Holzfurter, Ludwig: Band I Seite 549,554,557,568-573
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Ebersberg - Dießen - Scheyern. Zur Entwicklung der oberbayerischen Grafschaft in der Salierzeit."

Ebersberg - Dießen - Scheyern. Diese drei oberbayerischen Orte stehen für drei Familien, die die Geschichte des Untersuchungsraumes über drei Jahrhunderte hinweg entscheidend prägten, nicht gleichzeitig, sondern in zwei aufeinanderfolgenden Zeitphasen. Gleichzeitig liegen von diesen drei Familien die Grafen von Scheyern und die Grafen von Dießen, beide weitaus öfter unter ihren jüngeren Namen bekannt, WITTELSBACH und ANDECHS, unter denen sie - entscheidend für die bayerische Geschichte und weit über diese hinaus - in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts gewaltsam aufeinanderprallten [1
M. Spindler/A. Kraus, Grundlegung und Aufbau 1180-1253, in: Handbuch der Bayerischen Geschichte I, München 21981, Seite 42ff.]. Diese gemeinsame Geschichte impliziert für beide Geschlechter eine annähernd gleiche Stellung, ein ähnlich aufgebautes Herrschaftssystem, zusammengenommen also eine auch für jedes Haus individuell gesehen gleiche Geschichte. Im Thema dieser Untersuchung sind diese beiden Familien bewußt mit ihren älteren Namen angeführt. Denn hier soll nicht die Rivalität dieser beiden Familien in der zweiten Hälfte des 12. und ihre gewaltsame Auseinandersetzung im 13. Jahrhundert im Mittelpunkt stehen, sondern vielmehr ihre frühe Entwicklung betrachtet werden, ihr Einrücken in die Positionen, aus denen heraus sie schließlich zu den Rivalen erwuchsen, deren Entscheidungskampf geschichtliche Bedeutung erlangen konnte. Als die ANDECHSER noch die Grafen von Dießen waren und die WITTELSBACHER noch die Grafen von Scheyern, ja, ohne nun vorgreifen zu wollen, als diese beiden Familien noch nicht einmal das waren, vollzog sich für beide die entscheidende Entwicklung. Die Fragen, die sich stellen, ergeben sich daraus: Wer waren diese Dynasten-Familien ursprünglich, woher bezogen sie ihre Macht, wie bauten sie sie aus? Daß sich die Herrschaftssysteme der beiden Dynasten-Familien am Ende des 12. Jahrhunderts nicht wesentlich voneinander unterscheiden, ist bekannt [2 G. Flohrschütz, Machtgrundlagen und Herrschaftspolitik der ersten Pfalzgrafen aus dem Hause Wittelsbach, in: H. Glaser (Hg.), Wittelsbach und Bayern I/1: Die Zeit der frühen Herzöge. Ausstellungskatalog, München/Zürich 1980, Seite 49.]. Dies muß jedoch keineswegs zwingend bedeuten, daß auch ihre Ausgangspositionen vor dem Aufbau der Herrschaftssysteme, die sie im 12. und 13. Jahrhundert aufweisen können, sich in derselben Weise geglichen haben.
In diesem Zusammenhang werden auch die Grafen von Ebersberg interessant. Sie beherrschen einen großen Teil der Räume, die später die Macht- und Besitzräume der Grafen von Scheyern werden sollen, sie schaffen auch einen Teil der späteren Machtpositionen der SCHEYERER, wenn sie auch selbst diese noch nicht in derselben Weise zu benutzen verstehen. Ihre Herrschaft endet zu dem Zeitpunkt, an dem der Aufstieg der beiden anderen Familien beginnt. Es ist im Grunde nur zu erwarten [3 F. Prinz, Der bayerische Adel bis 1180, in: Handbuch der Bayerischenn Geschichte I, München ²1981, Seite409ff.], daß sich ihre Grafschaft und die Bildung ihrer Herrschaft wesentlich unterscheidet von der der DIESSENER und SCHEYERER. Die Frage stellt sich eher in Bezug auf diese beiden Familien als auf die der Grafen von Ebersberg: Wenn wir die Grafen von Ebersberg einmal von vornherein als die Vertreter einer frühen Stufe der Grafschaft und der adeligen Herrschaftsbildung ansehen wollen, gehören DIESSENER und SCHEYERER dann tatsächlich beide derselben, einer jüngeren Stufe an?

