Lexikon des Mittelalters: Band II Spalte
335
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Böhmen
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1. Der Name des Landes und der Einwohner
Der Name Böhmen (Boemia, Bohemia) geht auf die keltischen Boier zurück und erscheint in den mittelalterlichen Quellen ständig als Bezeichnung des Landes. Er setzt sich auch in der deutschen Bezeichnung fort. Die slavische Namensform Cechy ist seit dem 10. Jh. bezeugt. Die Einwohner des Landes werden als Bohemi/Böhmen bezeichnet; im Tschechischen (nach dem mittelböhmischen Stamm) als Cesi. (Weder Cechy noch Cesi ist bisher etymologisch befriedigend gedeutet.) Während im Deutschen zwischen Böhmen (Einwohner des Landes) und Tschechen (ethnischer Name) terminologisch unterschieden werden kann, ist diese Unterscheidung im Lateinischen und Tschechischen nicht möglich.
2. Die Anfänge und die Herrschaft der ersten Premysliden
Die Anfänge der slavischen Besiedlung
von Böhmen
sind bisher nicht befriedigend geklärt; entgegen älteren
Ansichten,
die, in Anlehnung an die mittelalterliche Landnahmesage, das Eindringen
von Slavenstämmen im 6. Jh. in ein Land, das von den Bewohnern
geräumt
war, anzunehmen, weisen neue archäologische Funde auf ein
zeitweises
Nebeneinander vorslavischer und slavischer Siedler an einigen Orten
hin.
Die ersten schriftlichen Nachrichten beziehen sich auf die Expedition
Dagoberts I. gegen Samo,
der als König der Slaven
bezeichnet wird (620-658/59).
Obzwar nicht
unbestritten, neigt die Mehrzahl der Forscher der Meinung zu, seinen
Sitz
(Wogastisburg) in Böhmen zu
suchen.
Sichere Angaben setzen erst mit dem 9. Jh. ein, als die böhmischen
Stämme in das Blickfeld der fränkischen Annalisten gelangten.
Ohne dauernde Folgen blieben die Züge KARLS
DES GROSSEN durch Böhmen
(805/06); die böhmischen Stämme, noch nicht geeint, blieben
ein
Streitobjekt zwischen dem Ost-Fränkischen Reich und dem
erstarkenden
Altmährischen Reich, dessen Herrscher Svatopluk
(871-894) Böhmen
seinem Reich eingliederte. Noch vor der Zerschlagung
Altmährens
durch die Ungarn gelang es den böhmischen Stämmen, die
mährische
Oberherrschaft abzuschütteln, und seit dem 10. Jh. wurde Böhmen
dauernd zur politischen Dominante des ganzen Gebietes (Die
spätmittelalterliche
Historiographie schilderte dies als eine Translatio regni von
Mähren
nach Böhmen).
Im 9. Jh. wurde die
böhmischen
Stämme zum Christentum bekehrt, und es bahnt sich die
Zentralisierung
der politischen Gewalt an. Bezeugt ist die Bekehrung von 14
böhmischen
"duces" 845 in Regensburg. Entscheidender scheint jedoch der
altmährische
Einfluß für den Sieg des Christentums gewesen zu sein; die
Annahme,
dass Böhmen noch im 10. Jh.
liturgisch-kirchlich
in eine lateinische und slavische Sphäre geteilt war (Konstantin
und
Method), ist jedoch umstritten. Der Zentralisierungsprozeß der
Stämme
hat bloß in seiner Endphase (in sagenhafter Form) einen
Niederschlag
in den Quellen gefunden (Lucaner-Sage); Sieger war der in
Mittel-Böhmen
siedelnde Stamm der Tschechen, und mit ihm gelangten seine Herrscher,
die
PREMYSLIDEN
(die ihre Herkunft von dem sagenhaften
Premysl dem
Pflüger
ableiteten), zur Herrschaft über das ganze Land. Das
neue
Zentrum, die Prager Burg, wurde zum bevorzugten Fürstensitz und
zum
politischen Zentrum von Böhmen.
