung und Blutverlust und geplagt von starken Schmerzen, die von einer Stirnwunde herrührten, ritt er langsam ohne Begleitung über das Gebirge nach Ochrid zurück, um dort neue Kräfte zu sammeln und die Überreste seiner versprengten Streitmacht zu reorganisieren.
Durazzo vermochte sich noch vier Monate lang zu halten. Erst im Februar 1082 konnten die Normannen die Stadttore einrennen, und auch dies nur, weil ein venezianischer Einwohner zum Verräter geworden war (Malaterra zufolge soll er zur Belohnung die Hand einer Nichte Roberts gefordert haben). Nach dem Fall Durazzos ging die Eroberung schneller vonstatten. Die ansässige Bevölkerung leistete angesichts der Niederlage des Kaisers den vorrückenden Eindringlingen keinen Widerstand, und binnen weniger Wochen befand sich ganz Illyrien in normannischer Hand. Anschließend marschierte das normannische Heer in östlicher Richtung weiter nach Kastoria, und diese Garnison kapitulierte gleichfalls sofort, obwohl sie aus über 300 Mitgliedern der Warägergarde bestand. Die Entdeckung dieses Umstands beflügelte die Normannen noch mehr. Wenn nicht einmal die Elitetruppen des Reiches den weiteren Vormarsch aufhalten konnten, dann war Konstantinopel bereits so gut wie eingenommen.
Doch, ach, zu Roberts Unglück geschah nichts dergleichen. Im April, noch während er sich in Kastoria aufhielt, trafen Boten aus Italien mit der Nachricht ein, Apulien und Kalabrien hätten sich mit Waffengewalt erhoben, und ein großer Teil Kampaniens ebenfalls. Außerdem hatten sie ein Schreiben Papst Gregors VII. im Gepäck. Sein Erzfeind HEINRICH IV., deutscher König, stand vor den Toren Roms und forderte seine Krönung zum Kaiser des Westens. Die Anwesenheit Guiscards in der Heimat war also dringend erfordelich. Er übertrug seinem Sohn Bohemund den Oberbefehl und gelobte bei der Seele seines Vaters Tankred, sich den Bart nicht zu scheren, bevor er wieder in Griechenland sei; dann eilte er zur Küste zurück und setzte über die Adria.
Alexios hatte indes nicht allein Venedig um Hilfe gegen Robert Guiscard ersucht. Da ihm schon bei der Thronbesteigung die gegen ihn gerichteten Kriegsvorbereitungen nicht entgangen waren, hatte er unverzüglich nach potentiellen Verbündeten Ausschau gehalten. Ein Neffe Roberts eignete sich dazu ganz besonders: Abelard, der Sohn seines ältesten Bruders Hunfried, der, von seinem Onkel enterbt, in Konstantinopel Zuflucht gesucht hatte. Er war leicht dafür zu gewinnen, heimlich nach Italien zurückzukehren und mit Unterstützung seines Bruders Hermann und einem Batzen byzantinischen Goldes einen Aufstand dort anzuzetteln. In der Zwischenzeit schickte Kaiser Alexios einen Gesandten zu HEINRICH IV., um diesem die Gefahren einer ungehinderten Machtausbreitung Robert Guiscards vom Herzogtum Apulien aufzuzeigen. Der daraufhin erfolgte Gedankenaustausch führte zu einer Übereinkunft: Als Gegenleistung für einen feierlich beschworenen Beistandspakt schickte Alexios HEINRICH 360.000 Goldstücke, das Gehalt von 20 hohen Höflingen, ein goldenes und perlenbesetztes Brustkreuz, einen Kristallbecher, einen Pokal aus Achat und ein Reliquiar mit Einlegearbeiten in Gold, das Reliquien mehrerer, mit Hilfe von Namensschildchen identifizierbarer Heiliger enthielt. Der Vertrag kam Alexios zwar sehr teuer zu stehen, als er aber im Frühjahr 1082 von Roberts plötzlicher Abreise erfuhr, dürfte er sich gesagt haben, dass sich seine jüngsten diplomatischen Schritte nun auszahlten. Er hatte den Winter in Thessalonike verbracht, um Truppen für den Feldzug im folgenden Sommer auszuheben. Bohemund und sein Heer dehnten ihre Macht stetig über die ganzen westlichen Reichsprovinzen aus, und Robert würde über kurz oder lang zurück sein und dann gegen Konstantinopel marschieren. Wenn man dem normannischen Heer Widerstand leisten wollte, bedurfte es daher starker, gut ausgebildeter Verteidigungstreitkräfte. Aber Söldner kosten Geld - wie schon ihr Name sagt -, die Schatzkammer des Reichs stand leer, und von der bereits schwer von Steuern gedrückten byzantinischen Bevölkerung noch mehr zu verlangen, wäre einer Aufforderung zum Aufstand gleichgekommen. Alexios wandte sich an seine Mutter Anna Dalassena, an seinen Bruder und seine Frau, und sie stellten allesamt soviel zur Verfügung, wie sie konnten, indem sie ihre Ausgaben auf das Notwendigste beschränkten. Dennoch reichte dies alles für sein Vorhaben bei weitem nicht aus. Schließlich berief sein Bruder Isaak Sebastokrator in der Hagia Sophia eine Synode ein und erklärte nach altem kanonischem Recht, nach weichem Kirchengold und -silber eingeschmolzen und zur Auslösung byzantinischer Kriegsgefangener verwendet werden durfte, den gesamten Kirchenschatz für konfisziert. In der ganze byzantinischen Geschichte kennt man nur einen einzigen vergleichbaren Vorfall: Nach dem Einmarsch des persischen Königs Chosrau II. im Jahre 618 hatte Patriarch Sergios aus eigenem Antrieb den Reichtum aller Kirchen und Klöster dem Staat zur Verfügung gestellt; Kaiser Herakleios hatte dieses Angebot dankbar angenommen. Nun ging die Initiative von staatlicher Seite aus, und diesmal ließ die Geistlichkeit den alten Gemeinschaftsgeist vermissen und verhehlte ihren Mißmut nicht. Es blieb ihr indes nichts anderes übrig, als sich zu fügen. Auf diese Weise war Alexios imstande, sein Heer neu aufzubauen. Doch auch dieses Heer vermochte Bohemunds Vormarsch im ersten Jahr nicht aufzuhalten. Nach zwei weiteren wichtigen Siegen bei Janina und Arta drängte er die byzantinischen Truppen nach und nach zurück, bis ganz Makedonien und der überwiegende Teil Thessaliens in normannische Gewalt gebracht war. Erst im Frühjahr 1083 vermochten die kaiserlichen Truppen bei Larissa den Gang der Ereignisse umzukehren. Der Plan war simpel. Als Alexios sah, dass es zur Schlacht kommen würde, vertraute er die Hauptmasse des Heeres mit allen kaiserlichen Standarten seinem Schwager Georgios Melissenos und einem anderen fähigen Feldherrn, namens Basilios Kurtikios, an. Sie hatten Befehl, dem Feind zunächst entgegen zu marschieren, und wenn sich dann die beiden Schlachtreihen gegenüberstanden, plötzlich wie in wilder Flucht davonzulaufen. In der Zwischenzeit schlichen er und ein Trupp sorgfältig ausgewählter Elitesoldaten sich im Schutz der Nacht zu einem Hinterhalt im Rücken des normannischen Lagers. Als Bohemund bei Tagesanbruch das Heer mit den Standarten erblickte, blies er sogleich zum Angriff. Melissenos und Kurtikios führten ihren Befehl getreulich aus, und schon nach kurzer Zeit stürmte das byzantinische Heer in die vorgegebene Richtung davon, und die normannischen Verbände folgten ihm blindlings. Unterdessen überrannten Alexios und seine Leute das feindliche Lager, metzeltem die dort Zurückgebliebenen nieder und machten große Beute. Danach waren Bohemund und seine Leute gezwungen, die Belagerung von Larissa aufzugeben und sich nach Kastoria zurückzuziehen. Von diesem Augenblick an war er verloren. Entmutigt, heimwehkrank und angesichts des längst überfälligen Solds und der fürstlichen Belohnungen, die Alexios allen Deserteuren auszurichten versprach, zusätzlich demoralisiert, bröckelte das normannische Heer auseinander. Bohemund mußte nach Italien zurückkehren, um mehr Geldmittel aufzubringen; seine Heerführer kapitulierten, sobald er ihnen den Rücken gekehrt hatte. Als nächstes eroberte eine venezianische Flotte Durazzo und Korfu zurück. Gegen Endes des Jahres 1083 beschränkte sich das von den Normannen gehaltene Territorium auf dem Balkan wieder auf ein oder zwei Inseln vor der Küste und einen schmalen Küstenstreifen.
