Bei kaum einer Person aus dem Mittelalter besteht ein
so krasses Mißverhältnis zwischen dem Echo der zeitgenössischen
Quellen und dem der wissenschaftlichen Literatur wie bei dem sächsischendux
Widukind, dem Gegner KARLS
DES GROSSEN in den Sachsenkriegen. Zwar betonte schon Martin
Lintzel 1934 anläßlich einer erbitterten Diskussion um die Beurteilung
von Widukind und
KARL DEM GROSSEN
zu Recht, die zeitgenössischen Quellen zu Widukind könnten
"auf dem vierten Teil einer Quartseite" untergebracht werden, doch das
wissenschaftliche und außerwissenschaftliche Interesse an der Person
und am Schicksal Widukinds blieb in der Zeit des Nationalsozialismus
unverändert groß. Nach dem zweiten Weltkrieg verlor Widukind
zwar in Schule und Wissenschaft seine beherrschende Stellung, doch scheinen
zumindest die ungelösten Fragen seines Schicksals nach der Taufe noch
immer mit erheblicher Aufmerksamkeit rechnen zu dürfen. In der Tat
ist das Identifakationangebot, das der Mythos vom Sachsen-Herzog Widukind
birgt, in verschiedener Hinsicht beachtlich. Das Verhaltensmuster vom erfolgreichen
Widerstand des Schwächeren gegen den übermächtigen fremden
Eroberer ließ sich, verbunden mit der Betonung der 'Mannestreue'
und 'Volksverbundenheit', deuten und ausbeuten als Verkörperung bester
deutscher Tugenden, die nicht zuletzt dann besonders gefragt waren, wenn
es um die geistige Mobilmachung gegen die französischen 'Erbfeinde'
ging. Höhepunkt der nationmalistischen und rassistischen Propagierung
des Widukind-Mythos war zweifelsohne die Zeit des Nationalsozialismus,
für den Alfred Rosenberg 1934 auf dem sogenannten Thingplatz in Verden,
auf dem man, zum Gedenken an die von KARL DEM
GROSSEN hingerichteten Sachsen, 4500 Findlingsblöcke aufstellen
ließ, formulierte: "Vor unseren Augen steigen somit drei entscheidende
Gestalten deutscher Vergangenheit und Gegenwart auf: einmal Hermann im
Kampf gegen die römischen Legionen als Sieger, fast 800 Jahre später
Widukind
als zweiten Kämpfer für Blut und Boden als der tragisch Unterlegene,
und 1000 Jahre später Adolf Hitler als unmittelbarer Fortsetzer des
Werkes Hermanns des Cheruskers und des Herzogs Widukind."
Erheblich älter, und zunächst vielleicht noch
überraschender, ist die Stilisierung Widukinds zum Heiligen,
die davon ausgeht, dass der Sachsenkrieg sich nach seiner Taufe als Gründer
und eifriger Förderer christlicher Kirchen hervorgetan hätte.
Diese Tradition knüpft wohl an Nachrichten aus der älteren Vita
Mathildis aus der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts an und wurde in Enger
selbst besonders gepflegt, wo man Widukind
auch um 1100 aus nicht
ganz geklärtem Anlaß ein Grabdenkmal errichtete und dessen Kirche
in der spätmittelalterlichen Tradition als seine Grabkirche galt.
Dem Spätmittelalter und der frühen Neuzeit gehören ferner
eine ganze Reihe von Versuchen an, Widukind als 'Stammvater'
säschsischer Adelsgeschlechter zu vereinnahmen, eine Tendenz, die
sich wohl mit der Propagierung der Abstammung der Königin
Mathilde von Widukind
erklären läßt,
weil sie schon Widukind
von Corvey verbreitete. In diesen Bereich gehört wohl auch
die Beobachtung, dass Adelsgeschlechter des Raumes um Enger den Namen Widukind
seit
dem 12. Jahrhundert als Leitnamen führten.
Angesichts dieser Vielfalt von Anknüpfungen hat
man zu fragen, worin die Eignung Widukinds als Leitfigur dynastischer,
religiöser oder nationaler Wertvorstellungen eigentlich begründet
war, ohne dass damit von vornherein unterstellt werden soll, dass diese
Eignung überhaupt rational herleitbar ist.
Angelpunkt des gesamten Widukind-Bildes ist allem
Anschein nach die sogenannte Enger-Tradition, die Vorstellung nämlich,
dass Widukind nach seiner Unterwerfung und Taufe in der Gegend von
Enger gelebt habe und dort in der von ihm gegründeten Kirche begraben
sei. Von dieser Vorstellung ist auch die Beurteilung der geschichtlichen
Wirksamkeit und der Leitung Widukinds unmittelbar abhängig. Der unterstellte
Erfolg Widukinds besteht nämlich vor allem darin, dass er sich
angesichts der drohenden militärischen Niederlage in Verhandlungen
mit KARL DEM GROSSEN einließ,
der ihm durch Geiseln seine Unverletzlichkeit garantierte, und von dem
er das Zugeständnis erhielt, nach seiner Taufe als 'Privatmann' oder
gar als karolingischer Amtsträger frei in Sachsen leben zu dürfen.
Nur diese Varianten unterscheiden ihn strenggenommen von den anderen Gegnern
KARLS
DES GROSSEN, etwa von Tassilo von Bayern oder dem Langobarden-König
Desiderius, die nach ihrer Unterwerfung zum Eintritt in ein
Kloster gezwungen wurden und für die Nachwelt nicht den Charakter
einer Identifikationsfigur erlangten. Der Widerstand Widukinds
wurde
mit anderen Worten erst dadurch eigentlich erfolgreich, dass er in Kriegsführung
und Verhandlungen scheinbar die Initiative behielt und KARL
zu Zugeständnissen brachte.
KARL DEM GROSSEN
schien die Unterwerfung des sächsischen Gegners so viel wert, dass
er Bedingungen Widukinds zu erfüllen bereit war: Er ließ
ihm Leben, Freiheit und Besitz. Als Beweis dafür, dass auch Widukind
den
Vertrag und sein Wort gehalten habe, wird in diesem Zusammenhang immer
wieder die Beobachtung angeführt, dass eine Beteiligung des sächsischen
dux an den späteren Aufständen in Sachsen nicht mehr festzustellen
sei. Dieses ganze Gedenkgebäude stützt sich aber auf nichts anderes
als auf die Engersche Widukind-Tradition. Nur sie hat die Forschung
auf den Gedanken bringen können, Widukind habe nach der Unterwerfung
als freier Mann in Sachsen gelebt. Zeitgenössische Quellen berichten
hierüber nämlich nichts. Mit der Richtigkeit dieser Voraussetzung
aber steht und fällt ein beträchtlicher Teil dessen, was als
Widukind-Bild
mit mehr oder minder großem Pathos vom 10. Jahrhundert bis heute
verbreitet wurde.
Nun ist nicht ganz zu Unrecht der historische Zeugniswert
der Enger-Tradition umstritten. In der älteren Vita der Königin
Mathilde, die als erste über die Verbindung Widukinds
zu Engern berichtet, wird nämlich im gleichen Zusammenhang erzählt,
Widukind
sei
von Bonifatius getauft worden, der bekanntlich zum Zeitpunkt der Taufe
bereits 30 Jahre verstorben war. Schon das älteste Zeugnis dieser
Tradition ist daher alles andere als unverdächtig, und es ist nicht
auszuschließen, dass die späteren Zeugnisse die Aussagen der
Mathilden-Vita ausschmückten, ohne auf anderen Quellen zu basieren.
Karl Schmid hat daher nach eingehender Abwägung
der Überlieferungssituation das Urteil formuliert: "Niemand
kann mit Sicherheit sagen, wann und wo
Widukind gestorben ist, wo
er begraben liegt, ob er nach seiner Unterwerfung ein Amt bekleidet hat
oder als Privatmann auf seinen Gütern lebte." Dieses Urteil ist bis
heute gültig, auch wenn in den Jahren 1971-1973 ertragreiche Grabungen
in der Stiftskirche zu Enger durchgeführt wurden, deren Ergebnisse
jetzt größtenteils veröffentlicht sind. Man ergrub in Enger
einen karolingischen, steinernen Kirchenbau, in dessen Chor sich drei Gräber
befanden. Auch wenn bei der Deutung der Funde in den verschiedenen Stellungnahmen
unterschiedliche Tendenzen erkennbar sind, scheint das Urteil des Leiters
der Ausgrabungen, Uwe Lobbedy, die derzeitigen Aussagemöglichkeiten
der archäologischen Funde und Befunde am klarsten zusammenfassen:
"Die Chorgräber enthalten nichts Spezifisches, was ihre gesicherte
Identifizierung mit einer geschichtlichen Persönlichkeit erlaubt.
Einzig die Lage vor und neben dem Altar charakterisiert die hier Beigesetzten
als Stifterpersönlichkeiten von besonderem Rang. Das archäologische
und das anthropologische Untersuchungsergebnis haben aber auch kein Argument
zutage gefördert, das einer Identifizierung des der Lage nach vornehmsten
Grabes 463 mit demjenigen Widukinds
widerspricht."