                                                  1. Die Grafen von Ebersberg


Um die Herrschaftsgrundlagen auch der beiden jüngeren Familien vergleichen zu können, ist es erforderlich, zuerst die Grafen von Ebersberg näher zu betrachten, um einen Modellfall für eine Grafschaft des 10. Jahrhunderts zu gewinnen. Die Grafen von Ebersberg sind die Dynasten-Familie Bayerns, von der uns aus dem Zeitraum vom 9. bis in das 11. Jahrhundert das weitaus meiste bekannt ist, ja sie sind die einzige Familie der Großen des Landes um die Jahrtausendwende, deren Geschichte von uns bis in das 8. Jahrhundert zurückverfolgt werden kann [4
Die derzeit aktuellste Darstellung zur Geschichte der EBERSBEERGER Grafen bietet G. Flohrschütz, Der Adel des Ebersberger Raumes (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 88), München 1989. Dort auch die Auseinandersetzung mit der früheren Literatur.]. Eine ungewöhnlich frühe Gründung eines dynastischen Eigenklosters, die erste seit der großen Gründerzeit des 8. Jahrhunderts, und eine ungewöhnlich gute Quellenüberlieferung [5 In den Ebersberger Traditionen, hg. von F. H. Graf Hundt, Das Cartular des Klosters Ebersberg (Abhandlungen der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Phil.-Hist. Klasse XIV, III. Abt.), München 1879, haben wir eines der wenigen Zeugnisse dieser Art vor uns, die vor die Jahrtausendwende zurückreichen. Die zweite bedeutende Quelle ist die Chronik des Klosters Ebersberg, MGH SS XX, Hannover 1868, Ndr. Stuttgart 1989, S. 10-16.] in diesem Kloster verschaffen ihnen für das 10. Jahrhundert sogar eine regelrechte Monopolstellung unter den bayerischen Grafen dieses Zeitalters, die leicht dazu führen kann, sie in ihrer - unbestritten sehr hohen - Bedeutung zu überschätzen [6 Davor warnt auch Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 2 f.]. Daß wir sie als Familie, als Dynastie erkennen können, im Wesentlichen mit allen wichtigen Mitgliedern des Hauses, ist allein dem Umstand zu verdanken, daß eine ausführliche Chronik, im Hauskloster der Grafen niedergeschrieben, uns diese überliefert; bei der allgemeinen Beinamenlosigkeit des 10. und zum Teil auch noch 11. Jahrhunderts wäre sonst eine derart sichere Genealogie, wie sie uns für die Grafen von Ebersberg möglich ist, kaum zu erstellen [7 Die Genealogie bei F. Tyroller, Genealogie des altbayerischen Adels im Hochmittelalter, Göttingen 1962, Tafel 2, ist nicht zuletzt der unreflektierten Verbindung zwischen den EBERSBERGERN und den KÜHBACHERN (vergleiche Abschnitt II dieser Untersuchung) wegen, gegen die bereits E. v. Oefele, Die Traditionen des Klosters Kuhbach (Sitzungsberichte der Phil.-Hist. Klasse der Bayerischen Akademie der Wissenschaften 1896), Seite 269ff., gewichtige Einwände vorbrachte, als überholt anzusehen. Eine nach derzeit bestem Wissen korrigierte Stammtafel bei Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 123.]. Die Anlage dieser Chronik zeigt zudem, daß offensichtlich das Kloster in der Fortführung der Gründerfamilie möglicherweise hier auch bereits einem recht frühen Familienbewußtsein - vielleicht nicht dem genealogischen Bewußtsein späterer Jahrhunderte vergleichbar, aber in ihrem Kernraum und in der direkten männlichen Linie unübersehbar vorhanden - Rechnung trug [8 Zur Problematik der Bewußtseinsentwicklung in den adeligen Familien des hohen Mittelalters Prinz, Adel (wie Anm.3), Seite 405 ff.]. Wir haben in ihrer Herrschaft fraglos noch ein herausragendes Beispiel einer karolingischen Grafschaft vor uns. Diese befindet sich in der Hand einer Familie des ostfränkischen Reichsadels, die, ohne in Bayern eine wesentliche Basis oder möglicherweise ohne überhaupt irgend etwas zu besitzen, durch die königliche Gewalt hierher versetzt wurde und hier einwurzelte [9 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 46ff.];eine Grundlage für spätere Entwicklungen - und das ist im Gegensatz zu den anderen Familien, wie noch zu sehen sein wird, das wesentliche Kennzeichen - hat sie indessen nicht schaffen können, wohl eben gerade wegen dieser Art ihrer Einsetzung. Die meisten ihrer Machtpositionen gingen auf Lehen zurück, fußten demnach auf der Gewalt des Reiches.
Die Herkunft der EBERSBERGER ist nicht ganz geklärt. Der oft vertretenen Theorie einer fränkischen Abstammung [10
Ältere Literatur bei W. Störmer, Adelsgruppen im früh- und hochmittelalterlichen Bayern (Studien zur Bayerischen Verfassungs- und Sozialgeschichte 4), München 1972, Seite 165f. Störmer selbst läßt die Frage nach der Herkunft der EBERSBERGER offen, hält sogar eine kognatische oder agnatische Beziehung zur RATOLT-Sippe um Daglfing (siehe Anm. 21) für möglich. ] steht eine Auffassung einer schwäbischen Herkunft gegenüber, die, wie neuerdings von Flohrschütz gezeigt, die besseren Argumente für sich hat [11 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 97f.]. Sie waren nach eindeutigen Zeugnissen mit König Karlmann verwandt, und der erste für uns greifbare Vertreter der Familie, Graf Sighart, gehörte zu seinen wichtigsten Stützen. Die guten Beziehungen zu Karlmann überdauerten das Zwischenspiel KARLS III. im Königtum, und als ARNULF VON KÄRNTEN diesen stürzte, um selbst das Königtum an sich zu reißen, gehörte Sighart wieder zu seinen ersten und vornehmsten Gefolgsleuten. Der Ebersberger Chronik zufolge erhielt Sighart 888 von diesem den königlichen Markt Sempt, an dem gleichnamigen Flüßchen gelegen, geschenkt, mit reichem Zubehör, vor allem aber mit dem östlichen Teil eines ausgedehnten Waldgebietes, das heute noch unter dem Namen Ebersberger Forst eine stattliche Waldfläche darstellt, wenngleich der zuerst dem Grafen Sighart geschenkte Teil westlich Eggelburgs noch zu Zeiten der Grafen von Ebersberg weitgehend verschwunden sein sollte. Es gibt kaum eine andere Erklärung für das unverzügliche Auftreten der Familie als Grafen [12 Erstmals MGH DD Arn. 144, 159. ], als daß sich mit diesem forum fiscale auch das Amt des Grafen an der Sempt verbunden hatte. Diese Grafschaft ist uns seit der Mitte des 10. Jahrhunderts bekannt; sie erscheint unter einer etwas ungewöhnlichen Bezeichnung in einer Urkunde OTTOS DES GROSSEN. Dort heißt es, der Ort Neuching liege in comitatu Eberhardi - gemeint ist damit Graf Eberhard von Ebersberg - in pago Hehsinga [13 MGH D 0 I. 126 (950).]; Höxing ist also wohl ein Dingort mit einem bestimmten regional abgegrenzten Zuständigkeitsbereich [14 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 83ff. ]. Zu Anfang des 11. Jahrhunderts erscheint dieselbe Grafschaft unter der Bezeichnung in pago Steinheringa [15 MGH D 0 1. 135.]; Steinhöring war also offensichtlich um diese Zeit ein Mittelpunkt der Grafschaft der EBERSBERGER.
Der Name der Grafen von Ebersberg leitet sich von einer Burg ab, die Graf Eberhard, der Enkel dieses Sighart, wohl bereits wenige Jahre nach der Schenkung ARNULFS im östlichen Sempter Forst erbaut hatte, nicht allein als Fluchtburg für die Bevölkerung, sondern wohl bereits als stabil erbaute Festung mit einer ständigen Besatzung. Obwohl sich die Grafen nie selbst nach dieser Burg benennen, war sie wohl der Zentralort ihrer eigenen Herrschaft, nicht jedoch Zentralort auch der Grafschaft, wie sich aus ihren Bezeichnungen in den Urkunden [16
Vgl. Anm. 13 und 15.] erkennen läßt. Ebersberg war nach Ausweis der Ebersberger Chronik eine Rodung im Sempter Forst [17 Chronik des Klosters Ebersberg (wie Arm.5), S. 10. ]; sie ist umgeben von zahlreichen weiteren Rodungen, deren Ortsnamen sich als Beinamen von Personen im Gefolge der Grafen widerspiegeln [18 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), S. 76. ]. Diese offensichtlich groß angelegte Rodung des östlichen Sempter Forstes verbreiterte die Besitzbasis der Grafen beträchtlich, spielte aber offenbar doch nur so lange eine Rolle, bis auf dem Wege der Einheirat und der Erbschaft sich eine breitere Machtbasis angesammelt hatte. Der einige Jahrzehnte später in den Besitz der Grafen geratene westliche Teil des Forstes, der wohl zu der zunächst sich in anderen Händen befindlichen Eggelburg gehörte, zeigt weit weniger intensive Rodungseingriffe [19 Ebd.], und der nördlich des zweiten EBERSBERGER Hausklosters Geisenfeld liegende Feilenforst wurde ebenfalls nicht annähernd so intensiv gerodet [20 Ebd., Seite 84.]. Offensichtlich hatte von einem bestimmten Zeitpunkt an dieses Vorgehen nicht mehr die Wirksamkeit, oder aber es bestand nicht mehr die Notwendigkeit, auf diese Weise die Machtbasis zu verbreitern.