Einige Wochen nach der Eroberung Roms machte Robert Guiscard sich auf den Weg zurück nach Griechenland. Anna Komnena hatte Grund für ihre Feststellung, dass er äußerst hartnäckig war. Trotz seiner 68 Jahre ließ er sich vom Umstand, dass er seinen Feldzug noch einmal ganz von vorn anfangen mußte, offnbar nicht im geringsten entmutigen. Schon im Herbst 1084 war er wieder da, zusammen mit seinen Söhnen Bohemund, Roger und Guy und einer neuen Flotte von 150 Schiffen. Bei seinem Aufbruch hätten die Zeichen kaum ungünstiger stehen können. Stürmisches Wetter hielt die Schiffe zwei Monate in Butrinto fest. Und als sie schließlich nach Korfu übersetzen konnten, wurden sie von einer venezianischen Flotte aufgebracht und auf offener See zweimal innerhalb dreier Tage tüchtig geschlagen. Die Verluste wogen so schwer, dass die venezianischen Pinassen mit der Siegesmeldung in die Lagune zurückkehrten. Aber sie hatten Guiscard unterschätzt. Zwar befanden sich nur noch ganz wenige normannische Schiffe in so gutem Zustand, dass eine dritte Schlacht gewagt werden konnte. Als Robert die Pinassen aber am Horizont verschwinden sah und die Gelegenheit witterte, den Feind zu überrumpeln, sammelte er geschwind alle noch seetauglichen und warf sie in einem letzten Ansturm nach vorn. Seine Rechnung ging vollkommen auf, denn die Venezianer waren völlig unvorbereitet. Zudem lagen ihre großen Galeeren, die ihren Ballast bereits abgeworfen hatten, so hoch im Wasser, dass viele kenterten, als in der Hitze der Schlacht die gesamte Besatzung an Soldaten und Matrosen auf eine Seite des Decks eilte. (Zumindest behauptet dies Anna Komnena, obwohl ihre Geschichte mit dem, was man von dem Können der venezianischen Seefahrer weiß, fast nicht in Einklang zu bringen ist.) Nach Annas Bericht kamen 13.000 Venezianer um, und 2.500 gerieten in Gefangenschaft; bei deren anschließender Verstümmelung durch die Sieger verweilt sie mit jener morbiden Lust, die zu ihren unsympathischen Charakterzügen gehört. Nach dem Fall Korfus begab sich ein rundum zufriedenes und hoffnungsvolleres Heer in seine Winterquartiere auf dem Festland. Doch im Verlauf des Winters tauchte eine neue Feindmacht auf, und sie wirkte sich auf Guiscards Leute tödlicher aus als das venezianische und das byzantinische Heer zusammen. Es brach eine heftige Seuche aus (vermutlich Typhus), die kein Erbarmen kannte. Bis zum Frühjahr waren 500 normannische Ritter tot und ein großer Teil des Heeres kampfunfähig. Doch selbst da blieb Robert zuversichtlich und guter Dinge. Von seiner engeren Familie war nur Bohemund erkrankt und zur Genesung nach Bari geschickt worden. Als Robert sich im Frühsommer entschloß, mit seinen Leuten wieder aufzubrechen, schickte er Roger Borsa zur Eroberung Kephallonias voraus. Ein paar Wochen später folgte er ihm nach. Doch auf der Fahrt Richtung Süden spürte er, wie die bedrohliche Krankheit ihre Hand nach ihm ausstreckte. Als sein Schiff am Kap Ather an der Nordspitze Kephalionias eintraf, war er sterbenskrank. Man ging bei der ersten Gelegenheit in einer kleinen, geschützten Bucht vor Anker, die heute noch zum Andenken an ihn Phiscardo heißt, und dort starb er am 17. Juni 1085 im Beisein seiner treuen und tüchtigen Gefährtin Sichelgaita.
In den vergangenen vier Jahren waren die beiden bedeutendsten Herrscher Europas, der Kaiser des Westens wie jener des Ostens, bei seinem Herannahen geflüchtet; er hatte den wohl furchteinflößendsten mittelalterlichen Papst gerettet und wiedereingesetzt. Ein paar Monate mehr, und er hätte sein Ziel vielleicht erreicht und Alexios Komnenos wäre nur einer jener kurzlebigen, ja möglicherweise sogar der letzte griechische Kaiser von Byzanz gewesen. Durch Robert Guiscards Tod war die unmittelbare Gefahr für das Byzantinische Reich gebannt, denn es konnte nicht ausbleiben, dass seine Nachkommen und Verwandten sich unverzüglich um das Erbe stritten und schon bald den ehrgeizigen Plan seiner letzten Lebensjahre aus den Augen verloren. Aber sie ignorierten die neuen Horizonte, die er ihnen eröffnet hatte, nicht vollständig. Von nun an sehen wir den normannischen Süden immer lüsterner nach Osten blicken. Schon 12 Jahre später wird sich Roberts Guiscards Sohn Bohemund auf Kosten des byzantinischen Kaisers als erster Kreuzfahrerfürst präsentieren.
Die unmittelbare Gefahr für das Byzantinische Reich war gebannt: Das sind kühne Worte aus der Feder eines Mannes, der dessen Geschichte zu schreiben unternimmt. Byzanz war niemals für längere Zeit sicher. Die westlichen Nachbarvölker verhielten sich bestenfalls unzuverlässig und haben das Reich immer wieder im Stich gelassen. Die östlichen begegneten ihm sogar durchweg feindselig - um ihm eines Tages schließlich den Todestoß zu versetzen. Mehr Mühe als diese bereiteten ihm jedoch über viele Jahrhunderte hinweg jene, die aus dem Norden kamen: die "barbarischen Horden" gotischer und hunnischer, awarischer und siawischer, gepidischer und bulgarischer, ungarischer und uzenischer Herkunft, die in großen Wellen aus den zentralasiatischen Steppen heranbrausten und, wenn sie auch Konstantinopel nicht erobern konnten, Stadt und Reich schon durch ihre bloße Existenz bedrohten. So lebten in Byzanz Herrschende wie Untertanen nur selten ohne Angst.
Nachdem nun die Normannen vorerst einmal von der Bildfläche verschwunden waren, traten die Petschenegen auf den Plan, allerdings keineswegs als Neuankömmlinge. Schon seit mehr als 200 Jahren mußte man mit ihnen rechnen. In diesem Zeitraum hatten sie sich als ein besonders habgieriger (und harter) Volksstamm erwiesen. Wer den zweiten Band gelesen hat, erinnert sich vielleicht noch, wie in der Mitte des 9. Jahrhunderts Konstantin VII. Porphyrogennetos seinen Sohn Romanos beschwor, sie um jeden Preis mit Freundschaftspakten, Bündnissen und Verträgen sowie einem nie versiegenden Strom von Geschenken bei Laune zu halten. Doch Byzanz hatte in der jüngsten Vergangenheit diesen Rat nicht beherzigt, und die petschenegische Bedrohung, von bogomilischen Häretikern im östlichen Balkan noch geschürt, war stetig gewachsen. Im Frühjahr des Jahres 1087 fiel ein gewaltiges fremdes Heer, das Anna auf 80.000 Mann schätzt, in byzantinisches Reichsgebiet ein. Nur drei Tage später stand es nach mehreren heißen Schlachten mit wechselhaftem Ausgang in Sichtweite Konstantinopels.
Die Petschenegen und Bogomilen waren indes nicht die einzigen feindlichen Mächte, mit denen Alexios zu schaffen bekam. Chaka, der türkische Emir von Smyrna, hatte in den vergangenen zehn Jahren seinen Machtbereich die ganze Ägäis-Küste entlang ausgedehnt und während eines einjährigen oder noch längeren Aufenthaltes in Konstantinopel von Botaneiates den Titel eines Protonobilissimos verliehen bekommen. Seine Ambitionen zielten jedoch, wie jene Robert Guiscards vor ihm, auf nichts Geringeres als den byzantinischen Thron. Die petschenegische Invasion bot ihm nun die längst erwartete Gelegenheit. Schon vor geraumer Zeit hatte er den Bau einer Flotte veranlaßt. Im Spätherbst des Jahres 1090 eroberte er ohne große Mühe die für Byzanz (strategisch) lebenswichtigen Inseln Lesbos, Chios, Samos und Rhodos. Zum Glück für Byzanz hatte Alexios ebenfalls seine Seestreitmacht aufgerüstet, so dass im folgenden Jahr ein byzantinisches Geschwader unter dem Befehl seines Verwandten Konstantin Dalassenos den Emir vom Eingang zum Marmarameer vertreiben konnte. Doch damit war Chaka keineswegs besiegt. Er hätte sicherlich erneut angegriffen, wäre er nicht 1092 von seinem Sultan Kilidsch Arslan während eines Banketts ermordet worden.
