Lexikon des Mittelalters: Band VII Spalte 1481
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Schlesien (lat. Silesia, poln. Slask, tschech. Slezsko)
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naturräuml.-histor. Beckenlandschaft an der oberen
und mittleren Oder zw. Sudeten, Beskiden, Poln. Jura und Lausitz, zu der
die Flüsse Bober und Queis die ma. Grenze bilden.
[1] Frühzeit und Christianisierung: Nach Abzug der
für das Land namengebenden germanischen Silingen in der Völkerwanderung
ließen sich hier aus dem O einwandernde slavische Stämme nieder,
von denen (beim Geographus Bavarus) die Namen der Golensizen, Opolanen,
Slensanen, Dedosizen sowie (urkundlich) die der Trebowanen und Boboranen
überliefert sind. Zu Beginn des 10. Jh. stand Schlesien unter der
Oberherrschaft der böhmischen Fürsten, und Fürst Vratislav
I. (905-921) legte an der Kreuzung wichtiger Handelswege auf
einer Insel in der Oder die Burg Breslau (Vratislavia) an,
die sich zum beherrschenden Mittelpunkt des Landes entwickelte (Fürsten-
und Bischofssitz, Rechtsstadt). Um 990 eroberte der polnische Fürst
Mieszko
I. den größten Teil des Oderlandes, das fortan zwischen
Polen und Böhmen umstritten blieb und zeitweise den Besitzer wechselte
(bis zum Glatzer Pfingstfrieden 1137: Teilung entlang des Sudetenhauptkammes
sowie der Flüsse Zinna-Oder-Ostrawitza).
Das zunächst von Böhmen her christianisierte
Schlesien war seit dem Jahr 1000 überwiegend Bestandteil des mit der
polnischen Kirchenprovinz Gnesen gegründeten Bistums Breslau. Im SO
gelangten die späteren Dekanate Beuthen und Pleß an das kleinpolnische
Bistum Krakau, während das premyslidische Gebiet im SW an das
mährische Bistum Olmütz kam. Mit der heidnischen Reaktion in
Polen in den 30-er Jahren des 11. Jh. war der zeitweise Verfall der Kirchenorganisation
verbunden. Die ersten großen Klöster wurden in der 1. Hälfte
des 12. Jh. gegründet: St. Vinzenz auf dem Elbing bei Breslau (vor
1139, Benediktiner, 1193 durch Prämonstratenser ersetzt) und St. Marien
der Augustiner-Chorherren (1149/50 vom Zobten auf die Sandinsel in Breslau
verlegt). Zu ihnen gesellte sich 1175 das von Pforta beschickte Zisterzienserstift
Leubus, mit dem die deutsche Siedlung einsetzte. Die Klöster hatten
ebenso wie das Bistum Breslau intensive Beziehungen nach W.
[2] Schlesien als Teilfürstentum der Piasten: Mit
der Erbteilung beim Tode Fürsten Boleslaws
III. von Polen (1138) begann sich Schlesien politisch zu verselbständigen:
Im Rahmen der polnischen Senioratsverfassung bildete Schlesien ein Teilfürstentum
unter Boleslaws ältestem Sohn
Wladyslaw
II., der, vermählt mit
Agnes von Babenberg, einer
Enkelin Kaiser Heinrichs IV., den schlesischen
Zweig der Piasten begründete.
Im Streit mit seinen Brüdern floh er 1146 mit seiner Familie nach
Deutschland, wo er starb und in Pegau begraben wurde. Seinen Söhnen
gelang 1163 mit Hilfe ihres Vetters Kaiser Friedrich
I. die Rückkehr, und sie teilten sich das väterliche
Erbe. Der ältere Boleslaw († 1201)
erhielt Mittel- und Nieder-Schlesien als Herzogtum Schlesien
(ducatus Slesiae) mit Breslau als Hauptort, der jüngere Mieszko
(† 1211) die oderaufwärts gelegenen Gebiete Ratibor
und Teschen, die sich, 1201 um Oppeln erweitert und zum Herzogtum
Oppeln (ducatus Opoliensis) zusammengefaßt, dynastisch-politisch
unter einem Oppelner Zweig der Piasten
verselbständigten.
Mit dem Erlöschen der polnischen Senioratsverfassung
1202 wurden beide Herzogtümer in ihrer Zwischenlage zwischen dem Reich
und Polen unabhängig. Sie betrieben eigenständige Politik und
öffneten sich seit dem Beginn des 13. Jh. verstärkt der deutschenSiedelbewegung.
