Schneidmüller Bernd: Seite 123,128,135-137,145
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"Die Welfen. Herrschaft und Erinnerung."

Kuniza, die Tochter Welfs II. und Irmentruds/Imizas, wurde mit dem Markgrafen Albert Azzo II. aus der berühmtem Linie der OTBERTINER vermählt; die später gebräuchliche Namengebung "von Este" stellten erst seine Enkel her. Sein Besitz erstreckte sich über ganz Oberitalien und reichte bis in die Toskana. Beide Ehen unterstreichen den Rang und die weiten Kontakte der welfischen Eltern, aber auch die Bandbreite adliger Erbfolge in der Mitte des 11. Jahrhunderts. Frauen wurden ein ums andere Mal zu Gestalterinnen welfischer Geschichte.
Vom Ende Welfs III., der Anfechtung seines Testaments und vom unverhofften welfischen Neuanfang erzählt die Historia Welforum: "Bald nach der Beisetzung wollten die Beauftragten die Schenkung vollziehen, wurden aber gehindert. Denn seine Mutter wußte, daß sie einen Erben von ihrer Tochter hatte. Sie schickte Boten nach Italien, um ihn zu holen. Er kam, untersagte die Schenkung und erklärte sich zum sicheren und wahrhaftigen Erben."
Die Genealogia Welforum konstruierte den Fall einfacher als Besitzübergang von Welf II. über Kuniza auf Welf IV.; die Weingartener Klosterüberlieferung wußte von der Ungültigkeitserklärung der testamentarischen Verfügung des Herzogs durch die noch lebende Mutter (nach dem ius gentium). In der Tat blieb die LUXEMBURGERIN Irmentrud/Imiza als einzige Erbin ihres Sohnes übrig; erneut wurden die reichsweiten Verbindungen ihres Verwandtenkreises nützlich. Aus späterer Rückschau rettete ihr Handeln die WELFEN für die Geschichte, denn der aufgespürte italienische Enkel wurde zum Garanten der Kontinuität. Indem er sich zum sicheren und wahrhaftigen Erben (certus et verus heres) erklärte, gewann die welfische Sache im Reich eine Zukunft.
An dieser erstaunlichen Geschichte bleibt das meiste unklar. Warum ließ Albert Azzo II. den Sohn aus seiner Ehe mit Kuniza nach Norden ziehen? Warum setzte sich die otbertinische Herrschaft später mit den Söhnen aus der zweiten Ehe fort? Welche Familienkenntnisse besaßen Welf III. und seine Mutter Irmengard/Imiza 1055 wirklich? Warum definierte sich schließlich Welfs III. Schwestersohn "welfisch", obgleich die väterliche Herrschaft hinter der mütterlichen kaum zurückgestanden haben wird? Und bedeutet die Entscheidung jenes Fortsetzers welfischer Geschichte, den man in scheinbar ungebrochener Familientradition Welf IV. nannte, tatsächlich eine politische Option zugunsten einer süddeutschen Landesherrschaft gegen eine oberitalienische Zukunft? Spätere Quellen des 12. Jahrhunderts, welche vom anhaltenden genealogischen Gemeinschaftswissen zwischen den WELFEN und den OTBERTINERN künden, mahnen zur Vorsicht, Irmentruds/Imizas Enkel "Welf" in die vielen welfischen Volkswechsel des früheren Mittelalters einzubauen.
Mediator dürfte auch der italienische Vater Welfs IV. gewesen sein, der 1069/70 in die westeuropäische Politik eingriff. Das verwirrend erscheinende genealogische Netz muß zur Erklärung des welfischen Handlungs- und Bewußtseinshorizonts bedacht werden. Albert AzzoII. hatte nach dem Tod seiner welfischen Gemahlin Kuniza (um 1050) in zweiter Ehe Garsenda geheiratet, die Schwester des Grafen Hugo IV. von Maine. Aus dieser Verbindung gingen die beiden Halbbrüder Welfs IV. hervor, Fulco und Hugo, auch sie nach mütterlichen Vorfahren benannt. Beim Tod Hugos IV. und seines Sohnes geriet die Grafschaft Maine in den 60-er Jahren in den Bannkreis der benachbarten normannischen Herzogsherrschaft. Doch bei einer Revolte in der Stadt Le Mans rief eine oppositionelle Partei die Grafen-Tochter Garsenda als Erbin und ihren Mann Albert Azzo an die Loire. Im Frühjahr 1069 setzte sich der OTBERTINER tatsächlich durch und ließ mit der Gattin auch seinen Sohn Hugo in Maine zurück. Letztlich war seiner Herrschaft kein Erfolg beschieden, so daß er 1070 zum Vater nach Italien zurückkehrte. Freilich erhielt sich bis in die 90-er Jahre des 11. Jahrhunderts der erberechtlich begründete Anspruch Hugos auf die Grafschaft Maine.
