Das Totengedenken der Billunger
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1. Voraussetzungen und Fragestellungen
a) Die Billunger in der Forschungsdiskussion
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Über 5 Generationen vererbte im 10. und 11. Jahrhundert
das Adelsgeschlecht, das allgemein BILLUNGER genannt
wird, die sächsische Herzogswürde innerhalb der Familie, ehe
es 1106 im Mannesstamm ausstarb. Kein anderes Herzogsgeschlecht
dieser Zeit erreichte eine solche Kontinuität im Amt, und es ist daher
nicht verwunderlich, dass sich die Forschung schon sehr früh mit dem
Phänomen der billungischen Herrschaft
in Sachsen beschäftigte. Die Berliner Dissertation Ernst Steindorffs
'De ducatu, qui Billingorum dicitur, in Saxoniae origine et progressu'
erbrachte im Jahre 1863 bereits wesentliche Erkenntnisse über die
Entstehung und Entwicklung der billungischen
potestas und das Wesen ihres Dukats. Dieser Problemkreis wurde in der Folgezeit
vor allem durch die Arbeiten von Gerd Tellenbach, Albert K. Hömberg
und Karl Jordan weiter erforscht und, trotz einiger Differenzen in Detailfragen,
weitgehend einer Klärung zugeführt. Zusammenfassend hat Karl
Jordan die Wandlung der billungischen Herrschaftsstellung
von der Vertretung des Königs gegenüber dem Stamm bis zur Repräsentation
des Stammes gegenüber dem Königtum dargestellt und dabei auf
die wachsende Diskrepanz zwischen den Zielen des sächsischen Adels
und denen des Königtums hingewiesen.
Zu diesen Arbeiten traten in den Jahren nach dem zweiten
Weltkrieg eine Reihe von Dissertationen, die das Geschlecht der BILLUNGER
unter anderen Aspekten behandelten. Hans-Joachim Freytag beschäftigte
sich mit den Problemen des billungischen Besitzes,
mit den Ämtern, Gütern und Lehen der BILLUNGER, die diese
neben der Herzogswürde besaßen. Ruth Bork untersuchte das Herzogsgeschlecht
vor allem unter personengeschichtlichen Fragestellungen und stellte die
Quellenbelege zu sämtlichen bekannten Mitgliedern der billungischen
Sippe
zusammen. Die Arbeit von Ingrid Pellens dagegen hat ihren Schwerpunkt in
der Untersuchung der billungischen
Slawenpolitik.
Neben diesen sich speziell auf die BILLUNGER
konzentrierenden Arbeiten
sind in jüngster Zeit eine Reihe von Untersuchungen erschienen, die
neue Erkenntnisse auch zur Geschichte der
BILLUNGER erwarten ließen,
da sie die Geschichte Sachsen während der Zeit des ottonischen
und
salischen
Königtums behandeln. Man muß jedoch feststellen, dass die BILLUNGER
in dieser Diskussion - wenn überhaupt - nur am Rande erwähnt
werden. Die BILLUNGER-Forschung scheint über den Stand der
50er und frühen 60-er Jahre nicht hinausgekommen, in bestimmter Hinsicht
sogar hinter ihn zurückgefallen
zu sein, da die Ergebnisse der nur
maschinenschriftlichen Dissertation von Ruth Bork nicht genügend zur
Kenntnis genommen wurden.
Besonders intensiv und aspektreich wird bis in die letzten
Jahre das Verhältnis des sächsischen Stammes zum ottonischen
und
salischen
Königtum diskutiert. Während man seit langem das sich bis zum
Ausbruch der Sachsenkriege gegen HEINRICH IV.
geradezu kontinuierlich verschlechternde Verhältnis des sächsischen
Adels zu den SALIERN erkannt hatte,
und sich auch die oppositionelle Haltung bestimmter sächsischer Adelsgruppen
gegen HEINRICH II., und namentlich
gegen dessen Ostpolitik, durchaus im Blickfeld der Forschung befand, ist
man erst neuerdings darauf aufmerksam geworden, in welch großer Anzahl
Belege über Opposition, Obstruktion und Rebellion auch für das
10. Jahrhundert vorliegen. Bekannt waren zwar die Aufstände von Mitgliedern
des ottonischen Königshauses,
so die Herzog Heinrichs I. von Bayern,
Liudolfs
von Schwaben und Herzog Heinrichs des
Zänkers, die alle unter sächsischer Beteiligung vonstatten
gingen, ja geradezu in Sachsen ihr Zentrum hatten, dagegen war weniger
präsent, dass man in Sachsen etwa im Jahre 972 eine Rebellion gegen
OTTO
DEN GROSSEN und Gleiches im Jahre 1001 gegen seinen Enkel OTTO
III. plante. Trotz der einleuchtenden Hypothese, dass die geplanten
Aktionen als sächsische Opposition gegen das ottonische
Engagement in Italien zu interpretieren seien, ist kaum zu übersehen,
dass Ursachen, Hintergründe und vor allem die hinter diesen Plänen
stehenden Personengruppen weitgehend unbekannt sind.