Von der Überlieferung wird meist Borivoj
I. (†
um 894; seine Gattin Ludmilla wurde später als
heilige
Märtyrerin verehrt) als erster christlicher Herzog angesprochen,
der
- wohl unter mährischer Oberhoheit - die entscheidende Phase der
Einigung
des Landes einleitete; beendet wurde sie wahrscheinlich erst unter Boleslav
II. (967-999) durch die
Ausrottung der SLAVNIKIDEN. Für die Tradition
und die Herausbildung eines böhmischen "Staatsbewußtseins"
war
das "Martyrium" des Herzogs Wenzel (tschechisch Vaclav,
† 929/35)
von entscheidender Bedeutung. Sein Kult ist bereits seit dem 10. Jh.
bezeugt;
im 11. Jh. wird die Verehrung des PREMYSLIDEN
Wenzel zu einem
Eckpfeiler des Eigenbewußtseins zunächst des böhmischen
Adels und Klerus; die Wenzels-Verehrung wurde zum Ausgangspunkt einer
Repräsentanz
des Landes neben dem Herrscher, zuweilen sogar gegen ihn. Im 10. Jh.
entstand
gleichfalls eine eigene kirchliche Organisation in
Böhmen - das bisher zur
Diözese
Regensburg gehörte - durch die Gründung des Bistums Prag
(seit
ca. 973 Suffragan von Mainz) und die Gründung von Klöstern
(Das
älteste Kloster ist das Frauenkloster St. Georgen auf der Prager
Burg).
Mit dem Ende des 10. Jh. setzte die Expansion
Polens
nach dem Westen und Süd-Westen ein, die zur kurzfristigem
Beherrschung
Böhmens durch Boleslaw
Chrobry führte (1003/04). Der böhmisch-polnische
Antagonismus,
der sich immer wieder an den Herrschaftsansprüchen auf Schlesien
entzündete,
beherrschte mit unterschiedlicher Stärke die Geschicke beider
Länder
auch in der Folgezeit. Entscheidend wurde das Verhältnis zum
Reich,
ein Thema, das seit dem 19. Jh. immer wieder Historiker
beschäftigt
und dessen Wertung zu sehr unterschiedlichen Schlußfolgerungen
geführt
hat: einerseits zur Annahme einer völligen Zugehörigkeit des
Landes zum Reich, andererseits zur These von einer ausschließlich
persönlichen Lehensabhängigkeit des Böhmen-Herzogs.
Unbestreitbar bleibt die Zugehörigkeit Böhmens
zum Reich, auch formal durch die Investitur der
Böhmen-Herzöge
durch den König (Kaiser) dokumentiert; übrigens ist sie im
Mittelalter
in Böhmen nicht bestritten worden. Genauso unbestreitbar ist
jedoch
die Tatsache, dass Böhmen in vielerlei Hinsicht
"verfassungsmäßig"
seit dem 10. Jh. innerhalb des reiches, schon von der Sprache her, eine
Sonderstellung hatte. Hinzu kamen noch: Wahl und Inthronisation auf der
Prager Burg, das völlige Fehlen von Reichsgut, keine Umritte und
Königsaufenthalte
in Böhmen
sowie eine weitgehende Abhängigkeit des Prager Bischofs
vom Herzog. Diese Sonderstellung wurde dadurch formalisiert,
dass
der Böhmen-Herrscher, als einziger
Fürst
im Reich, den Königstitel erhielt (Vratislav
II. 1085; Vladislav II. 1158;
seit Premysl Otakar I. 1198
dauernd).
3. Böhmen im 13. Jahrhundert (Höhepunkt der Macht der Premysliden)
Für die weiteren politischen
Schicksale des Landes
war von Bedeutung, dass es zu keiner Aufsplitterung der Herzogs- bzw.
Königsgewalt
in
Böhmen kam. Trotz der
häufigen Wirren um die Nachfolge im 11. und 12. Jh., die
öfter
einen unmittelbaren Eingriff des Reiches ermöglichten, blieb die
Einheit
des Landes gewahrt; Angehörige der Dynastie der PREMYSLIDEN
wurden durch Teilfürstentümer in Mähren (erobert unter
Oldrich/Udalrich 1012-1034) abgefunden; ihre Machtbasis war zu
schwach,
um die Stellung des Prager Herrschers ernsthaft gefährden zu
können.
Schon bei dem ältesten Chronisten
Kosmas von Prag († 1125) ist das
"Land Böhmen" ein fester
Begriff.