Damit bleibt auch nach der Grabung die zentrale Frage
ungeklärt. Eine gesicherte Beurteilung der Beziehungen Widukinds
zu
Enger ist beim gegenwärtigen Forschungsstand weiterhin nicht möglich,
und es scheint fraglich, ob auf der Basis der bisherigen Argumente entscheidende
Änderungen dieser Sachlage zu erwarten sind. Nicht nur die Beurteilung
Widukinds
hängt
jedoch von der Glaubwürdigkeit der Enger-Tradition entscheidend ab,
auch die Einschätzung der karolingischen
Politik gegenüber den Sachsen bleibt ein Stück weit hypothetisch,
solange man nicht weiß, ob KARL DER GROSSE
Widukind
nach
der Taufe frei in Sachsen leben ließ oder ihn sogar mit einem Grafenamt
betraute. In den zeitgenössisch bezeugten Kontex analoger Fälle
paßt jedenfalls die unterstellte Sonderbehandlung
Widukinds
ebensowenig
wie in den sonstigen Kontex der Behandlung der Sachsen in der Zeit um 785.
So wurden politische Gegner wie Desiderius,
Tassilo oder auch der KAROLINGER
Pippin zum Teil unter entwürdigenden
Bedingungen und unter Einschluß der ganzen Familie in Klosterhaft
gegeben und so politisch ausgeschaltet. In anderen Fällen von Opposition,
wie etwa bei der thüringischen Adelsgruppe um Hardrat, ging man rabiater
vor und blendete oder erschlug die politischen Gegner.
Die Capitulatio de partibus Saxoniae, die in den Zeitraum
der Taufe
Widukinds fällt, zeigt ferner in aller Deutlichkeit,
dass man für Sachsen ein drakonisches Kriegsrecht erließ, das
selbst für kleinere Vergehen die Todesstrafe vorsah. Auch die für
den Zeitraum zwischen 792 und 804 bezeugten Erhebungen der Sachsen gegen
die fränkische Herrschaft und die daraufhin eingeleiteten Deportationen
beweisen, dass die Lage weiterhin höchst unsicher war und KARL
DER GROSSE entschlossen, die Eroberung Sachsens mit allen Mitteln
zu sichern. In diese Zeit und in diese politische Stimmung paßt die
Vorstellung, Widukind
habe gleichzeitig als freier Mann in der Gegend
von Enger gelebt und Kirchen gegründet, wohl recht wenig hinein. Zumindest
unterstellt sie KARL DEM GROSSEN bei
der Behandlung eines Gegners Großmut, Leichtgläubigkeit und
Fahrlässigkeit, Eigenschaften, für die es im politischen Handlungsspektrum
KARLS
sonst keine Anhaltspunkte gibt. Immerhin hatte er die Taufe Widukinds
dem
Papst gemeldet, der einen dreitägigen Gottesdienst in allen christlichen
Kirchen anordnete. Dies zeigt wohl ebenso wie das propagandistische Urteil
der Reichsannalen (baptizati sunt supranominati Widochindus et
Abbi una cum
sociis eorum; et tunc tota Saxonia subiugata est), dass man die Unterwerfung
Widukinds
als entscheidenden Fortschritt bei der Eingliederung Sachsens in das karolingische
Imperium ansah. Angesichts dieser offiziösen Lagebeurteilung scheint
es sehr gewagt, mit allzu viel Großmut und Freizügigkeit bei
der Behandlung
Widukinds zu rechnen. Dieser Sicht widerspricht die
in den zeitgenössischen Quellen bezeugte Tatsache, dass KARL
DER GROSSE
Widukind
aus der Taufe hob, also als dessen Taufpate
fungierte, nur scheinbar. Gewiß übernahm KARL
als Taufpate gewisse Verpflichtungen gegenüber Widukind, doch
beinhalteten diese zweifelsohne nicht, den Getauften in seine sächsische
Heimat zu entlassen. Auf das durch die Patenschaft aufgeworfene Problem
sei jedoch hier nur hingewiesen. Es soll später in Zusammenhang neuer
Beobachtungen behandelt werden.
Außer der Enger-Tradition werden in der Forschung
nur zwei Quellen diskutiert, die Anhaltspunkte über die Tätigkeit
Widukinds
nach der Taufe zu geben scheinen. In der vita secunda des ersten münsterischen
Bischofs Liudger wird in einer Wundergeschichte erzählt, Widukind
habe einen Pferdedieb von seinen Leuten steinigen lassen und ihn dann nicht
begraben. Liudger aber habe gehört, dass dieser Pferdedieb Christ
gewesen sei und daher Widukind
um die Erlaubnis gebeten, den Glaubensbruder
begraben zu dürfen. Als man den Dieb nach erteilter Erlaubnis ins
Grab legen wollte, habe Liudger den scheinbar Toten zum Leben erweckt.
Eine Zeitangabe gibt die Vita nicht, als Ort der Begebenheit wird Buddonfeld,
ein Ort im Raum Waldeck genannt. Da Widukind
in der Geschichte die
Funktion hat, unchristliche Grausamkeit zu demonstrieren, scheidet diese
Quelle als Nachweis für eine christliche Phase im Leben
Widukinds
aus.
Die zweite Quelle entstand bei der Synode in Koblenz
im Jahr 922. Im Kapitel 11 der Synodalakten wird über Zehnten aus
dem Erbe antiqui comitus vel ducis Widukindi gehandelt haben, deren
Einziehung den Bischöfen zustehe. Auch hier deutet schon die Unsicherheit
in der Bezeichnung an, dass die Erinnerung an Widukind
bereits ziemlich
verblaßt war. In jedem Falle aber bietet die Quelle keinen Beleg
dafür, dass Widukind nach seiner Unterwerfung ein Grafenamt
in Sachsen bekleidete. Es kann sich genauso gut um konfiszierten Besitz
Widukinds
handeln, dessen Zehnt bestimmten Kirchen zustand. Beide Quellen lassen
sich also nicht benutzen, um den Verbleib Widukinds nach 785 zu
klären. Dies wird auch in der bisherigen Forschung einhellig betont,
die davon ausgeht, dass Widukind
nach 785 aus den Quellen verschwindet.
Damit sind die Bedingungen und Ausgangspunkte einer neuen
Untersuchung zum sächsischen dux Widukind abgesteckt: Nach
Meinung der Forschung verschwindet
Widukind nach seiner Taufe aus
den zeitgenössischen Quellen und begegnet erst wieder in der Widukind-Tradition
des 10. Jahrhunderts, die durch den Hinweis auf die Kirchengründung
in Enger Anhaltspunkte für sein Verbleiben nach 785 liefert. Ein gesichertes
und abschließendes Urteil über die Glaubwürdigkeit dieser
Tradition scheint derzeit nicht möglich. Als wichtiger Hinweis auf
das Schicksal Widukinds nach der Taufe darf aber die Entdeckung
gewertet werden, dass möglicherweise
Widukinds
Kampfgefährte
und gener Abbio in St. Wandrille in Klosterhaft gehalten wurde.
Sollte es sich bei dem in St. Wandrille genannten Sachsen um Abbio,
den gener Widukinds handeln, wäre ein wichtiger Hinweis auch
auf das potentielle Schicksal gegeben. Die Unsicherheit, ob mit dem Sachsen
Abbio in St. Wandrille tatsächlich der Gefährte Widukinds
gemeint ist, läßt sich jedoch nicht beseitigen, da außer
dem Namen keine weiteren Indizien beigebracht werden können. Der Name
Abb(i)o
ist jedoch keineswegs selten und könnte auch einer der zahlreichen
sächsischen Geiseln gehören, die von KARL
DEM GROSSEN in den Sachsenkriegen fränkischen Klöstern
übergeben wurden.
Zumindest aber ist der Befund geeignet, auch einer neuen
Bemühung um das Schicksal Widukinds die Richtung zu weisen,
denn es ist - vielleicht auf Grund des suggestiven Einflusses der Enger-Tradition
- bisher noch nicht versucht worden, die
Widukind-Belege des 9.
Jahrhunderts zusammenzustellen und zu fragen, auf welche Personen sie sich
eigentlich beziehen. Die Ergebnisse einer solchen Bemühung sollen
im folgenden diskutiert werden.
Zunächst ist zu betonen, dass die Suche nach den
Widukind-Belegen
von einer entscheidend anderen Ausgangsbasis ausgehen kann, als dies bei
der Beurteilung des namens Abbio der Fall ist. Der Name Widukind
ist nämlich im 9. und auch noch im 10. Jahrhundert höchst exklusiv.