Dem entspricht eine durchaus unterschiedliche Bewertung
der billungischen
Beteiligung an derartigen gegen das Königtum gerichteten Aktivitäten.
Einerseits gehören
Wichmann der Ältere sowie seine mutmaßlichen
Söhne
Wichmann der Jüngere und Egbert der Einäugige,
vor allem dank der breiten und anteilnehmenden Berichte Widukinds von Corvey
sozusagen zu den klassischen Rebellen der
OTTONEN-Zeit.
Ähnliches gilt im 11. Jahrhundert für den BILLUNGER Thietmar,
der vor allem durch seine Opposition gegen HEINRICH
II. und durch den auf HEINRICH III.
geplanten Mordanschlag bekannt wurde. Von den im gleichen Zeitraum amtierenden
billungischen
Herzögen
Hermann (936-973), Bernhard I. (973-1011)
und Bernhard II. (1011-1059) gelten jedoch vor allem die beiden
ersten als unumstritten königstreu, und dies trotz eindeutig gegenteiliger
Quellenaussagen.
So wurde die Nachricht Thietmars von Merseburg, dass
Hermann
Billung im Jahre 972 von Erzbischof Adalbert von Magdeburg in
Magdeburg königsgleich empfangen, in der Forschung bagatellisiert,
obwohl die Zeitgenossen auf diesen Empfang durchaus anders reagiert hatten:
Heinrich von Stade und mit ihm eine große Schar milites nahmen den
Vorgang so ernst, dass Heinrich zur Benachrichtigung
OTTOS
DES GROSSEN nach Italien aufbrach und der Kaiser daraufhin den
Erzbischof bestrafte. Auch wird in der Forschung kaum zureichend gewürdigt,
dass Bernhard I. im Jahre 1002 die Thronkandidatur Ekkehards von
Meißen, seines Verwandten, unterstützte; überdies berichtet
Adalbold von Utrecht in der Vita Heinrichs II., Bernhard sei einer
der potentiellen Kandidaten für das Königsamt gewesen und nur
seine Klugheit habe ihn dazu bewogen, auf eine Kandidatur zu verzichten.
Und schließlich blieb der Aufstand, zu dem Herzog Bernhard II.
im Jahre 1020 "ganz Sachsen" bewog, nach dem Urteil der Forschung Episode.
Dies wohl in erster Linie deshalb, weil eine zureichende Klärung der
politischen Ziele des BILLUNGERS
nicht gelang. Angesichts dieser
Beobachtungen kann es kaum als zufällig angesehen werden, dass zwar
Hermann
Billung von OTTO DEM GROSSEN mehrfach
mit der procuratio Saxoniae beauftragt wurde, dass Hermanns Nachfolger
einen ähnlichen Auftrag jedoch nicht mehr erhielten. OTTO
III. vertraute diese Aufgabe seiner Tante Mathilde,
der Äbtissin von Quedlinburg an; HEINRICH
II. übertrug sie dem Erzbischof Walthard von Magdeburg
und später seiner Gemahlin
Kunigunde.
Wie die Forschungsdiskussion um das Verhältnis von
König und Stamm in Sachsen zeigt auch die über die ottonische
Ostpolitik,
dass die Beurteilung der BILLUNGER in der Forschung durchaus noch
Anlaß zu Fragen gibt. Angesichts ihrer herzoglichen Stellung und
ihrer militärischen Kommandogewalt bei den kriegerischen Aktionen
gegen die ostelbischen Slawen ist es überraschend, dass die BILLUNGER
in der Diskussion um die Ostpolitik so gut wie keine Rolle spielen.