In den wiederholten Wirren um die Nachfolge im 11. und 12. Jh.
formierte
sich ein neuer Adel, besonders auf den Landtagen (snemy), der zum
eigentlichen
Gegenspieler der Könige wurde. Ob ein alter Geblütsadel
überlebte,
ist umstritten; freie Bauern, deren Existenz bezeugt ist, verschwanden
im 12. Jh. weitgehend. (Die Freiheit der Chodenbauern ist späteren
Ursprungs). Im 13. Jh. fand der Adel im Landgericht (soud zemsky) und
Landtafel
(Desky zemske) eine formale Grundlage, die die älteren
unbestimmten
Strukturen der Adelsgemeinschaft ersetzen. Neben den Hofämtern
entstanden
Landesämter, die vom Adel beherrscht wurden, und die Adelsgemeinde
(obec) stilisierte sich zunehmend zum Sprecher des Landes
Böhmen.
In der "Außenpolitik" blieb im 13. Jh. der
Antagonismus
zum Reich von entscheidender Bedeutung; der Gegensatz zu Polen
schwächte
sich ab; hinzu trat eine Feindschaft zu Ungarn, hervorgerufen durch die
Süd-Expansion der böhmischen Herrschaft.
Grundlegende Bedeutung kam der Kolonisationswelle des 13. Jh. zu, die
ihren
ersten Höhepunkt unter Wenzel I. (1230-1253)
erreichte.
An den älteren Landesausbau anknüpfend, wurde sie vor allem
von
deutschen Siedlern getragen; in der Folgezeit entstanden geschlossene
deutschsprachige
Gebiete und Sprachinseln, ohne dass es jedoch zur Entstehung eines
deutschen
Neustammes in Böhmen
kam.
Das emphyteutische ("deutsche") Recht der Kolonisten wurde zunehmend
gegen
Zahlung auch der einheimischen Bevölkerung gewährt; das 14.
Jh.
brachte eine allgemeine Angleichung. Gleichzeitig entstanden
Städte
im engeren Sinn des Wortes mit Übernahme deutscher Stadtrechte.
Mancherorts
knüpften sie organisch an bestehende stadtähnliche Siedlungen
an; vielfach wurden sie neu begründet. Der Ausbau eines
Städtenetzes
und der Reichtum der neu erschlossenen böhmischen Bergwerke
ermöglichten
eine zeitweise böhmische "Großmachtpolitik" unter Premysl
Otakar II. (1253-1278).
Trotz der Stärkung der königlichen
Macht, die sich nun zunehmend auch auf die königlichen Städte
stützte, gelang es jedoch weder Premysl
II.
noch seinem Sohn Wenzel II.,
ein
dauerndes Übergewicht der königlichen Macht zu sichern. Die
Adligen
begannen ihrerseits zu kolonisieren und Städte zu gründen.
Trotz
der Einheitlichkeit des Landes blieb die Macht der Adligen ungebrochen;
vor einer Überschätzung der "Einheitlichkeit"
Böhmens
muß gewarnt werden. Von den territorialen Erwerbungen verblieben
bloß Eger und ein Teil des Egerlandes (von Premysl II. Otakar
1265 erworben) - nach mehrfachen Peripetien - dauernd beim Königreich
Böhmen. Premysl II.
scheiterte letztlich am Widerstand der Adelsopposition im Innern des
Landes
und an der Politik RUDOLFS VON HABSBURG.
Mit der Erwerbung von Österreich durch die HABSBURGER
kam ein neuer Machtfaktor in Ostmitteleuropa ins Spiel, der die
Geschicke
des Landes bald nachhaltig beeinflussen sollte. Bereits König
ALBRECHT versuchte seinen
Sohn Rudolf
III. (1306/07) auf den böhmischen Thron zu setzen. Als
mit der Ermordung Wenzels III. (1306)
die PREMYSLIDEN-Dynastie in männlicher Linie
ausstarb, brachen
die verschiedenen Gegensätze in offenen Kämpfen aus.
