Diwald Hellmut: Seite 106
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"Heinrich der Erste"

Graf Liudolf hatte nicht die Absicht, in dieser Beziehung den Stiftern der bereits existierenden sächsischen Klöstern nachzustehen. Er entschloß sich, selbst nach Rom zu pilgern und persönlich zu versuchen, die begehrten Reliquien zu erhalten. Auf dieser Reise wurde er von seiner Gemahlin Oda, einer Tochter des sächsischen Markgrafen Billung und der fränkischen Adligen Aeda, sowie zahlreichen Gefolge begleitet. Die Delegation war ausgerüstet mit kostbaren Geschenken und vor allem mit einem wortreichen Empfehlungsschreiben Ludwigs des Deutschen. Liudolf wurde in Rom von Papst Sergius II. überaus huldvoll aufgenommen. Der Graf trug seine Bitte vor: Er wolle auf seinen Besitzungen in Sachsen ein Kloster gründen und erbte sich dafür aus dem überquellenden Reliquienschatz Roms eine Gabe. Das neue Stift solle unter dem ausschließlichen Schutz des heiligen Petrus stehen. Liudolf erhielt von den alten römischen Bischöfen und heiligen Anastasius und Innozenz Teile ihrer durch die Jahrhunderte wundersam unversehrt erhaltenen Körper. Sergius entließ den Sachsen-Grafen und sein Gefolge mit seinem Segen und versicherte ihm, daß die Klosterneugründung unter apostolischem Schutz stehen würde. Zu welcher Zeit Graf Liudolf in Rom war, wird in den Quellen nicht verzeichnet. Doch das Datum liegt verhältnismäßig genau fest, weil das Pontfikat von Sergius II. in die Jahre 844 bis 847 fällt. Die Anlage entstand zunächst in Brunshausen, unmittelbar neben dem alten Mönchsbau, der Cella s. Bonifacii, die vor dem Jahr 785 von Fulda aus errichtet worden war. Das neue Kloster wurde von Liudolf im Jahr 852 als Jungfrauenstift eingeweiht, und die Reliquien aus Rom wurden feierlich überführt. Liudolf entschloß sich kurze Zeit später, das Kloster zu verlegen, und zwar in die Nachbarschaft seiner Stammburg, die sich am Übergang der Straße über die Gande befand, die den westfälischen Hellweg, die alte Königsstraße, nach Osten verlängerte. Hier, im niedersächsischen Bergland zwischen Harz und Leine entstand schließlich der neue Klosterbau, das spätere Reichsstift Gandersheim und Hauskloster der OTTONEN. Die enge Verbindung zu seinem Gründer zeigt sich nicht zuletzt auch dadurch, daß drei seiner Töchter Äbtissinnen des Klosters wurden. Auf Hathumod folgte Gerberga, die eigens eine schon bestehende Verlobung löste, um den Schleier zu nehmen. Dritte Äbtissin wurde die jüngste Tochter Christina. Ebenso entschloß sich der jüngste Sohn des Herzogs, Ekbert-Agius, ins Kloster zu gehen, und zwar nach Corvey. Ekbert-Agius schrieb später eine Biographie seiner Schwester Hathumod, die Vita Hathumodae. Von seiner Hand stammen höchstwahrscheinlich auch die ansehnlichen Prunkurkunden für Gandersheim, mit denen sich sein Schwager, König Ludwig III. der Jüngere, bei Brun und Otto, den beiden ältesten Söhnen Liudolfs, für die Unterstützung durch sächsische Truppen in der Schlacht bei Andernach im Jahr 876 gegen den W-Frankenkönig KARL DEN KAHLEN.
Graf Liudolf entfaltete außerordentliche politische Aktivitäten. Entscheidend wurde sein Einsatz bei der Abwehr der Däneneinfälle aus dem Norden. Es gelang ihm, für diese unerläßliche Grenzsicherung den gesamten Adel Ostfalens unter seiner Führung zu einen, wenig später stieß auch der Adel Engerns dazu. Ebenso garantierte Liudolf die Sicherung der Ostgrenze im sächsischen Bereich. Sein Name erhielt dadurch in kurzer Zeit weit über sein eigenes Territorium hinaus einen außergewöhnlichen Klang, seine Zeitgenossen sprachen vom ihm vereinfachend als dem Dux, dem Herzog von Sachsen. Ein solcher Titel war damals noch nichts Feststehendes. Liudolf konnte so benannt werden, weil er die Markgrafschaft gegenüber den Dänen innehatte, oder weil er als Befehlshaber das gesamte Heer führte. Schließlich wurde er auch förmlich von König Ludwig dem Deutschen als Dux orientalum Saxonum bezeichnet. In der Zeit Liudolfs schlossen sich die sächsischen Stämme zu einem so starken, einheitlichen Verbund zusammen, daß fortan die Trennungen der Gaue und altsächsische Gruppierungen verblaßten und Sachsen in der ferneren Geschichte als eine Herrschaftsregion eigener Art erschien, deren Bevölkerung sich durch ihr markant geschlossenes Wesen auszeichnete.
Der legendäre Ruf Widukinds übertrug sich nur mit erheblichen Einschränkungen auf seine Familie und die unmittelbaren Nachfahren. Das ergab sich aus den besonderen Bedingungen seiner Taufe. Liudolf samt seinem Geschlecht wirkte im Vergleich mit den Nachfahren Widukinds wie eine gewaltig aufragende Säule. Er gehörte zu den reichsten Fürsten Sachsens. Seine Besitzungen befanden sich nicht nur in Ostfalen, sondern auch in Engern und den westlichen Teilen des Landes, insbesondere im Lippegebiet südlich von Münster. Auch dieser Streubesitz trug dazu bei, in Liudolf denjenigen Fürsten zu sehen und zu respektieren, in dem sich wie in keinem anderen Edeling das Land und der Sachsenstamm selbst materiell zu verfestigen schien.
Liudolf starb um das Jahr 866, möglicherweise auch erst eingangs der 70-er Jahre; die Quellen lassen uns dabei, wie so oft in diesen Frühzeiten, im Stich. Seine Gemahlin Oda überlebte ihn um ein halbes Jahrhundert; sie wurde nachweislich 107 Jahre alt - eine erstaunliche Frau, denn sie war auch die Mutter von 10 Kindern.