Ein Anteil des Herzogsgeschlechts an der Gründung und am Ausbau des
Erzbistums Magdeburg und seiner Suffraganbistümer in der Zeit OTTOS
DES GROSSEN ist in der Literatur ebensowenig erkennbar, wie
der an der Ostpolitik OTTOS III., die
in dessen Zug nach Gnesen im Jahre 1000 einen demonstrativen Höhepunkt
hatte. Die bisher herangezogenen Quellen erwähnen offensichtlich den
Anteil der BILLUNGER an den sie unmittelbar berührenden politischen
Vorgängen nicht. So ist es daher nicht nur für die Beurteilung
des schon zitierten Empfangs von Hermann Billung in Magdeburg wichtig,
wenn neuerdings nachgewiesen werden konnte, dass mit Erzbischof Adalbert
ein Verwandter der BILLUNGER als erster den Magdeburger Erzstuhl
bestieg.
Auch in den Polenkriegen HEINRICHS
II., die nicht zuletzt durch den radikalen Bruch HEINRICHS
mit der ostpolitischen Konzeption seines Vorgängers ausgelöst
wurden, ist die Rolle der BILLUNGER nicht bestimmt. Die Quellen
scheinen sie nicht zu berücksichtigen, obwohl die Teilnahme an den
militärischen Aktionen eine selbstverständliche Aufgabe des Herzogs
gewesen sein muß. BILLUNGER werden jedoch auch nicht genannt,
wenn es darum geht, die sächsischen Adelskreise namhaft zu machen,
die gegen die neue Ostpolitik HEINRICHS II.
Obstruktion betrieben.
Eher im Blickfeld der Forschung lagen dagegen die Beziehungen
der BILLUNGER zur Reichskirche. Einerseits ist bekannt, dass zwei
Verwandte der BILLUNGER, Amelung und
Brun, den Verdener Bischofssitz
innehatten. Das Bistum in der Nähe des billungischenHerrschaftszentrums
in Lüneburg lag also zumindest zeitweise im Einflußbereich der
BILLUNGER.
Sie übten auch die Vogteigewalt über das Bistum aus. Andererseits
sind mit mehreren Bistümern heftige Auseinandersetzungen überliefert.
Bei Adam von Bremen erscheinen die BILLUNGER geradezu als die schlimmsten
Bedrücker der Bremer Kirche. Auch aus dem Bistum Paderborn werden
für die Regierungszeit Bischof Meinwerks angeblich illegale Aktionen
der BILLUNGER gegen kirchliche Einrichtungen des Bistums gemeldet.
Nach dem Urteil der Forschung sind diese Auseinandersetzungen bedingt durch
die Hinwendung der BILLUNGER zu ihren partikularen Interessen, die
sie in Konflikt mit der Reichskirche brachten. Die Vertreter der Reichskirche
aber, so die herrschende Meinung, wurden gestützt von den Herrschern,
namentlich von HEINRICH II., die auf
diese Weise ein Gegengewicht gegen die laikalen Gewalten aufbauten.
b) Probleme und neue Fragen
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Bei der Durchsicht der Forschung, die ausschließlich
auf seit langem bekannten und immer wieder herangezogenen Quellenstellen
basiert, zeigt sich ein zentrales Problem: Die Erwähnungen der BILLUNGER
in den Quellen sind sehr verstreut und vereinzelt. Nirgendwo fand die billungische
Familie das zentrale Interesse der Autoren erzählender Quellen. Zudem
vertreten diese alle, wenn auch in unterschiedlicher Hinsicht, einen parteilichen
Standpunkt. Derartige Beobachtungen gelten nicht nur für die BILLUNGER.
Auch andere mittelalterliche Adelsgeschlechter lassen sich mit Hilfe der
urkundlichen und erzählenden Quellen allein kaum differenziert erforschen.
Während die 'objektiven Substrate' der Herrschaftsbildung, Ämter,
Besitzzentren, Burgen und Familienklöster in vielen Fällen bekannt
sind, bleibt die 'personale Struktur' der Herrschaftsbildung weitgehend
im Dunkeln. In keinem Fall ist es bisher gelungen, einen adeligen Herrschaftsverband
hinsichtlich des zugehörigen Personenkreises exakt zu beschreiben.
Genauso gering ist auch die Kenntnis seiner Organisationsformen und Befehlsstrukturen.
