Lexikon des Mittelalters: Band IV Spalte 973-974
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Friesland
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A. Siedlungsgeschichte und Archäologie
I. Siedlungsgebiete:
In römischer Zeit siedelte das westgermanische Volk
der Friesen an den Mündungen von Rhein und Ems. Die Beibehaltung ihrer
Wohngebiete bis ins Mittelalter ist ein Sonderfall gegenüber anderen
germ. Völkern. Im 6.-8. Jh. erweiterte sich ihr Gebiet:
a) durch Neusiedlung nach der Transgression Dünkirchen
II besonders in den Marschen,
b) durch Ausbreitung entlang der Küste nach Süden
bis zur Sincfal (unweit Kadzand, nördlich von Brügge) und nach
Osten bis zur Weser. Die östliche Ausbreitung erfaßte auch große
Teile der Geest (zum Beispiel Auricher Land, große Teile von Östringen
und Wangerland), die südwestlich auf ihrem Höhepunkt (7. Jh.)
auch die späteren ndl. Provinzen Südholland und Utrecht und den
Westen von Gelderland. Seit dem 8. Jh. wurden auch Wursten und die nordfriesischen
Inseln besiedelt und noch später die Nordseeküste Schleswigs.
II. Innere Gliederung:
Die Lex Frisionum (802/803) kennt als Kernraum der Friesen
das Gebiet zwischen Vlie und Lauwers (= heutige niederländische Provinz
Friesland); im Osten schließt sich Friesland zwischen Lauwers und
Weser, im Westen Friesland zwischen Vlie und Sincfal an. Letzterer Landschaftsraum
wurde als Holland und Seeland seit ca. 1100 nicht mehr zu Friesland gezählt
und wird daher hier beiseite gelassen. Das engere Friesland zwischen Vlie
und Weser hat sich nie zu einer politischen Einheit entwickelt, doch bestand
wohl schon früh ein friesisches Gemeinschaftsgefühl, nicht nur
aufgrund des gemeinsamen Stammesnamens (»... pagi ..., ita ut
diversis appellati nominibus unius tamen gentis proprietatem portendunt«,
Willibald, Vita Bonifatii, c. 8) und der Friesischen Sprache, sondern auch
infolge des seit dem 11. Jh. aufgezeichneten Friesischen Rechtes. Im friesischen
Kerngebiet bildete sich auch die Leitvorstellung von der Friesischen Freiheit
aus.
Schon in vorfränkischer Zeit war Friesland in von
Gewässern und Mooren begrenzte Gebiete unterteilt. Die Namen dieser
Landschaften haben häufig ein friesisches Gepräge, so die am
frühesten erwähnten Regionen Austrachia, Uuistrachia, insulas
Frigionum (735, Cont. Fredeg. c. 17), später Oostergo und Westergo.
Es ist anzunehmen, daß diesen wie auch anderenalten Raumnamen politisch-rechtl.
Verbände entsprachen. So ist es erklärlich, daß aus ihnen
vielfach die späteren Landesgemeinden (terrae) hervorgingen.
III. Lebensbedingungen:
Die vom Binnenland abgetrennten friesischen Gebiete waren in ihrem Landschaftscharakter geprägt vom Gegensatz zwischen Geest und Marsch, die von zahlreichen Prielen und Flüssen durchzogen wurde sowie von ausgedehnten Mooren, die am Geestrand oder auf der Geest lagen. Friesland verfügte über wenig Ackerland, besaß aber ertragreiche Weideflächen. Das somit auf Getreideeinfuhren angewiesene Land exportierte selbst in großem Maße Viehzuchtprodukte. Die schon frühe Blüte von Viehzucht und Handel (Friesenhandel) ging mit relativ dichter Besiedlung einher; diese war zunächst auf die Geest beschränkt und erfaßte sodann die Marschen, zuerst als Wurtensiedlung, seit dem Einsetzen des Deich- und Dammbaus im 11. Jh. als flächenhafte Marschensiedlung.
