SENIORAT
Lexikon des Mittelalters:
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Senior (Seniorat)
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I. Allgemein, Rechts- und
Sozialgeschichte:
Senior (Komparativ zu lat. senex), der Ältere, bezeichnet das
Familienoberhaupt, wird aber häufig von der Hausherrschaft auf
andere Abhängigkeitsverhältnisse übertragen und als
Synonym für 'dominus' verwendet. Dies gilt insbesondere für
die Lehnsterminologie, da man die Beziehung zwischen Herrn und Vasall
ursprünglich wohl als eine quasi-familiäre Bindung ansah. In
romanischen Sprachen wird Senior (signore, senor) heute noch im Sinne
von 'Herr' als Anrede benutzt. Umgekehrt erfuhren niedrig gestellte
Personen eine Rückstufung im Alter, wie aus der Bezeichnung 'puer'
auch für einen volljährigen Knecht hervorgeht.
Die größte Bedeutung erlangte die Bevorzugung des
Älteren im Erbrecht des Adels. Während das allodiale
Familiengut gleichberechtigt an alle Söhne fiel, machte die
Unteilbarkeit der Amtslehen (Herzogtümer, Grafschaften) eine
Individualsukzession notwendig, bei der häufig der älteste
Sohn zum Nachfolger ausersehen wurde. Hierbei spielte angesichts der
Häufigkeit früher Todesfälle sicher der Gedanke eine
wesentliche Rolle, daß der älteste Sohn als erster die
körperliche Reife für die Übernahme der Regentschaft und
die Fortsetzung der Dynastie besaß. Andererseits wurde aber auch
auf die Idoneität des präsumptiven Nachfolgers in der
Herrschaft geachtet, wie Lampert von
Hersfeld am Beispiel der Grafen von Flandern erläutert.
Diese hatten angeblich schon seit Jahrhunderten den Brauch,
»daß einer der Söhne, der dem Vater am besten
gefiel«, zum Alleinerben auserkoren wurde.
Nachdem der Amtscharakter der Herzogtümer und Grafschaften im
13. Jh. verblaßt war, kam es zu einer Welle von
Herrschaftsteilungen, die den Bestand der Territorien gefährdete.
Als Gegenreaktion erfolgte im Zuge der staatlichen Konsolidierung seit
Beginn des 14. Jh. wieder eine stärkere Tendenz zur
Individualsukzession mit einer Bevorzugung des erstgeborenen Sohnes,
die in entsprechenden Hausverträgen entweder nur für die
nachfolgende Generation oder für ewige Zeiten fixiert wurde. Von
großem Einfluß auf diese Entwicklung war die Goldene Bulle
von 1356, da sie zur Absicherung einer eindeutigen Königswahl das
Erbrecht der weltlichen Kurfürsten regelte und die Nachfolge auf
den »erstgeborenen ehelichen Sohn, der Laie ist«,
beschränkte. In der Folgezeit wurden in zahlreichen Dynastien
Primogeniturordnungen erlassen, doch kam es immer wieder zur Auflehnung
der nachgeborenen Söhne gegen das Vorrecht ihres älteren
Bruders. Da der Adel seinen Status über die Geburt definierte,
mußte er auch prinzipiell das angeborene Herrschaftsrecht aller
Söhne anerkennen, wollte er nicht das ganze System in Frage
stellen. Aus diesem Grund mußten die einseitig erlassenen
Hausgesetze um einen »freiwilligen« Erbverzicht der
nachgeborenen Söhne ergänzt werden, die anschließend
oft als Domherren mit kirchl. Pfründen versorgt wurden.
Das bäuerliche Anerbenrecht verlangte die Individualsukzession,
doch kommt sowohl die Erbfolge des erstgeborenen als auch des
jüngsten Sohnes vor.
K.-H. Spieß
II. Böhmen und Polen:
In Böhmen soll, wie Cosmas von
Prag berichtet, das Seniorat (die Regelung der Thronfolge des
Ältesten der Dynastie und seiner Oberhoheit über die anderen
Fürsten) 1055 durch Bretislav I.
testamentarisch festgelegt worden sein; der Seniorats-Fürst wies
den anderen Fürsten auf Zeit Herrschaft über
Teil-Fürstentümer zu. Im Laufe des 12. Jh. setzte sich
aber das Prinzip der Primogenitur durch. Eine dem böhmischen
Seniorat analoge Regelung führte, wie die Chronik des Magisters
Vinzenz (gen. Kadllubek) berichtet, Boleslaw
III. Krzywousty 1138 in Polen ein, als er das Land als
Erbprovinzen unter seine Söhne aufteilte. Die Oberhoheit wies er
dem Ältesten zu, der außerdem über einen Landesteil mit
der Hauptstadt Krakau verfügte. Die Authentizität dieser
Regelung bestätigt eine Bulle Innozenz'
III. für den Erzbischof
von Gnesen aus dem Jahre 1210. Faktisch war das Seniorat in Polen aber
am Ende des 12. Jh. erloschen, als Kasimir
II. Sprawiedliwy Krakau seinem minderjährigen Sohn
zuwies und nicht dem wirklichen Senior, einem der schlesischen
Fürsten, der daher die Abfassung der Bulle betrieb. Seit jener
Zeit galt die Herrschaft über Krakau für die jeweiligen
Fürsten als Legitimation für Maßnahmen zur Vereinigung
des Landes.
St. Russocki
III. Rus':
Der im politischen Vermächtnis Jaroslavs I. des
Weisen (um 1054) erstmals klar formulierte Grundsatz, daß
der Thron von Kiev Besitz des genealogisch ältesten (Senior) unter
den RJURIKIDEN
sein soll, dem so eine gewisse Oberherrschaft über die ganze Rus'
zukam, ersetzte die frühere Brüdergemeinschaft (corpus fratrum) ohne sichtbare
Sonderstellung des Fürsten von Kiev. Diese in der Praxis oft
verletzte Ordnung wurde nie grundsätzlich angefochten, obgleich
sie nur durch ein vielfältiges System zwischenfürstlicher
Verträge funktionierte. Versuche, das Seniorat lediglich als durch
Begriffe der Sippenorganisation überdeckte, rein feudale
Institution der Lehnsherrschaft zu deuten, erwiesen sich nicht als
völlig sachgemäß. Am deutlichsten trat das Seniorat in
der Periode 1054-1157 († Jurij Dolgorukij)
hervor. Danach führte die endgültige Etablierung von
Teil-Fürstentümern mit eigenen RJURIKIDEN-Dynastien
dazu, daß sich einerseits die Verknüpfung des Seniorats mit
der Vorstellung von Kiev als gesamtrussische Hauptstadt allmählich
verlor (zum Beispiel unter Andrej Bogoljubskij
oder Vsevolod
III.), andererseits sich neben dem formalen Seniorat des
Fürsten von Kiev eine Art kollektive Mitherrschaft der
stärksten Teil-Fürsten über das Kiever Land entwickelte.
Spuren des Seniorats als traditioneller Thronfolgeordnung lokaler
Fürsten-Häuser sind bis ins 15. Jh. zu verfolgen, bis es in
Moskau endgültig durch die Primogenitur verdrängt wird.
A. Nazarenko
I. Allgemein. Rechts- und Sozialgeschichte
II. Böhmen und Polen
III. Rus'