Es gibt eine Spur zu einer möglichen Erklärung für diesen Wechsel in den Interessen: Einige auffällige Namensgleichheiten zwischen den Grafen von Ebersberg und einer seit dem frühen 9. Jahrhundert nachweisbaren Familie um Daglfing mit weitreichenden Besitzungen, die später sämtlich im Besitz der EBERSBERGER erscheinen, geben zusammen mit der wohl als Argument weitaus gewichtigeren Besitzkontinuität Anlaß zur Annahme, daß hier eine besitzmächtige und sehr angesehene Familie, die in der Literatur nach dem Personen-Namen Ratold, der das Bindeglied darstellt, als RATOLD-Sippe bezeichnet wird, von den Grafen »aufgeheiratet« wurde [21
Hierzu ausführlich Störmer, Adelsgruppen (wie Anm. 10), Seite 165ff.; entschiedener, dadurch aber auch affirmativer Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), S. 120ff.]. Damit wurzelten die Grafen von Ebersberg, woher sie auch immer stammten und unter welcher Bezeichnung sie sich selbst bis dahin gesehen hatten, auch familiär ein, vor allem aber gewannen sie nun eine beträchtliche Allodialbasis rund um das Forstgebiet, das bis dahin ihre ausschließliche Machtbasis dargestellt hatte.
Kurzfristig, zwischen 930 und 963, dehnten die EBERSBERGER ihren Einfluß weiter nach Westen aus. In dieser Zeit erscheinen Mitglieder der Familie als Grafen an Amper und Glonn [22
Ebd., Seite 61 f.], also just in jenem Raum, den später die Grafen von Scheyern zur Ausgangsbasis ihrer Macht nutzen sollten. Diese Grafschaft, in der sie in der kurzen Zeit auch gar nicht die Machtbasis errichten konnten wie in der Grafschaft, die wir nach den beiden urkundlichen Nennungen als die Grafschaft Öxing-Steinhöring bezeichnen wollen, konnten sie indessen nicht über einen größeren Zeitraum hinweg halten, ohne daß uns die Vorgänge im Einzelnen ersichtlich wären. Möglicherweise gaben sie die Grafschaft an Amper und Glonn ab gegen die Grafschaft Persenbeug, in der sie ab diesem Zeitpunkt erscheinen. An Amper und Glonn tritt nach den EBERSBERGERN das Geschlecht der OTTENBURGER als Grafen auf, die nach ihren späteren Zentralorten besser als die Grafen von Grögling bzw. von Hirschberg bekannt sind [23 Zu den Grafen von Grögling-Hirschberg siehe P. Fried, Zur Herkunft der Grafen von Hirschberg, in: Zs. f. bayerische LG 28, 1965, Seite 82-98.]. Auch sie hatten wohl noch dieselbe rechtliche Machtbasis in dieser Grafschaft wie ihre Vorgänger.
Die EBERSBERGER stützten sich in ihrer Herrschaft weitgehend auf Vasallen, auf Freie und Edelfreie also, die durch einen Treueid und entsprechende Lehen an ihre Herrschaft gebunden waren. Wie Flohrschütz herausgearbeitet hat [24
Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 62-74.], bestand fast für alle Familien edelfreien Standes in ihrem Herrschaftsraum diese Bindung an das Grafen-Haus, das somit in zweierlei Hinsicht - sowohl über das für die Freien zuständige Grafengericht als auch die lehnrechtliche Hoheit - über diese gebieten konnte. Wir finden zwar im Ebersberger Raum bereits vor 1000 eine Dienstmannschaft der Grafen, jedoch versieht diese ausschließlich Verwaltungsdienste auf Eigengütern der Grafen und stellt die Besatzungen der Burgen [25 Ebd., Seite 12.]. Über ein weiter gespanntes Netz einer Ministerialität verfügen sie jedoch keinesfalls. Nachdem, wie im nächsten Abschnitt zu zeigen sein wird [26 Siehe Text zu Anm. 44 f.], die um die Jahrtausendwende bezeugten Hochstiftvögte Freisings wohl nicht zu den EBERSBERGERN zu rechnen sind, muß auch festgehalten werden, daß die EBERSBERGER keine bedeutenden Vogteien besaßen; das in mehreren Etappen seit 934 gegründete Hauskloster Ebersberg wurde fast ausschließlich durch die Gründer dotiert [27 F. H. Graf Hundt, Cartular (wie Anm. 5), S. 10f. Vergleiche Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 109.] und bedeutete somit keinen Machtzuwachs [28 Die grundlegende Rolle der Hausklöster hochmittelalterlicher Dynasten-Familien in deren eigenem Herrschaftsgefüge ist noch nicht nach modernen Gesichtspunkten untersucht. Eine oberflächliche Durchsicht der Traditionsbücher bayerischer Dynasten-Klöster ergab ein derart deutliches Überwiegen der Dotierung durch die Gründer-Familie, daß bis zu einer klärenden Untersuchung dieses Problems die topische Annahme einer herrschaftsbildenden Funktion solcher Klostergründungen vorerst besser nicht zur Grundlage weiterer Überlegungen gewählt werden sollte.], das jüngere Geisenfeld entstand erst kurz vor dem Aussterben der Familie [29 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 110f.]. Sie haben diese Vogteien auch nur die wenigste Zeit selbst verwaltet und übergaben sie bevorzugten Vasallen [30 Ebd., Seite 123f.]; noch war die Vogtei kein Herrschaftsinstrument von der Gewichtigkeit, wie sie sie später gewinnen sollte. Möglicherweise versuchten die letzten Vertreter des Hauses nach der Jahrtausendwende noch nach diesem Instrument zu greifen; es ist überliefert, daß Graf Adalbero II. sich um die zumindest zu diesem Zeitpunkt vom Konvent frei wählbare Tegernseer Vogtei bemühte. Diese wäre für einen weiteren Machtausbau durchaus interessant gewesen, da die meisten Tegernseer Besitzungen an den Machtraum des Grafen angrenzten, doch scheiterte sein Bemühen am Einspruch des Konvents - gegen den Willen des Abtes übrigens, der den EBERSBERGER favorisiert hatte [31MGH Epp. sel. III, Nr. 59 und 61.].
1045 starb die Familie der Grafen von Ebersberg im Mannesstamm aus [32
Störmer, Adelsgruppen (wie Anm. 10), Seite 175; Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 111.]. Der umfangreiche Besitz, die Rechtspositionen, die gesamte Macht dieser Familie zerfiel mit einem Male. Der Verbleib des Erbes zeigt, in welchem Umfang ihr Machtgefüge noch auf dem alten karolingischen Grafschaftssystem basiert hatte, und in welchem Maße sich dieses bereits überlebt hatte. Die Grafschaft Öxing-Steinhöring [33 Ebd., Seite 112-124.], wohl als karolingische Grafschaft anzusehen und seit der Schenkung von Sempt Kern- und Hauptraum ihrer Herrschaft in Ober-Bayern, zerfiel und verschwand spurlos [34 Ebd., Seite 113.] Um das Kloster Ebersberg gab es praktisch keinen Grafen mehr; das weitaus meiste Gut der EBERSBERGER war an dieses Kloster geschenkt worden, als nunmehriges Reichskloster besaß es die Immunität und wäre somit für jeden Grafen außerhalb seines Einflusses gelegen. Im Gegenteil, die verbliebenen Grafschaftsrechte riß anscheinend, wenigstens kurzfristig, der schon zu Lebzeiten der letzten Mitglieder des EBERSBERGER Hauses mit der Vogtei über das Kloster betraute Rotpert von Schleißheim an sich, ein ehemaliger Vasall der EBERSBERGER [35 Ebd., Seite123 f.], der sich einmal in der Tat Graf nennt [36 Ebd., Seite 124.]. Dieser verwaltete vorübergehend auch die Tegernseer Vogtei [37 P. Acht, Die Traditionen des Klosters Tegernsee (Quellen u. Erörterungen zur bayerischen Geschichte, NF9/1) München 1957, Nr. 17.], die er aber nicht halten konnte. Den noch mit dichteren Grafschaftsrechten versehenen nördlichen Teil der Grafschaft übernahm ein Fridrich, möglicherweise aus der mit den EBERSBERGERN eng verwandten Familie der EPPENSTEINER [38 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 121.]. Die Vogtei über Geisenfeld behielten ebenfalls EBERSBERGER Vasallen [39 Ebd., Seite 123.], die aber kein größeres Kapital aus dieser Position zu schlagen vermochten. Nicht zu den unmittelbaren Erben der EBERSBERGER, dies dürfte endgültig gesichert sein, gehörten die Grafen von Scheyern [40 Flohschütz, Pfalzgrafen (wie Anm.2).], obwohl deren erster Vertreter, Otto, eben gerade in den Jahren ihres Erlöschens erstmals in den Quellen auftaucht. Was von dem EBERSBERGER Erbe in ihre Hände überging, gewannen sie jedoch durch königliches Lehen [41Ders., Ebersberg (wie Anm.4), Seite 118f. ]. Hier zeigt sich noch einmal klar die eigentliche Grundlage der EBERSBERGER Macht: Sie entstand durch königliche Gunst, und just als sie ausstarben, konnte ein zu diesem Zeitpunkt starkes Königtum den Anstoß für den Aufstieg eines anderen Geschlechts geben - es war, nebenbei bemerkt, das letzte Mal, daß das Königtum in Bayern überhaupt in die inneren Strukturen wesentlich eingreifen konnte [42 Vergleiche Abschnitt VIII dieser Untersuchung.].
Doch vom Ende der EBERSBERGER bis zum eben bereits angesprochenen Aufstieg des Hauses SCHEYERN-WITTELSBACH war ein weiter Weg zurückzulegen, und auf den Grundlagen, die die EBERSBEREGER hinterlassen hatten, erfolgte dieser Aufstieg nicht. Dies wurde zwar oftmals angenommen, wobei übersehen wurde, daß die Grafen von Scheyern nur einen Teil des EBERSBERGER Machtraumes übernehmen konnten. Weit mehr jedoch geht diese Meinung auf das Mißverständnis zurück, weitere Vorläufer der Grafen von Scheyern mit den EBERSBERGERN, damit auch mit deren Machträumen, in denen die SCHEYERER - indessen wieder nur teilweise - zeitlich und persönlich sehr viel direkter nachfolgen konnten, in einer zu konsequenten Weise gleichzusetzen. Der Machtraum dieses Geschlechts war mindestens ebenso ausgedehnt wie der der EBERSBERGER, vielleicht noch weiter gespannt; diese Familie und ihre Machtpositionen gilt es nun zunächst zu betrachten.