IV. Archäologie:
Die materielle Kultur der Friesen ist gut zu erfassen,
da ihr Siedelraum durch die Römer fest umschrieben ist. Das sandige
Drenthe und die nördlich davon liegenden Marschen, von Mooren und
Wasser zergliedert, boten unterschiedl., in der Zeit sich verändernde
Siedlungsräume. Das Drenthe ist reich an Grabhügeln und Flachgräbern
der Bronzezeit und Hallstattzeit. Ihre Inventare stehen in Verbindung mit
dem Rheinland, Westfalen und Niedersachsen. Mit der Latènezeit entwickelte
sich daraus die Kultur von Zeijen (Ruinen-Wommels), deren Endstufe, Keramik
mit geometr. Mustern, als protofries. bezeichnet wird. Daraus entstand
die ebensoregional begrenzte »Streepband«-Ware mit bauchigen
Töpfen und Rillenbändern am Hals, die sich mit dem fries. Gebiet
deckt. In »Ruinen-Wommels III« begann die Marschensiedlung,
zum Beispiel Ezinge, als Folge einer Umweltkatastrophe durch Sandverwehungen
auf der Geest.
Während auf der Geest Gräber häufig, in
der Marsch dagegen selten sind (zum Beispiel Hoogebeintum), erscheinen
dort Siedlungsfunde mit viel Keramik und Hausresten. Man siedelte bei steigendem
Wasserspiegel in der Marsch ständig auf den gleichen, durch Abfall
und Aufschüttung erhöhten Plätzen, den Wurten (nördlich
Terpen; in Nordfriesland: Warften). Bei den Grabungen kamen die im Klei
und Mist konservierten Hölzer der Häuser, viel Keramik, aber
auch Gewebe und organische Reste zum Vorschein. Typisch ist das kleine
Dorf, bald kreisförmig (Rundwurt), bald langgestreckt (Langwurt).
Einzelhöfe sind selten. Die zunächst gleichartigen Gehöfte
differenzierten sich (Häuptlinge). In den Marschen herrschte das Weidebauernhaus
vor (eine Wohnstallhalle mit Viehtür im Giebel), das bis zur Gegenwart,
im Mittelalter nur sporadisch belegt, weiterlebt. In der Merowingerzeit
sind bei Keramik und Waffen frk. Einflüsse feststellbar. Rheinische
Waren werden, v. a. in der Karolingerzeit, durch regen Friesenhandel über
Zentren wie Dorestad in breiter Front nach Skandinavien und den Ostseeraum
verteilt. Mit Tierprodukten und wahrscheinl. mit Tuchen waren die Friesen
als Erzeuger beteiligt. In der Röm. Kaiserzeit gehörte Nordfriesland
zum sächsisch-angelsächsisch Kreis, mit Einflüssen aus Jütland.
In der Völkerwanderungszeit gab es einen starken Bevölkerungsrückgang.
Seit dem späten 7. Jh. wanderten neue Siedler (nach Saxo Grammaticus
aus dem Süden) ein. Eine erste Neubesiedlung erfolgte auf den Geestinseln
Föhr, Amrum, Sylt und den Altteilen Eiderstedts und auch - wie jetzt
nachgewiesen wurde - auf der Altmarsch am Westrand des »Strandes«
(Pellworm, Hooge). Zunächst waren noch Flachsiedlungen möglich.
Bei steigendem Wasser wurde eine Verfehnung des Moorlandes durch gegen
die Geest vorrückende Siedler vorgenommen, auch auf dem Hochmoor,
das sich als Kern unter Deich und Warft erhalten hat. Durch die künstl.
Tieferlegung wurden aus den Deichbrüchen des 14. und 17. Jh. Katastrophen;
die »Uthlande« versanken. Danach erfolgte wieder eine Eindeichung
mit Warftenbau (Einzelwarft) und Nutzung des überschlickten Moores
von der Geest aus.
Archäologisch tendiert das Material bei Keramik
und Waffen ganz nach Süden. Beim Frauenschmuck finden sich auch skandinavische
Elemente. Ein Zuzug aus Skandinavien darf wohl vereinzelt angenommen werden.
