Lexikon des Mittelalters:
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I. Kanonissenstift:
Am Übergang zweier wichtiger W-O-Fernstraßen
über die Gande an der Kreuzung mit der S-N Verbindung Mainz-Fulda-Hildesheim
gelegen, ist Gandersheim das älteste Familienstift der Liudolfinger,
eine der ersten klösterlichen Gründungen des sächsischen
Adels überhaupt. Die Stifter, Graf Liudolf und Gräfin
Oda, erhielten auf einer von Altfrid (später Bischof
von Hildesheim, 851-874) vermittelten und von Ludwig
dem Deutschen geförderten Pilgerfahrt nach Rom 845/846
von Papst Sergius II. die Reliquien der hll. Päpste Anastasius
I. und Innozenz I. Bischof Altfrid legte den Platz des Stiftes
fest und verschob damit zugleich die Hildesheimer Diözesangrenze,
was später den »Gandersheimer Streit« (987-1030) auslösen
sollte (Mainz, Erzbistum; Bernward, Willigis, Aribo, Godehard). Die erste
Kanonissengemeinschaft trat 852 unter Leitung der Liudolf-Tochter
Hathumod
zusammen. Nach Altfrids Tod und der Heirat der Liudolf-Tochter
Liutgard mit König Ludwig dem
Jüngeren konnten die Söhne Herzog Liudolfs,
Brun und Otto, 877 ihr Familienstift dem Reich übertragen
und Königsschutz, Immunität und die Garantie der Äbtissinnenwürde
für die Töchter des Hauses erwirken (Hathumod, † 874,
folgten ihre Schwestern Gerberga I. und Christina, dann Liutgard,
Tochter Hzg. Ottos d. Erlauchten). Auch die Stifterin Oda
(† 913 im Alter von 107 Jahren) trat in Gandersheim ein.
Die reichsunmittelbare Stellung Gandersheims blieb allerdings
nicht unangefochten, da seine zusätzliche Ausstattung mit Eigengut
Altfrids
und Zehnten des Bistums Hildesheim zu eigenkirchenrechtlichen Ansprüchen
seiner Nachfolger auf den Stiftsbesitz führten. Erst
König
Otto I. stellte durch eigene Schutzdiplome und mit Hilfe von
Privilegien der Päpste Agapet II. (948) und Johannes XIII.
(968) die Reichsunmittelbarkeit der Stiftung seines Urgroßvaters
wieder her. Gandersheim galt als Muster für die Verfassung eines Reichsstifts
des 10. und 11. Jh. Seine Glanzzeit war unter der Äbtissin Gerberga
II. (949-1001), Nichte Ottos
des Großen, unter der die Kanonisse und Dichterin Hrotsvit
wirkte und die älteste Tochter Kaiser Ottos
II., Sophia, 979 in Gandersheim
aufgenommen wurde (von 1001-39 selbst Äbt.). Der Purpurrotulus der
sogenannten Heiratsurkunde der Theophanu
ist im Gandersheimer Archiv überliefert. Die umfangreichen Übertragungen
von Königsgut, ja von Grafschaftsrechten an Gandersheim auch in der
kritischen Zeit der sächsischen Opposition und des Investiturstreits
dem Reich zu erhalten, gelang den salischen
Herrschern nur dadurch, daß sie den Gandersheimer Äbtissinnenstuhl
bis 1125 fast durchweg mit kaiserlichen Prinzessinnen zu besetzen vermochten.
Gegenüber den Reformbestrebungen der Bischöfe von Hildesheim
konnte Gandersheim als einziges Kanonissenstift seine freiere Verfassungsform
erhalten und war im 12. Jh., vor allem unter der Äbtissin Adelheid
IV., eine zuverlässige Stütze der staufischen
Reichspolitik. Der ständigen Bedrohung seiner Autonomie seitens der
Bischöfe von Hildesheim vermochte Gandersheim während des Thronstreits
in einem denkwürdigen Kurienprozeß vor Innozenz III. mit
der Erringung der vollen kirchenrechtlichen Exemtion zu entgehen. Die Sonderstellung
des Stiftes wird auch in der nd. Reimchronik hervorgehoben, die Eberhard
von Gandersheim als Notar der Äbtissin Mechthild I. von Wohldenberg
zwischen 1216-18 verfaßte. Doch gelang es Gandersheim nicht, gegenüber
den welf. Herzögen, die sich mit
Burg und Amt in der Stadt Gandersheim festsetzten, ein eigenes Stiftsterritorium
aufzubauen. Immerhin aber blieben der Reichsfürstinnenstand der Äbtissinnen
und die Reichsunmittelbarkeit des Stiftes bis zuletzt erhalten (erst 1589
Einführung der Reformation). Das seitdem evangelisch »freiweltlich-kaiserlich«
hochadlige Damenstift wurde 1810 aufgehoben.
H. Goetting