Gerade diese Kenntnisse könnten jedoch das Verständnis für
die Grundlagen des 'Aufstiegs' adeliger Familien entscheidend fordern.
Den Fragen scheint jedoch das Schweigen der Quellen entgegenzustehen.
Eine neue Beschäftigung verspricht daher nur Erfolg,
wenn es gelingt, die bestehende Quellenbasis zu verbreitern. Da kaum damit
zu rechnen ist, dass noch neue Quellen zur Geschichte der BILLUNGER
entdeckt werden, gilt es, bereits bekannte, aber noch nicht genutzte Überlieferungen
in die Überlegungen einzubeziehen. Hierzu bieten sich die Memorialzeugnisse
an, die im Einflußbereich der billungischen
Familie entstanden sind.
Es wurde schon eingangs darauf hingewiesen, welch bedeutende
Rolle den Familienklöstern als Integrationsfaktoren in der mittelalterlichen
Adelsgesellschaft zukam. Für die billungische
Sippe ist hier in erster Linie das Michaelskloster in Lüneburg zu
nennen, das in besonderer Weise geeignet war, diese Funktion zu erfüllen,
bildete es doch zusammen mit der Burg das unmittelbare Herrschaftszentrum
der BILLUNGER. Als Familiengrablege war es zudem prädestiniert,
zum Zentrum der Pflege des Gedenkens an die Verstorbenen zu werden. Wie
stark die billungische
Tradition im Kloster St. Michael verankert war, zeigt sich noch in dem
im 13. Jahrhundert entstandenen Chronicon St. Michaelis, das das Andenken
der Gründerfamilie in der Art seiner Stifterchronik festhielt, obgleich
diese Familie bereits vor mehr als einem Jahrhundert im Mannesstamm ausgestorben
war. Ein Necrolog aus diesem Kloster ist zwar bisher schon als Fundgrube
für die Todestage von Angehörigen der billungischen
Familie benutzt worden, als Quelle zur Erforschung der Einflußsphäre
und des Beziehungsfeldes der BILLUNGER wurde es jedoch noch nicht
herangezogen.
Dabei bietet das Necrolog, das die Todesnachrichten von
rund 1.500 Personen enthält, die bis zum 1. Viertel des 13. Jahrhunderts
verstarben, einen ausgezeichneten Einblick in das soziale Beziehungsfeld
der BILLUNGER, wenn die Annahme richtig ist, dass seitens der Herzogsfamilie
fortdauernd dafür Sorge getragen wurde, dass der Lüneburger Konvent
in der Liturgie ihre Gebetsverpflichtungen erfüllte. In diesem Fall
ermöglicht das Necrolog von St. Michael den Blick auf die in der Einleitung
angesprochenen debitores der billungischen
Sippe. Es zeigt mit anderen Worten den Personenkreis, der entweder dem
Personenverband, den wir BILLUNGER nennen, angehörte oder der
ihn aus bestimmten Gründen unterstützte. Eben die gleichen Personen
sind es aber gewesen, die die politische Wirksamkeit der BILLUNGER
garantieren: sie bildeten die personale Basis der billungischen
Herrschaft.
Auch die Beurteilung eines anderen, aber mit dem skizzierten
in Zusammenhang stehenden Fragekomplexes läßt der durch das
Necrolog zur Verfügung gestellte Personenkreis zu: die inhaltliche
Füllung des Begriffes
'BILLUNGER' und die Untersuchung der
historischen Veränderungen, der die so bezeichnete Personengruppe
unterworfen war. Gerade in den zu behandelnden Zeitraum des 10. und 11.
Jahrhunderts fällt ja der Prozeß der Umstrukturierung der frühmittelalterlichen
Adelssippen, charakterisiert durch die offene Struktur der Verwandtengruppe,
zu den hochmittelalterlichen Adelsgeschlechtern mit ihrer engen Bezogenheit
auf die Agnaten. Es ist zu fragen, ob sich nicht im Personenkreis der Memorialüberlieferung
dieser Prozeß spiegelt und ob nicht Zusammenhalt, Organisationsformen
und Selbstverständnis der Personengruppen, die wir unterschiedlos
die BILLUNGER nennen, durchaus unterschiedlich waren. Es geht mit
anderen Worten auch um die Frage, was eigentlich unter der mit dem Namen
'BILLUNGER'
bezeichneten Verwandtengruppe zu verstehen ist.