Die Petschenegen bedrängten weiterhin Konstantinopel. Alexios' Truppen kämpften aufopfernd, und es gelang ihnen auch, sie in Schach zu halten, doch sie vermochten sie infolge des chronischen Mangels an Soldaten nicht dorthin zurückzutreiben, woher sie gekommen waren. In dieser verzweifelten Lage griff Alexios auf einen alten byzantinischen Trick zurück, nämlich sich der Hilfe des einen Stammes zu versichern, um ihn gegen den anderen auszuspielen - eine gefährliche Kriegslist, da jederzeit das Risiko bestand, dass die beiden gemeinsame Sache machten und Byzanz sich dann zwei feindlichen Völkern statt nur einem gegenübersah. Da jedoch der größte Teil des byzantinischen Heeres bei Mantzikert verlorengegangen war, blieb ihm gar nichts anderes übrig. Und wie Leon der Weise fast genau 200 Jahre zuvor die Ungarn gegen Symeon von Bulgarien ins Land gerufen hatte, wandte sich Alexios nun an die Kumanen.
Diese sind hier schon unter dem ebenfalls geläufigen Namen Skythen aufgetaucht, unter dem sie früher gewöhnlich bekannt waren. Der kriegerische Nomaden- und Viehzüchterstamm türkischen Ursprungs kam im 11. Jahrhundert aus dem Osten und siedelte sich in der Ukraine an. Zwar gab es keine Fehde zwischen Kumanen und Petschenegen - 1087 hatten beide Stämme sich an Thrakien schadlos gehalten -, aber Alexios schürte das Feuer und unterbreitete ihnen ein Angebot, dem sie nicht widerstehen konnten und auf das sie bereitwillig eingingen. Im späten Frühjahr waren sie zur Stelle; am 28. April 1091, einem Montag, trafen die beiden Heere am Fuße des Levunion, unweit der Mündung des Flusses Maritza, aufeinander.
Am Abend rief Alexios seine Soldaten zum Gebet. Anna Komnena berichtet, als die Sonne am Horizont versunken sei, habe man den Himmel aufleuchten sehen, aber nicht vom Sonnenlicht, sondern vom Schein vieler anderer Gestirne, denn ein jeder habe eine Fackel (oder Wachskerze, je nachdem, was ihm gerade zur Hand war) auf die Spitze seines Speeres gesteckt; das Gebet des Heeres sei zweifellos ans Himmelsgewölbe gedrungen, wenn nicht sogar direkt an Gottes Ohr.
Diesen Eindruck könnte man in der Tat gewinnen. Denn tags darauf erlitt das petschenegische Heer, in dem sich nach ihrer Sitte auch Frauen und Kinder befanden, in der Schlacht eine so vernichtende Niederlage, dass der Stamm dabei fast ausgerottet wurde. Anna behauptet sogar, sie seien gänzlich vernichtet worden. Das ist zweifellos übertrieben, wenn auch nur leicht. Ein paar Gefangene überlebten und kamen in byzantinischen Dienst. Die überwiegende Mehrheit aber - es sollen noch immer auf jeden byzantinischen Soldaten etwa 30 gekommen sein - metzelte das Heer aus dem christlichen Byzanz kurzerhand nieder.
Weder das kaiserliche Heer noch Alexios Komnenos als dessen Oberbefehlshaber bedeckte sich also bei diesem Blutbad am Levunion mit Ruhm, und doch handelt es sich dabei um den entscheidendsten Sieg, den ein byzantinisches Heer im Feld seit Basileios II. erringen konnte. Man befreite sich durch diese Totallösung nicht nur für die nächsten 30 Jahre von der petschenegischen Bedrohung, sie diente auch andern Völkern als warnendes Beispiel. Außerdem hob sie in entscheidender Weise die byzantinische Moral. Dass hierdurch die Position des Kaisers gestärkt wurde, ist besonders wichtig. Es sei daran erinnert, dass er durch einen Gewaltakt auf den Thron gelangte. Eine ganze Reihe anderer ehrgeiziger Jungmilitärs aus einem Dutzend byzantinischer Adelhäuser hätte ihn ebenso für sich beanspruchen können. Dass Alexios offensichtlich fähig war, durchzugreifen, hatte ihm in der zurückliegenden Zeit kaum Schutz vor den Intrigen eifersüchtiger Rivalen gewährt. Nun aber hatte er unter Beweis gestellt, dass er willens und in der Lage war, Byzanz in seiner einstigen Größe mit allen Mitteln wenigstens teilweise wieder herzustellen. Der Basileus, der wenige Tage nach der blutigen Schlacht mit stolzgeschwellter Brust unter den von allen Seiten widerhallenden Hochrufen seines Volkes durch das Goldene Tor nach Konstantinopel ein- und die geschmückten Straßen entlang zur Hagia Sophia ritt, konnte nun zuversichtlicher in die Zukunft blicken als während der gesamten zehn Jahre seit seiner Thronbesteigung.

(1108-1118)

Hört man ihnen zu, könnte man glauben, dass meine Straßen mit Käse gepflastert waren und von meinen Bergen Milch und Honig flossen, dass mir selbst unermeßliche Reichtümer beschieden waren, dass ich lebte wie ein Satrap, dass der Luxus von Medien nichts war im Vergleich zu meinem und die Paläste von Susa und Ekbatan, verglichen mit meinem Sitz, elende Hütten.

Theophylax, Erzbischof von Ochrid, über die Reichssteuereintreiber (Brief 41)

Alexios Komnenos kehrte im Verlauf der letzten Wochen des Jahres 1108 nach Konstantinopel zurück, sehr zufrieden mit dem, was er erreicht hatte. In seinem Reich herrschte, für den Augenblick zumindest, Frieden. Wohl traf es zu, dass Tankred von Antiochia den Vertrag von Dewol bereits gebrochen hatte, wodurch dieser im Grunde hinfällig geworden war, doch der Vertrag hatte mit der Unterwerfung Bohemunds seinen Zweck ausreichend erfüllt, und zur Zeit war Tankred, gemeinsam mit seinen Kreuzfahrergefährten, zu sehr mit den sarazenischen Gegnern beschäftigt, um dem Byzantinischen Reich ernsthafte Schwierigkeiten bereiten zu können. So konnte sich Alexios während der folgenden zwei Jahre um eigene, innenpolitische Angelegenheiten kümmern. Und da auch wir durch den Druck der Ereignisse auf internationaler Ebene dazu kaum Gelegenheit hatten, könnte es sinnvoll sein, ganz kurz dasselbe zu tun.
Das erste Jahrzehnt von Alexios' Herrschaft war hart gewesen. Als hervorragender und scheinbar unbesiegbarer junger Heerführer während der Herrschaft von Nikephoros Botanoiates war er vielen seiner Untertanen als einzige noch verbleibende Hoffnung für das belagerte Reich erschienen; doch kaum hielt er die höchste Macht erst in Händen, verflüchtigte sich der Zauber schnell. Noch im Jahr seiner Krönung erlitt er bei Durazzo die vernichtendste Niederlage seiner Laufbahn. Sicher, er bekam 18 Monate später in der Schlacht von Larissa Gelegenheit zur Rache. Aber die Normannen standen 1084 schon wieder da, und wäre Robert Guiscard nicht so plötzlich und unerwartet gestorben, wäre es ihnen möglicherweise gelungen, bis nach Konstantinopel vorzudringen. In der Zwischenzeit aber hatte Alexios, abgesehen von einem relativ bedeutungslosen und nur halbherzigen Feldzug gegen den Emir Chaka von Smyrna, keinen ernsthaften Versuch unternommen, die türkischen Völker aus Kleinasien zu vertreiben. An Ostern 1091, nach zehn Jahren Thronherrschaft, in denen er keine wesentlichen Leistungen erzielt hatte, die ihm als Verdienst hätten angerechnet werden können, galt Alexios im allgemeinen als Versager, und die Leute begannen sich allmählich zu fragen, ob das europäische Byzanz unter dem konstanten Druck der Normannen, Petschenegen oder Bogomilen nicht den gleichen Weg gehen würde wie weiland das asiatische. Würde es, so fragten sie sich, in einigen Jahren noch ein Reich außerhalb der Mauern von Konstantinopel geben, das den Namen verdiente?
