LXXIV. GISELBERT I.
ist einer derjenigen Großen, die im besonderen Mahr die Politik
der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts mitbestimmten. Aus kleinen
Verhältnissen kommend, so daß uns nicht einmal sein Vater
bekannt ist, hatte er sich hochgedient; er war königlicher Vasall
geworden, hatte - vielleicht wahrend der Kämpfe mit WIDO - die
Gunst König BERENGARS erlangt, sich
aber doch wiederum nicht so fest an ihn gebunden, daß er nicht
bei einem sich anbahnenden Umschwung die Partei des neuen Prätendenten, König Rudolf, ergreifen konnte,
ja dann sogar beim Einfall Hugos von der
Provence auch sofort in dessen Gunst zu stehen vermochte. Er
muß ein besonderes politisches Geschick und einen klaren Blick
für die richtige Einschätzung aller Möglichkeiten und
Kräfte gehabt haben. Sein kometenhafter Aufstieg, der ihn vom
königlichen Vasallen bis zum Pfalzgrafen,
also dem ersten Mann nach dem König, führte, ist umso mehr
der Beachtung wert, als er selbst nicht der fränkischen
Herrenschicht und auch nicht den einfachen Zuwanderern aus dem Norden,
die damals die führende Schicht stellten, angehörte. Er war Langobarde und der erste dieses
Stammes, dem es nach der langen Prädominanz des fränkischen
Elements in Ober-Italien, die wir zwischen 830 und 930 feststellen
können, in die führende Schicht einzudringen gelang. Aber
einmal aufgestiegen, konnte er seiner Familie sogar eine solche
gefestigte Stellung hinterlassen, daß aus ihr noch zwei weitere
Generationen hindurch die Pfalzgrafen bestimmt wurden, so Lanfranc I., sein Sohn, und Giselbert II., sein Enkel [1 C.G. MOR, I
criteri per la nomina dei conti palatini Seite
337ff. - Zur gesamten Familie der
GISELBERTE vgl. auch E. ODAZIO, I
conti del comitato bergamasco. Weitere Literaturhinweise bei B.
BELOTTI, Bergamo I Seite 254.].
Die erste sichere Kunde, die wir von Giselbert
I. haben, ist seine Anwesenheit als vassus et missus Kaiser BERENGARS bei einem
Gerichtstag in Bonate Superlore bei Bergamo im November 919, wo ein
Güterstreit zwischen einigen Privatleuten und Bischof Adalbert von Bergamo
ausgetragen wurde [2
MANARESI, I placiti Seite 488, nr. 130 (= CdL Seite 837, nr. 486).].
Nicht sicher ist es dagegen, ob er mit dem Giselbertus vassus
domni reges, der mit anderen als iudex in einem am 4. März 899
in Pavia abgehaltenen Placitum zu Gericht saß [3 TIRABOSCHI,
Nonantola II Seite 77, nr. 58.], identifiziert
werden darf. - War Giselbert als
missus schon in BERENGARS
Gunst, so hinderte ihn dieser Umstand aber nicht, sich einer
oppositionellen Adelsgruppe anzuschließen. LIUDPRAND, der uns im
Buch II seiner Antapodosis von der wachsenden Unzufriedenheit der
oberitalienischen Großen mit Kaiser
BERENGAR und von
einer 921 ausgebrochenen Rebellion des Markgrafen
Adelbert von Ivrea, des Pfalzgrafen
Odelrich, des Erzbischofs
Lambert von Mailand und einiger anderer principes Italiae gegen ihren
Kaiser berichtet, erwähnt auch Giselbert
als Teilnehmer am Komplott, - und zwar als Gislebertus predives
comes et strenuus [4 LIUDPRAND, Antapod. lib. II, cap.
57-64, Seite 63ff.]. Den Comestitel scheint
LIUDPRAND ihm allerdings schon aus späterer Sicht beizulegen. -
Boten mit der Einladung an König
Rudolf II. von Hoch-Burgund,
nach Italien zu kommen, waren bereits abgegangen, als BERENGAR die
Hilfe der Ungarn erlangte und die in den Alpenvorbergen bei Brescia
versammelten Aufständischen überfallen lassen konnte. Wahrend
der Pfalzgraf Odelrich im
Kampfe fiel, geriet der Markgraf
Adalbert mit Giselbert in
Gefangenschaft. Der erste konnte sich listig von einem eigenen Vasallen
loskaufcn lassen; Giselbert
hingegen wurde dem Kaiser vorgeführt, erhielt aber Vergebung und
Freiheit. Sofort setzte er sich mit den anderen Rebellen wieder in
Verbindung; als Bote eilte er dann selbst nach Burgund und vermochte König Rudolf zu bewegen,
binnen 30 Tagen in Italien zu erscheinen [5 Zu der mit
der Einladung an König Rudolf erfolgten
Übertragung der hl. Lanze aus Italien nach Burgund vgl. Skizze Samson.].