                                                II. Die »Grafen von Kühbach«

Westlich des Raumes, den die EBERSBERGER zur Zeit ihres weitesten Vorstoßes nach Westen zwischen 930 und 963, als sie die Grafschaft an Amper und Glonn innehatten, beherrschten, tritt um 1000, nur kurze Zeit faßbar, ein Grafen-Geschlecht auf, dessen Vertreter lange Zeit für Vertreter der Hauptlinie der EBERSBERGER angesehen wurden, wobei man den Grafen Adalbero von Ebersberg mit dem gleichnamigen Grafen aus dieser Familie ungeachtet chronologischer Unvereinbarkeiten gleichgesetzt hatte [43
Einwände hiergegen bereits bei Oefele, Kühbach (wie Anm. 7); eine klare Widerlegung bei Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 120f.]. Nach neueren Erkenntnissen sind sie keineswegs der EBERSBERGER Linie dieses Hauses zuzurechnen; zumindest handelt es sich - wie Störmer mit guten Gründen vertreten hat - bei ihnen um eine politisch eigenständige Nebenlinie mit eigenem Familienbewußtsein [44 Störmer, Adelsgruppen (wie Anm. 10), Seite 174.]. Flohrschütz hat neuerdings, unter Beibehaltung einer über die Tochter des Grafen Adalbero II. laufenden Verwandtschaft zu den Grafen von Ebersberg, dies unter durchaus vertretbarer Beweisführung in Frage gestellt [45 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 109f.]. Tatsächlich läßt sich außer einer Namensgleichheit des ersten evident belegten Vertreters dieser Familie, des Grafen Adalbero, mit zwei Mitgliedern des Hauses EBERSBERG nicht eine einzige konkrete Beziehung nachweisen zwischen den EBERSBERGERN und der hier angesprochenen Familie, die wir nach ihrem um 1010 gegründeten Hauskloster die KÜHBACHER nennen wollen, wobei festzuhalten wäre, daß auch ein Graf Udalschalk aus diesem Haus sich einmal so nennt [46 P. Acht, Traditionen (wie Anm. 37), Nr. 1. Interessanterweise stehen in dieser Urkunde, die auf einem Hoftag zu Regensburg ausgestellt wurde, ein Adalpero comes de Chuopach und ein Eberhard comes de Eparesberg nebeneinander. Oefele, Kühbacher Traditionen (wie Anm. 7), Seite 260, nimmt diesen Beleg zum Anlaß für grundsätzliche Überlegungen zur verwandtschaftlichen Stellung der beiden Grafen zueinander, wobei er eine solche dem bloßen Nebeneinander der beiden zu Recht nicht entnehmen möchte. Signifikanter ist meines Erachtens die in den zu diesem ungewöhnlich frühen Zeitpunkt bemerkenswerten Beinamen ausgedrückte Unterscheidung der beiden Familien.]. Flohrschütz sieht, nicht ganz ohne Berechtigung, in den KÜHBACHERN einen Seitenzweig der im Chiemgau beheimateten BABONEN [47 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), Seite 121.]. Ihre Grafschaft scheint weit ausgedehnt gewesen zu sein. Hörzhausen [48 MGH D H IL 230 (1011).] war wohl ein Mittelpunkt derselben, ohne daß sich die eigentliche Funktion dieses Ortes erkennen läßt. Es zeigt sich hier indessen eine Analogie zu den beiden Nennungen der Grafschaft der EBERSBERGER [49 Vgl. Anm. 13 und 15.], so daß man wohl am sichersten geht, wenn man einen Gerichtsort in Hörzhausen und damit ein regionales Zentrum innerhalb der ja - wie gleich zu sehen sein wird - sehr viel größeren Grafschaft annimmt, in der dieses Hörzhausen eher am nördlichen Rand gelegen war [50 Vgl. Text zu Anm. 54-56.]. Zwei Grafen namens Adalbero [51 Oefele, Kühbacher Traditionen (wie Anm. 7), Nr. 1-5.], deren Namensgleichheit mit EBERSBERGERN der mißverständlichen Gleichsetzung ihrer Familie mit dieser zugrundeliegt, sowie jeweils zwei namens Pabo und Udalschalk, nämlich der erste und der letzte uns bekannte Graf des Hauses [52 Ebd.], sind die uns bekannten Familienmitglieder. Der in der direkten Linie zuletzt auftretende Graf Udalschalk wird wohl mit Recht mit dem ofterwähnten Hochstiftsvogt Freisings in den Jahrzehnten vor 1030 allgemein als identisch angesehen [53 F. Genzinger, Grafschaft und Vogtei der Wittelsbacher vor 1180, in: H. Glaser, Wittelsbach und Bayern 1/1 (wie Anm.2), Seite 114f.]. In ihrer Grafschaft liegen die Orte Aindling und Todtenweis westlich Aichachs [54 MGH D K II. 191 (1031); R. Hipper, Die Urkunden des Reichsstifts St. Ulrich und Afra in Augsburg 1023-1440 (Veröffentlichungen der schwäbischen Forschungsgemeinschaft, Reihe 2a, Band 4), Augsburg 1956, Nr.3.], aber auch das Kloster Benediktbeuern [55 MGH D H III. 297. Die Datierung ebd. auf 1052 bezieht sich auf die Erstellung der Fälschung, die Urkunde selbst ist auf 1048 datiert.] und das Stift Polling [56 MGH D H IL 212 (1010).], wobei angefügt sei, daß die Urkunde für Benediktbeuern als Fälschung erkannt ist, die vermutlich sogar unter Zuhilfenahme der Polfinger Urkunde entstanden sein dürfte [57 Wie Anm. 55, Vorbemerkung.]; da indessen die Entstehung dieser Fälschung zeitgleich mit dem darin angegebenen Datum anzusetzen ist, kann die sich auf den comitatus beziehende Angabe sogar als evident angesehen werden, zumal sich Adalbero und Udalschalk in einer um 1030 niedergeschriebenen Liste finden [58 Hg. Von W. Wattenbach, MGH SS 1X, Hannover 1851, Ndr. Stuttgart 1983, S.236, Die näheren Zusammenhänge dieser Liste, v. A. ihrer Überlieferung, sind in der insgesamt nicht vorbildlichen Edition der Benediktbeurer Quellen in den MGH nicht berücksichtigt.], auf der sie unter den Beschützern - huius loci defensores - des Klosters genannt werden [59 Zu dieser Liste W. Störmer, Früher Adel. Studien zur politischen Führungsschicht im fränkisch-deutschen Reich vom 8.-11.Jahrhundert (Monographien zur Geschichte des Mittelalters 6) Stuttgart 1973, Seite 451 ff.]. Ob man daraus schließen kann, daß sie möglicherweise auch die Vogtei über Benediktbeuern innehatten, muß bezweifelt werden, da unter die defensores auf dieser Liste auch Personen aufgenommen wurden, die unmöglich als Klostervögte in Frage kommen.
Mit Sicherheit war der jüngste der Hauptlinie der Grafen von Kühbach, Udalschalk der Jüngere, Hochstiftsvogt von Freising [60
T. Bitterauf, Die Traditionen des Hochstifts Freising (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte IV/V), München 1905/09, sehr häufig.] und Vogt von Weihenstephan [61 B. Uhl, Die Traditionen des Klosters Weihenstephan (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte XXVII), München 1972, Nr. 1 ff.]. Den letzten Vertreter des Hauses haben wir vielleicht in jenem Babo von Scheyern vor uns, aus dessen Händen, wie auch immer, die Burg Scheyern in die des Freisinger Hochstiftsvogtes Otto, des ersten uns bekannten WITTELSBACHERS, überging. Flohrschütz hält dessen Gemahlin Haziga für eine Tochter jenes Babo, hat letztlich aber keinen evidenten Beweis für diese an sich durchaus nicht von vornherein abzulehnende These [62 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 120. Bei Voraussetzung prinzipieller Richtigkeit der Flohrschütz'schen Theorie des Erbganges gibt es indessen auch keine plausible Alternative.]. Die Vorgänge bei der Verteilung des Erbes der Grafen von Kühbach sind für uns nicht ganz klärbar. Im Norden ihres Machtraumes traten die späteren Grafen von Scheyern ihre Nachfolge an, so direkt, daß unter Gleichsetzung der EBERSBERGER mit den KÜHBACHERN die Theorie der unmittelbaren Beerbung der EBERSBERGER durch die späteren WITTELSBACHER als bewiesen betrachtet wurde. Sofern man von dieser Gleichsetzung bereits abgerückt war, bot sich als Alternative die Annahme an, die KÜHBACHER wären bereits die sich noch nicht unter dem späteren Namen bezeichnenden agnatischen Vorläufer der Grafen von Scheyern [63 Genzinger, Wittelsbacher (wie Anm.53), Seite 115.]. Das wäre zunächst durchaus denkbar, denn es gibt seitens der familiären Selbstbezeichnungen kein evidentes Gegenargument. Vor 1040 erscheinen kaum Familien unter ihren Hauptburgen als Beinamen; von den KÜHBACHERN, die wir ja nur zur Erleichterung der Identifikation so genannt haben, wissen wir ähnlich wie von den EBERSBERGERN bis auf die eben erwähnte keine Familienbezeichnung.
Doch gibt es für eine agnatische Sukzession von den KÜHBACHERN zu den Grafen von Scheyern außer der Besitznachfolge keinerlei Beweis. Ist das auf Grund der schlechten Überlieferungslage noch nicht einmal das stärkste Gegenargument, so sollte es doch nachdenklich stimmen, daß die Freisinger Hochstiftsvogtei - wenn vielleicht auch nicht die wichtigste, so doch eine bedeutende Machtposition der KÜHBACHER - zunächst einmal in andere Hände kam. Sie versah für einige Jahre ein Graf Sieghart [64
Bitterauf, Traditionen (wie Anm. 60), Nr. 1442-1457.], vielleicht einer der SIEGHARDINGER aus dem Chiemgau [65 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite.126.]. Dem könnte man allerdings entgegenhalten, daß um 1040 die Vogteien generell noch selten über mehrere Generationen in denselben Familien blieben [66 Störmer, Früher Adel (wie Anm. 59), Seite 424-455.], und insbesondere die rechtlichen Verhältnisse der Freisinger Vögte sind für diese Zeit nicht ganz zu durchschauen [67 Ebd.]. Noch mehr zu denken geben sollte aber die Tatsache, daß die SCHEYERER nicht einmal annähernd das gesamte Erbe der KÜHBACHER übernehmen konnten, sondern lediglich die Rechte und Positionen just in dem Raum, in dem sich diese am stärksten zusammendrängten, in dem aber auch - zum Beispiel die Grafen von Ottenburg-Grögling und der Bischof von Freising - die meisten anderen Kräfte am Werk waren. Welche Gründe hierfür maßgeblich gewesen sein könnten, soll an anderer Stelle erörtert werden [68 Siehe Abschnitt VIII dieser Untersuchung.]. Zu einer familiären Verbindung zwischen diesen beiden Häusern und einer so bedingten Sukzession führt also kein Weg; hier sind andere Vorgänge anzunehmen.
Die von Flohrschütz vermutete Übernahme der Burg Scheyern auf dem Weg über eine Erb-Tochter Babos, jener Haziga, bliebe, ihre Historizität vorausgesetzt, davon unberührt, da diese Burg als Allod direkt vererbt werden konnte, wovon bei Grafschaften im frühen 11. Jahrhundert keinesfalls bereits generell ausgegangen werden kann. Flächenmäßig den weitaus größeren Teil der Grafschaft Udalschalks von Kühbach konnten die Grafen von Scheyern noch zwei Jahrhunderte lang nicht unter ihre Kontrolle bringen, denn hier setzten sich vorübergehend ganz andere Kräfte durch, nicht von Dauer zwar, aber doch intensiv genug, um das südliche Ober-Bayern vorerst seinen eigenen Weg gehen zu lassen. Die Gründe für diese Entwicklung sind uns bislang nicht ersichtlich und werden wohl auch nie mehr zu klären sein. Möglicherweise hatten die KÜHBACHER über weibliche Erben verschiedene Familien als Nachfolger [69
Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 121 (Stammtafel) arbeitet in dieser Hinsicht interessante Zusammenhänge heraus.], aber dies ist nicht nachprüfbar. Wie schon angeführt, scheint in Scheyern selbst zwischen den KÜHBACHERN und den WITTELSBACHERN ein Bindeglied vorhanden gewesen zu sein, eben jener Babo [70 Oefele, Kühbacher Traditionen (wie Anm. 7), Nr. l ff. Vgl. Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 122. ], der dem Namen nach durchaus zur Familie der KÜHBACHER gerechnet werden könnte, ebenso wie der noch anzuführende Graf Rasso von Dießen, der möglicherweise einen weiteren Teil der Grafschaft Udalschalks innehatte, aber auch ebensogut von Anfang an über einen eigenen Grafschaftssprengel geboten haben könnte [71 Ebd., Seite 127f.]. Weshalb aber solche immerhin vorhandenen Nachkommen immer nur einen Teil des Gesamtkomplexes übernommen hätten - denn um leibliche Söhne und Schwiegersöhne des letzten KÜHBACHERS handelte es sich mit Sicherheit bei keinem der Nachfolger - bliebe dann immer noch zu fragen. Bezüglich dieser agnatischen und cognatischen potentiellen Verbindungen befinden wir uns längst auf dem Gebiet reinster Spekulation; dieser Weg wird uns wohl nicht mehr auf festeren Boden führen. Zudem gab es noch eine dritte Familie, die ganz im Süden der Grafschaft sich nach dem Ende des Grafen-Hauses der KÜHBACHER zum Höhepunkt ihrer Geschichte aufschwang. Bei dieser können wir vielleicht etwas mehr über die Machtgrundlagen der Nachfolger des Grafen Udalschalk erkennen.