Der Patriarch von Antiochia, Johannes Oxites, ging noch weiter und beschwor den Niedergang des Reiches in zwei um diese Zeit veröffentlichten bitteren Schmähreden gegen Alexios als unabwendbare Tatsache. Die Menschen, so fuhr er fort, seien niedergeschlagen und desillusioniert. In der Vergangenheit hätten sie noch geglaubt, Niederlagen und Schicksalsschläge seien Gottes Strafe für begangene Sünden, nun aber nehme immer mehr das Gefühl überhand, Gott kümmere sich überhaupt nicht mehr um ihr Geschick. Die Reichen würden arm, und die Armen, besonders in Makedonien, Thrakien und dem nördlichen Balkan, drohten auf der Flucht vor den barbarischen Invasoren zu verhungern oder zu erfrieren. Die einzige Ausnahme in dieser allgemeinen Not bildeten die Mitglieder der kaiserlichen Familie, die zur größten Geißel des Reiches und dessen Volk geworden seien.
Vielleicht übertrieb der Patriarch ein wenig: schließlich lag sein Patriarchat Antiochia rund 1.000 Kilometer von der Hauptstadt entfernt und stand noch immer unter sarazenischer Herrschaft. So oder so war er also nicht besonders geeignet, die Situation der in Europa gelegenen Provinzen zu beurteilen. Dennoch lag viel Wahres in dem, was er sagte. Weniger klar ist, in welchem Maße er zu Recht dem Kaiser dafür die Verantwortung zuschob. Alexios traf keine Schuld, dass erst die Normannen und dann die Petschenegen weite Gebiete der Balkanhalbinsel verwüstet, Dörfer und Städte niedergebrannt und so Tausende getötet und Abertausende obdachlos gemacht hatten. Fr und seine Truppen hatten sich heftig gewehrt, und nur wenige Wochen nach den Vorwürfen des Patriarchen schlugen sie die Petschenegen am Fuße des Levunion in entscheidender Weise. Zugegeben, die Normannen forderten etwas mehr Zeit ab, doch ist nur schwer einzusehen, wie Alexios noch mehr hätte tun können. Der Vorwurf des Nepotismus ist schwieriger zu beurteilen. Auch war Patriarch Johannes von Antiochia bei weitem nicht der einzige, der ihn erhob. So erhält er wie folgt Schützenhilfe vom Chronisten Johannes Zonaras:
Er jedoch bot den Verwandten und einigen Dienern öffentliche Mittel in ganzen Wagenladungen dar und wies ihnen reichliche jährliche Zuwendungen zu, so dass sie sich mit großem Reichtum umgaben und sich eine Dienerschaft zulegten, die nicht Privatleuten, sondern Kaisern entsprach, und Häuser erwarben, die an Größe Städten glichen, an Pracht aber Kaiserpalästen nicht unähnlich waren.
Natürlich ließe sich einwenden, dass alle herrschenden Familien in allen Ländern und zu allen Zeiten in den Genuß der einen oder anderen Art besonderer Privilegien kamen. Auch müssen wir uns vor Augen halten, dass es, zumindest in den frühen Jahren seiner Herrschaft, im Gefolge von Alexios nur wenig Menschen außerhalb seiner engsten Familie gab, denen er trauen konnte. Zieht man die chaotischen Bedingungen in Betracht, die Mitte des 11. Jahrhunderts über einige Jahrzehnte hinweg in Byzanz herrschten, sowie die Umstände seiner Thronbesteigung und die Zahl seiner Feinde in Konstantinopel, war ein gewisses Maß an Nepotismus sicherlich erlaubt. Ohne den Rückhalt einer mächtigen Familie wäre er nicht lange Kaiser geblieben. War er deshalb nicht bis zu einem gewissen Grad berechtigt, seine Mutter Anna Dalassena, seinen Bruder Isaak, seinen Schwager Nikephoros Melissenos sowie seinen Sohn Johannes und seinen Schwiegersohn Nikephoros Bryennios und dazu ein paar weitere Mitglieder der näheren Verwandtschaft in Schlüsselpositionen zu versetzen und sie entsprechend zu ent schädigen?
Mag sein, dass dem so ist. Nur begnügte er sich leider nicht damit, die Mitglieder seiner Familie mit hochdotierten Ämtern und speziell geschaffenen neuen Titeln zu versehen, sondern verlieh ihnen auch regionale Machtbefugnisse. Zu früheren Zeiten waren die staatlichen Ländereien - also jene, die dem Staat gehörten und nicht Teil des persönlichen kaiserlichen Besitztums bildeten - direkt der reichsherrschaftlichen Verantwortung unterstellt gewesen, Alexios jedoch überließ deren Verwaltung, und damit auch deren Einkünfte, zu einem Großteil seinen Verwandten. Diese Lehen, auch Pronoia genannt, unterlagen zwar zeitlicher Begrenzung, das heißt, er konnte sie wieder aufheben, wann immer er dies wünschte, und sie fielen in jedem Fall beim Tode der Begünstigten wieder an ihn zurück, aber handelte es sich doch jeweils um gefährliche Präzedenzfälle und um einen weiteren Aderlaß des ohnehin stark beanspruchten Staatsschatzes.
Schon ein gutes halbes Jahrhundert vor seiner Thronbesteigung hatte ein stetiger Niedergang der byzantinischen Wirtschaft eingesetzt. Dass die Goldmünze Nomisma schon 20 Jahre zuvor bereits ein Viertel ihres ursprünglichen Wertes eingebüßt hatte, haben wir bereits gehört. Sowohl unter Botaneiates als auch unter Alexios ging diese Entwertung weiter, bis schließlich sechs verschiedene Nomisata aus sechs unterschiedlichen Legierungen in Umlauf waren, wobei das kaiserliche Schatzamt, das sie geprägt hatte, zunächst darauf beharrte, dass sämtliche bei ihm eingehenden Zahlungen in der ursprünglichen Goldwährung zu entrichten seien. Die daraus resultierende Verwirrung verursachte im ganzen Reich ein wirtschaftliches Chaos. 1092 führte Alexios den goldenen Hyperpyron (den "Superveredelten") ein, der in den folgenden 200 Jahren in Byzanz als Standardmünze diente, doch gelang es erst 1109 wieder, eine gewisse Ordnung herzustellen, indem für das ganze Münzsystem ein eigentlicher Wechselkurs festgelegt wurde. Damit herrschte zwar noch immer bei weitem keine befriedigende Situation, aber sie ermöglichte zumindest ein effizientes Funktionieren des fiskalischen Systems - und das war für Alexios Komnenos von vorrangiger Bedeutung.
Und es mußte so sein. Denn die meiste Zeit seiner Herrschaft sah sich das Reich entweder durch Angriffe aus dem Osten oder aus dem Westen bedroht und oft genug von beiden Seiten gleichzeitig. Von seinen Vorgängern hatte er nur eine mehr schlecht als recht ausgerüstete und zusammengewürfelte Armee sowie eine kleine, lange vernachlässigte Flotte geerbt, derart untauglich, dass er 1081 gegen einen Seeangriff seitens Robert Guiscards Venedig um Hilfe angehen mußte. Sollte indes das Byzantinische Reich überleben, galt es, das Heer neu zu organisieren und die Flotte sozusagen von Null wieder aufzubauen, und keines dieser beiden Ziele ließ sich ohne beträchtliche Kosten erreichen. Ohne Umschweife begann Alexios mit der Umsetzung dieser Ziele und sammelte das notwendige Geld, wo er es nur kriegen konnte. Zehn Jahre später verbuchte er dann, wie wir sahen, wichtige Siege zu Wasser und zu Land. Für ihn bedeutete es gern getane Arbeit, war er doch stets zuallererst und zur Hauptsache Soldat gewesen. Die Kunst der Kriegsführung faszinierte ihn. Wie Anna Komnena in ihrer Alexias ein übers andere Mal aufzeigt, fühlte er sich nie so glücklich wie bei der Vermittlung militärischen Drills, wenn er die Soldaten von schlecht disziplinierten Barbaren zu geschulten Kämpfer formte. Hatte er seine Armee aber erst einmal so geformt, wie er sie haben wollte, gedachte er sie unter keinen Umständen aus der Hand zu geben. Wie kein anderer wußte er nämlich, wie einfach es für einen hervorragenden und erfolgreichen Befehlshaber ist, die Unterstützung seiner Leute zu gewinnen, um dann bei den ersten Anzeichen von Schwäche innerhalb der Regierung einen Staatsstreich zu inszenieren, und er hatte nicht die Absicht, einem seiner Untergebenen zu ermöglichen, ihn so zu stürzen wie er seinen Vorgänger. Sowohl aus diesem Grund als auch aus echter Begeisterung für Kampf und Schlacht übernahm er, wenn immer möglich, persönlich das Kommando und führte seine Truppen an, womit er sich, sozusagen nebenbei, als der tüchtigste Oberbefehlshaber erwies, über den Byzanz seit Kaiser Basileios II. fast 100 Jahre zuvor verfügte.