In der Forschung spricht man wie selbstverständlich
von den verschiedenen 'Zweigen' der BILLUNGER, vom Hermann-
und vom Wichmann-Zweig, und
betont, dass sie sich einander feindlich gegenübergestanden hätten.
Man zitiert dazu vor allem die Berichte Widukinds von Corvey über
die Auseinandersetzungen Hermann Billungs mit den Nachkommen seines
Bruders Wichmann, oder ruft die Beteiligung Egberts des Einäugigen
an
den Aufständen Heinrichs des Zänkers in Erinnerung und bemerkt
dazu, dass ein Verwandter, Herzog Bernhard I., zur gleichen Zeit
einer der Hauptvertreter der königlichen Partei gewesen sei. Gleichzeitig
ist jedoch zu konstatieren, dass Egbert und Bernhard gemeinsam
aktiv wurden, wenn es sich um Belange der Sippe handelte, oder dass Bernhard
II.
nach der Ermordung Wichmanns III. im Jahre 1016 die Vormundschaft
über dessen Nachkommen übernahm. Dies deutet darauf hin, dass
das Zusammengehörigkeitsbewußtsein der Sippe durchaus nicht
zerstört war.
Während durch die Beispiele auf der einen Seite
deutlich wird, dass man unter den BILLUNGERN die agnatischen Nachfahren
Wichmanns
des Älteren und Hermann Billungs versteht - wobei nur die
letzteren über einen längeren Zeitraum bekannt sind und das Herzogsgeschlecht
bildeten, die ersteren dagegen schon mit
Wichmann III. aus der Geschichte
verschwanden -, besteht andererseits offensichtlich wenig Kenntnis über
die Veränderung der inneren Struktur dieser Verwandtengruppe. Es gab
in ihr zweifellos heftigste Spannungen, jedoch ist mehr als zweifelhaft,
ob die Vorstellung von zwei sich feindlich gegenüberstehenden Zweigen
eines agnatischen Verbandes der Wirklichkeit angemessen ist. Und unzweifelhaft
ist auch, dass die agnatischen Verwandten allein nicht ausreichen, um den
Personenverband der 'BILLUNGER' in seiner politischen Wirksamkeit
zu erkennen. Es ist vielmehr zu fragen, in welche größeren verwandtschaftlichen
Zusammenhänge er eingebettet war, und inwieweit die Stellung und Macht
der 'BILLUNGER' durch ihre weiteren Verbindungen beeinflußt
wurde.
Die 'BILLUNGER' traten offensichtlich erst zu
einem Zeitpunkt in die Geschichte ein, als die Akkumulation ihrer Machtpositionen
bereits ein erhebliches Ausmaß angenommen hatte. Von den drei Brüdern
Hermann,
Wichmann
und Amelung, den ersten bekannten
'BILLUNGERN', wurde Hermann
im Jahre 936 von OTTO DEM GROSSEN als
princeps militae eingesetzt. Wichmann
soll eine Schwester der Königin
Mathilde geheiratet haben. Damit knüpften die BILLUNGER
nach der Meinung der Forschung verwandtschaftliche Beziehungen zum Königtum
und zu den 'Nachfahren Widukinds', dem höchsten sächsischen Adel
also. Die Reaktion Wichmanns auf die Ernennung seines Bruders Hermann
zum princeps militiae - Wichmann zog sich verärgert aus dem
Heere OTTOS DES GROSSEN zurück
und schloß sich einige Zeit später dem Aufstand Eberhards von
Frankem an -, zeigt, dass die BILLUNGER bereits 936 Ansprüche
auf hohe Führungsstellen zu haben glaubten. Überdies wurde der
3. Bruder, Amelung, im Jahre 933 zum Bischof von Verden erhoben.
Damit erhielten die BILLUNGER
den Bischofssitz in der unmittelbaren
Nähe ihres Herrschaftszentrums besetzt, und dies nicht nur einmal:
auch der Nachfolger Amelungs,
Bischof Brun, war nachweislich
ein Verwandter der BILLUNGER. Die Konzentration billungischer
Macht im Raum Verden/Lüneburg war also schon zu Beginn der Regierungszeit
OTTOS
DES GROSSEN weit fortgeschritten. Dennoch ist es in der Forschung
trotz vielfacher Bemühungen nicht gelungen, den Vater der drei Brüder
namhaft zu machen. Erst im 13. Jahrhundert wird im Chronicon St. Michaelis
der Name genannt: Er soll Billing
geheißen haben . Die Nachricht
ist auf Skepsis gestoßen, da der Name später in der Familie
der BILLUNGER nicht mehr belegt ist und außerdem dieser Billing
in zeitgenössischen Quellen nicht nachgewiesen werden kann. Wir stehen
also vor der merkwürdigen Tatsache, dass trotz der hervorragenden
Stellung der drei Brüder von ihren Vorfahren in der Überlieferung
keine Notiz genommen wurde. Zumindest lassen sie sich als solche dort bisher
nicht erkennen.