Die Marschen, im Dialekt von den Inselfriesen geschieden, sind durch zahlreiche
Keramik im Watt erst seit dem 11.-12. Jh. nachgewiesen. Offenbar gab es
eine zweite, jüngere Siedlungswelle, deren rechtl. und verwaltungsmäßige
Stellung wohl die Folge einer planmäßigen Kolonisation war,
wohl mit nicht erhaltener »pactio«. Dafür sprechen auch
die im Süden erworbenen Kenntnisse der Verfehnung und Wasserlösungen.
H. Hinz
B. Allgemeine und politische Geschichte
I. Früh- und Hochmittelalter
1. Fränkische Eroberung und Christianisierung
[1] Fränkische Eroberung und Christianisierung: Die
uns bekannten friesischen Fürsten Aldgisl (678) und Radbod
(Redbad; † 719) scheinen vor allem Heerkönige gewesen zu sein.
Der Schwerpunkt ihrer Macht lag in SW-Friesland mit den um 650 von den
Friesen eroberten Zentren Utrecht und Dorestad. Nach zeitweiliger Besetzung
dieses Gebiets durch Pippin II. um
695 folgte 719 unter Karl Martell die
endgültige Rückeroberung durch das Frankenreich, der 734 die
Unterwerfung Mittelfrieslands bis zur Lauwers folgte, Hand in Hand mit
der Christianisierung unter der Leitung von Willibrord und Bonifatius.
Die Eroberung des östlichen Friesland war ein Nebeneffekt der Sachsenkriege
Karls
des Großen; 794 wurde es endgültig dem Frankenreich
einverleibt. Die Christianisierung war hier das Werk des Friesen Liudger
und des Angelsachsen Willehad. Das Missionsgebiet des ersteren fiel an
das Bistum Münster, das des anderen an das Bistum Bremen (Hamburg-Bremen).
814 gab Ludwig der Fromme
den Friesen das 'ius paternae hereditatis' zurück, das sie
unter Karl wegen ihrer Treulosigkeit
verloren hatten. Wahrscheinlich erfolgte zugleich die Einführung des
Königszinses (huslotha). Diese Ereignisse wurden später zum Ausgangspunkt
der Idee der Fries. Freiheit. Die Normanneneinfälle der späten
Karolingerzeit sind zeitgenössisch zwar nur dürftig belegt, haben
aber tiefe Spuren in den Überlieferungen des Landes (Rechtsquellen
des 11. Jh., spätere Sagen) hinterlassen.
2. Die Grafenzeit
[2] Die Grafenzeit: Zur Ausbildung einer einheimischen
Grafengewalt kam es nur in Holland; Friesland östlich der Vlie wurde
dagegen zum Objekt der Expansion auswärtiger Gewalten, zumeist aus
dem angrenzenden sächs. Raum. 970 findet man Wichman von Hamaland
als Graf in einem Teil Frieslands, im 11. Jh. die Billunger in Östringen,
die Grafen von Stade in Rüstringen, beide bald abgelöst von den
Grafen von Oldenburg.
Die Grafen von Werl übten Komitatsrechte in Emsgau
und Fivelgo aus, seit ca. 1050 abgelöst von den Brunonen, die
bereits die Grafschaft in Mittelfriesland innehatten. Mit diesen weltlichen
Großen konkurrierend, verfolgten auch die Erzbischöfe von Hamburg-Bremen,
namentlich unter Adalbert, territorialpolit. Ziele in Friesland. Im Kampf
gegen den Brunonen Ekbert II. von Braunschweig verlieh Heinrich
IV. Mittelfriesland dem Bischof von Utrecht. 1101 faßte
der König die friesischen Grafschaften in einer Mark zusammen und
übertrug diese Heinrich von Northeim, der jedoch im selben
Jahre in Stavoren »a vulgaribus Fresonibus« getötet
wurde.