Die wenigen Widukind-Belege des 9. und 10. Jahrhunderts gewinnen
noch dadurch an Bedeutung, dass nachgewiesen werden kann, dass in den meisten
Fällen eine Beziehung der Namensträger zur Sippe Widukinds
gegeben ist. Diese Beziehung ist daher auch bei den Belegen wahrscheinlich,
bei denen sie nicht konkret nachgewiesen werden kann. Die Exklusivität
des Namens führt vor allem folgender Negativbefund eindrucksvoll vor
Augen: Für das 9. Jahrhundert fehlt der Name gänzlich in der
Schenker- und Zeugenkreisen der urkundlichen Überlieferung von Corvey,
Fulda, Lorsch, Weißenburg, St. Gallen und Freising. Lediglich in
der Werdener Tradition findet sich um 900 ein Zeuge namens Widukind. Es
ist überflüssig zu betonen, dass mit diesen Überlieferungskomplexen
fast die ganze Überlieferung der
karolinger-zeitlichen
Privaturkunden genannt ist. Auch in den erzählenden Quellen der KAROLINGER-Zeit
begegnet nach der bisherigen Kenntnis kein anderer Träger dieses Namens
außer dem sächsischen dux.
Erweitert wird die Reihe der Widukind-Belege erst
durch die Heranziehung der Memorialüberlieferung. In der Forschung
sind bisher als Träger des Namens bis zur Mitte des 10. Jahrhunderts
nur der Oheim der Königin Mathilde
und Widukind von Corvey, der berühmte Geschichtsschreiber,
bekannt. Der Oheim der Königin Mathilde
begegnet sehr wahrscheinlich auch in mehreren Einträgen in Verbrüderungsbüchern,
die im Zusammenhang mit der ottonischen
Familie stehen. Widukind von Corvey ist außer in der Corveyer
Profeßliste vielleicht auch im Lüneburger Necrolog verzeichnet.
Außer diesen bekannten Personen verstarb 877 nach dem Zeugnis der
Fuldaer Totenannalen ein Diakon dieses Namens und 959 ein scolasticus,
die beide vermutlich der Fuldaer Klostergemeinschaft angehört hatten.
Der Diakon im fuldischen Konvent könnte auch erklären, wieso
die Nachfahren Widukinds über so gute Beziehungen zu den Fuldaer
Mönchen Rudolf und Meginhart verfügten, die auf Wunsch des Widukind-Enkels
die Translatio Sancti Alexandri verfaßten. Der Beleg in den Fuldaer
Totenannalen deutet wohl nachhaltig darauf hin, dass zur Zeit der Abfassung
der Translatio ein Mitglied der Sippe Angehöriger der fuldischen Mönchsgemeinschaft
war.
Neben den zwei fuldischen Mönchen ist auch ein Konventsmitglied
namens Widukind in St. Gallen bezeugt. Dieser Mönch verstarb
nach dem Zeugnis des St. Galler Necrologs am 21. November und könnte
identisch mit einem Widukind sein, der in der Abschrift eines ottonischen
Familiennecrologs begegnet, die sich im St. Galler Verbrüderungsbuch
erhalten hat. Auch er gehörte mit anderen Worten wohl zu den Nachfahren
des Sachsen-Herzogs, wie sein Gedenken in der Familie der Königin
Mathilde zeigt. Damit sind aber schon alle Belege angeführt,
die sich sicher auf Personen beziehen, die vor der Mitte des 10. Jahrhunderts
lebten. Bis zur Mitte dieses Jahrhunderts trugen also wahrscheinlich nur
sechs bezeugte Personen diesen Namen, die wohl alle zum Kreis der Nachfahren
Widukinds gehörten. Selbst wenn die Zuordnung der Belege in dem
einen oder anderen Fall irrig wäre und eine oder zwei weitere Personen
dieses Namens existiert haben sollten, bliebe der Gesamtbefund signifikant
genug. Signifikant auch deshalb, weil die meisten der Belege sich sicher
auf Mönche beziehen. Da man über den Status des Oheims der Königin
Mathilde nichts weiß, ist nicht einmal auszuschließen,
dass auch er Mönch oder Kleriker war. Durch diese Beobachtungen wird
aber eine bemerkenswerte Tendenz deutlich: Man gab in der Sippe Widukinds
den
Namen des Sachsenführers durchaus weiter, aber offensichtlich bevorzugt
oder gar ausschließlich solchen Personen, die Mönche wurden.
Da die Bestimmungen zur geistlichen Laufbahn sehr früh vorgenommen
wurde, kann nicht ausgeschlossen werden, dass man die Nachkommen der Sippe,
die man dem monastischen Leben übergeben wollte, bewußt Widukind
nannte.
Diese Beobachtung paßt gut zu derjenigen, dass die Beharrung im heidnischen
Glauben das Urteil der Quellen des 9. Jahrhunderts über
Widukind
nachhaltig
negativ beeinflußte. Man hat sogar die Stiftertätigkeit des
Widukind-Enkels
Waltbert
in Wildeshausen und die vielen geistlichen Würdenträger unter
den Nachfahren Widukinds
zu Recht dahin interpretiert, dass sie
Zeugen der Verpflichtung zur Sühne seien, die die Nachfahren angesichts
der heidnischen Vergangenheit ihres Ahnen fühlten und zu leisten bereit
waren. Zu diesem Bewußtsein stimmt hervorragend die Gewohnheit, den
mit dem Ruch des Heidentums belasteten Namen in der Folgezeit denen zu
geben, die zum monastischen Leben vorgesehen waren. Wenn also die erhaltene
Überlieferung nicht sehr trügt, wurde der Name Widukind
im Gebiet des ostfränkischen Reiches im 9. und beginnenden 10. Jahrhundert
nur in der Sippe Widukinds
selbst benutzt. In dieser wiederum in
der Weise, dass er auffällig späteren Mönchen gegeben wurde.
Dieses Untersuchungsergebnis schafft die Voraussetzung, die Bedeutung jedes
Widukind-Belegs
in diesem Zeitraum würdigen zu können, und ist daher unerläßliche
Stütze für die Diskussion der bisher unberücksichtigten,
ältesten Belege dieses Namens, die nun zu führen ist.
Gemeint sind vier Belege, die sich sicher auf ein und
dieselbe Person beziehen, und zwar auf einen Mönch, der im Kloster
Reichenau lebte. Es seien zunächst die einzelnen Bezeugungen kurz
vorgestellt:
1. Auf pagina 4 (B 2) des Reichenauer Verbrüderungsbuches
erscheint in einer Reichenauer
Konventsliste, die von Abt Erlebald
angeführt wird und 825 angelegt wurde, an 48. Stelle ein
Uuituchind, dem der Titel mon(achus)
zugeordnet ist.
2. Der gleiche Mönch wurde nach seinem Tod
auf pag. 7 (B 2) unter den Nomina fratrum
gefunctorum insolanensium aufgeführt.
3. Man schrieb ihn ferner zum 12. Dezember in
das sogenannte 'ältere' Reichenauer Nekrolog.
4. Schließlich begegnet er auch in der Reichenauer
Profeßliste, die nur in kopialer Überlieferung
vorliegt und von einer Hand der 2.
Hälfte des 10. Jahrhunderts zusammen mit einer längeren
Profeßformel auf pag. 136ff.
in das Reichenauer Verbrüderungsbuch eingetragen wurde.
Angesichts der sehr genauen Buchführung der Reichenauer
Mönche in den fraglichen Jahren, die durch zahlreiche ähnliche
Mehrfachbezeugungen anderer Mönche gesichert wird, kann kein Zweifel
daran bestehen, dass hier vier Belege für den gleichen Mönch
vorliegen. Es kommt nun darauf an, durch den Vergleich der Zeugnisse untereinander
und aus der Stellung des Mönches Widukind in den einzelnen
Zeugnissen Angaben über den Zeitpunkt der Profeß und des Todes
dieses Reichenauer Konventsmitglieds sowie über mögliche Stationen
seiner Laufbahn zu erarbeiten. Wenig ergibt für dieses Vorhaben der
Necrologbeleg, da er lediglich zum 12. Dezember erscheint, ohne dass sich
aus der Eintragssituation Aussagekriterien für sein Todesjahr ergäben.
Nicht viel besser sieht es aus bei dem zweiten Beleg zu dem verstorbenen
Mönch, der Eintragung auf pag. 7 des Verbrüderungsbuches unter
die verstorbenen Reichenauer Mönche. Hier gelingt nur die Angabe:
Uuituchind
wurde bald nach 825 eingetragen. Eine genauere Einordnung ist nicht möglich,
da die Reichenauer Mönche nach dem datierbaren Eintrag Wettis, der
am 4. November 824 verstarb, die vollständige Verzeichnung der Verstorbenen
zunächst unterbrachen und überdies die strenge Ordnung nach der
Chronologie des Todes aufgaben und auch die Anordnung in den vorgegebenen
Kolumnen nicht einhielten.
Um so ergiebiger ist der Vergleich zwischen der Erlebald-Liste
und der Reichenauer Profeßliste. Angesichts der Wichtigkeit dieses
Vergleichs für die weitere Untersuchung sei zunächst die Überlieferungssituation
der beiden Listen, soweit sie im folgenden von Belang ist, angesprochen.
Bei der Reichenauer Mönchsliste mit Abt Erlebald (822-838) an der
Spitze und dem resignierten Abtbischof Heito an der zweiten Stelle handelt
es sich nach den Forschungen Konrad Beyerles um ein 825 angelegtes Verzeichnis
aller lebenden Reichenauer Mönche, das nach deren Profeßalter
geordnet ist. Es wurde im Zuge der Anlage des Reichenauer Verbrüderungsbuches
angefertigt und aufgezeichnet, stellt also originale Überlieferung
dar. Dagegen ist die Profeßliste der Reichenau nur kopial überliefert.