Gerade in dieser Zeit wurde die Ehe Welfs IV. mit Judith verabredet, der flandrischen Grafentochter und englischen Adelswitwe. Die westeuropäischen Verbindungen der OTBERTINER erklären die Brautwahl und rücken den WELFEN auch wieder deutlicher in den väterlichen Familienverband. Der neue bayerische Herzog bildete also ein Glied im weiten europäischen Adelsgeflecht, das sich nicht auf das Reich oder gar auf  Süd-Deutschland reduzieren läßt. 1055/56 war Welf IV. kaum vom Italiener zum Schwaben geworden. Dafür sprechen anhaltenden Verbindungen zum Vater und seiner italienischen Herrschaft.
1073 beschenkte er mit väterlichem Konsens das Hauskloster Vangadizza, die Grablege seiner Mutter, welche 1097 auch die Gebeine des Vaters Albert Azzo II. aufnehmen sollte. Beim Tod des Vaters stritt Welf mit den Halbbrüdern Fulco und Hugo um das väterliche Erbe. 1097 setzte sich Welf IV. gewaltsam durch und befestigte seine Herrschaft nördlich wie südlich der Alpen.
Darum wird man neben dem großmütterlich-welfischen auch die aktuellen väterlichen Erfahrungspotentiale für das Selbstverständnis Welfs IV. in Rechnung stellen und das dauerhafte Festhalten an der Kirchenreform besser erklären können. Albert Azzo II. nahm schon 1074 an der ersten Fastensynode Papst Gregors VII. teil. Wie sehr er innerlich von den gregorianischen Reformidealen erfüllt war, bleibt dahingestellt. Jedenfalls vollzog sich sein Leben im Bannkreis der neuen kurialen Forderungen an Kirche und Welt. Der Papst, der bald zum Widersacher des salischen Königs HEINRICH IV. werden sollte, nannte den otbertinischen Markgrafen "unseren liebsten Getreuen" (carissimus fidelis noster), bereit zum Dienst am Apostolischen Stuhl. Gewiß waren dies Ehrentitel, doch im kurialen Denkhorizont sollte sich der OTBERTINER ihrer würdig erweisen. In der welthistorischen Krise des Jahres 1077 - nach gegenseitiger Bannung und Absetzung von Papst und König, im Angesicht des büßenden Herrschers vor der Burg Canossa und der abfallenden Fürsten nördlich der Alpen - vermittelte der erfahrene Markgraf und brachte mit anderen in zugespitzter Lage den Ausgleich zustande. HEINRICH IV. dankte es seinen beiden Söhnen aus zweiter Ehe in einer ftreilich diplomatisch merkwürdigen Urkunde: Grafschaft für Grafschaft, Besitz für Besitz wurden den beiden Brüdern Hugo und Fulco in Italien bestätigt. Welf IV. ist hier nicht genannt. Doch der älteste Sohn Albert Azzos II. war keineswegs aus der italienischen Besitzgemeinschaft ausgeschieden. Vielmehr stand seine Absetzung als bayerischer Herzog unmittelbar bevor, so daß ihn der König nicht bedenken wollte; zudem läßt die schwierige und später italienische Überlieferung des Diploms nichts anderes als gezieltes Vergessen erwarten.
Der Markgraf, der 1078 seinen Sohn Hugo in Troia mit einer Tochter Robert Guiskards vermählen konnte, schwenkte 1080 nach der zweiten päpstlichen Bannung HEINRICHS IV. eindeutig ins anti-salische Lager der päpstlichen Reformpartei. Die Kategorien des Urteilens standen jetzt fest: Rechtgläubig war, wer mit der römischen Kirche übereinstimmte; ihr Gegner blieb "unfromm" (impius).
Bald nach der Trennung von 1095 jedenfalls söhnten sich der SALIER und der WELFE aus. Als Vermittler diente noch einmal Welfs Vater Albert Azzo II., der sich als "etwa Hundertjähriger" im Februar 1096 in Pavia beim Kaiser einfand. 1096/97 erhielt Welf IV. das Herzogtum Bayern zurück, um das er seit 1077 gekämpft hatte.