Das 12. Jh. bietet ein Bild widerstreitender Interessen;
so standen die alten Ansprüche der Bischöfe von Utrecht auf Mittelfriesland
denjenigen der Erben der Northeimer gegenüber. Kg.
Heinrich V. übertrug einen Teil Frieslands an Heinrich
von Zutphen (1107), während sein Nachfolger
Lothar
III. Mittelfriesland dem Grafen von Holland anvertraute. Die
konkurrierenden Ansprüche des Grafen von Holland und des Bischofs
von Utrecht auf Mittelfriesland wurden 1165 von
Friedrich I. durch Schaffung eines Kondominiums ausgeglichen.
Im Emsgau versuchten die Grafen von Ravensberg, in Östringen die Grafen
von Oldenburg ihre Komitatsrechte zur Geltung zu bringen. In den meisten
Gebieten Frieslands war jedoch die Grafengewalt, trotz mancher Restaurationsversuche,
im Schwinden begriffen, was in der Abgeschlossenheit des Landes, vor allem
aber in der wachsenden antiherrschaftliche Gesinnung der Friesen begründet
war. Nicht ohne Grund findet die Idee der Friesischen Freiheit seit dem
11./12. Jh. immer stärkeren Ausdruck in den Rechts- und Verfassungstexten.
3. Sozialstruktur
[3] Sozialstruktur: Bei insgesamt dürftiger Quellenlage ist eine Schicht von nobiles, optimates oder divites, die zum Teil wohl an die nobiles der »Lex Frisionum« anknüpften, faßbar; sie erlangten jedoch keine feudale Machtposition. Grundherrschaftliche Züge sind später hie und da erkennbar. Die Geistlichkeit gewann im Hochmittelalter an Einfluß; seit ca. 1160 wurden von den Adelsfamilien eine Reihe von Klöstern gegründet und ausgestattet (vor allem Abteien der Prämonstratenser, Zisterzienser, aber auch Benediktiner). Die Äbte, oft aus einheim. Adel stammend, waren häufig führende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, so bei Deichbau und Entwässerungsmaßnahmen. Zahlenmäßig und sozial dominierten aber die freien Bauern, die durch ihren Grundbesitz Teilhaber und Hauptträger der Gerichtsgemeinde und des genossenschaftlichen Lebens der Landesgemeinden waren. Handel und Geldwirtschaft stärkten ihre Stellung. Demgegenüber werden Unfreie nur gelegentlich erwähnt, doch bleibt ihre Stellung im dunkeln.
II. Spätmittelalter
1. Die Zeit der Vorherrschaft der Landesgemeinden
[1] Die Zeit der Vorherrschaft der Landesgemeinden: Die
fries. Länder zw. Zuidersee und Wesermündung gliederten sich
im Spätmittelalter in eine Vielzahl autonomer Landesgemeinden. Zwischen
Ems und Jade traten jedoch nach der Mitte des 14. Jh. an ihre Stelle souveräne
»Herrlichkeiten« einheimischer Dynasten, der sogenannte Häuptlinge.
Auswärtige Landesherren versuchten auch weiterhin, ihre reichsrechtlichen
Ansprüche gegenüber den Friesen durchzusetzen (westlich der Ems:
Grafen von Holland, Bischöfe von Utrecht und Grafen von Geldern; östlich:
Grafen von Kalvelage-Ravensberg [bis 1252/53] und Bischöfe von Münster
sowie Grafen von Oldenburg). Doch wußten sich die Friesen zu behaupten,
indem sie jene Fürsten durch wechselnde Freund-Feind-Verhältnisse
auf Distanz hielten.
Wechselvoll gestalteten sich auch die Beziehungen zwischen
den Landesgemeinden wie später den Häuptlingen; schließlich
kam noch der innere Widerstreit zwischen personal-herrschaftlichen und
territorial-genossenschaftlichen Kräften hinzu.