Erst in der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts wurde sie zusammen mit
einer Profgeßformel in den jüngeren Teil des Verbrüderungsbuches
eingetragen. Sie enthält aber nach den zweifellos zutreffenden Beobachtungen
Konrad Beyerles auch die karolinger-zeitlichen Professen der Abtei Reichenau
so gut wie vollständig. Es ist ferner kaum zweifelhaft, dass die Vorlage
der Zusammenstellung ziemlich genau bis in die Zeit der Profeß des
Reichenauer Abtbischofs Heito zurückreicht, der auf pag. 136 die rechte
Kolumne der Seite anführt und als einziger der Mönche mit einem
Titel (episcopus et abbas) versehen wurde, was den kopialen Charakter
der Überlieferung noch einmal deutlich macht. Beyerle stellte fest,
dass die Reihenfolge der Namen in der Profeßliste zumindest auf den
beiden ersten Seiten (pag. 136 und 139) verworfen ist. Dies erweist sich
durch den Vergleich mit der Erlebald-Liste, die nach Beyerle die Profeßreihenfolge
der Reichenauer Mönche exakt wiedergibt. Die Reihenfolge in Profeß-
und Erlebald-Liste stimmt in der Tat erst ab einem bestimmten Zeitpunkt
genau überein. Mit dem ersten Namen (Lantpreht) auf der dritten Seite
der Profeßliste (pag. 140) beginnt die exakte Übereinstimmung
mit der Erlebald-Liste. Sie erstreckt sich nur noch auf den Schlußteil
dieser Konventsliste. Dagegen lassen sich auf den beiden ersten Seiten
der Profeßliste, mit einer Ausnahme, die Mönche der Erlebald-Liste
wiederfinden, doch ist die Reihenfolge in der Profeßliste ganz offensichtlich
verderbt. Deshalb legte Konrad Beyerle auch seiner Rekonstruktion der Reichenauer
Profeßfolge in diesem Bereich die Reihenfolge der Erlebald-Liste
zugrunde, die er zuverlässiger hielt. Legt man die Reihenfolge der
Erlebald-Liste als Maßstab an, dann verteilen sich in der Tat die
korrespondierenden Belege in der Profeßliste scheinbar unregelmäßig
über die drei Kolumnen der pagina 136 und die 4 Kolumnen der pag.
139, wie die beiden Anlagen am Schluß dieses Beitrags verdeutlichen.
Nicht zu übersehen ist jedoch auch, dass die Reihenfolge in der Profeßliste
nicht gänzlich unregelmäßig und willkürlich ist, denn
die vorgeblich ältesten, das heißt die ersten Mönche der
Erlebald-Liste begegnen im oberen Teil von pag. 136, also auch am Beginn
der Profeßliste. Um dieses zu erkennen, ist allerdings nötig,
von der Ordnung der einzelnen Kolumnen abzusehen, denn die heutige Kolumnierung
ist ganz offensichtlich durch Mißverständnisse des Abschreibers
begründet. Zur Verdeutlichung ein konkretes Beispiel: Nr. 2, 3, 4,
5 und 6 der Erlebald-Liste stehen in gleicher Reihenfolge oben in der rechten
Kolumne der Profeßliste auf pag. 136 des Reichenauer Verbrüderungsbuches,
dann ist ein Sprung in die linke Kolumne zu konstatieren, wo Nr. 7, 8 und
10 hintereinander begegnen. Nr. 9 ist in der gleichen Kolumne ein Stück
tiefer vertreten, Nr. 11 erscheint dann in der mittleren Kolumne. Auf diese
oder ähnliche Weise wird man beim Vergleich in unregelmäßigen
Sprüngen langsam die Seite 136 hinuntergeführt - die Übereinstimmungen
sind wie gesagt vollständig - und findet den gleichen Sachverhalt
auf der nächsten Seiite fortgesetzt. Es scheint also so, als spiegele,
trotz aller Brechungen und Verwerfungen, auch die Abschrift der Profeßliste
in gewisser Weise noch die Profeßreihenfolge der Reichenauer Mönche.
Das geschilderte Vorgehen, und das hat Beyerle offensichtlich nicht erkannt
oder nicht berücksichtigt, ist jedoch nur bis zum 47. Mönch der
Erlebald-Liste stimmig anzuwenden. Bei dem 48., Adalman, dem Namen vor
dem und interessierenden Mönch Widukind, springen nämlich
die korrespondierenden Namen in der Profeßliste wieder zurück
auf pag. 136. in der rechten Kolumne, Wituchi eine Zeile darunter
in der linken. Von diesen Fixpunkten aus beginnt der eben beschriebene
Vorgang von neuem : Die Übereinstimmungen mit der Erlebald-Liste wandern
wieder unregelmäßig durch die drei Kolumnen zum unteren Rand
der Seite 136, gehen dann auf pag. 139 weiter, ehe sich mit dem Beginn
der pag. 140 die Reihenfolge in Erleband-Liste und der linken Kolumne der
Profeßliste deckt. Zum Zwecke der Verdeutlichung wurde der gleiche
Vorgang in Anlage B am Schluß dieses Beitrags an der Erlebald-Liste
dargestellt. Die verglichenen Namen der Profeßliste wurden zu diesem
Zwecke nicht kolumnenweise numeriert, sondern von links nach rechts zeilenweise
durchgezählt. Zwar lassen sich mit diesem Verfahren der Numerierung
nur Annäherungswerte für die ursprüngliche Profeßreihenfolge
geben, doch schon hierdurch läßt sich der auffällige Bruch
und Neuansatz nach Nr. 47 der Erlebald-Liste deutlich sichtbar machen.
Die naheliegende Vermutung, dass der auffällige
Unterbruch der Korrespondenzen nicht zufällig auftritt, sondern auf
einen bisher unbeachteten Neuansatz in der Erlebald-Liste weist, wird dadurch
zur Gewißheit, dass an der gleichen Stelle sich auch die Bezeichnungen
für die Mönche auffällig ändern. Nachdem im 1. Teil
der Liste die Priestermönche überwältigend dominierten,
beginnt mit Nr. 48 Adalman eine Gruppe von 14 Mönchen, die 825 keinen
kirchlichen Weihegrad besaßen, sondern einfache Mönche waren.
Der Grund liegt zweifellos nicht in ihrem fehlenden Alter für kirchliche
Weihen, denn nach den 14 Mönchen wechselt die Angabe der Weihegrade
wieder in unregelmäßiger Folge: Das Alter für die kirchlichen
Weihen hatten die 14 Mönche demnach fraglos erreicht.
Da die Profeßreihenfolge in Dormitorium, Refektorium
und beim Einzug zur Meßfeier und zum Gebet als Ordnungskriterium
genutzt wurde, muß die festzustellende Zweiteilung des Reichenauer
Konvents sehr ernst genommen werden. Der Unterbruch verlangt mit anderen
Worten nach einer Erklärung. Sie könnte dahingehend gegeben werden,
dass bis zu einem gewissen Zeitraum die Reichenauer Mönche ihre Ordnung
im Konvent in erster Linie nach dem kirchlichen Weihegrad, und dann erst
nach dem Profeßalter ausrichten. Durch dieses Ordnungsprinzip wurden
Mönche ohne kirchliche Weihegrade immer am Schluß der Mönchsgemeinschaft
eingeordnet, auch wenn sie nach ihrem Profeßalter hätten erheblich
höher eingestuft werden müssen. Zu einem bestimmten Zeitraum
könnte der Reichenauer Konvent aber diese Gewohnheit aufgegeben und
seine Mitglieder allein nach dem Profeßalter angeordnet haben. Ein
Relikt der alten Ordnung stellte dann die Gruppe der 14 Mönche in
der Mitte der Erlebald-Liste dar.
Eine andere Erklärungsmöglichkeit wäre
die Annahme, dass in der ersten Gruppe der Liste Mönche zusammengefaßt
sind, die auf Grund bestimmter Funktionen oder Eigenschaften herausgehoben
waren. Diese Funktionen hätten nach dem Befund in aller Regel ältere
Priestermönche, sehr selten dagegen Mönche ohne kirchliche Weihegrade
gehabt. Auf diese Weise würde es sich erklären, dass in einer
zweiten, ausschließlich nach dem Profeßalter angeordneten Gruppe
alte Mönche ohne Weihegrad und jüngerer Mönche aller Weihegrade
zusammengefaßt sind, während in der ersten Gruppe für den
Konvent in bestimmter Hinsicht besonders wichtige Personen aufgeführt
wurden.
Wir hätten den komplizierten Sachverhalt nicht so
ausführlich diskutiert, wenn dieser nicht wichtige Informationen zu
den Lebensdaten des Mönches Widukind brächte. Das für
unsere Überlegungen wichtigste Ergebnis der Diskussion läßt
sich so zusammenfassen: Die Erlebald-Liste ist nicht, wie Konrad Beyerle
annahm, ausschließlich nach dem Profeßalter der Mönche
aufgebaut, sondern zeigt zwei Ordnungen: Den Anfang (Nr. 2-47) bildet eine
Gruppe von Mönchen, die fast alle die Priesterweihe erhalten hatten.