                                              III. Die Sigimare

Während also im nördlichen Teil des Machtraums des Grafen Udalschalk, in dem wir den letzten Grafen von Kühbach zu sehen haben, ziemlich bald die mit diesem Zeitpunkt in die Geschichte quellenmäßig greifbar eintretenden Grafen von Scheyern einrücken, gab es im Süden, um die Klöster Benediktbeuern und Polling, ein Zwischenspiel von rund einem halben Jahrhundert, ehe der Raum von den Grafen von Dießen in ihr Machtgefüge eingegliedert werden konnte. Mit dem Aussterben der Grafen von Kuhbach tritt dort nämlich eine neue Familie auf, die sich bislang gleich allen anderen Nachfolgern in den Rechten Udalschalks allen Versuchen einer genealogischen Zuordnung zu ihren Vorgängern entzogen hat und wohl auch weiterhin entziehen wird. Tyroller hat sie nach dem Namen, den drei der fünf uns bekannten männlichen Glieder dieser Familie getragen haben, die SIGIMARE genannt [72
Tyroller, Genealogie (wie Anm. 7), Tafel 14D.]. Diese SIGIMARE sind nachweislich zwischen 1030 und 1085 im Raum zwischen dem Alpenrand und der Südspitze von Ammer- und Wurmsee als Grafen. Sowohl Benediktbeuern [73 MGH D H IV. 164 (1065).] als auch Polling [74 Ebd., Nr. 155 (1065).] werden je einmal in der Grafschaft eines Sigimar lokalisiert, und über drei Generationen hinweg stellen sie in erblicher Folge die Vögte des Klosters Benediktbeuern. In diesem Zusammenhang ist uns allerdings auch der bemerkenswerteste Umstand ihres Auftretens überliefert: In den ersten urkundlichen Nennungen des ältesten uns bekannten Sigimar ist dieser noch kein Graf, sondern nur Vogt von Benediktbeuern [75 F. L. Baumann, Das Benediktbeurer Traditionsbuch, in: Archivalische Zs. 20, 1914, Seite 1-82, hier Nr. 7.]. An sich bräuchte man dies nicht weiter zu verfolgen, da im 11. Jahrhundert die Quellen in dieser Beziehung noch sehr unzuverlässig sind - auch Graf Udalschalk erscheint in den Traditionen des von ihm bevogteten Hochstifts Freising häufiger ohne seinen Grafentitel als mit ihm [76 Vgl. Genzinger, Wittelsbacher (wie Anm.53), Seite 114.] -, hier indessen ist die Sachlage eindeutig: Der dritte Sigimar wird in den Benediktbeurer Traditionen als tertius advocatus, junior comes bezeichnet [77 F. L. Baumann, Traditionsbuch (wie Anm. 75), Nr. 25.]. Wenn man nicht, was an sich nicht völlig ausgeschlossen werden kann, davon ausgehen will, daß sich dieser Passus auf das noch nicht erfolgte Ableben eines nicht mehr aktiven senior comes bezieht, bleibt nur die Erklärung, daß der genannte Sigimar der dritte Vogt des Klosters Benediktbeuern seines Namens, aber eben erst der zweite Graf war. Letzteres erhält auch noch durch den Umstand eine Stütze, daß selbst allernächst im Mannesstamm Verwandte des Grafen Sigimar in einer Tradition an Benediktbeuern sich nicht Grafen nennen, sondern nur nobiles [78 Ebd., Nr. 17.], woraus ersichtlich ist, daß sich bei den SIGIMAREN nur der tatsächlich als Graf fungierende auch mit dem Terminus comes bezeichnet.
Daraus ergibt sich aber nun die Kernfrage, die sich im Zusammenhang mit den SIGIMAREN stellt: Wie konnte dieses edelfreie Geschlecht in den Rang eines Grafen aufrücken, und wieso erreicht es diese Grafschaft nur in einem geographischen Teilbereich des Raumes, den der Vorgänger als Graf innehatte? Um es gleich vorweg zu nehmen: Wir können hier nur mit Hilfe von analog sich präsentierenden, und in den Anfängen nicht weniger rätselhaften Parallelfällen spekulieren.

                                                IV. Weyarn und Sachsenkam

Parallelfälle gibt es in dem hier behandelten Rahmen. Der einmal genannte Grafentitel Rotperu von Schleißheim, der nach dem Aussterben der EBERSBERGER ihr Kloster bevogtete, wurde schon erwähnt [79
Siehe oben, Anm. 37.]. Wenn man bedenkt, daß Rotpert auch die Tegernseer Vogtei zeitweise innehatte, läßt sich ermessen, welche Möglichkeiten sich ihm geboten haben, sich herrschaftsmäßig in einem ausgedehnten Raum zu etablieren. Allerdings konnte sich eine »Grafschaft Schleißheim« nicht festigen; Rotpert blieb eine einzelne Erscheinung, die weiter nicht beachtet werden müßte. Es gibt aber auch kaum eine andere Erklärung für den Aufstieg der Grafen von Weyarn [80 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 152-161.], die später unter dem Namen der jüngeren Linie, die mit der älteren verschwägert war, als Grafen von Falkenstein zu einem wichtigen Baustein in der politischen Landschaft Ober-Bayerns werden sollten, als die, daß sie sich mit Hilfe der Vogtei über das Kloster Tegernsee zu dieser neuen Stellung aufschwingen konnten [81 P. Acht, Traditionen (wie Anm. 37), Nr. 78-176a.]. Der erste mit höchster Wahrscheinlichkeit bekannte Vertreter des Hauses ist Patto von Dilching, ein Edelfreier, der mit hoher Wahrscheinlichkeit zu den Grafen von Ebersberg in einem Vasallenverhältnis stand [82 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 153.]. Seine direkten Nachkommen, die meist den Namen Sigboto führen, konzentrierten sich auf ihren allodialen Machtraum um Weyarn, eine weniger bedeutende Adelsherrschaft; aber sie hatten ein gewichtiges Machtinstrument, sie waren Vögte des Klosters Tegernsee, und zwar in innerfamiliärer Sukzession über siebzig Jahre lang. Bis zum Aussterben der Herren von Sachsenkam-Grub um 1110 [83 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 153.] mußten sie sich die Tegernseer Vogtei zwar mit jenen teilen, hatten allerdings allem Anschein nach den um diese Zeit noch weitaus bedeutenderen Teil der Tegernseer Besitzungen am Inn und im Mangfalltal zu bevogten [84 Der geschlossene Besitzraum des Klosters Tegernsee westlich der Mangfall geht größtenteils auf eine hochmittelalterliche Rodungstätigkeit des Klosters zurück, die allem Anschein nach erst gegen Ende des 12. Jahrhunderts abgeschlossen gewesen sein dürfte, in jedem Fall aber vor dem Beginn des 12. Jahrhunderts sich noch in einem Stadium befand, das diese Region gegenüber den reichen Gütern Tegernsees im Altsiedelland längs der Mangfall und am Inn als die weniger lukrative Teilvogtei erscheinen läßt. Vgl. künftig L. Holzfurtner, Das Landgericht Wolfratshausen (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern Bd. 13) vorauss. München 1991.]. Der Ablauf ist fast der nämliche wie bei den SIGIMAREN: Zunächst erscheinen sie als Vögte, allenfalls noch durch den Zusatz nobilis als Angehörige der oberen Adelsschichten zusätzlich gekennzeichnet [85 P. Acht, Traditionen (wie Anm. 37), Nr. 78-82.], dann, doch ziemlich unvermittelt, nennen sie sich Grafen [86 Ebd., Nr. 94.].
Ob sie nun tatsächlich, wie Tyroller, allerdings mit einer in mehreren Punkten äußerst zweifelhaften, teilweise sogar fehlerhaften Beweisführung annimmt, in die frühere Mangfallgrafschaft einrückten [87
F. Tyroller, Die Mangfallgrafschaft, in: Das Bayerische Inn-Oberland 29, 1958, Seite 99f. Hiergegen Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 154 f. ], muß angesichts des geringen Flächenausschnitts einer hypothetischen Mangfallgrafschaft, in der die Weyarner als Grafen erscheinen, in beträchtliche Zweifel gezogen werden. Selbst wenn diese These Tyrollers zuträfe, so stünde doch außer Zweifel, daß sie in diese Mangfallgrafschaft ohne eine historische Kontinuität einrückten, was letztlich bedeuten würde, daß dieses mit einer nicht sonderlich weitreichenden Allodialbasis versehene Adelsgeschlecht sich in die Position des Grafen einer noch der karolingischen Organisation entstammenden Grafschaft gebracht hätte. Als Instrument hierfür kommt eigentlich nichts anderes in Frage als ebendiese Vogtei über Tegernsee [88 Ebd., Seite 153.]. Als sie diese nach dem Aussterben der Herren von Sachsenkam ganz in die Hand bekamen, hatten sie alle Möglichkeiten, ihren Machtbereich weiter in den Westen, bis an die Loisach, auszudehnen. Indessen verspielten sie diese Chance offensichtlich durch ein Fehlverhalten der königlichen Macht gegenüber [89 Die Vorgänge sind lediglich in literarischer Form überliefert, und zwar in der chronikalischen Dichtung 'Ode Quirinalium Metelli in laudibus beati Quirini martyris' - vorgeblich eine Verherrlichung des Klosterheiligen, in Wahrheit indessen eine absichtsvoll gefärbte Klosterchronik eines unter einem Pseudonym arbeitenden Mönches; siehe P. C. Jacobsen, Die Quirinalien des Metellus von Tegernsee. Untersuchungen zur Dichtkunst (Mittellateinische Studien und Texte 1), Leiden/Köln 1965; dort auch maßgebliche Textausgabe. Zu den Tendenzen der Dichtung siehe auch L. Holzfurtner, Gründung und Gründungsüberlieferung. Quellenkritische Studien zur Gründungsgeschichte der bayerischen Klöster der Agilolfingerzeit und ihrer hochmittelalterlichen Überlieferung (Münchner Historische Studien, Abt. Bayerische Geschichte 11), Kallmünz 1984.], so daß sie westlich des Inns sich weiterhin auf ihre usprüngliche Basis beschränken mußten, die sie im 12. Jahrhundert durch neue Vogteierwerbungen über Herrenchiemsee und Baumburg in Regionen weit über den Inn hinaus nach Osten erweiterten [90 Die Traditionen des Klosters Herrenchiemsee, Monumenta Boica 2, München 1764, passim.]. Ihre Stellung als Grafen westlich des Inns behielten sie indessen bei [91 F. Anderlang, Landgericht Aibling und Reichsgrafschaft Hohenwaldeck (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 17), München 1967, Seite 55f.].
Nicht zu Grafen aufschwingen konnten sich die Herren von Sachsenkam. Möglicherweise waren hierfür in ihrem Vogteibereich zwischen Mangfall und Loisach die Voraussetzungen doch nicht in dem Maße gegeben, wie es erforderlich gewesen wäre [92
Vergleiche oben, Anm. 84.]. Ihr Erbe kam nach ihrem Aussterben an die wittelsbachische Nebenlinie Dachau, von der sich auf der Grundlage des ererbten Allodialkomplexes am Mangfallknie eine eigene Linie abspaltete, die später unter dem Namen Valley sich ebenfalls als gräfliches Geschlecht etablieren sollte [93 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 155 ff.].
Wir sehen also, daß Entwicklungen wie die der SIGIMARE um diese Zeit ein häufigeres Phänomen darstellen; in dem relativ begrenzten Untersuchungsraum finden wir allein deren zwei, und in anderen Gebieten Bayerns bestätigt sich dieser Befund durchaus. Für die SIGIMARE ist dabei bezeugt [94
Wie oben, Anm. 73f. Auch das Chorherrenstift Habach wird in comitatu Sigimari lokalisiert; siehe Tyroller, Genealogie (wie Anm. 7), Text zu Tafel 14D.], daß sie durchaus offiziell als Grafen betrachtet wurden, da sonst kaum in einer Königsurkunde, wie durch HEINRICH IV. im Jahre 1065 geschehen, das Stift Polling gemäß dem gängigen Usus in der Reichskanzlei in comitatu Sigimari lokalisiert worden wäre; ihr Grafentitel war also nicht Ausdruck einer Titularanmaßung. Wenn uns auch für die Grafen von Weyarn eine entsprechende Quellenstelle nicht überliefert ist, so haben wir, zumindest weil uns auch kein anderer Inhaber der gräflichen Gewalt aus ihrem Raum bekannt ist, dennoch keinen Grund, davon auszugehen, daß diese Grafschaft usurpiert oder rein formularmäßig angemaßt wäre.