Diese bewirkte einen durchgreifenden Landesausbau mit weitflächiger
Wald- und Ödlandrodung, Anlage von neuen Städten (insgesamt mehr
als 100) im planmäßigen Gitterschema bei regelmäßiger
Verteilung über das Land, Gründung von (mehr als 1200) Dörfern
zu deutschem Recht (Ius Teutonicum), zumeist in Form großer
Waldhufen-, Anger- und Straßendörfer mit Hufenverfassung. Hinzu
kam eine Vielzahl von neu errichteten Kirchen, Klöstern und Hospitälern.
Die deutschen Siedler entstammten überwiegend dem unmittelbar benachbarten
thüringisch-sächsisch-meißnischen Raum. Auch die vorhandenen
altländisch-polnischen Siedlungen wurden zum größten Teil
durch Rechtsumsetzungen organisatorisch, wirtschaftlich und sozial umgestaltet
und den deutschen Siedlungen angeglichen. Die Bevölkerung wuchs auf
mindestens das Fünffache. Treibende Kraft bei alldem waren die piastischen
Landesherren, die eine Modernisierung ihrer Länder nach westlichem
Vorbild zum Zwecke der Leistungs- und Nutzungssteigerung anstrebten und
bei Adel und Kirche auf gleichgerichtete Interessen stießen. Das
überkommene Ius Polonicum mit seinen altertümlichen Einrichtungen,
Belastungen und Dienstpflichten wich dem modernen, freiheitlichem Ius
Teutonicum, wovon auch die unteren Schichten der Bevölkerung profitierten.
Im wesentlichen nur auf der rechten, weniger fruchtbaren Oderseite und
im östlichen Teil des waldreichen Ober-Schlesien blieben über
das MA hinaus mancherorts vorkoloniale Strukturen, Lebens- und Sprachverhältnisse
bestehen. Ansonsten erhielt Schlesien durch den Siedlungsprozeß und
die mit ihm einhergehenden Veränderungen, insbesondere während
des 13. Jh., seine bleibende kulturlandschaftl. Prägung. Es wurde
zu einer Brücke zwischen W und O, N und S.
Energischer Initiator des Siedelgeschehens war Herzog
Heinrich I. von Schlesien (1201-38; oo Hedwig von Andechs
[†
1243], spätere schlesische Landesheilige). Von seinem im Innern
reformierten und gestärkten schlesischen Territorium aus griff er
nach den benachbarten Herzogtümern Oppeln, nach Groß- und Kleinpolen
und der Lausitz. Sein Versuch einer weiträumigen ostmitteleuropischen
Herrschaftsbildung brach jedoch mit dem Tode seines Sohnes Heinrich
II. in der Schlacht gegen die Mongolen auf der Wahlstatt bei Liegnitz
1241 zusammen und schlug ins Gegenteil um. Im Herzogtum Schlesien seit
1249, im Herzogtum Oppeln seit 1281 setzten dynastische Landesteilungen
ein, die zur Zersplitterung in zeitweilig mehr als ein Dutzend kleiner,
miteinander rivalisierender, ja nicht selten sich bekämpfender piastische
Fürstentümer führten. Neben ihnen gewann der Bischof von
Breslau im Neiße-Ottmachauer Bistumsland, das er 1344 durch den Kauf
von Grottkau erweiterte, die Territorialhoheit und fürstlichen Rang.
[3] Spätmittelalter: In das so entstehende Machtvakuum
versuchte zunächst Böhmen, dann auch das 1320 wiedererrichtete
Königreich Polen einzudringen. Von beiden Nachbarn in die Zange genommen,
unterstellten sich die schlesischen und Oppelner Piasteneinzeln
oder in Gruppen als fürstliche Vasallen mit ihren Ländern der
Lehnshoheit des Königs von Böhmen: 1327 die Herzöge von
Teschen, Falkenberg, Cosel-Beuthen, Auschwitz, Ratibor, Oppeln und Breslau,
1329 die Herzöge von Sagan, Öls, Steinau und Liegnitz-Brieg.
1331 folgten Glogau, 1336 Münsterberg und 1342 das Bistumsland Neiße-Ottmachau.
Die Herzogtümer Schweidnitz und Jauer wurden schließlich durch
die Heirat Karls IV. mit der schweidnitzisch-jauerschen
Erbin Anna 1353 für Böhmen gewonnen.
Im Ausgleichsvertrag von Trentschin 1335, bestätigt 1339, ließ
König
Kasimir III. von Polen seine zuvor erhobenen Ansprüche
auf Schlesien fallen und erkannte dessen Übergang an Böhmen an.