Ihre Ordnung richtete sich nach dem Profeßalter. Nr. 48 markiert
jedoch den Beginn einer zweiten Gruppe des Reichenauer Konvents, die von
14 Mönchen angeführt wird, die keine kirchlichen Weihen erhalten
hatten. Dies bedeutet aber nichts anderes, als dass der
Mönch Widukind
825 zu den ältesten Mitgliedern des Reichenauer Konvents zählte,
denn er steht an zweiter Stelle der 14 Mönche.
Es zeigt sich damit aber zugleich, dass der von Beyerle
bei der Rekonstruktion der Reichenauer Profeßliste unberücksichtigte
Anfang der Profeßliste im Reichenauer Verbrüderungsbuch (pag.
136 und 139), die wirkliche Profeßreihenfolge der Mönche besser
spiegelt, als es die Erlebald-Liste tut. Zwar ist durch Fehlinterpretationen
des Abschreibers, was die Ordnung seiner Vorlage angeht, die Reihenfolge
in den einzelnen Kolumnen nicht die richtige. Doch kann man davon ausgehen,
dass die reale Profeßreihenfolge ungefähr der Eintragung der
Mönche auf pag. 136 und 139 entsprochen hat, wenn man die durch die
Kolumnen suggerierte Reihenfolge außer Acht läßt. Aus
diesem Grund sind in den Anlagen zu diesem Beitrag die Namen der Profeßliste
jeweils von links nach rechts numeriert worden. Da die zu rekonstruierende
Reihenfolge jedoch ohne festes System zwischen den einzelnen Kolumnen hin
und her springt und auch Verwerfungen ein Stück nach oben oder unten
vorkommen, ist zu betonen, dass die gewählte Nummerierung nur Richtwerte
liefern kann, und sie daher nicht als konkrete Profeßreihenfolge
mißverstanden werden darf.
Mit der Feststellung, und das macht den eigentlichen
Wert der Ergebnisse aus, Widukind habe zu den ältesten Professen
des Erlebald-Konvents gehört, sind aber die durch die Neuinterpretation
der Listen gewonnenen Aussagemöglichkeit noch nicht erschöpft.
Da durch den Listenvergleich nun gesichert ist, dass die Profeß-Liste
auf pag. 136 ungefähr die Profeßreihenfolge der Reichenauer
Mönche vor 800 wiedergibt, gewinnen die zwei Personen auf pag. 136
erhöhte Bedeutung, deren Profeßdatum bekannt ist. Es handelt
sich erstens um den Altbischof Heito, der nach dem Zeugnis Walahfrid Strabos
762 geboren wurde, als Fünfjähriger 767 auf die Reichenau kam
und daher wohl die Profeß abgelegt haben wird. Er erscheint in der
ersten Zeile der pagina 136, er ist mit anderen Worten der erste oder einer
der ersten, deren Profeß in der Vorlage der heutigen Profeßliste
schriftlich festgehalten wurde. Es handelt sich ferner um den in der drittletzten
Zeile auf der Seite genannten Peranolt. Er ist zweifelsohne mit dem späteren
Bischof Bernolt von Straßburg identisch, der nachweislich aus Sachsen
stammte. Damit ist er aber, was in der bisherigen Forschung noch nicht
bemerkt wurde, mit einiger Sicherheit auch personengleich mit der sächsischen
Geisel namens Hernaldus, die nach Auskunft des sächsischen Geiselverzeichnisses
von KARL DEM GROSSEN Abt Waldo von
der Reichenau in Mainz übergeben wurde. Die Datierung des Geiselverzeichnisses
ist nicht gesichert, doch gehört es aller Wahrschinlichkeit nach in
die Zeit um 802. Damit ist als Profeßdatum für Bernild ungefähr
das Jahr 802 anzunehmen.
Die Profeßdaten der beiden Personen stimmen, wie
leicht zu erklären ist, genau zu dem Eintragsbefund der pag. 136 des
Reichenauer Verbrüderungsbuches. In dem vollen Bewußtsein, dass
die angegebenen Zahlen nur Orientierungswerte sein können, darf man
also sagen, dass Nr. 1 auf pag. 136 ungefähr 777 und Nr. 69 ungefähr
802 die Profeß abgelegt hat. Versucht man unter diesen Voraussetzungen
rein mathematisch eine Jahreszahl für die Profeß des Reichenauer
Mönches
Widukind zu errechnen, ergibt sich das Jahr 786. Diese Zahl hat zweifellos
in noch stärkerem Maße den Charakter eines Annäherungswertes,
da die Ausgangsdaten nicht genau genug festliegen und überdies weder
zu sichern ist, dass im fraglichen Zeitraum jährlich die gleiche Anzahl
Mönche in die Reichenauer Klostergemeinschaft aufgenommen wurde, was
bei der Berechnung der Annahme zugrunde gelegt werden muß. Noch ist
schließlich zu sichern, dass Widukind
durch die Numerierung
exakt an der richtigen Stelle der Profeßreihenfolge eingeordnet wurde.
Alle diese Unsicherheiten beeinträchtigen jedoch den Wert der errechneten
Jahreszahl als Richtwert keineswegs. Dass die Berechnung auch von anderen
Aspekten her als realistisch einzuschätzen ist, zeigt die ziemlich
genau zu ermittelnde Lebensdauer der Mönche auf pag. 136. Mit Hilfe
der Erlebald-Liste und der Toteneinträge im Reichenauer Verbrüderungsbuch
läßt sich nämlich zeigen, dass in dem von uns angenommenen
ältesten Teil der Profeßliste bereits verstorben waren. Die
Zahl der Verstorbenen ist dagegen bei den nach unserer Ansicht jüngeren
Professen in der unteren Hälfte der pag. 136 - wie zu erwarten - erheblich
geringer. Von anderen Mönchen aus der Umgebung Widukinds auf
pag. 136 ist ferner bekannt, dass sie 825 ein sehr hohes Alter erreicht
hatten. Alle Indizien stimmen also überein und sichern die Schlußfolgerung,
dass es sich bei dem Mönch Widukind um ein Mitglied des Reichenauer
Konvents handelte, das um 786 die Profeß ablegte und danach noch
mindestens bis zum Jahre 825 im Reichenauer Konvent lebte, ohne eine geistliche
Weihe zu erhalten.
Der genaue Vergleich zwischen dem ältesten Teil
der Profeßliste und der Erlebald-Liste erbrachte auch noch ein anderes
Ergebnis, das für die folgende Überlegungen von einiger Bedeutung
ist. Es zeigte sich, dass die Buchführung der Reichenauer Mönche
zwischen 777 und 825 so gut wie perfekt war. Bis auf eine Ausnahme finden
sich alle Mönche der Erlebald-Liste auch in der Profeßliste;
fast alle sind zusätzlich in Toteneinträgen des Verbrüderungsbuches
und im älteren Reichenauer Necrolog bewahrt worden. Angesichts dieser
Zuverlässigkeit der Aufzeichnungen ist es besonders auffällig,
dass von allen Mönchen der ersten Seite der Profeßliste ausgerechnet
der Mönch, der direkt über Widukind
verzeichnet ist, sich
in keiner sonstigen Quelle zur Reichenauer Mönchsgemeinschaft wiederfinden
läßt. Die Beobachtung wird dadurch noch auffälliger, dass
der eingetragene Name sonst nördlich der Alpen gar nicht begegnet
und als Mönchsname in der KAROLINGER-Zeit
wohl nur in Nonantola bezeugt ist. Es handelt sich in der Tat um einen
für einen Mönch höchst ungewöhnlichen Namen, um den
Namen Dominator nämlich. Der Träger dieses Namens, so ist aus
unseren bisherigen Beobachtungen zu folgern, muß ein Mönch gewesen
sein, der zwar auf der Reichenau die Profeß ablegte, jedoch wieder
aus dem Konvent ausschied. Dieses Ausscheiden muß in einer solchen
Art vor sich gegangen sein, dass die Reichenauer ihren ehemaligen Mitbruder
aus ihrem Gedenken ausgeschlossen haben. Das ist, zumal als Einzelfall,
natürlich nicht undenkbar.
Angesichts des ungewöhnlichen Sachverhalts ist jedoch
darauf hinzuweisen, dass das Wort dominator im Mittelalter auch
noch in einer anderen Bedeutung bekannt war. Es bezeichnet den Herrscher
und zwar in unterschiedlicher Hinsicht. Einmal ist es schon biblisch und
kann für Christus oder auch für weltliche Herrscher benutzt werden.
Im Femininum begegnet es im Mittelalter auch zur Benennung Marias und irdischer
Herrscherinnen. In unserem Zusammenhang wäre jedoch die Annahme naheliegend,
dass der vermeintliche Doninator eine abwertende Bezeichnung für Widukind
darstellt.