                                                     V. Rasso von Dießen

Kehren wir noch einmal in den Westen zurück. Es ist nicht auszuschließen, dass auf dem Boden der Grafschaft, die bis zu ihrem Aussterben der Gründer-Familie des Klosters Kühbach innehatte, noch ein weiterer Graf erscheint, den genealogisch zuzuordnen bislang befriedigend nicht gelungen ist [95
Bitterauf, Traditionen (wie Anm. 60), Nr. 1612.]. Graf Rasso, der sich in der einzigen expliziten Quellenstelle, die ihn überliefert, nach der Burg Dießen nennt [96 E. von Oefele, Die Geschichte der Grafen von Andechs, München 1897. Obwohl in vielen Fragestellungen überholt, ist diese Darstellung immer noch die beste zu dieser Familie. Oefele vermeidet eine konkrete Aussage, geht aber von einer Zugehörigkeit Rassos zu den Grafen von Dießen aus.], bleibt somit eine einsame Erscheinung. Ihn beerbten unmittelbar die Nachkommen des Grafen Friedrich von Haching, ohne dass uns die Zusammenhänge in irgendeiner Weise vident nachweisbar wären. Zum agnatischen Familienverband seiner Erben gehörte er wohl sicherlich nicht, eher noch zur Familie der Gründer von Kühbach, wobei uns wieder die näheren Verbindungen verborgen bleiben. Es gibt auch hierfür nur ein schwaches Indiz, das wir aber ungeachtet der grundsätzlichen Unsicherheit derartiger Beweisverfahren nicht unerwähnt lassen sollten. In mehreren zeitlich relativ kurz vor seiner einzigen Erwähnung in den Freisinger Traditionen liegenden Traditionsnotizen tritt ein nobilis homo Ratpoto - Rasso wird vielfach als Abkürzung dieses Namens angesehen [97 Tyroller, Genealogie (wie Anm. 7), Text zu Tafel 13.] - unmittelbar benachbart zusammen mit einer oder zwei Personen des Namens Udalschalk und einem Pabo als Zeuge auf [98 Bitterauf, Traditionen (wie Anm. 60) Nr. 1336,1363,1364,1381.]; diese Namen tragen aber eben die Grafen von Kühbach. Sie erscheinen zwar allesamt ohne Bezeichnung Graf, aber dies hat in den Freisinger Traditionen in der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts wenig zu besagen. Für eine sichere Annahme sind in dieser Konstruktion zwar zu viele nur potentielle Bindeglieder enthalten, als Möglichkeit neben anderen sollten wir diese Verbindung indessen durchaus im Auge behalten. In keinem Fall sollte man Rasso als Vertreter dieser neuen Schicht von Grafen sehen, die zeitgleich mit ihm auf dem Boden alter Grafschaften unter Ausnutzung des durch das Abtreten der alten Grafenhäuser entstandenen Machtvakuums ihre Herrschaften aufrichteten; dafür fehlen die entscheidenden Merkmale wie eine potentielle Kirchenvogtei. Allenfalls wäre eine der ausgesprochenen seltenen Allodialgrafschaften denkbar, da wir den Umfang seiner Allodien nicht kennen. Den größten Teil davon könnten wir vielleicht im Besitz der Erben wiederfinden, wobei wir aber niemals davon ausgehen können, dass der gesamte Besitz der späteren Grafen von Andechs zwischen dem Westufer des Würmsees und dem Lech [99 Vgl. P. Fried, Landgericht Landsberg und Pflegegericht Rauhenlechsberg/Landgericht, Hochgericht und Landkreis Schongau (Historischer Atlas von bayern, Teil Altbayern 22/23), München 1971.] aus der Erbmasse Rassos stammt. Rasso zeigt darüber hinaus mit der Gründung des Klosters Grafrath [100 Wie Anm. 95.] ein Verhalten, da die neuen Grafengeschlechter des 11. Jahrhunderts erst fast ein Jahrhundert später an den Tag legen; die Gründung eines Hausklosters in der ersten Generation neuerworbener Grafenwürde wäre ein singulärer Fall. Der interessanteste Aspekt am Auftreten Rassos, ungeachtet der ungeklärten Vorgeschichte und der unklärbaren Zusammenhänge desselben, ist die Parallelität mit dem Auftreten der SIGIMARE im Süden und der ersten WITTELSBACHER im Norden der ehemaligen Grafschaft der KÜHBACHER. Wie immer sein Erscheinen zu erklären oder zu bewerten sein sollte, es zeigt einmal mehr den Zerfall des Gebildes, das weniger als ein halbes Jahrhundert zuvor die politische Einheit dieses Raumes dargestellt hatte. Bei aller Zurückhaltung gegenüber irrealen Hypothesen ist es reizvoll, sich auszudenken, wie sich der Raum zwischen Alpenrand und Donau, zwischen Würmsee und Lech weiter gestaltet hätte, wären den SIGIMAREN und Rasso Dynastiegründungen wie den ANDECHSERN und den SCHEYERERN beschieden gewesen. Das Aussterben bzw. der nicht erfolgte Aufbau dieser Familien erneuerte das Machtvakuum, das das Aussterben der KÜHBACHER einige Jahrzehnte zuvor hinterlassen hatte, und lud erneut zur Herrschaftsbildung den ein, der die geeigneten Voraussetzungen dazu besaß.
Mit den zuletzt behandelten Personen und Familien, den Grafen von Weyarn-Falkenstein, den SIGIMAREN und dem Grafen Rasso von Dießen befinden wir uns nun aber auf dem Boden des politischen Raumes, auf dem sich zwischen den Jahren 1000 und 1090 die Grafen von Dießen-Andechs ihre hochmittelalterliche Herrschaft aufbauen sollten. Ehe wir und also den Grafen von Scheyern erneut zuwenden, sollten wir dieses Geschlecht einer Betrachtung unterziehen. Es gibt noch einen weiteren Grund, die Betrachtung der Grafen von Dießen nun anzuschließen, nämlich die frühere Erwähnung des ältesten Vertreters des Hauses, das immerhin bereits fast ein halbes Jahrhundert vor dem ersten Grafen von Scheyern quellenmäßig fassbar wird. Es muss also damit gerechnet werden, dass in seiner Herrschaft noch ältere Elemente erscheinen.