Geht man von den riesigen Ausgaben aus, die eine angemessene Verteidigung des Reiches erforderte, ist es verständlich, dass Alexios' Steuerpolitik harsch gewesen sein muß, ja geradezu skrupellos. Zu den Maßnahmen, mit denen er - oder genauer gesagt sein Bruder Isaak - sich zu Beginn des Jahres 1082 der Kirchenschätze bemächtigte, um den Feldzug gegen Bohemund finanzieren zu können, griff er zwar kein zweites Mal, doch litten der Adel (ausgenommen natürlich seine Familienmitglieder und andere Günstlinge), die Senatorenfamilien (die er haßte) sowie die reicheren Klöster gewaltig unter seinem Wucher. Angesichts des wirtschaftlichen und ordnungspolitischen Chaos ließ sich von den Eintreibern leicht behaupten, die letzten Zahlungen seien ungenügend gewesen, in der falschen Währung bezahlt oder überhaupt nicht entrichtet worden, und daraufhin eine gewaltige Strafgebühr erheben.
Auch für die ärmeren Reichsuntertanen waren die Zeiten hart, ein Thema, das Patriarch Johannes Oxites von Antiochia, wie wir gesehen haben, schon 1091 aufgegriffen hatte. Nun, fast 20 Jahre später, präsentierte sich die Lage nicht viel besser. So beschrieb Theophytax, Erzbischof von Ochrid - dessen Bemerkungen über die kaiserlichen Steuereintreiber am Eingang zu diesem Kapitel das Herz all jener, die Luxussteuer zu entrichten haben, erwärmen dürften -, Herzog Johannes von Durazzo (Dyrrhachion), einem Neffen des Kaisers, die Zustände in einer seiner Diözesen, die wieder und wieder von Normannen, Petschenegen und Kreuzritterhorden überrannt worden war, wie folgt.
Kaum vermochte ich die Tränen zurückzuhalten. In der Kirche wird nicht mehr gesungen, und die Kerzen werden nicht mehr entzündet; der Bischof und die Geistlichen mußten fliehen, und die Stadtbevölkerung hat ihre Häuser verlassen, um versteckt im Gehölz und in den Wäldern zu leben. Und zu all diesen Übeln, die der Krieg gebracht hat, kommt hinzu, dass sich die Großgrundbesitzer - weltliche wie kirchliche - Grund und Boden der Bauernfamilien angeeignet haben, welche sowohl durch ihre Dienstpflicht wie durch Steuern auf das Schwerste belastet sind.'
Zwar berichtet er nur über eine bestimmte Diözese, doch konnte man die von ihm beschriebenen Zustände in allen europäischen Provinzen des Reichs antreffen. Auch hatte er recht, was den Zwang zum Militärdienst betraf, der überall auf Empörung stieß, wo immer er durchgesetzt wurde. Die Landbevölkerung lebte, noch viel mehr als die städtische, in ständiger Furcht vor den kaiserlichen Rekrutierungsbeamten, die das Reich unablässig auf der Suche nach kräftigen, jungen Männern für den Kriegsdienst durchstreiften, und ihre Angst war durchaus gerechtfertigt, nicht nur weit sie deren Arbeitskraft dringend benötigten, um ihre verwüsteten Felder wiederherzustellen, sondern auch weil die reale Gefahr bestand, dass diese jungen Männer sich nach dem Ende ihrer Dienstzeit in Konstantinopel oder in einer anderen Gegend niederließen und nie mehr nach Hause zurückkehrten. Es ließ sich gut und gern sagen - wie dies Alexios wohl getan hätte -, dass jede einigermaßen intelligente Familie es doch sicher vorziehe, dem Reich einen Soldaten zu stellen, statt zuzulassen, dass fremde Eindringlige ihr Haus zerstörten, die Söhne abschlachteten und die Töchter vergewaltigten, doch ausgehungerte und verängstigte Menschen lassen sich von derart logischen Argumenten kaum beeindrucken. Tatsache ist, dass die große Mehrheit des Volkes Alexios, der für all die Drangsal verantwortlich gemacht wurde, haßte. Und er wußte darum.
Was für Schritte, wenn überhaupt welche, unternahm nun Alexios Komnenos, um seinen Ruf beim Volk zu verbessern? Von Anbeginn seiner Regentschaft hatte er sich abgemüht, wenn nicht seine Liebe, so  doch wenigstens seine Achtung zu gewinnen. In den 56 Jahren zwischen dem Tod Basileios' II. im Jahre 1025 und seiner eigenen Thronbesteigung 1081 sah das Reich nicht weniger als 13 Kaiser, und so bestand seine erste Aufgabe darin, klarzustellen, dass er nicht die Absicht hegte, nur ein weiterer dieser Art zu werden. Seine Botschaft lautete deutlich. Die armseligen Vorgänger waren Produkte eines durch und durch faulen Systems, verdorben, dekadent und korrupt; er aber würde dieses System reformieren und das Reich wieder zu seiner früheren Größe zurückführen.
Doch zuvor mußte es gereinigt und geläutert werden. Während Anna Dalassena den erklärten Augiasstall im Gymnaeceum des kaiserlichen Palastes in Angriff nahm, begann er mit einer Kampagne, um das Reich von jeglicher Ketzerei zu befreien. Sein erstes Opfer war ein Schüler von Michael Psellos namens Johannes Italos, dessen Fürsprache für die Werke von Plato und Aristoteles auf Kosten jener der ersten Kirchenväter Alexios für zu weitgehend hielt und der daher anläßlich eines ausführlichen Schauprozesses für schuldig befunden und zu lebenslänglicher Isolierung in einem Kloster verurteilt wurde. Ähnliche Prozesse bildeten die Begleitmusik zu Alexios' ganzer Regentschaft, zuletzt jener in seinem letzten Lebensjahr, bei dem der bekannteste Bogomilenvertreter - uns nur unter seinem christlichen Namen Basileios bekannt - im Hippodrom auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurde, in Konstantinopel bis dahin eine praktisch unbekannte Strafe.