Das Wort hat nämlich eine seit der Antike benutzte
peiorative Bedeutung: Es kann den Gewaltherrscher bezeichnen, der seine
Herrschaft nicht nach der gottgesetzten Ordnung ausübt. So wird das
Wort dominatio sowohl bei Augustin als auch bei Isidor von Sevilla an den
Stellen gebracht, an denen es um die bekannte Etymologie des rex a regendo
geht. Dort wird als dominatio der Gegensatz zur gottgewollten Herrschaft
des rex beschrieben, die durch fastus und superbia gekennzeichnet sei.
In der KAROLINGER-Zeit wird in diesem
Sinne etwa der Christenverfolger Diokletian als Dominator bezeichnet. Diese
Bedeutung klingt auch an, wenn etwa Regino von Prüm die Herrschaft
des aufständischen KAROLINGERSHugo
als dominatio bezeichnet. Man kann also vor allem auf Grund der Belege
bei Augustinus und Isidor nicht ausschließen, dass die peiorative
Bedeutung des Wortes im 9. Jahrhundert auf der Reichenau bekannt war und
zur Bezeichnung des Sachsen-Herzogs Widukind hätte benutzt
werden können.
Die Beobachtungen zum Namen und zur Bezeichnung dominator
beweisen für sich allein genommen natürlich nichts. Doch scheint
es zumindest bemerkenswert, dass auf der einen Seite das Wort dominator
durchaus geeignet wäre, die Sicht der Reichenauer Mönche von
der Person und Herrschaft
Widukinds wiederzugeben, und dass auf
der anderen Seite ein Mönch namens Dominator auf der Reichenau sozusagen
unbekannt ist und überdies auch sonst nördlich der Alpen nicht
belegt ist.
Die Aussagekraft der Bezeichnung dominator würde
im übrigen unter Umständen dann noch erhöht, wenn man sicher
sagen könnte, wann und wie die Vorlage der Reichenauer Profeßliste
entstanden ist. Dazu ist jetzt nur zu bemerken, dass sie nicht unbedingt
auf ad-hoc geschriebene Vorlagen und eigenhändige Einträge zurückgehen
muß. Es sprechen auch einige Indizien dafür, dass sie erst später
angelegt wurde. In diesem Falle wäre eine Kennzeichnung des Sachsen
Widukind,
falls es sich tatsächlich um diesen handeln sollte, durchaus nicht
unverständlich, zumal ja auch Heito mit dem Zusatz episcopus et abbas
versehen wurde, was sicher nicht bei dessen Profeß geschah. Versucht
man, sich die Situation bei einem Klostereintritt des Sachsenherzogs konkret
vorzustellen, dann könnte die Bezeichnung dominator im Jahre 786 nur
peiorativ gemeint gewesen sein. Wurde sie dem Namen aber erst hinzugefügt,
als Widukind
im Kloster alt geworden war, wäre sie eher als
klosterinterner Beiname ohne konkreten politischen Hintergrund zu verstehen.
Da unser Vorgehen in der Sammlung von Indizien besteht,
ist es nicht nötig, die Aussagekraft des Namens oder der Bezeichnung
dominator stärker zu strapazieren. Eine gesicherte Entscheidung für
die eine oder andere Lösung wird ohnehin nicht gelingen. Da wir jedoch
als Zwischenergebnis unserer bisherigen Bemühungen immerhin festhalten
können, dass es sich bei dem Reichenauer Widukind
um eine Person
handelt, die um 786 auf der Reichenau die Profeß ablegte, trotz eines
langen Mönchslebens keine kirchliche Weihe erhielt, und schließlich
durch das Wort dominator näher bezeichnet worden sein könnte,
scheint zumindest die Frage berechtigt, ob nicht noch weitere Indizien
dafür sprechen, dass der Sachsen-Herzog Widukind nach 785 auf
der Reichenau in Klosterhaft gehalten wurde.
Anhaltspunkte hierfür sind am ehesten aus den konkreten
Ereignissen der Jahre 785/86 zu gewinnen. Skizzieren wir daher die wichtigsten
Ereignisse nach der Taufe Widukinds. Der Zeitpunkt der Taufe des
Sachsen-Herzogs
und seines Kampfgefährten
Abbio ist ziemlich genau bekannt:
Sie wurde wohl Weihnachten 785 in Attigny vollzogen. Nach dem Zeugnis der
fränkischen Quellen fungierte KARL DER GROSSE
selbst
als Taufpate Widukinds
und ehrte ihn durch reiche Geschenke. Im
März 786 ist KARL DER GROSSE dann
in Aachen, zum Osterfest wieder in Attigny bezeugt. Im August fand eine
Reichsversammlung in Worms statt und auch im November urkundete der König
in Worms, ehe er nach Italien aufbrach. Das Weihnachtsfest des Jahres 786
feierte er dann bereits in Florenz. Genauso wichtig für uns ist die
Tatsache, dass im Februar 786 auf der Reichenau der greise Abt Petrus verstarb.
Sein Nachfolger wurde Waldo, der später als Bischof von Pavia und
Basel, sowie als Abt von St. Denis und Beichtvater KARLS
DES GROSSEN zu den engsten Vertrauten des Herrschers gehörte.
Er war mit KARL DEM GROSSEN schon 784
als Abt von St. Gallen in engeren Kontakt gekommen, als KARL
einen Streit zwischen dem Konstanzer Bischof und St. Gallen zugunsten des
Bischofs entschied. Die hohe Wertschätzung für Waldo drückt
sich nach Meinung der Forschung jedoch darin aus, dass er Waldo erlaubte,
seine Stellung in St. Gallen, die durch den Streit wohl unhaltbar geworden
war, aufzugeben und zur Reichenau überzuwechseln. Auch die spätere
Karriere Waldos zeigt, dass er in der Auseinandersetzung mit dem Konstanzer
Bischof trotz seiner Niederlage das Vertrauen
KARLS gewonnen hatte. Für unseren Zusammenhang ist aber
besonders wichtig, dass KARL DER GROSSE
sich im Februar 786 sicher mit der Regelung der Nachfolge auf der Reichenau
beschäftigt haben wird, er also Kontakte zur Reichenauer Mönchsgemeinschaft
und zu Waldo geknüpft haben muß. Dies setzt einen Besuch auf
der Reichenau zwar nicht zwingend voraus, ein Einfluß auf die Reiseroute
des geplanten Italienzuges ist aber auch nicht unwahrscheinlich.
Für seinen Italienzug im Spätjahr 786 standen
KARL
theoretisch zwei Routen zur Verfügung. Er konnte über Chur und
die Graubündener Pässe oder aber über die W-Schweiz und
den großen St. Bernhard ziehen. Sein Reiseweg im Jahre 786 ist nicht
konkret bezeugt. Doch bringt vielleicht eine Urkunde LUDWIGS
DES FROMMEN vom Jahre 829 zusätzliche Indizien dafür,
dass KARL über die Graubündner
Pässe und damit entlang des Bodensees gezogen sein könnte. In
dieser Urkunde wird nämlich ausgeführt, dass die Reichenau 'nach
alter Gewohnheit' den Herrscher bei dessen Italienzügen bis Chur zu
versorgen hätte. Angesichts dieser Gewohnheit und der Tatsache, dass
auch die Nachfolge auf dem Reichenauer Abtstuhl im Jahre 786 durch KARL
geregelt werden mußte, ist es wohl wahrscheinlich, dass der König
auf seinem Italienzug 786 die Reichenau aufsuchte. Wenn KARL
also den getauften Sachsen-Herzog Widukind in diesem Jahr nicht
in seine Heimat entließ, wofür auf Grund analoger Fälle
einiges spricht, dann bot das Kloster Reichenau, dessen Insellage in diesem
Zusammenhang hervorgehoben werden sollte, eine gute Möglichkeit, den
Gefangenen vor dem Italienzug sicher unterzubringen.
In diesem Zusammenhang ist auch noch ein Wort zu sagen
über die Patenschaft, die KARL
bei der Taufe
Widukinds
übernahm. Wir wissen seit kurzem genauer,
welch hervorragende Bedeutung einer Patenschaft als Begründung einer
'geistlichen Verwandtschaft' zukam. Aus dieser Übernahme resultieren
gewisse Verpflichtungen, von denen in unserem Falle der religiosus amor
und die admonitio besonders wichtig zu sein scheinen. Es fragt sich daher,
inwieweit
die mit der Übernahme der Patenschaft bei der Taufe eingegangenen
Verpflichtungen vereinbar sind mit der Vorstellung, dass der Täufling
anschließend vom Taufpaten unter Zwang ins Kloster eingewiesen wurde.
Hier ist nun entschieden darauf hinzuweisen, dass die Einweisung ins Kloster
im Bewußtsein der Zeit nicht in erster Linie Straf- sondern Gnadencharakter
hatte, da sie dem Betroffenen die Möglichkeit bot, für seine
Sünden in bestmöglicher Weise zu büßen. Man wird also
im Falle Widukinds uneingeschränkt davon ausgehen können,
dass eine Einweisung ins Kloster keineswegs einen Bruch der Patenschaftsverpflichtungen
darstellte, sondern vielmehr dem Täufling die beste Möglichkeit
bot, von Gott Verzeihung für seine früheren Vergehen zu erlangen.