                                                  VI. Die Grafen von Dießen

Die Familie, die uns später unter dem Namen Grafen von Dießen und Andechs geläufig wird, tritt uns zum ersten Mal kurz nach der Jahrtausendwende in der Person eines Grafen Friedrich entgegen, der nach einer Urkunde HEINRICHS II. in Haching im Sundergau Gericht hält [101
MGH D H II. 54 (1003).]. Wir wissen, daß sein Grafschaftssprengel, und auch noch der seiner nächsten Nachfolger, bis an den Inn reichte, und wir haben einige Gründe, überhaupt einen frühen Schwerpunkt seiner Familie am Westufer des Inns zu suchen, da sie als Inhaber einiger dem Kloster Tegernsee im 10. Jahrhundert verlorengegangener Güter in diesem Raum bezeugt ist [102 W. Beck, Tegernseeische Güter aus dem 10. Jahrhundert, in: Archivalische Zs. NF 20, 1914, Seite 83-146.]. Damit ist zugleich unter Beweis gestellt, daß um 1000 diese Familie bereits mindestens rund ein halbes Jahrhundert zur obersten Schicht des bayerischen Adels zählt, die ausschließlich in den Genuß entfremdeten Klostergutes kam. Wir wissen ferner, daß im Bereich Friedrichs das Kloster Tegernsee lag, da der Abt dieses Klosters ihn um eine Unterredung vor einem gemeinen Landding, das in Biberg stattfand, bat [103 Oefele, Andechs (wie Anm. 96), Regest 1c.]. Er ist zweifelsfrei der erste uns geläufige Vorfahr der Grafen von Dießen.
Wer wiederum seine Vorfahren waren, wissen wir indessen nicht; die Versuche Tyrollers, ihn als Abkömmling einer Nebenlinie der LUITPOLDINGER zu sehen [104
Tyroller, Genealogie (wie Anm. 7), Text zu Tafel 10.], entbehren alle der nötigen Beweiskraft. In seinem Machtbereich erscheinen in der Generation vor ihm zwei Grafen, 979 ein Graf Liutpold [105 Ebd. Dagegen K. Reindel, Die bayerischen Luitpoldinger 893-989. Sammlung und Erläuterung der Quellen (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte 11), München 1953, der in einem umfangreichen Kapitel zur Nachkommenschaft der LUITPOLDINGER (ebd., Seite182-256) keinen Anhaltspunkt für eine Verbindung zu den ANDECHSERN sieht. Einen zwar interessanten, aber durch keine Belegangabe erhärteten Vorschlag macht H. Decker-Hauff, Das staufische Haus, in: Die Zeit der Staufer. Geschichte, Kunst, Kultur. Ausstellungskatalog Band III: Aufsätze, Stuttgart 1977, Seite 342, Nr. 4, der in Friedrich von Haching einen frühen Vertreter der STAUFER sieht, ohne weiter auf die Konsequenz dieser Verbindung einzugehen. Die gelegentlichen Aktivitäten der frühen AnDECHSER als Schenker im schwäbischen Raum geben auch E. Hlawitschka, Untersuchungen zu den Thronwechseln der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts und zur Adelsgeschichte Süddeutschlands. Zugleich klärende Forschungen um » Kuno von Öhningen" (Vorträge und Forschungen, Sonderband 35), Sigmaringen 1987, Seite 120-126, Anlaß zu Überlegungen; er kommt dabei, auch ohne ausdrücklich auf Decker-Hauff einzugehen, in überzeugender Weise zu dem Ergebnis, daß das Auftreten der AnDECHSER im Schwarzwald hauptsächlich auf eheliche Verbindungen zu den EPPENSTEINERN zurückzuführen ist und demnach von einer frühen Allodialbasis der ANDECHSER im schwäbischen Raum keine Rede sein kann.], dessen familiäre Zugehörigkeit uns verschlossen geblieben ist; in seiner Grafschaft liegt nach einer Urkunde OTTOS II. Tegernsee [106 MGH D 0 I1. 192 (979).] Weiter westlich erscheint wenig später, 987, ein Graf Meginhard, in dessen Grafschaft Götting liegt [107 W. Hauthaler, Salzburger Urkundenbuch I, Salzburg 1898, S. 255, Nr. 2. Vgl. Tyroller, Mangfallgrafschaft (wie Anm. 97), Seite 96.]. In ihm will Tyroller einen Vertreter der schon im Zusammenhang mit dem Aufstieg der Grafen von Weyarn kurz angesprochenen rätselhaften Mangfall-Grafschaft sehen, was im ersten Moment durchaus plausibel erscheint. Allerdings sind seine weiteren Ausführungen zu dieser Grafschaft derart weit hergeholt, daß an der Existenz dieser Mangfall-Grafschaft doch erhebliche Zweifel aufkommen [108 Gewichtige Einsprüche gegen die Argumentation auch bei Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 152f.], wie es denn überhaupt etwas schwierig erscheint, zwischen dem Alpenrand und der mittleren Isar gleich drei Grafschaften in Ost-West-Richtung räumlich unterzubringen, zuerst die der Grafen von Ebersberg, dann die des Hachinger Grafen Friedrich vom Würmsee bis zum Inn, und schließlich südlich davon diese Mangfall-Grafschaft, die aber Tegernsee nicht miteinbezogen hätte, da dieses Kloster zweimal nachweislich in den Grafschaften anderer Grafen lag.
Wie immer die Verbindung zwischen diesen beiden vor Friedrich genannten Grafen zu ihm zu ziehen ist - wobei genealogische Zusammenhänge keineswegs ausgeschlossen werden können -, es ist wohl weit eher als vonn einer Mangfall-Grafschaft südlich der Grafschaft des Grafen Friedrich von nur einer, räumlich sehr ausgedehnten, Grafschaft zwischen Würmsee und Isar auszugehen. Im Westen scheint seine Grafschaft weder über das Ostufer des Wurmsees noch südlich dieses Sees über die Loisach hinaus gegangen zu sein, denn dort werden uns andere Grafen genannt. So liegt Rufkirchen am Würmsee um 1018 in der Grafschaft eines Arnold [109
MGH D H II. 383.], den Tyroller zu den Mangfall-Grafen [110 Tyroller Mangfallgrafschaft (wie Anm. 97), Seite 97f.], Oefele hingegen mit etwas mehr Überzeugungskraft zur Familie Friedrichs rechnet [111 Oefele, Andechs (wie Anm. 96), Stammtafel. 112 Siehe oben, Abschnitt 11 dieser Untersuchung.]. Einen evidenten Beweis können beide nicht führen. Im Süden grenzt die Grafschaft Friedrichs an die des Grafen Adalbero, von dem im Zusammenhang mit den KÜHBACHERN bereits die Rede war [112 Siehe oben, Abschnitt II dieser Untersuchung.].
Die Familie also, die sich später nach der Burg Dießen nennen sollte, saß noch ein halbes Jahrhundert vor dem ersten Auftreten unter diesem Namen weit entfernt von ihrer späteren Stammburg. Ihre Machtgrundlage in dem vorhin beschriebenen Raum bestand augenscheinlich ausschließlich aus den gräflichen Rechten; die allodiale Basis in dieser Region, soweit wir sie heute feststellen können [113
W. Störmer, Auswertungsmöglichkeiten der »Statistik« des Historischen Atlas von Bayern. Aufgezeigt an oberbayerischen Beispielen, in: Land und Reich, Stamm und Nation I. Festgabe für Max Spindler zum 90. Geburtstag (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 78) München 1984, Seite 15-35. Vgl. auch M. Spindler, Die Anfänge des Bayerischen Landesfürstentums (Schriftenreihe zur Bayerischen Landesgeschichte 26), München 1937, Seite 45-53.], erreichte noch nicht einmal die der größten edelfreien Geschlechter. Allerdings lassen sich weiträumig gestreute Besitzungen außerhalb ihres gräflichen Zuständigkeitsbezirks erkennen [114 Einen Überblick über die Gesamtbesitzungen der Grafen von Dießen bei Oefele, Andechs (wie Anm. 96). Die Darstellung bei Oefele hat zwar in dieser Hinsicht ihre Schwächen, ist aber der erste Versuch, den Besitz der Familie im Überblick zu erfassen. Spindler, Landesfürstentum (wie Anm. 113), versucht als bislang einziger, darüber hinaus zu gehen, sieht sich aber dabei vor größere methodische Probleme gestellt.]. Im ganzen 11. Jahrhundert haben sie in Ober-Bayern keine einzige Kirchenvogtei in ihrem Besitz. Was uns also hier entgegentritt, ist eine Grafschaft im alten Sinne, ein Teil einer Verfassung, die allem Anschein nach auf die KAROLINGER-Zeit zurückgeht, letztlich eine Grafschaft wie die der Ebersberger. Sie hatte vor allem auch hinsichtlich ihrer geographischen Ausdehnung mit der späteren Grafschaft Andechs noch nicht viel gemein; der Schwerpunkt lag in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts in jedem Fall noch östlich des Wurmsees.
Aber auch das Aussterben der Grafen von Kühbach brachte ihnen noch nicht den für ihre spätere Ausdehnung entscheidenden Schritt nach dem Westen. Wie bereits ausgeführt, folgten dem Grafen Udalschalk zwei Familien nach, im Norden die Grafen von Scheyern, im Süden die SIGIMARE und dazwischen möglicherweise auch noch dieser rätselhafte Graf Rasso von Dießen, über dessen Herkunft und Stellung wir nichts wissen. Jener blieb in der Geschichte Dießens, das er wohl als Burg gründete, eine Episode, denn unmittelbar nach seinem Tode finden sich Nachkommen des Grafen Friedrich unter der Bezeichnung der Grafen von Dießen [115
Oefele, Andechs (wie Anm. 96).], was bis zur Gründung des Klosters an dieser Stelle und der Verlegung des Hauptsitzes nach Andechs ihr bevorzugter Name bleiben sollte. Etwas mehr als dreißig Jahre später fiel nun auch das Erbe der SIGIMARE an, und wir wissen sowenig wie bei Rasso von Dießen, auf welchem Weg es in die Hände der DIESSENER kam. Jedenfalls übernahmen die Grafen von Dießen die Vogtei über das Kloster Benediktbeuern und damit über dessen äußerst umfangreichen Besitz im westlichen Ober-Bayern [116 Erstmals nachweisbar Poppo, ca. 1085, in: Baumann, Traditionsbuch (wie Anm. 75), Nr. 29. ]. Sie gewannen damit Einfluß auf dem Zechrain, auf dem sie allerdings vorerst noch der harten Konkurrenz der dort in der Hauptsache begüterten WELFEN gegenüberstanden [117 Bayerisches Hauptstaatsarchiv München, KL Benediktbeuern, Nr. 32; vgl. hierzu auch
D. Albrecht, Die Klostergerichte Benediktbeuern und Ettal (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 6), München 1953, S.2f., sowie Fried, Landsberg/Schongau (wie Anm. 99).
], zwischen dem Ammer- und Wurmsee und nördlich dieser beiden Seen, dazu auf den flächendeckenden Besitzraum des Klosters um Walchen- und Kochelsee [118 KL Benediktbeuern (wie Anm. 117) Nr. 32.]. Betrachtet man die etwas seltsamen Vogtwechsel unter den einzelnen Mitgliedern des Hauses Dießen in Benediktbeuern [119 Baumann, Traditionsbuch (wie Anm. 75), Nr. 29-34, besonders Nr. 34, Anm. 5.], für die weder Todesfälle noch andere Ursachen als Grund erkennbar sind, ist es nicht auszuschließen, daß die DIESSENER die Benediktbeurer Vogtei auf dem Wege über die freie Vogtwahl erlangten, die im hohen Mittelalter von königlicher Seite dem Kloster wiederholt zugesichert wurde [120 MGH D Lo III. 77 (1136).]. Eine solche übte das Kloster noch 1234 aus [121 E. v. Oefele, Zur Geschichte des Hausengaues, in: Oberbayerisches Archiv 32, 1873, Seite 1-12.], ohne daß wir dazwischen Nachrichten über einen solchen Vorgang hätten.
Während jedoch durch die Übernahme der Erbmasse Rassos von Dießen und der SIGIMARE die Hachinger Grafen sich in der zweiten Hand im südlichen Teil der ehemaligen Grafschaft der KÜHBACHER festsetzten, bröckelte im Osten ihrer oberbayerischen Grafschaft ihre Macht immer mehr ab. Schon hatte sich um Weyarn eine eigene Grafschaft herausgebildet, die zusehends sich nach Westen auszudehnen begann, seit mit dem Aussterben der SACHSENKARNER die umfangreiche, niedergerichtlich die südliche Hälfte des nachmaligen Landgerichts Wolfratshausen ganz und die nördliche Hälfte halbflächendeckend beherrschende Tegernseer Klostervogtei in die Hände dieser Neuaufsteiger gekommen war; in der nördlichen Hälfte drohte eine Festsetzung der wittelsbachischen Macht über den Freisinger Hochstiftsbesitz [122
Genzinger, Wittelsbacher (wie Anm. 53), Seite 117.]. Auf dem allodialen Erbe der SACHSENKARNER, das zwar nicht mehr allzu bedeutend war, begann sich unter einem Nebenzweig der WITTELSBACHER ein neues Herrschaftszentrum auszubilden, die spätere Grafschaft Valley. Erst 1120 gelang es den Grafen von Dießen, sich wenigstens den westlichen Teil ihrer alten Grafschaft, das Land zwischen Wurmsee, Mangfall und Alpen, unter den Dingstätten Haching und Thanning zu sichern [123 Siehe künftig Holzfurtner, Wolfratshausen (wie Anm. 84).], und das war nur noch durch die Vogtei über den mächtigsten geistlichen Grundbesitz möglich: Über den des Klosters Tegernsee. Eine Verfehlung der FALKENSTEINER dem Kaiser gegenüber ließ diese der Vogtei verlustig gehen. Welche Gründe ausschlaggebend dafür waren, daß ein Vertreter des Hauses DIESSEN in diese Position nachrückte, wissen wir nicht; es wäre durchaus denkbar, daß der ausschließlich literarisch überlieferten Verleihung der Vogtei [124 Wie Anm. 89.] durch den König eine Wahl durch das Kloster vorangegangen ist, da Tegernsee nachweislich um 1000 sowie 1234 [125 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 86; L. Holzfurtner, Klostergericht Tegernsee (Historischer Atlas von Bayern, Teil Altbayern 54), München 1985, Seite 20ff.] die freie Vogtwahl ausübte und uns zumindest nichts Gegenteiliges aus der Zwischenzeit überliefert ist.
Vom Moment der Übernahme der Tegernseer Vogtei an gibt es eine eigene Wolfratshausener Linie der Grafen von Andechs [126
Die Argumentation zu dieser Problematik bei Holzfurtner, Wolfratshausen (wie Anm. 84).]. Es ist anzunehmen, daß die Verlegung des Herrschaftsmittelpunktes in diesen Ort, signifikant durch die Erbauung der Burg oberhalb der Isar zum Ausdruck gebracht, wenn nicht ausschließlich, so doch sicherlich in der Hauptsache mit der Ausübung der Tegernseer Vogtei zusammenhängt [127 Ebd.]. Auffällig ist vor allem der unverzügliche Aufbau einer Ministerialität im Wolfratshauser Raum, der überwiegend auf Kosten des Klosters Tegernsee ging [128 Ebd.] - die allodiale Basis der Grafen war hier noch schmäler als im Westen [129 Störmer, Auswertungsmöglichkeiten (wie Anm. 113). ], wo vermutlich die Erbschaften einiger älterer Dynasten-Geschlechter angefallen war. Damit suchte der Graf von Wolfratshausen einen beträchtlichen Vorsprung Freising [130 Holzfurtner, Wolfratshausen (wie Anm. 84).] und vor allem Tegernsees [131 Einen Überblick über die äußerst umfangreiche Tegernseer Ministerialität bietet G. Flohrschütz, Die Dienstmannen des Klosters Tegernsee, in: Oberbayerisches Archiv 111/112, 1986/87 Seite 119-185 und 197-255.] einzuholen, unter deren Ministerialität sich um 1120 bereits mehrere vorher als Freie bezeugte Geschlechter befanden [132 Ders., Ebersberg (wie Anm.4), Seite 172-192. Die Problematik des Eintritts freier oder gar edelfreier Familien in die geistliche Ministerialität bedürfte einer großangelegten Untersuchung. Es gibt mehrere Hinweise darauf, daß dieses Phänomen im hohen Mittelalter einen gewissen, wenn auch nicht überwiegenden Anteil am Niedergang der alten Freienschicht hatte. Keineswegs sollte man im übrigen vor einer weitergehenden Klärung von einem "Abstieg" oder einem "Absinken" in die Ministerialität sprechen, da dies eine gesellschaftliche Minderrangigkeit Freier, die Ministerialendienste angenommen hatten, impliziert, die möglicherweise nicht gegeben war. Ein entsprechendes, wenn auch etwas spätliegendes Beispiel ist der Eintritt der sehr bedeutenden Herren von Baierbrunn in die Ministerialität der WITTELSBACHER 1180, nach dem die BAIERBRUNNER weiterhin eine bedeutende Rolle spielten; vgl. Holzfurtner, Wolfratshausen (wie Anm. 84).]. Solche konnte der Graf von Wolfratshausen kaum als Ministeriale gewinnen [133 Ebd.]; ihm blieben nur die auf Besitz der bevogteten geistlichen Institutionen installierten Vogteiministerialen [134 Vgl. hierzu auch Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 140-152.], deren primäres Aufgabenfeld wohl auch in der praktischen Ausübung der Vogtei gelegen war - es sind uns mehrmals andechsische Ministerialen als ausübende Volttrichter bezeugt [135 So zum Beispiel P. Acht, Traditionen (wie Anm. 37), Nr. 372. Weitere Beispiele aus anderen Grafschaften bei Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 201 ff.] -, sowie die Möglichkeit, aus seinem Allod Ministeriale zu belehnen.
Im Wolfratshauser Raum vollzog sich somit das, was sich in der Grafschaft Andechs bereits siebzig Jahre früher abgespielt haben könnte. Auch dort ist zu erkennen, daß gut die Hälfte der ANDECHSER Ministerialen sich nach Orten nennt, an denen keinerlei Andechser Allod, dafür aber jeweils Benediktbeurer Klostergut nachgewiesen ist [136
Das ergibt sich aus einem Vergleich von KL Benediktbeuern (wie Anm. 117), Nr. 32, mit
Oefele, Andechs (wie Anm. 96).
]. Da die als Quelle allein hierfür in Frage kommenden Benediktbeurer Traditionen um 1090 noch nicht die präzise Aussagekraft haben, wie sie Klostertraditionen im 12. Jahrhundert häufig gewinnen, läßt sich der tatsächliche Ablauf der Ereignisse nur mit Hilfe des gleichlautenden Ergebnisses bei gleicher Ausgangslage hypothetisch rekonstruieren; der Grad an Wahrscheinlichkeit ist indessen sehr hoch.
Die fernere Geschichte der Grafen von Wolfratshausen, die man als kurz und unglücklich bezeichnen kann, ist hier nicht weiter zu verfolgen. Festgehalten sei, daß mit der Errichtung der Grafschaft Wolfratshausen die Verschiebung des oberbayerischen Machtraums des Dynastenhauses Andechs-Dießen ihren Abschluß fand. Damit war der ehedem westliche Teil ihres Einflußraumes innerhalb von 20 Jahren zu ihrem östlichen Eckpfeiler geworden.