Die bäuerlichen Landesgemeinden waren im einzelnen
unterschiedlich organisiert. Die jährlich wechselnden Richter oder
Konsuln - östlich der Ems in der Regel 16 mit einem Vorsitzenden als
Sprecher - vertraten zusammen das Landesganze und bildeten das Landesgericht;
jeweils vier von ihnen saßen im Landesviertel zu Gericht als erste
Instanz. Sie gehörten der Oberschicht an. Westlich der Lauwers gliederten
sich Oster- und Westergo in deele, deren Richterkollegium ein grietman
vorsaß; diese Grietmannen bildeten zusammen das jeweilige Gogericht.
Östlich der Lauwers verlagerte sich die Rechtsprechung schließlich
weitgehend auf die Bauerngerichte. Angesichts solcher dezentralen Strukturen
blieb die Vision einer 'tota Frisia' Utopie: den wiederholten Versuchen
einer Vereinigung der »friesischen Seelande« im Landfriedensbund
vom Upstalsboom mit eigenem Organ und Siegel war nur gelegentlich Erfolg
beschieden. Zudem erlangten zunehmend die Großgrundbesitzer, die
Klöster und Häuptlinge die Entscheidungsgewalt in den und über
die Gemeinden.
Mit der Ausbildung der Landesgemeinden erreichten im
13. Jh. auch die Kirchenorganisation und die Binnenkolonisation ihre Grenzen.
Die Absicherung der Marschengebiete fand in dem küstenparallelen Deichband,
die Erschließung der Sietlandzone und des Hochmoorrandes in den Aufstrecksiedlungen
und in einer Anzahl von Klostergründungen ihren Abschluß. Die
zusätzl. Acker- und Weideflächen verringerten die Nachfrage nach
Importgetreide und vermehrten das Angebot an Exportvieh, das zur Deckung
des wachsenden Fleischbedarfs der großen Märkte W- und Mitteleuropas
beitrug. Ein Zeugnis des Wohlstandes der friesischen Gemeinden sind zahlreiche
spätromanische Steinkirchen. Regionale Märkte bildeten die wirtschaftlichen
Zentren, die zwar besonders Statuten erhielten, den Status von regelrechten
Städten aber infolge der restriktiven Haltung ihrer Landesgemeinden
nicht erreichten. Infolge des Mangels an städtischer Macht wie an
landesherrlicher Gewalt wurden die Klöster zur bedeutendsten wirtschaftlichen
und politischen Kraft in den friesischen Ländern.
Zahlreiche innere und äußere Konflikte durchzogen
das 13. Jh.; die heftigsten waren: die Auseinandersetzung der Drenther
und Groninger mit dem Bischof von Utrecht in den späten 20er Jahren
des 13. Jh.; der Streit um die Zugehörigkeit der Insel Rottum (vor
1230-ca. 1250); der Kampf der Reiderländer gegen die Vertreter des
Grafen von Ravensberg auf der Fresenburg und in Emden, die versuchten,
den Emshandel zu schützen; die Einnahme Groningens durch die Friesen
der Ommelande (1251); der Sieg der westerlauwerschen Friesen über
Wilhelm von Holland (1256); der letztlich
erfolgreiche Widerstand der Friesen im Emsmündungsgebiet gegen die
dortigen Herrschaftsansprüche des Bistums Münster (1276). Die
Landesgemeinden gingen aus diesen Kämpfen gestärkt hervor. Was
schließlich diese Verfassung von der Genossenschaft zur Herrschaft
hin veränderte, waren nicht äußere Eingriffe, sondern innere
Gegensätze, die zur Ausbildung des Häuptlingswesens als einer
eigenständigen Herrschaftsform führten, ob eingebunden in die
Gemeindeorganisation oder diese durchbrechend und überlagernd.