Selbstverständlich stand Giselbert
dann bei Rudolf
in hoher Gunst. Wenn man ihn in einer Urkunde Rudolfs vom
3. Dezember 922 zum ersten Mal als comes und danach
in einer Gerichtsurkunde aus dem Jahre 923 als Giselbertus comes et
missus domni reges (sc. Rodulfi) comitatus istius
Bergomensis genannt findet, so scheint es, daß er zum Dank
für seinen Einsatz von Rudolf mit
der Grafschaft Bergamo
ausgestattet wurde [6 SCHIAPARELLI,
I dipl. di Lodov. III. e di Rodolfo II. Seite
97, nr. 2; MANARESI, I placiti Seite 494, nr. 132 (= CdL Seite 859, nr.
500).]. Er wurde damit Nachfolger Suppos (IV.), der 919 noch inluster comes
Bergomensis war. Als Intervenierten in verschiedenen Belangen
sieht man Giselbert nun in Rudolfs
Urkunden. Im Diplom vom 3. Dezember 922 für den Bischof Adalbert von Bergamo werden
die Intervenierten, Erzbischof
Lambert von Mailand, die Bischöfe
Wido von Piacenza und Beatus
von Tortona sowie der illustres comes
Giselbertus, als dilecti consiliarii
Rudolfs bezeichnet.
924 sind es die dilectissimi
fideles Erzbischof Lambert,
Graf Giselbert, Graf Samson und Graf Wilhelm, die als
Fürsprecher für Bischof Wido
auftreten und der Piacentiner Kirche ein Stück der
Stadtmauer von Pavia mit angrenzendem Bauland erwirken [7
SCHIAPARELLI, I dipl. di Lodov. III. e di Rod. II. Seite 125,
nr. 11.- Das „qui et" im
Ausdruck: Giselbertum
qui et Samson ei
Vuillelmum illustres comites halte ich mit A. HOFMEISTER, Hl.
Lanze
Seite 18ff. und G. FASOLI, I re d'Italia Seite 237f. für einen
Schreibfehler in der einzigen uns erhaltenen Abschrift.].
Auch in der im Mittelteil verfälschten, aber in den Einleitungsund
Schlußstücken auf echter Grundlage beruhenden Urkunde König Rudolfs, die das Datum
des 18. Juli 925 trägt, tritt Giselbert
neben dem Grafen Samson und
den Bischöfen Leo von Pavia, Beatus von Tortona und Haichard von Parma als Interveniert
auf [8
SCHIAPARELI, I dipl. di Lodov. III. e di Rod. II. Seite 136, nr. + 2.].
Rechtzeitig muß er aber seine engen Beziehungen zu diesem
König gelöst haben; sofort nach dem Erscheinen Hugos aus der
Provence finden wir ihn in der Gunst des neuen Herrschers. Diese
Verschiebung der Machtverhältnisse während des Sommers 926
brachte ihm das Pfalzgrafenamt ein.
Als comes palatii
interveniert er bereits am 3. September 926 in einer Urkunde König Hugos für das
S.-Sisto-Kloster in Piacenza [9
SCHIAPARELLI, I dipl. di Ugo Seite 6, nr. 2.] und
am 12. November desselben Jahres in einem Diplom für die Kirche
von Asti [10
SCHIAPARELLI, I dipl. di Ugo Seite 14, nr. 4.]. Dilectus fidelis noster
wird er dabei wieder genannt. - Auf Intercession des Bischofs Adalbert von Bergamo und
des „Giselbertus, des edlen Pfalzgrafen und geliebten Getreuen",
bestätigte König Hugo
am 28. November 926 schließlich der Anuntinus- und Justinalkirche
in Piacenza die Abtei Santa Crisuna in Pavia [11
SCHIAPARELLI, I dipl. di Ugo Seite 17, nr. 5.].
Wie man sieht, war Giselbert
eine auch beim König Hugo äußerst
einflußreiche Persönlichkeit geworden.
Zum letzten Male findet man Gisclbert
am 14. Mai 927 in Pavia aktiv in der Reichsverwaltung. In seinem
eigenen Hause in der Hauptstadt des regnum
hält er einen Gerichtstag ab, wobei unter anderem auch
sechs seiner Vasallen als Beisitzer fungieren [12 MANARESI, I
placiti Seite 497, nr. 133 (= CdL Seite 891, nr. 524).].
- Wann Giselbert I. verstarb,
ist unbekannt. Da aber am 19. November 929 Samson als comes palatii
auftritt [13
BSSS 46 (Voghera) Seite 1, nr. 1 (= CdL Seite 910, nr. 534).],
muß sein Tod in der Zwischenzeit eingetreten sein.
Giselbert hatte Rotruda, eine Tochter des angesehenen Königsrichters
Walpert aus Pavia, zur Frau genommen; ein Sohn, der spätere Pfalzgraf Lanfranc I., ging aus
dieser Ehe hervor [14
CdL Seite 1089, nr. 634 - Urkunde von 959/Juli/13. - Von dieser
Ehe berichtet auch LIUDPRAND, Antapod. lib. III, cap. 39 bei der
Darlegung des Aufstandes der Königsrichter
Walpert und Heverardus Gezo,
der von König Hugo leicht
niedergeworfen werden konnte; vgl. L. M.
HARTMANN, Geschichte Italiens im MA III, 2 Seite 199ff. - Der Zeitpunkt
dieser Rebellion ist umstritten; vgl. dazu SCHIAPARELLI, I dipl. dei re
d'ltalia, Pars V, in: Bull. Ist. stor. ital. 34 (1914) und C.G. MOR,
La data della congiura dei giudici Valperto ed Everardo.].