Es sei denn auch noch einmal darauf hingewiesen, dass Widukind nach
den Aussagen der Quellen in den Vorverhandlungen nicht die Freiheit, sondern
für den Fall der Unterwerfung und Taufe nur seine Unverletztlichkeit
garantiert worden war. Diese Garantie wurde durch die Einweisung ins Kloster
aber keinesfalls verletzt.
Bevor wir die gesammelten Indizien zusammenfassend werten,
ist noch zu fragen, ob die Lebensdaten des Reichenauer Mönchs Widukind
mit dem in Einklang zu bringen sind, was man über Alter und Familie
des Sachsen-Herzogs weiß. Nun weiß man über letzteren
wenig wirklich Gesichertes. Er taucht 777 zum ersten Mal in den Quellen
auf und hatte zumindest einen Sohn, der, wenn unsere These stimmen sollte,
vor 785 geboren sein müßte. Sein Kämpfgefährte Abbio
wird als sein gener bezeichnet, ohne dass gesagt werden könnte, ob
mit der Bezeichnung ein Schwager oder ein Schwiegersohn gemeint ist. Widukinds
Enkel
Waltbert
schließlich wurde am Hofe LOTHARS I.
erzogen. Wiederum weiß man jedoch nicht, in welche Zeit diese Erziehung
fällt [Schmid vermutet, dass hiermit der Hof
LOTHARS
I. nach 843 gemeint sei. Man muß jedoch berücksichtigen,
dass Waldbert einen Sohn(Wigbert) hatte, der bereits 873/74
Bischof
von Verden wurde, so dass die adolescentia des Vaters wohl nicht in
die Zeit nach 843 fallen kann. Man wird daher eher an einen Aufenthalt
Waldberts
am Hofe LOTHARS I. vor 843 denken;
ein solcher war frühestens seit 817 möglich.].
Widukinds
Urenkel
endlich, Wigbert, wurde 873/74 bereits
Bischof von Verden,
nachdem er vorher in der Hofkapelle
Ludwigs des
Deutschen gedient hatte.
Vom Reichenauer Mönch Widukind ist dagegen
bekannt, dass er erst nach 825 verstarb. Er lebte also noch rund
40 Jahre nach seiner Profeß im Reichenauer Konvent. Die vorhandenen
Daten und Informationen zum Sachsen-Herzog kollidieren damit in
keiner Weise mit den Daten des Reichenauer Mönches. Es muß lediglich
die Bedeutung gener = Schwiegersohn für Abbio ausgeschieden
werden, da sonst ein zu hohes Alter für den Sachsen-Herzog postuliert
werden müßte, wollte man ihn mit dem Reichenauer Mönch
identifizieren. Geht man hingegen von der Annahme aus, dass Widukind
sich
etwa 30-jährig taufen ließ und somit als 70-jähriger verstorben
wäre, dann widerspricht kein Faktum einer Identifizierung des Reichenauer
Mönches Widukind mit dem Sachsen-Herzog. Auch die bezeugte
Generationsfolge der Nachfahren
Widukinds würde durchaus zu
diesen Daten passen, da sie ohnehin ausschließt, dass der Sachsenführer
785 bereits alt war [Wenn der Widukind-Sohn
Wigbert erhebliche
Zeit vor 785 geboren worden wäre, würde sein Sohn Waldbertseine
adolescentia wohl kaum zu Zeiten LOTHARS I. verlebt
und auch kaum noch 871 gelebt haben können. Insgesamt sind jedoch
nur so wenige Daten bekannt, dass genauere Angaben nicht gelingen können.
Die vorhandenen Daten sprechen allerdings eher für die Annahme, dass
Widukind
bei
der Taufe noch relativ jung war.].
Die Musterung der Widukind-Belege des 9. und 10.
Jahrhunderts hat daher wohl einen durchaus diskussionswürdigen Befund
erbracht. Sicher konnten wir feststellen, dass der Name bis ins 10. Jahrhundert
höchst selten belegt ist. Vermutlich oder besser wahrscheinlich gehörten
alle Träger dieses Namens in dem angegebenen Zeitraum zu den Nachfahren
des Sachsen-Herzogs. Im ganzen 9. Jahrhundert ließen sich
überhaupt nur zwei Träger des Namens Widukind nachweisen:
ein Fuldaer und ein Reichenauer Mönch. Der Reichenauer Mönch
nun legte sicher um 786 die Profeß ab, lebte lange in der Reichenauer
Klostergemeinschaft ohne eine kirchliche Weihe zu erhalten, und überdies
steht vor seinem Namen in der Profeßaufzeichnung das Wort dominator,
das als Mönchsname sonst auf der Reichenau nicht nachgewiesen werden
kann, dessen Deutung aber keine Schwierigkeiten bereitet, wenn man es als
Zusatz zu dem Sachsen-Herzog Widukind interpretiert.
Wir sind uns darüber klar: Alle diese Indizien können
nicht den Charakter eines Beweises beanspruchen. Es ist letztlich nicht
ausgeschlossen, dass ein anderer Widukind um 786 die Profeß auf der
Reichenau ablegte, der gleichfalls aus unbekannten Gründen nicht geeignet
war, die kirchlichen Weihen zu erhalten. Man müßte angesichts
des Gesamtbefundes der Widukind-Belege dann wohl davon ausgehen,
dass es sich um einen gleichnamigen Verwandten des Sachsen-Herzogs
gehandelt hat, der in die Klosterhaft gegeben worden wäre. Auch ist
nicht ausgeschlossen, dass gleichzeitig auf der Reichenau ein italienischer
Mönch Dominator die Profeß ablegte, der sich später in
Unfrieden vom Konvent trennte und deshalb von den früheren confratres
mit einer damnatio memoriae belegt wurde. Es wäre aber der einzige
Mönch auf der Reichenau zu dieser Zeit, dessen Name auf eine Herkunft
aus Italien deutet.
Bedenkt man weiter, dass im fraglichen Jahr KARL
DER GROSSE seinen Vertrauten Waldo zum Reichenauer Abt einsetzte
und deshalb die Reichenau wahrscheinlich sogar selbst besuchte, dann wird
es immer schwieriger, all diese Hinweise in den zeitgenössischen Quellen
als Zufälle zu interpretieren. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die
Vorstellung, Widukind sei nach seiner Unterwerfung in Klosterhaft
gehalten worden wie die anderen Widersacher KARLS
DES GROSSEN auch, erheblich besser in die politische Landschaft
von 785 paßt als die Annahme, er habe frei in Sachsen gelebt und
sich um die Verbreitung des christlichen Glaubens in seinem Stamm verdient
gemacht, während sozusagen um ihn herum die Erhebungen gegen die fränkische
Herrschaft weitergingen.
Dass die Reichenau sich, nicht nur durch die Person Abt
Waldos, sondern auch auf Grund ihrer Insellage, in der KAROLINGER-Zeit
hervorragend als politisches Gefängnis eignete und als solches genutzt
wurde, zeigt eine Entdeckung, die Alfons Zettler über das Schicksal
des Slawenapostels Methodius und seiner Gefährten gemacht hat. Diese
wurden bekanntlich von Ludwig dem Deutschen
und von bayerischen Bischöfen, namentlich von Ermanrich von Passau,
unter Zwang aus ihren mährischen Missionsgebieten abgezogen, ohne
dass man bisher Sicheres über ihr Schicksal wußte. Jetzt erst
gelang der Nachweis, dass sie in den Reichenauer Konvent integriert, also
wohl auf der Reichenau in Klosterhaft gehalten wurden.
Die zeitgenössische Überlieferung bietet somit
ein schlüssiges Angebot zur Erklärung von Widukinds Schicksal,
das sich demnach nicht vom Schicksal anderer politischer Gegner
KARLS
nach der Unterwerfung unterschieden hätte. Demgegenüber wird
in den Mathilden-Viten, auf denen das bisherige Widukind-Bild ja
basiert, eine Darstellung vom Schicksal Widukinds nach der Taufe
gegeben, die eine ganze Reihe von Problemen aufwirft. Wenn es denn stimmen
sollte, dass Widukind von KARL nach
der Taufe die Freiheit belassen wurde und er in Sachsen sozusagen als Missionar
wirkte, - eine Vorstellung, die angesichts der fortgesetzten Erhebungen
der Sachsen gegen die fränkische Herrschaft schon schwer genug zu
realisieren ist - dann muß man wohl auch erklären, warum dieses
ungewöhnliche und für die fränkische Mission sicherlich
höchst wichtige Wirken sich in keiner karolinger-zeitlichen
Quellen niedergeschlagen hat. Vor allem in der Translatio S. Alexandri
wäre noch ein Eingehen auf diese Phase im Leben Widukinds fast
zwingend zu erwarten. Doch die Ausführungen Rudolfs von Fulda in der
Translatio enthalten keinen Hinweis auf ein christliches Wirken
Widukinds,
und seine Bewertung des Sachsen-Herzogs läßt kaum die
Annahme zu, dass er von einem solchen Wirken Kenntnis hatte: Witukind
quoque,
qui inter eos (sc. Saxones) et claritate generis et opum amplitudine
eminebat et qui perfidiae atque multimodae defectionis eorum auctor et
indefessus erat incentor, ad fidem Karoli
sua sponte veniens Attiniaci baptizatus et a rege de fonte sacro susceptus
est, et Saxonia tota subacta.