Obwohl in all diesen Verfahren eindeutig ein starker Hang zur Propaganda zum Ausdruck kommt, ist an Alexios' profunder Gläubigkeit nicht zu zweifeln. Wie sehr er auch mit anderen, unmittelbar dringenderen Angelegenheiten beschäftigt sein mochte - einem Feldzug gegen Robert Guiscard oder Bohemund, der Verteidigung des Reichs gegen Petschenegenüberfälle oder dem Versuch, der Kreuzfahrerflut zu wehren, die über die Reichsgrenzen schwappte -, keinen Augenblick vernachlässigte er seine religiöse Verantwortung als den Aposteln gleicher Basileus. Auch beschränkte sie sich niemals auf Fragen der Doktrin; die kirchenpolitischen Angelegenheiten lagen ihm ebenso am Herzen, und zu Beginn seiner Regentschaft setzte er eine radikale Reform des seit langer Zeit üblichen und unter der Bezeichnung Charisticum bekannten Brauchs durch, die Verwaltung von Klöstern und klösterlichem Besitz in weltliche Hände zu legen. Diese Praxis - sie hatte im 11. Jahrhundert drastisch zugenommen - zielte hauptsächlich auf die wirtschaftliche Entwicklung solcher Besitztümer ab und wirkte sich in der Regel positiv aus, doch lauerten in der Verweltlichung auch Gefahren. So konnte ein Schutzherr rein weltliche Brüder einbringen, die vom Kloster lebten, ohne etwas zu dessen geistigem Leben beizutragen, er konnte das klösterliche Oberhaupt - und sogar die echten Mönche und Nonnen - unter Druck setzen und sie in den Handel einbinden, ja, wenn er wollte, das Kloster aussaugen. Als Gründer mehrerer großzügig subventionierter Klöster war Alexios entschlossen, solche Mißbräuche zu verhindern. Nicht dass er das System aufgehoben hätte, welches ihm selbst äußerst zupaß kam, als er in den ersten Monaten seiner Thronherrschaft seine Günstlinge belohnen und Familienmitglieder großzügig mit allerhand Gaben versehen wollte. Er ordnete jedoch an, dass künftig alle Transaktionen, die klösterlichen Besitz betrafen, vom zuständigen Patriarchen zu zeichnen seien, und erhöhte damit die Kontrolle der Patriarchen über die Klöster und das Klosterleben. 1107 ging er noch einen Schritt weiter, indem er eine allgemeine Reform des Klerus durchführte und insbesondere einen eigenen Predigerorden gründete, dessen Angehörige in einer "Pfarrgemeinde" arbeiteten und dort als Einmanntruppe gegen das Laster und als Hüter der öffentlichen Moral wirkten. Wie erfolgreich sie tatsächlich waren, bleibt ungewiß; spätere Chroniken erwähnen sie kaum. Als viel wirkungsvoller erwies sich das weitläufige "Waisenhaus" - oder vielmehr Krankenhaus und Obdachlosenheim -, das er neben der Pauluskirche auf der Akropolis von Konstantinopel (auf dem Gelände des heutigen Topkapi-Palastes) errichten ließ und welches Anna Komnena als "eine Stadt innerhalb der Stadt" bezeichnet:
Ringsum standen im Kreis zahllose Gebäude, Unterkünfte für die Armen und - ein noch größerer Beweis seiner Menschlichkeit-Wohnungen für die Behinderten. Erblickte man diesen Bereich voller Menschen, verkrüppelt oder völlig hilflos, glaubte man, Salomons Vorhalle vor sich zu haben. Die Gebäude waren in einem Doppelkreis angeordnet und zweistöckig. So groß war der Kreis, dass, wollte man all diese Menschen besuchen und zöge frühmorgens los, es Abend würde, bevor man damit zu einem Ende käme. Sie besaßen zwar weder Land noch Weinberge, doch lebten sie alle in der ihnen zugewiesenen Behausung und für all ihre Bedürfnisse an Nahrung und Kleidung kam die Großzügigkeit des Kaisers auf.  Für wie viele Personen auf diese Weise gesorgt wurde, war nicht abzuschätzen. Tatsächlich gründeten Alexios' Motive nicht ausschließlich auf reiner Menschenliebe. Zu den Erscheinungen des moralischen Zusammenbruchs, der sich unter seinen Vorgängern vollzogen hatte, gehörten auch die zahllosen Menschen in der Stadt, die sich den Lebensunterhalt mit Betteln verdienten. Von allen Ministern oder höheren Staatsbeamten, die vor der Beförderung in einen höheren Rang oder in ein höheres Amt standen, wurde erwartet, dass sie den Armen großzügige Zuwendungen überreichen ließen, und ihre Häuser waren gelegentlich regelrecht belagert von den vielen, die an ihre Großzügigkeit appellierten. Die fast unüberschaubare Zahl der Beförderungen, mit denen Nikephoros Botaneiates seine schwindende Popularität zu stärken versucht hatte, hatte ihre Anzahl noch vergrößert. Im übrigen erfreuten sie sich bei denen, die sie so bedrängten, einiger Beliebtheit, denn den sozialen Status im damaligen Konstantinopel bestimmten nicht nur Rang und Namen, sondern auch Mäzenatentum und karitative Spenden, und so lechzten viele Reiche förmlich nach einer Gelegenheit, das Ausmaß ihrer Freigebigkeit öffentlich zeigen zu können. Natürlich erlaubte die Eröffnung des Asyls Alexios auch, die Bettler der Stadt zu kontrollieren, aber sie zielte ebenso darauf ab, das Ansehen seiner höheren Beamten in dem Maße zu vermindern, wie sie das seinige erhöhte.
Es erstaunt nicht, dass Alexios, als meisterhafter Diplomat, der er war, während seiner Regierungszeit alles daransetzte, die Kluft zwischen Ost- und Westkirche zu schließen. Zu seinem Pech hing er jedoch zu überzeugt - um nicht zu sagen, stur - an seinem orthodoxen Glauben, um bei Verhandlungen die nötige Flexibilität an den Tag legen zu können. Als Papst Urban II. 1089 den Abt von Grottaferrata mit dem dringenden Ersuchen nach Konstantinopel entsandte, das Lesen der heilige Messe nach lateinischem Ritus zu gestatten, beschränkte Alexios sich in seiner Antwort auf den Vorschlag, einen gemeinsamen Rat einzuberufen, um die Angelegenheit zu besprechen. Die Beschlüsse dieser Synode sind nicht überliefert; sie scheint indes mindestens bis zu einem gewissen Grad von Erfolg gekrönt gewesen zu sein, denn man weiß, dass Papst Urban bei deren Abschluß den bis dahin über das Ostreich verhängten Kirchenbann aufhob. Obwohl der Bruch noch lange nicht völlig verheilte, gestaltete sich die Beziehung doch freundschaftlich genug, dass Alexios Papst Urban II. nur gerade zwei Jahre später um Hilfe im Kampf gegen die petschenegische Gefahr bat. Hin und wieder fanden weitere Verhandlungen statt. 1108 war ein päpstlicher Gesandter als Zeuge bei der Unterzeichnung des Vertrags von Dewol anwesend, und 1112 soll Kaiser Alexios - wenn wir der Chronik von Monte Cassino glauben dürfen - als Gegenleistung für die Krone des Westreichs gar die Vereinigung der beiden Kirchen vorgeschlagen und geplant haben, im Sommer jenes Jahres Rom zu besuchen.
Dass dieser Bericht zutrifft, wird allerdings bezweifelt, und wahrscheinlich aus gutem Grund. Vor allem anderen stand das Westreich gewiß nicht zum Verkauf. Kaiser HEINRICH V. war ein erklärter und erbitterter Feind Papst Paschalis II. und hatte ihn und 16 Kardinäle 1111 sogar zwei Monate lang gefangen gehalten. Paschalis II. erkaufte sich seine Freiheit schließlich, indem er HEINRICH am 13. April krönte, und so konnte er wohl kaum nur etwas mehr als ein Jahr danach einen "Gegen-Kaiser" küren. Viel eher hatte Alexios wohl ein Auge auf  Süd-Italien geworfen, ein Gebiet, das nach dem Tod von Bohemund und dessen Halbbruder Roger Borsa im Abstand von nur einer Woche ebenfalls im Jahre 1111 ohne Oberhaupt dastand und das er zu gerne für Byzanz zurückgewonnen hätte. Doch obwohl seine Stellung inzwischen ein gutes Stück sicherer war als früher, ist es unwahrscheinlich, dass er unter den damals herrschenden Umständen überhaupt je mit dem Gedanken gespielt hat, so lange von Konstantinopel wegzubleiben.
Was auch immer er indes für Pläne hegte, sie hätten sich als unausführbar erwiesen, denn im Sommer 1112 erkrankte er schwer und mußte offenbar mehrere Wochen lang das Bett hüten. Der Briefwechsel mit Rom setzte zeitweise aus, doch beharrte der Papst nach wie vor fest auf seiner Oberherrschaft, und Byzanz weigerte sich, seine Unabhängigkeit aufs Spiel zu setzen. So änderte sich nichts. Und Alexios fand seine Aufmerksamkeit ohnehin bald durch andere, dringlichere Probleme in Anspruch genommen.