2. Die Auseinandersetzungen zw. Häuptlingsdynastien und Landesgemeinden
[2] Die Auseinandersetzungen zwischen Häuptlingsdynastien
und Landesgemeinden: Im Land zwischen Ems und Jade entwickelten sich nach
der Mitte des 14. Jh. zahlreiche auf Burgen gestützte Häuptlingsherrlichkeiten
unterschiedlichen Zuschnitts: ein Prozeß, dessen Dynamik zu einem
permanenten Konkurrenzkampf zwischen den neuen Herren führte, in dem
die kleinen sich durch wechselnde Parteinahme gegenüber den großen
zu behaupten suchten. Unter diesen setzten die tom Brok alles daran, vom
Brokmer- und Auricher Land aus eine Landesherrschaft feudalen Stils zu
begründen. Indem sie dazu Rückhalt bei den Grafen von Holland
wie auch bei den Grafen von Geldern suchten, verbanden sie ihre Auseinandersetzungen
östlich der Ems mit denen zwischen den beiden Parteien der Vetkoper
und Schieringer. Der Kampf mündete in einen den ganzen friesischen
Küstenraum erfassenden großen Konflikt zwischen Landesfreiheit
und Landesherrschaft von innen wie außen ein, in den sich zudem noch
die Hansestädte (Hanse) einschalteten, um ihre Schiffahrt gegen Seeraub
zu sichern, und Kaiser Siegmund, um
den in ihrer Freiheit bedrohten Friesen den Rücken zu stärken.
Als nichts mehr die Expansion der tom Brok nach Westen aufzuhalten vermochte,
riefen die Schieringer westlich der Lauwers Herzog
Johann von Bayern als Grafen von Holland zu Hilfe, der
Ocko II. tom Brok 1420 in die Schranken verwies. Damit wurde eine
Wende eingeleitet, die 1427 zu dessen Sturz führte, nachdem sich,
von der neuen Freiheitsbewegung erfaßt, unter seinen Anhängern
eine Opposition von Häuptlingen und Bauern gegen seinen Herrschaftsanspruch
gebildet und alle hochfliegenden Pläne zunichte gemacht hatte.
Die Landesgemeinden formierten sich neu und bildeten
in Ostfriesland 1430 einen Freiheitsbund unter Führung der Cirksena.
Mit Hilfe der Stadt Hamburg gelang es ihnen, zunächst die letzten
Gegner auszuschalten, sodann sie zu versöhnen und zuletzt im Einvernehmen
mit den Landesgemeinden auf der Basis des friesischen Rechts eine neue
Landesherrschaft in Ostfriesland zu bilden, die Ulrich Cirksena
1464 durch Kaiser Friedrich III. zur
Reichsgrafschaft erheben und so zusätzlich legitimieren ließ.
Westlich der Lauwers traten die Herzöge von Burgund
in die Ansprüche der Grafen von Holland ein. Aber sowohl Philipp
der Gute, der 1447 und 1448 offenbar vergeblich über den
Erwerb einer Königskrone von Friesland mit Friedrich
III. verhandelte, als auch sein Sohn
Karl der Kühne, der - nach Verhandlungen von 1469 - den
Friesen 1470 den Krieg erklärte und sich 1474 mit dem Grafen von Oldenburg
zwecks Eroberung Frieslands verband, wurden durch auswärtige Angelegenheiten
und wirtschaftl. Rücksichten an der Verwirklichung ihrer Eroberungspläne
gehindert. Die Friesen wandten sich, als mit dem Tode Karls
des Kühnen (1477) die Gefahr einer burgundischen Invasion
gebannt war, wieder ihren internen Streitigkeiten zu. In dieser Lage kümmerten
sich besonders die Städte um die Friedenswahrung. Im Falle von Groningen
wurde das Verhältnis zwischen Stadt und Ommelanden in verschiedenen
Verträgen geregelt. Im Friesland westlich der Lauwers beendete die
sogenannte »sächsische Periode« (Erbstatthalterschaft
Herzog Albrechts des Beherzten von Sachsen seit 1498) die Friesische
Freiheit. Erst die Habsburger vermochten
schließlich im 16. Jh. mit Gewalt die Friesen westlich der Ems definitiv
zu unterwerfen, denen gegenüber die junge ostfries. Grafschaft ihre
endgültige Gestalt gewann.
H. van H. van Lengen
Quelle: Lexikon des Mittelalters, CD-ROM-Ausgabe.
Verlag J. B. Metzler 2000. LexMA 4, 973-974