Auch in anderen einschlägigen Quellen der KAROLINGER-Zeit
findet sich nicht nur kein Hinweis auf eine Tätigkeit Widukinds
nach der Taufe, sondern die Forschung hat darüber hinausgehend betont,
dass das Widukind-Bild dieser Zeit zumeist negativ ausfällt,
was deutlich gegen eine Tätigkeit
Widukinds im Dienste der
christlichen Mission spricht.
Diese Beobachtungen treffen sich mit der Skepsis, die
die Forschung generell gegenüber Nachrichten aus den Mathilden-Viten
hegt. Zu Recht hat man auf eine Fülle sachlicher Fehler in den beiden
Viten der ottonischen Königin
hingewiesen und demzufolge den Quellenwert nicht sehr hoch eingeschätzt.
Von den Widukind
betreffenden Aussagen ist ja sicher die Behauptung
falsch, Bonifatius habe Widukind
getauft. Ebenso hat die Erzählung
vom Zweikampf zwischen Widukind und KARL
DEM GROSSEN keine historische Grundlage. Folgerichtig darf wohl
auch der dritte Akzent, den die Mathilden-Viten in ihren Erzählungen
über Widukind setzen, die mentis mutatio des Sachsen-Herzogs,
der sich vom Saulus zum Paulus wandelte und vom perdecutor destructorque
pertinax zum christianissimus ecclesiarum et Dei ... cultor wurde,
kaum mehr Anspruch auf Glaubwürdigkeit erhalten. Dies vor allem deshalb
nicht, weil erwiesen ist, dass die Vertreter der ottonischen
Historiographie an sehr vielen Stellen die liudolfingisch-sächsische
Vergangenheit panegyrisch umdeuteten. Von den Umdeutungen betroffen wurden
natürgemäß vor allem Ereignisse, durch die ein Schatten
auf das Königsheil der LIUDOLFINGER
hätte fallen können. Für diese vielfach zu belegende Tatsache
nur zwei Beispiele aus dem Geschichtswerk Widukinds von Corvey,
des anerkannten Vertreters dieser ottonischen
Historiographie: Widukind stellt die vernichtende Niederlage der
Sachsen unter der Führung des
LIUDOLFINGERSBrun
gegen die Normannen, bei der im Jahre 880 Brun selbst, zwei Bischöfe,
viele Grafen und das ganze Heer den Tod fanden, dar, als ob sie durch eine
Naturkatastrophe bedingt gewesen sei. Das Heer sei durch eine plötzliche
Überschwemmung umgekommen, ohne überhaupt die Gelegenheit zum
Kampfe gehabt zu haben. Auf diese Weise nahm er dem
liudolfingischen
Renomme den Makel, dass unter ihrer Führung den Sachsen eine vernichtende
Niederlage beigebracht worden war.
Im gleichen Kapitel und Zusammenhang führt Widukind
aus,
der letzte der ostfränkischen KAROLINGER,
Ludwig
das Kind, sei mit der LIUDOLFINGERIN
Liudgard verheiratet gewesen, der Schwester des Herzogs Otto
des Erlauchten. Was man zunächst für einen genealogischen
Irrtum halten möchte, entpuppt sich aber als entscheidende Voraussetzung
für die weitere Argumentation des sächsischen Historiographen:
Regi
autem Hluthowico non erat filius,
omnisque
populus Francorum atque Saxonum quaerebat Oddonis
diadema imponere regni. Durch den genealogischen 'Irrtum' Widukinds
ließen sich die LIUDOLFINGER
als die nächsten Verwandten der Königssippe bei deren Aussterben
darstellen und so als die dynastischen Erben der KAROLINGER
vorführen.
Beobachtet man also diese Tendenz der Umdeutung und Stilisierung
der Ereignisse und Fakten, die für die ottonische
Herrschaftslegitimierung
wichtig waren oder für diese ein Problem darstellten, dann leuchtet
wohl unmittelbar ein, dass diese Umdeutung gerade hinsichtlich der heidnischen
Vergangenheit Widukinds
und hinsichtlich der sächsischen Niederlage
gegen KARL DEN GROSSEN besonders nötig
war. In der ottonischen
Historiographie
lassen sich denn auch deutlich mehrere Ansätze erkennen, dieses ernste
Problem der sächsischen und liudolfingischen
Vergangenheit zu bewältigen. Viel spricht also dafür, dass die
Widukind-Kapitel
der Mathilden-Viten das oder ein Ergebnis dieses Prozesses sind. In ihnen
wurde das Wissen um die Sühneleistungen der Nachfahren Widukinds,
wie sie sich in den Bestimmungen hinsichtlich der Leitung und Zweckbestimmung
Wildeshausen dokumentieren, und das Wissen um die Abkunft der Königin
Mathilde vom Sachsen-Herzog Widukind sozusagen verdichtet
und personalisiert in einer Erzählung, die diese Sühneleistung
bereits dem Sachsenherzog selbst zuschrieb und sie mit einem Ort verband,
Enger nämlich, an dem die Königin ein Stift gegründet hatte.
Es scheint in diesem Zusammenhang nicht einmal undenkbar, dass ein ursprüngliches
Wissen um die Sühneleistungen Widukinds während seines Klosteraufenthalts
zu einer christlichen Phase seines Lebens in Sachsen umgestaltet worden
sein könnte. Wie dem auch im einzelnen gewesen sein mag, wichtig ist
festzustellen, dass die Widukind-Kapitel der Mathilden-Viten sich
sehr wohl in den Kontext der sonstigen Bemühungen seitens ottonischer
Historiographen
einordnen lassen: Sie können als panegrysche Umdeutungen bestimmter
problematischer Phasen und Ereignisse der liudolfingisch-sächsischen
Geschichte verstanden werden. Der Nachweis, dass die Tradition, die zuerst
Widukind
mit Enger in Verbindung bringt, in einem Kontext gleichartiger Bemühungen
um die Deutung der sächsischen Vergangenheit gestellt werden kann,
scheint insgesamt für unseren Indizienbeweis nicht unwichtig. Angesichts
dieser Tendenzen der 'liudolfingischen
Hausüberlieferung' sind somit Anhaltspunkte gefunden, die auch den
Entstehungsprozeß der Widukind-Tradition im 10. Jahrhundert
verständlich machen. Eine positive Umdeutung der heidnischen Vergangenheit
des Ahnen der Königin Mathilde war
bei dem Prozeß fast zwingend zu erwarten und schließt daher
ein Schicksal Widukinds, wie wir es aus den zeitgenössischen
Quellen erarbeitet haben, nicht aus. Wichtig scheint, dass die neuen Beobachtungen
nicht zur Konsequenz haben, den Autoren der Mathilden-Viten nun bewußte
Fälschungen unterstellen zu müssen, sondern dass ihre Ausführungen
genau in einen auch sonst zu beobachtenden Kontext der panegryschen Deutung
sächsisch-liudolfingischer
Vergangenheit
passen.
Damit stehen sich die neuen Beobachtungen an Hand der
zeitgenössischen Quellen und die Widukind-Tradition des 10.
Jahrhunderts gar nicht so schroff gegenüber, wie dies auf den ersten
Blick scheinen mag. Es ist nicht einmal ausgeschlossen, dass die Widukind-Kapitel
in den Viten der Königin Mathilde
nur eine Verdichtung und Konkretion der Familientradition darstellen, die
ein Wissen um die Sühneleistungen Widukinds nach seiner Taufe
bewahrt hatte. Nur hatte diese Sühne wohl nicht in Sachsen, sondern
auf der Reichenau stattgefunden.
Mit ihrer spekulativen Deutung der
liudolfingischen Vergangenheit stehen die Vertreter der ottonischen
Historiographie im Mittelalter im übrigen nicht allein, sondern wiederum
in einem Kontext vergleichbarer Bemühungen um die Deutung und Glorifizierung
der Vergangenheit anderer Königs- und Adelsgeschlechter. Als Beispiele
seien angeführt die Propagierung des WAIBLINGER-Namens
durch die staufische Historiographie,
die verschiedenen Ausformungen der welfischen Hausüberlieferung, die
vielen 'Stifterchroniken', in denen die Mönche adeliger Hausklöster
Versionen der Geschichte der Gründerfamilie verbreiteten, und auch
die gelehrten Spekulationen, mit denen in der Zeit MAXIMILIANS
I. die HABSBURGER an die
MEROWINGER
angesippt
wurden. Unter den in solchen Zusammenhängen erzählten Geschichten
finden sich nur wenige, die Anspruch auf historischen Glaubwürdigkeit
der geschilderten Fakten erheben könnten.
Angesichts dieser allgemeinen und der vorgeführten
speziellen Sachlage wird zukünftig wohl die Beweislast zu tragen haben,
der trotz der zeitgenössischen Belege in der Reichenauer Memorialüberlieferung
an der Authenzität der Nachrichten über Widukind in den
Mathilden-Viten festhalten will.