Der Friede, der Ende 1108 mit dem Vertrag von Dewol begonnen hatte, hielt drei Jahre an; dann brachen die Kämpfe erneut aus und setzten sich bis zum Ende seiner Regentschaft fort. In jenem Herbst 1111 gelang es Alexios knapp, zu verhindern, dass seine Truppen gleichzeitig an zwei Fronten kämpfen mußten, als erneute türkische Übergriffe mit der Ankunft von genuesischen und pisanischen Flottenverbänden zusammenfielen, welche die ionische Küste zu verwüsten drohten. Zum Glück kam es zu einem Vertrag mit Pisa, in dem Byzanz sich verpflichtete, dessen Kreuzzugaktivitäten nicht zu behindern, dem Dom jährlich ein Geschenk in Form von Gold und Seide zukommen zu lassen und - viel wichtiger noch - den pisanischen Kaufleuten erlaubte, in Konstantinopel eine ständige Handelskolonie einzurichten, deren führende Angehörige in den Genuß von Sitzplätzen sowohl für die heiligen Messen in der Hagia Sophia wie für die Spiele im Hippodrom kamen.
Mit den Türken ließ sich nicht ganz so einfach verfahren. Zum Glück für Alexios waren sie noch nicht auf Eroberung aus, denn in Kleinasien gab es noch mehr als genug Territorium zu vereinnahmen und zu konsolidieren. Ihre Einfälle glichen eher sorgfältig geplanten Überfällen; sie vermieden konzentrierte Schlachten wenn immer möglich und griffen stets auf breiter Front und an verschiedenen Punkten gleichzeitig an - was die byzantinischen Streitkräfte zur Aufspaltung zwang -, um sich dann rasch wieder davonzumachen, mit soviel Beute und so vielen Gefangenen wie nur möglich. 1111 überquerten sie den Hellespont und brachen in Thrakien ein, wo, laut Anna Komnena, ihres Vaters Truppen zu Beginn des darauffolgenden Jahres gegen sie kämpften. 1113 belagerte ein weiteres türkisches, diesmal auf rund 45.000 Mann geschätztes Heer Nikäa; doch der Versuch scheiterte, es wurde bei Dorylaion von Alexios' Truppen überrascht und nachhaltig geschlagen. Ein Jahr später waren die kaiserlichen Truppen mit Alexios an der Spitze dann wieder in Thrakien anzutreffen, um die Nordgrenzen gegen eine neue Invasion durch die Kumanen zu verteidigen, und kaum hatten sie diese erfolgreich zurückgetrieben, waren 1115 auch schon die Türken einmal mehr auf dem Vormarsch, diesmal unter dem Banner von Malik-Schah, dem seldschukischen Sultan von Ikonion.
Doch Alexios' Kraft ließ langsam nach. Inzwischen gut 60 Jahre alt - laut Johannes Zonaras 68 - und bereits von der Krankheit befallen, an der er sterben sollte, verschob er den Gegenstoß auf das folgende Jahr und zog erst im Herbst 1116 mit seinem Heer los, um den Sultan im eigenen anatolischen Kernland anzugreifen. Sie rückten bis Philomelion vor und trafen dabei auf wesentlich geringeren Widerstand als erwartet; der Vormarsch wurde jedoch merklich beeinträchtigt durch die große Zahl heimatloser griechischer Flüchtlinge, die in jeder Marschpause auftauchten, Familien, die vor den türkischen Invasoren geflohen waren und nun aus den unterschiedlichsten Verstecken hervorkamen, um sich in den Schutz der byzantinischen Truppen zu begeben. Aus ungeklärten Gründen blies Alexios an dieser Stelle zum Rückzug, und das byzantinische Heer befand sich bereits auf dem Heimweg, als Malik-Schah anzugreifen beschloß. Dies erwies sich gemäß Anna Komnena als schwerwiegender Fehler. Des Sultans Heer sei, so berichtet sie, von den byzantinischen Soldaten derart niedergemacht worden, dass er gezwungen war, um Frieden zu bitten, seine jüngsten Eroberungen aufzugeben und die Grenzen des Kaiserreichs anzuerkennen, wie sie kurz vor der Schlacht bei Mantzikert unter der Herrschaft Kaiser Romanos Diogenes' bestanden.
Es habe sich, fährt sie fort, wahrlich um einen historischen Sieg gehandelt. Aber ach, sie scheint hier einmal mehr ihrem Wunschdenken nachgegeben zu haben. Die alten Grenzen während Romanos' Herrschaft verliefen ostwärts bis Armenien, ein Gebiet, das - von ganz anderen Überlegungen einmal abgesehen - der Sultan gar nicht zurückgeben konnte; auf jeden Fall deuten die folgenden Ereignisse stark darauf hin, dass es zu keiner derartigen Gebietsabtretung gekommen ist. Möglich, dass Malik-Schah seine Vorposten in West-Anatolien abzog, aber er blieb in Ikonion, und es ist unwahrscheinlich, dass Alexios mit irgendwelchen größeren territorialen Zugeständnissen in Händen zurückkehrte. Angesichts des hoffnungslosen Durcheinanders in Annas Bericht und ihrer offensichtlichen Voreingenommenheit sowie der geringen Anzahl anderer Quellen, werden wir die Wahrheit über Philomelion nie erfahren. Ob entscheidend oder unbedeutend, sicher ist, dass dieser Sieg Alexios' letzter war. Er kehrte als kranker Mann nach Konstantinopel zurück und fand sich dort inmitten erbitterter Familienzwistigkeiten wieder.
Das bedeutete für ihn allerdings keine neue Erfahrung, denn die Familie war bereits seit seiner Thronbesteigung entzweit. Von Anfang an hatte die Schuld daran hauptsächlich bei ihm gelegen. Wir haben gesehen, welche Machtstellung seine Mutter Anna Dalassena innehatte und wie er seine 15-jährige Ehefrau Irene Dukas in den Hintergrund schob und sogar ihre Krönung zu verhindern versuchte, um mit seiner Adoptiv-Mutter Maria von Alania zu regieren. Maria verschwand dann bald von der Bildfläche, und Irene kehrte an seine Seite zurück, doch Anna Dalassena wirkte für einige weitere Jahre als treibende Kraft hinter dem Thron, mächtiger und einflußreicher als ihr zweiter Sohn, der Sebastokrator Isaak, mit dem sie die Herrschaft theoretisch teilte, wenn sich Alexios auf einem seiner zahlreichen Feldzüge befand. In Konstantinopel sah man ihre Macht je länger, desto weniger gern, bis es soweit kam, dass Alexios in ihr eine ernsthafte Belastung zu sehen begann. Deshalb zog sie sich um 1090, angeblich freiwillig, in das Kloster Pantepoptes zurück, wo sie einige Jahre später, nicht in völliger Ungnade, das Zeitliche segnete.
Mit dem Rückzug von Anna Dalassena kommt nun endlich Kaiserin Irene zum Zug. Ihre Tochter Anna Komnena, bei der die Tugend kindlicher Achtung schon fast lästerlich wirkt, beschreibt sie wie folgt:
Ihrer natürlichen Neigung nach hätte sie das öffentliche Leben gänzlich gemieden. Den größten Teil ihrer Zeit widmete sie ihren häuslichen Pflichten und ihren eigenen Studien - sie las die Bücher der Heiligen oder befaßte sich mit guten Werken und karitativer Arbeit. Wann immer sie als Kaiserin im Rahmen einer wichtigen Zeremonie öffentlich in Erscheinung zu treten hatte, überkam sie Verlegenheit, und sie errötete. Da gibt es die Geschichte der Philosophin Theano, die einmal versehentlich ihren Ellbogen entblößte, und als jemand leichtfertig bemerkte: "Was für ein schöner Ellbogen!", antwortete: "Aber nicht für die Öffentlichkeit bestimmt." Genauso verhielt es sich mit meiner Mutter, der Kaiserin [...] Weit davon entfernt, Gefallen daran zu finden, ihren Ellbogen oder ihre Augen dem Blick des gewöhnlichen Volkes auszusetzen, gab sie sogar nur unwillig zu, dass Fremde ihre Stimme zu hören bekamen [..] Aber da, wie der Dichter sagt, gegen das Unvermeidliche selbst Götter nicht kämpfen, mußte sie den Kaiser auf seinen häufigen Expeditionen begleiten. Ihre angeborene Bescheidenheit hielt sie im Palast, doch ihre Hingabe und ihre brennende Liebe zu ihm drängten sie, wenn auch unwillig, ihr Zuhause zu verlassen [...] Die Krankheit, die seine Füße befallen hatte, verlangte umsichtigste Pflege; er litt durch die Gicht unter qualvollen Schmerzen und schätzte mehr als alles andere die Hand meiner Mutter, denn sie kannte ihn durch und durch und wußte seine Pein bis zu einem gewissen Grad durch sanfte Massage zu lindern."