Böhmen
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Herzogtum, Königreich
Der Name Böhmen stammte von den keltischen Boiern, die hier im 1. Jahrhundert nach Christus siedelten. An ihre Stelle kamen die germanischen Markomannen. Im 6. Jahrhundert kam es im Zuge der Völkerwanderung zu einer slawischen Besiedlung. In Böhmen und Mähren entstand vorübergehend als Großmährische Reich, in dem erstmals zahlreiche westslawische Stämme zu einem losen Staatenbund vereinigt wurden. Kaiser KARL DER GROSSE brachte Böhmen in Abhängigkeit des Frankenreiches, die später wieder gelockert wurde. Unter König HEINRICH I. wurde Böhmen 929 erneut unter die fränkische Oberhoheit gezwungen. Im 9. Jahrhundert begann die Christianisierung des Landes durch die Slawenapostel Cyrill und Method; später durch die Bischöfe von Passau. Seit der Jahrtausendwende war Böhmen ein Reichslehen und 1085 verlieh Kaiser HEINRICH IV. dem Böhmen-Herzog Wratislaw die Königswürde. Böhmen wurde staatsrechtlich ein Teil des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und die böhmische Königswürde erblich. Einer der bedeutendsten Könige dieser Zeit war Ottokar II. Premysl, der auch weite Teile des heutigen Nieder-Österreich, der Steiermark und Sloweniens (bis an die Adria) zu seinem Reiche zählte. Er strebte die deutsche Königswürde an, unterlag aber 1278 in der Schlacht auf dem Marchfeld (nördlich von Wien) dem HABSBURGER RUDOLF I. Nach dem Aussterben der PREMYSLIDEN (1306) kamen die LUXEMBURGER 1310 auf den böhmischen Königsthron, deren bedeutendste Herrscherpersönlichkeit Kaiser KARL IV. war.
PRZEMYSLIDEN
| Boriwoi I. | um 850- 894 |
| Spitignev I. | 894- um 905 |
| Wratislav I. | 905- 921 |
| Wenzel I. der Heilige | 921- 928/35 |
| Boleslav I. | 928/35-967/72 |
| Boleslav II. | 967/72- 999 |
| Boleslav III. der Rote | 999-1002 |
| Wladiwoi | 1002-1003 |
| Boleslav III. der Rote | 1003 |
| Jaromir | 1003 |
| Boleslaw I. von Polen | 1003-1004 |
| Jaromir | 1004-1012 |
| Udalrich | 1012-1033 |
| Jaromir | 1033-1034 |
| Udalrich | 1034 |
| Bretislav I. | 1034-1055 |
| Spitignev II. | 1055-1061 |
| Vratislav II. (I.) | 1061-1092 |
| Konrad I. Otto | 1092 |
| Bretislav II. | 1092-1100 |
| Borowoi II. | 1100-1107 |
| Swatopluk | 1107-1109 |
| Vladislav I. | 1109-1117 |
| Borowoi II. | 1117-1121 |
| Vladislav I. | 1121-1125 |
| Sobieslav I. Udalrich | 1125-1140 |
| Vladislav II. (I.) | 1140-1172 |
| Friedrich | 1172-1173 |
| Sobieslav II. | 1173-1178 |
| Friedrich | 1178-1189 |
| Konrad II. Otto | 1189-1191 |
| Wenzel II. | 1191-1192 |
| Przemysl Ottokar I. | 1192-1193 |
| Heinrich Bretislav | 1193-1197 |
| Vladislav Heinrich | 1197 |
| Przemysl Ottokar I. | 1197-1230 |
| Wenzel I. | 1230-1253 |
| Ottokar II. | 1253-1278 |
| Wenzel II. | 1278-1305 |
| Wenzel III. | 1305-1306 |
HABSBURGER
| Rudolf III. | 18.1.-3.7.1307 |
GÖRZ-TIROL
| Heinrich von Kärnten | 1307-1310 |
LUXEMBURGER
| Johann | 1311-1346 |
| KARL I. | 1346-1378 |
| WENZEL IV. | 1378-1419 |
| SIGISMUND | 1420-1437 |
HABSBURGER
| ALBRECHT | 1438-1439 |
| Ladislaus Postumus | 1440-1457 |
PODIEBRAD
| Georg | 1458-1471 |
HUNYADI
| Matthias I. Corvinus | 1471-1490 |
JAGELLONEN
| Wladislaw | 1490-1516 |
| Ludwig II. | 1516-1526 |