Karl IV. inkorporierte Schlesien 1348
als deutscher König, 1355 als römischer Kaiser feierlich in die
Krone des reichszugehörigen Böhmen. Beim Aussterben der Piasten
in den Fürstentümern Breslau, Glogau, Schweidnitz
und Jauer gingen diese in unmittelbaren böhmischenKronbesitz über
und wurden als sogenannte Erbfürstentümer von königlichen
Landeshauptleuten verwaltet, während in den sogenannten Lehnfürstentümern
schlesische
Piasten, aufgesplittert in mehrere Linien,
regierten. Der seit 1137 zu Böhmen/Mähren gehörende südliche
Teil Schlesiens, das Troppauer Land, wurde 1318 unter einer Nebenlinie
der Prager Premysliden zum Herzogtum
Troppau erhoben. Es trat schon wenig später (1336) durch eine entsprechende
fürstliche Heirat in Personalunion mit dem benachbarten
piastischen
Ratibor und wuchs dadurch in den politisch-rechtlichen Verband Schlesiens
hinein. Als in der 1. Hälfte des 15. Jh. die Begriffe Ober- und Nieder-Schlesien
aufkamen, umfaßte Ober-Schlesien neben den Fürstentümern
auf dem Boden des alten Herzogtums Oppeln auch das premyslidiischen
Troppau, Nieder-Schlesien entsprechend die Fürstentümer
des ungeteilten Herzogtums Schlesien einschließlich des Breslau-Ottmachauer
Bistumslandes. Unter böhmisch-luxemburgischer
Oberherrschaft konnte Schlesien im 14. und beginnenden 15. Jh.
seine mit der Siedlungsbewegung in Gang gekommene innere Entwicklung auf
allen Gebieten ungestört fortsetzen. Das Bistum Breslau wurde als
»goldenes« bezeichnet, die Stadt Breslau trat der Hanse bei
(1387), das kirchliche und städtische Schulwesen weitete sich allenthalben
aus, Schlesier studierten und lehrten an den benachbarten Universitäten
Prag, Krakau, Wien und Leipzig; neben der lateinischen gewann die deutsche
Literatur an Rang und Umfang.
Ein spürbarer Rückschlag setzte mit den Hussitenkriegen
im 3. und 4. Jahrzehnt des 15. Jh. ein. Sie trafen Schlesien als königstreues,
kathisches und deutsch geprägtes Nebenland Böhmens besonders
hart. Am Anfang stand der von König Siegmund
1420
in Breslau abgehaltene Reichstag, der Schlesien in seiner Rolle als antihussitisches
Widerstandszentrum bestärkte. Während der den Hussitenkriegen
folgenden Prager Thronwirren hielten Unruhe und Unsicherheit im Oderland
an: erhebliche Menschen- und Siedlungsverluste, wirtschaftlicher Niedergang
und eine von den Hussiten ausgelöste Slavisierungswelle. Auch der
»Ketzerkönig« Georg von
Podiebrad wurde nachdrücklich abgelehnt. Die Situation
änderte sich erst, als König Matthias
Corvinus von Ungarn 1469 Mähren, Schlesien und die Lausitz
eroberte, im Olmützer Frieden 1479 in ihrem Besitz bestätigt
wurde und sie bis zu seinem Tode 1490 als ungarische Nebenländer behauptete.
Matthias
setzte nicht nur einen allgemeinen Landfrieden für ganz Schlesien
durch, er reorganisierte und zentralisierte die Landesverwaltung, schuf
das Amt eines königlichen Oberlandeshauptmannes und Fürstentage
als bleibende Einrichtung. Sein Versuch, in Glogau für seinen unehelichen
Sohn Johann Corvin eine ungarische
Sekundogenitur zu errichten, scheiterte jedoch.
Nach seinem Tod fiel Schlesien an Böhmen zurück,
wobei kleinere Randgebiete bereits ausgeschieden waren, so Auschwitz 1457
und Zator 1494 an den König von Polen, Sagan 1472 an die Wettiner,
Krossen 1482 an Brandenburg. Auf der anderen Seite gelang es den Söhnen
Georg
von Podiebrads, sich in den schlesischen Fürstentümern
Münsterberg und Frankenstein (seit 1459) sowie Öls (seit 1495)
zu behaupten und Eingang in den Fürstenstand zu finden. Zur gleichen
Zeit entstanden die ersten Freien Standesherrschaften in nichtfürstlich-adliger
Hand, 1489 Groß Wartenberg, 1492 Trachenberg und 1494 Militsch. Durch
den Erbfall von 1526 ging Schlesien schließlich mit dem Königreich
Böhmen für Jahrhunderte in den Besitz der von Wien aus regierenden
österreichischen
Habsburger über.
J.J. Menzel