Dies mag soweit ja alles zutreffen, aber es könnte neben der Gicht noch einen weiteren Grund dafür gegeben haben, weshalb Alexios so nachdrücklich darauf beharrte, dass Irene ihn auf seinen Feldzügen begleitete: Er traute ihr nicht über den Weg. Dabei fürchtete er nicht um seine eigene Sicherheit, sondern um die seines ältesten Sohnes, des gesetzmäßigen Thronerben Johannes Komnenos, den sie, wie er wußte, ebenso wie ihre Tochter Anna erbittert haßte und gegen den sie ständig Komplotte schmiedete, um ihn in Ungnade zu stürzen oder aus dem Weg zu schaffen, damit Anna ihren Mann, den Cäsar Nikephoros Bryennios, an seiner Statt als Nachfolger auf den Thron hieven konnte. Mit der Zeit wurden die zwei eigene Pläne schmiedenden Frauen zum Brennpunkt für die Mißgunst verschiedener anderer Unzufriedener, unter ihnen besonders des zweiten Kaiser-Sohnes Andronikos. Irene ließ keine Gelegenheit ungenutzt verstreichen, um Johannes bei seinem Vater zu verunglimpfen und stellte ihn als Trunkenbold und Wüstling und damit als Regentschaftskandidaten hoffnungslos ungeeignet hin. Alexios jedoch wollte davon absolut nichts hören. Er vertraute auf Johannes und hielt - zu Recht, wie sich später herausstellte - an diesem Vertrauen in seine Fähigkeiten fest. Vor allem aber ging es ihm darum, als Gründer einer Dynastie in die Geschichte einzugehen. Er sah den Verfall von Byzanz im vorangegangenen Jahrhundert in erster Linie als Folge der dauernden Instabilität, welcher der Thron unterworfen war, indem er entweder an Unzuverlässige wie Zoes Ehemänner ging oder als Spielball innerhalb der reichsten und mächtigsten Familien im Reich von der einen zur anderen Hand sprang. Alexios hatte ihn zwar schließlich auf eben diese Weise erlangt, aber nun wollte er der letzte sein, dem dies gelungen war. Falls seine eigenen beachtlichen Leistungen von Dauer sein sollten, gab es für ihn nichts anderes, als dass die Krone in ordentlicher Folge an seinen erstgeborenen Sohn und, so Gott wollte, danach an dessen Sohn überging.
In Konstantinopel ging es mit Alexios' Gesundheit bergab, und im Sommer 1118 erkannten alle, dass er nicht mehr allzu lange zu leben hatte. Mittlerweile litt er unter ständigen Schmerzen und an ernsthaften Atembeschwerden; bald konnte er nur noch aufrecht sitzen, damit er überhaupt Luft bekam. Dann begannen Bauch und Füße anzuschwellen, und Mund, Zunge und Hals waren derart wund, dass er nicht mehr schlucken konnte. Irene ließ ihn in ihren eigenen Palast, den Manganenpalast, bringen, sie verbrachte täglich Stunden an seinem Bett und ordnete an, dass im ganzen Reich Gebete für seine Genesung gesprochen wurden. Allein, auch sie konnte ihm keine Erleichterung verschaffen und mußte wie alle anderen erkennen, dass es rasch mit ihm zu Ende ging. In den Nachmittagsstunden des 15. August überbrachte ein Bote Johannes Komnenos die Nachricht, sein Vater habe nur noch wenige Stunden zu leben und wünsche ihn dringend zu sehen. Er eilte zu Irenes Palast, wo ihm der sterbende Alexios den kaiserlichen Ring übergab und ihn anwies, keinerlei Zeit zu verlieren und sich als Basileus ausrufen zu lassen. Johannes tat so und eilte dann hinüber zur Hagia Sophia, wo er vom Patriarchen in einer Kurzzeremonie gekrönt wurde. Als er zum Palast zurückkehrte, verwehrte ihm - vielleicht auf fremdes Geheiß - die Warägergarde zunächst den Zutritt. Erst nachdem er den Ring vorgewiesen und sie vom unmittelbar bevorstehenden Ende seines Vaters unterrichtet hatte, traten sie zurück und ließen ihn ein.
Was aber unternahm Irene in der Zwischenzeit? Gewiß noch immer entschlossen, Byrennios die Nachfolge zu sichern, wäre sie der letzten Unterhaltung zwischen ihrem Mann und ihrem Sohn nie und nimmer freiwillig ferngeblieben. Und dennoch hatte man es, obwohl sie seiten von seinem Lager wich, irgendwie zuwege gebracht, sie genau zu diesem, für ihre Pläne entscheidenden Zeitpunkt davon wegzulocken. Als sie schließlich zurückkehrte, war es bereits zu spät. Sie soll noch einen letzten Versuch unternommen haben, Alexios zur Anerkennung der Rechte ihres Schwiegersohnes zu bewegen, doch er lächelte nur und hob - zum Sprechen zu schwach - die Hände wie zum Dank. Er starb noch am selben Abend und wurde am folgenden Tag im Rahmen einer bescheidenen Feier im Philanthropos-Kloster begraben, das Irene 15 Jahre zuvor gegründet hatte.
Er hätte einen feierlicheren Abschied verdient, denn das Volk verdankte seiner Herrschaft mehr, als es wußte. Zum ersten hatte er sein Hauptziel erreicht, nämlich dem politischen und moralischen Niedergang, der 1025 mit dem Tod Basileios' II. eingesetzt hatte, Einhalt zu gebieten und dem Reich eine neue Stabilität zu verleihen. Nach 56 Jahren mehr schlechter als rechter Regentschaft 13 verschiedener Personen auf dem Thron hatte er 37 Jahre lang regiert; nach ihm sollte sein Sohn Johannes bis zu seinem Unfalltod 25 Jahre und sein Enkel wiederum 37 Jahre auf dem Thron sitzen. Hinzu kamen die militärischen Leistungen. Kein anderer Kaiser hatte sein Volk kämpferischer und entschiedener und gegen eine größere Anzahl von Feinden verteidigt und kein anderer sich konsequenter um den Aufbau einer kaiserlichen Land- und Seestreitmacht bemüht. Und zum dritten fiel in seine Regierungszeit die herausragend organisierte Weiterleitung der Kreuzzugheere, in deren Verlauf an die 100.000 Männer, Frauen und Kinder aller Stände und sozialen Schichten durch Reichsgebiet geschleust, ernährt und, soweit möglich, vom einen Ende des Reiches bis zum anderen beschützt worden waren. Wären diese Kreuzzugheere ein Vierteljahrhundert früher durch die Lande marschiert, hätte sich dies für sie selbst wie für Byzanz verheerend auswirken können.
So kann man sagen, dass Alexios Komnenos auf drei verschiedenen Ebenen und mit drei unterschiedlichen Begabungen, nämlich als Staatsmann, Feldherr und Diplomat, das Reich vor dem Verfall bewahrte. Natürlich hatte er auch Mißerfolge zu verbuchen. So gelang es ihm nicht, die Wirtschaft wiederaufzurichten, den Riß zwischen Rom und Konstantinopel zu kitten und Süd-Italien wiederzugewinnen. Doch von diesen war nur der erste Punkt wirklich von Belang, die beiden anderen dagegen kaum mehr als Träume, die weder er noch sonst jemand auf dem kaiserlichen Thron jemals verwirklichen konnte. Auch hatte er klare Schwächen, darunter sein schamloser Nepotismus, und er stand weit mehr unter dem Einfluß vor allem von Frauen, als er dies in seiner Stellung hätte zulassen dürfen; Maria von Alania, Anna Dalassena und Irene besaßen beträchtliche Macht über ihn. Selbst in der außerordentlich wichtigen Frage der Nachfolge traute er sich nicht, seinen Willen Irene gegenüber offen zu äußern, sondern bediente sich einer List, statt eines klaren kaiserlichen Befehls, um sein Ziel durchzusetzen.
Ob er bedauerte, dass er - außer bei seinen Soldaten, die ihn verehrten - sich nie allgemeiner Beliebtheit erfreute? Wohl kaum. Er hat nie darum geworben und ganz bestimmt keins seiner Prinzipien aufgegeben, um den Beifall der Massen zu gewinnen. Nachdem er sich die Herrschaft angeeignet hatte, regierte er gewissenhaft, tatkräftig und nach bestem Vermögen. Seinem Sohn hinterließ er ein Reich, das ungleich stärker dastand und besser organisiert war als die ganzen 100 Jahre zuvor. Er starb zufrieden - das sei ihm gegönnt.