                                                  VII. Die Grafen von Scheyern

Als letztes der hier zu betrachtenden Dynasten-Geschlechter tritt dasjenige in Erscheinung, das unter dem Namen WITTELSBACH zu einer der ersten Familien des Reiches und ganz Europas aufsteigen sollte. Entsprechend dieser Bedeutung war auch die Herkunft dieses Geschlechts seit dem Erreichen des ersten Höhepunkts seiner Bedeutung bis zur Gegenwart ununterbrochen Gegenstand vielfältigster Bemühungen, zuletzt, und mit dem resignierend konstatierten Ergebnis der vorläufigen Unlösbarkeit dieses Problems, im Jubiläumsjahr ihres Aufstiegs zur Herzogswürde 1980 [137
P. Fried, Die Herkunft der Wittelsbacher, in: Wittelsbach und Bayern 1/1 (wie Anm. 2), Seite 29-41.]. In der Tat lassen sich selten bei einem bedeutenden Dynasten-Geschlecht so wenige Indizien der Vorgeschichte seines ersten Auftretens im deutlichen Licht der Geschichte finden. Es gelingt weder, die vereinzelten literarischen Zeugnisse, die in allen bekannten Fällen unter negativer Präjudizierung des Hauses niedergeschrieben worden sind, evident zu verifizieren, noch erscheint es möglich, diese wissenschaftlich untermauert zu widerlegen. Bedeutende Historiker und exzellente Kenner der Materie haben daher auch den Behauptungen Ottos von Freisieg durchaus eine gewisse Wahrscheinlichkeit eingeräumt, nach denen die WITTELSBACHER von den LUITPOLDINGERN abstammen sollen [138 Fried, Herkunft (wie Anm. 137), Seite 38f.; Flohrschütz, Pfalzgrafen (wie Anm.2), S.42f. ], obwohl es außer dieser durchaus intentativen Darstellung keinen Beleg dafür gibt, und alle übrigen Indizien, die sich zum Zeitpunkt ihres ersten Auftretens zusammentragen lassen, eher gegen eine Verbindung mit einem Hochadels-Geschlecht des 10. Jahrhunderts zu sprechen scheinen [139 Fried, Herkunft (wie Anm. 137), Seite 37f.]. Pankraz Fried hat geltend gemacht, daß die WITTELSBACHER im Gegensatz zu allen anderen bedeutenden Familien des bayerischen Frühmittelalters keinerlei Besitzungen im Osten des Herzogtums aufweisen können [140 Wie Anm. 102.]. Spricht das schon gegen eine direkte Beziehung zu einer der herausragenden Familien des 8. und 9. Jahrhunderts, so möchte ich noch anfügen, daß sie auch, so weit es sich erkennen läßt, keinen Anteil an den Gütern hatten, die den bayerischen Klöstern im 10. Jahrhundert verlorengegangen waren, und an deren Nutzung sich fast alle in der ersten Hälfte des 11. Jahrhunderts bedeutenden Familien beteiligten [141 Vgl. Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 31 ff.]. Demnach wären die Vorfahren der Grafen von Scheyern-Wittelsbach also auch in der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts nicht unter die bayerischen Großen zu rechnen, falls man den eben angesprochenen Umstand nicht so erklären möchte, daß ihre Vorfahren als Verräter nach dem großen Sieg 955 ihrer Lehen verlustig gegangen wären.
Wie immer man zu diesen Fragen Stellung beziehen will, in einem Punkt jedenfalls ist Pankraz Fried uneingeschränkt Folge zu leisten: In den ersten Jahrzehnten dieses unseres Jahrtausends waren die Vorfahren der bayerischen Herzöge nicht unter den politisch maßgeblichen Kreisen angesiedelt [142
Wie Anm. 139.], und erst nach ihrem ersten Auftreten als Grafen beginnen sie, familiäres und dynastisches Bewußtsein an den Tag zu legen. Und sie scheinen nichts an Rechten, nichts an wesentlichen Vorbedingungen ihres Aufstiegs mitgebracht zu haben, denn alle ihre Machtpositionen, die sie in der zweiten Hälfte des 11. Jahrhunderts einnehmen sollten, befanden sich vor ihrem Auftreten in fremden Händen. Was immer ihre Vorfahren in vergangenen Jahrhunderten dargestellt haben mögen, die Jahre nach 1039 markierten für sie einen Anfang - einen ersten oder einen neuen, das sei auch für diesmal einmal mehr dahingestellt.
Ihr erstes Auftreten fällt zeitlich mit dem Aussterben der Grafen von Kuhbach zusammen. Es hat den Anschein, als wäre Otto, der erste greifbare Vertreter dieser Familie, der Erbe und Nachfolger des Grafen Udalschalk. Er ist als Inhaber der Freisieger Hochstiftsvogtei 1039-1047 zweifelsfrei belegt [143
Genzinger, Wittelsbacher (wie Anm. 53), S. 118 f.]. Strittig ist, ob er sich um diese Zeit auch bereits Graf nannte. Zwar ist uns um diese Zeit ein Graf Otto in einer Freisinger Urkunde überliefert [144 Bitterauf, Traditionen (wie Anm. 60), Nr. 1447.], doch ist es der Häufigkeit des Namens Otto wegen ebensowenig möglich, diesen uneingeschränkt mit dem Vogt zu identifizieren, wie die Identität dieser beiden völlig in Abrede gestellt werden kann [145 Hierzu Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm.4), S. 121.]. Ob sich Vogt Otto nun bereits um 1040 als Graf bezeichnete oder nicht, wir wüßten nicht, auf welcher Grundlage er dies täte, denn wir kennen mit Ausnahme der Freisinger Vogtei noch keine Machtposition, über die er hätte verfügen können. Der große Besitzkomplex um Fischbachau-Bayrischzell, wo sich auch zum ersten Mal 1102 im ersten Gründungsversuch des späteren Hausklosters, das schließlich in Scheyern seinen endgültigen Platz fand, ein Familienbewußtsein manifestierte [146 M. Stephan, Die Traditionen des Klosters Scheyern (Quellen und Erörterungen zur Bayerischen Geschichte XXXVI/1), München 1986, Nr. 1-5.], stammte nicht aus seinem Familienallod, sondern war vielmehr das Erbe seiner Frau Haziga, die in erster Ehe mit dem Grafen Hermann von Kastl aus der Dynastie der SULZBACHER verheiratet gewesen war [147 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 121.]. Auch war er um diese Zeit mit Sicherheit noch nicht im Besitz der Burg Scheyern, nach der sich sein Geschlecht seinen ersten Namen geben sollte. In jener begegnet uns noch um 1060 ein Graf Babo von Scheyern [148 Ebd.], mit Sicherheit kein Verwandter Ottos, sondern eher ein letzter, vielleicht weitläufiger Sproß des Hauses der KÜHBACHER. Den Übergang Scheyerns an die Familie des Freisinger Hochstiftsvogtes Otto erklärt Flohrschütz, wie oben bereits erwähnt, damit, daß er seine Gemahlin Haziga für eine Erb-Tochter dieses Babo von Scheyern hält [149 Ebd.]. Das klingt an sich plausibel, ist indessen nur durch das Ergebnis dieses eventuellen Vorganges, also den Umstand, daß Otto sich ab 1070 Graf von Scheyern nennt [150 Bitterauf, Traditionen (wie Anm. 60), Nr. 1469.], untermauert.
In diesem Zusammenhang sollte erwähnt werden, daß wir auch hinsichtlich der Frage, welche Grafschaft denn diejenige war, deren Inhaber nun unter dem Namen »von Scheyern« auftrat, im dunkeln tappen [151
Flohrschütz, Pfalzgrafen (wie Anm.2), S.43f. ]. Handelt es sich um den nördlichen Teil der alten Paargrafschaft - deren Inhaber die KÜHBACHER gewesen waren -, wie ihn der Zerfall dieser Grafschaft hinterlassen hatte? Das ist noch bei weitem das Wahrscheinlichste; mit der Grafschaft der EBERSBERGER hatte jedenfalls die Ottos von Scheyern nichts zu tun, da die Nachkommen Ottos noch Generationen lang nicht über die Ilm nach Osten hatten vorstoßen können. Aber auch im Westen scheint um die Zeit Ottos von Scheyern seine Macht noch recht beengt gewesen zu sein, und noch 1130, bei der Gründung von Indersdorf, liegt dieses in der Grafschaft der OTTENBURG-GRÖGLINGER, den späteren Grafen von Hirschberg [152 Ebd.]. Der tatsächliche Grafschaftsraum Ottos scheint also noch sehr beschränkt gewesen zu sein, und woher er überhaupt stammt, muß wohl offenbleiben, da alle auszumachenden Verbindungen zu früheren Grafschaften ihrerseits wieder nur spekulative Möglichkeiten darstellen.
Ebensowenig ist sicher auszumachen, wie er in den Besitz der Freisinger Hochstiftsvogtei kam. Daß er diese als Erbe Udalschalks übernehmen konnte, ist schon allein dadurch auszuschließen, daß zwischen diesem und Otto noch ein weiterer Vogt, Graf Sieghart, bezeugt ist, der zwar mit den EBERSBERGERN, aber, nachdem die KÜHBACHER allenfalls eine entfernte Nebenlinie dieses Geschlechts waren, mit jenen bestenfalls weitläufig, mit den WITTELSBACHERN dagegen überhaupt nicht verwandt gewesen sein dürfte [153
Vergleiche oben, Abschnitt II dieser Untersuchung. ]. Demnach ist um diese Zeit generell eine Erblichkeit der Freisinger Hochstiftsvogtei in schwere Zweifel zu ziehen. So bleiben zwei Möglichkeiten, zwischen denen schon allein auf Grund der ungeklärten Frage nach dem Modus, nach dem die Freisinger Vogtei um 1040 überhaupt vergeben wurde [154 Genzinger, Wittelsbacher (wie Anm. 53), S. 118f.], nicht sicher entschieden werden kann. Denkbar wäre eine Verleihung durch König HEINRICH III., der um diese Zeit einen Versuch unternahm, die Verhältnisse in Bayern in seinem Sinne zu ordnen, und der ihm möglicherweise gerade der weniger starken Machtposition Ottos wegen den Vorzug vor anderen Personen gegeben haben könnte [155 Ebd.], nachdem mit Sieghart ein Mann Vogt gewesen war, der im Freisinger Besitzraum überhaupt keine territorialen Interessen hatte vertreten können. Aus dem nämlichen Grund könnte aber auch der Bischof von Freising im Zuge einer freien Vogtwahl zuerst dem Grafen Sieghart, dann ihm die Vogtei verliehen haben. Wie immer, Otto kam gerade durch diese Vogtei zu seiner ersten und im 11. Jahrhundert wichtigsten Machtposition, aus der sich seine Nachkommen erst unter den STAUFERN wieder zurück-, aber nie mehr ganz verdrängen ließen [156 Ebd., Seite 119f.]. Dieser ersten Vogtei folgten im 11. Jahrhundert noch drei weitere, gesichertermaßen seit 1075 die über das reiche Weihenstephan [157 Ebd.], womit sich zahlreiche Lücken in der flächenmäßigen Beherrschung des ausgedehnten Freisinger Besitzes, mit dem derjenige Weihenstephans eng verflochten war, schließen ließen, sowie vermutlich seit 1077 die Vogtei über Ilmmünster [158 Ebd., Seite 120f.]. Ungeklärt ist, seit wann die Grafen von Scheyern auch die Güter des Domkapitels von Freising, an Umfang denen des Bischofs ebenbürtig, wenn nicht überlegen, bevogteten; wir können die Übernahme dieser Vogtei aber wohl auch noch in das 11. Jahrhundert verlegen [159 Ebd.]. In den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts folgten die Vogteien über Kühbach [160 Ebd. ], Ebersberg [161 Ebd. ] und schließlich über die östlich des Lechs gelegenen Besitzungen des Klosters St. Ulrich und Afra [162 Ebd.]. Bedeutung erlangte diese Anhäufung von Vogteien neben der damit verbundenen niederen Gerichtsbarkeit über die zu den Gütern der bevogteten Institute gehörenden Eigenleute durch die Möglichkeit, sich auf Kosten des Klosters bzw. Hochstifts eine gegenüber der auf Eigengütern der Grafen angesiedelten Ministerialen wesentlich zahlreichere Dienstmannschaft aufzubauen [163 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), Seite 193 ff.; Ders., Pfalzgrafen (wie Anm. 2), passim.]. Die Ministerialität, eine waffenfähige, leibrechtlich von ihrem Herrn abhängige Gefolgschaft, war an sich keine neue Erfindung. Ihrer bedienten sich die SALIER bereits seit der Mitte des 11. Jahrhunderts [164 K. Bosl, Die Reichsministerialität der Salier und Staufer. Ein Beitrag zur Geschichte des hochmittelalterlichen deutschen Volkes, Staates und Reiches (Schriften der Monumenta Germaniae Historica 10), Stuttgart 1951.], und besonders die Reichskirche baute sich bereits seit derselben Zeit eine solche Dienstmannschaft auf, in die nicht wenige vorher Freie eingetreten waren [165 Eine zusammenfassende, gründliche Untersuchung der geistlichen Ministerialität, insbesondere ihrer Herkunft, ihrer sozialen Stellung und ihrer Funktion, steht noch aus. Vgl. oben, Anm. 132.]. Die Grafen von Scheyern waren indessen die ersten Dynasten, die sich dieser Institution bedienten. Wenn auch Flohrschütz den Höhepunkt des Ausbaus der SCHEYERER Ministerialität erst um 1125 sieht [166 Flohrschütz, Pfalzgrafen (wie Anm. 2), S.49ff. ], im Verein mit allen übrigen Dynasten, so gibt es Anzeichen für diesen Aufbau auch schon weit vor 1100 [167 Ebd.], und auch diese nicht allein bei den Grafen von Scheyern [168 Hierzu verweise ich auf eine künftige spezielle Untersuchung zu dieser Problematik.]. Die geringen Kenntnisse einer Ministerialität vor 1100 sind wohl nicht zuletzt eine Überlieferungsfrage, da um diese Zeit die Dienstleute im allgemeinen noch nicht als zeugnisfähig galten und vor allem häufig in den Zeugenlisten nur bloße Personennamen genannt werden, so daß die Zeugen in den Traditionen oftmals von uns nicht identifiziert werden können. Wesentlich neu war jedoch die Methode, zur Ausstattung die bevogteten geistlichen Institute heranzuziehen, ja sogar bereits bestehende Ministerialensitze jener in die eigene Ministerialität miteinzubeziehen. Dazu bediente man sich frühzeitig auch gewaltsamer Methoden [169 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), S. 193f.]. Die Grafen von Scheyern kämpften um die flächenmäßige Beherrschung des Vogtgebietes mit allen Mitteln und eroberten sich so einen Vorsprung vor anderen weltlichen Machthabern, den diese kaum mehr aufholen konnten. Ihre Herrschaft bezog sich auch auf die Ministerialen Freisings, da diese ja Eigenleute der Kirche waren und somit dem Gebot des Vogtes unterstanden, sehr zum Mißfallen des Bischofs, der mehrmals versuchte, seine Ministerialen dem Vogtgericht zu entziehen.
Bei alledem darf nicht übersehen werden, daß eine wesentliche Komponente des SCHEYERER Machtausbaus im 11. Jahrhundert von anderer Seite hinzukam. Es wurde wiederholt festgestellt, daß die SCHEYERER in das reiche Erbe der Grafen von Ebersberg nicht durch Erbgang hatten eintreten können [170
Ders., Pfalzgrafen (wie Anm.2), S.45f.]; eine Deszendenz, oft vermutet und konstruiert [171 Überblick bei Fried, Herkunft (wie Anm. 137).], ließ sich niemals wirklich befriedigend nachweisen, nicht zuletzt deshalb, weil dieses Erbe, wie schon bei den KÜHBACHERN, in viele Teile zerfallen ist und in den unterschiedlichsten Händen wieder erscheint. Über diese Tatsache hat man sich auch mehrfach bei der Annahme einer Verwandtschaft zwischen den KÜHBACHERN und den Grafen von Scheyern hinweggesetzt, die lediglich auf Grund der Besitznachfolge konstruiert werden konnte. Die hypothetische Verwandtschaft der Grafen von Scheyern mit den EBERSBERGERN war ihrerseits wiederum nur über diese KÜHBACHER erschließbar gewesen. Beide Möglichkeiten sind endgültig als überholte Theorien anzusehen, und so bleibt letztlich nur die Vermutung, daß es sich beim größten Teil der reichen EBERSBERGER Hinterlassenschaft um Reichsleben gehandelt hat, die auf dem Weg der Neuverleihung in die Hände dieser neuen Familie gekommen sind [172 Flohrschütz, Ebersberg (wie Anm. 4), S.118ff.].

VIII. Schlußfolgerungen

Soweit also die Fakten und die auf ihrer Grundlage möglichen und denkbaren Hypothesen. Die grundlegende Frage nach den Ursachen dieser Entwicklung, wie sie sich im Raum zwischen dem Lech, dem bayerischen Oberlauf des Inns, dem nördlichen Alpenrand und der Donau zwischen Lech und Regensburg im 11. und frühen 12. Jahrhundert zeigt, ist noch zu stellen. Haben wir es hier mit einer Gruppe von Usurpatoren zu tun, oder mit einer grundlegenden Umwandlung der gesamten Verfassung unter königlicher Kontrolle und mit seinem Wissen ? Rissen die, die die Macht hatten, das Amt an sich, oder gewährte man es denen, die es noch ausüben konnten?
Zunächst einmal sei festgestellt, daß keiner der »neuen« Grafen des 11. Jahrhunderts sich allein diesen Titel angemaßt hätte, weil er nach seinem eigenen Selbstverständnis auf Grund seiner ausgedehnten Vogtgewalt nun zur ersten Schicht des Adels zählte. Das mag allenfalls nach unserem Untersuchungszeitraum gelegentlich vorgekommen sein, innerhalb des hier gegebenen Zeitraums können lediglich die Grafen von Weyarn dessen verdächtigt werden, und auch das nur, weil es keine das Gegenteil beweisende Quellenstelle gibt. Die Grafen von Scheyern waren »echte« Grafen, die SIGIMARE ebenso - in ihrer Familie war nicht einmal der Titel jedem männlichen Sproß zu eigen! - und auch die DIESSENER fungierten in den ihrer Herrschaft neuerschlossenen Gebieten durchaus als Grafen im engeren Sinne. Was immer also letztlich geschehen war, es wurde von den dem Grafen unterstehenden Personen und dem König gleichermaßen akzeptiert. Daß dennoch die Vorgänge zuweilen recht willkürlich und verworren erscheinen, mag seinen Grund darin haben, daß die unmittelbare Aufsichtsbehörde über die Grafen, das Herzogtum, schon seit der ausgehenden Sachsenzeit an einer notorischen Schwäche krankte [173
A. Kraus, Geschichte Bayerns. Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München 1983, Seite 66f. Siehe jetzt den Beitrag von W. Störmer in diesem Band.]. Wenn nicht Angehörige der königlichen Familie das Herzogtum innehatten, waren damit Vertreter des Reichsadels belehnt, die allesamt, wie Konrad von Zütphen und Otto von Northeim, noch nicht einmal die Machtbasis eines bedeutenderen Edelfreien in Bayern besaßen. Selbst die WELFEN, die seit 1070 mit Unterbrechungen die Herzöge stellten, waren an tatsächlicher Macht in einem Land, in dem Familien wie die Grafen von Dießen oder die Grafen von Scheyern bereits Räume beherrschten, die später für ein Reichsfürstentum ausgereicht hätten, viel zu schwach gestellt, um ernstlich den eingesessenen Dynasten als führende oder kontrollierende Gewalt vorzustehen.