In den ersten Jahrzehnten des 10. Jahrhunderts ist also
bisher der 'Beginn' der billungischen Geschichte
angesetzt worden. Diese Zeit markiert den 'Anfang' des Geschlechts nicht
im biologischen sondern im historischen Sinne. Mit Hilfe der Memorialüberlieferung
wird daher zu prüfen sein, welche Personen aus dieser und gegebenenfalls
aus früherer Zeit im Gedenken der billungischen
Familie bewahrt wurden. Da der Beginn des Formierungsprozesses einer Adelsfamilie
durchaus auch die Sorge um das Gedenken der Verstorbenen mit sich brachte,
bietet also die Memorialüberlieferung die Möglichkeit, die Frage
nach den Anfängen der BILLUNGER neu zu stellen. Es geht dabei
weniger um die Suche nach dem Vater der drei genannten Brüder Wichmann,
Hermann
und
Amelung
als
um die Frage, ob sich im Gedenken der bisher unbekannte Kreis der
BILLUNGER-Verwandten
feststellen läßt und welchem Maße die ältesten Personen
in diesem Gedenken Aussagen über die Frühgeschichte der BILLUNGER
zulassen.
Scheint schon die Erhellung der Frühgeschichte der
BILLUNGER
die Fixierung auf die Agnaten eher erkenntnishemmend zu sein, so kann auch
die Untersuchung der billungischenGeschichte
des späteren 10. und 11. Jahrhunderts nur profitieren, wenn das Interesse
außer auf die Agnaten auch auf das sonstige soziale Umfeld des Herzogsgeschlechts
gerichtet wird. So ist beispielsweise bekannt, dass die BILLUNGER
sich durch Heiraten mit den Stader Grafen, den EKKEHARDINERN, sowie der
Sippe des Markgrafen Gero verbanden, um nur die wichtigsten sächsischen
Adelssippen zu nennen. Ebenso knüpften sie durch ihre Versippung mit
den Markgrafen von Schweinfurt und den Grafen von Flandern Verbindungen,
die über Sachsen hinausweisen und das Verständnis von der Vornehmheit
des billungischen Geblüts deutlich
werden lassen. In späterer Zeit heirateten die
BILLUNGER-Herzöge
sogar mehrfach ausländische Königstöchter, was das Selbstverständnis
des Herzogsgeschlechts weiter charakterisiert. All diese Verbindungen gilt
es in ihrer politischen Dimension zu erkennen, will man das Phänomen
der billungischenHerrschaft
besser verstehen. Der Niederschlag dieser Verbindungen in der Memorialüberlieferung
verspricht hierzu weiteres Anschauungsmaterial.
Nun sind diese Eheschließungen als Fakten seit
langem bekannt. Was jedoch fehlt, ist eine Untersuchung ihrer historischen
Konsequenzen. Hierzu nur einige Beispiele: Es ist etwa aus den 70-er Jahren
des 10. Jahrhunderts die Rivalität zwischen Heinrich von Stade und
Hermann
Billung überliefert. Zu einer unbekannten Zeit, jedoch wohl nicht
allzu viel später, heiratet Bernhard, der Nachfolger
Hermanns
im Herzogtum, Hildegard, die Tochter Heinrichs von Stade. An diesem
Beispiel wird also der 'friedens- und bündnisstiftende' Charakter
der Eheschließung im Mittelalter besonders evident. Er zeigt sich
in ähnlicher Weise auch darin, dass der Herzog Bernhard I.
im Jahre 1002 den Markgrafen Ekkehard von Meißen bei seiner Thronkandidatur
unterstützte - Ekkehard war mit Bernhards
Schwester
Swanhild
verheiratet.
Diese kurzen Hinweise mögen genügen, um anzudeuten,
dass die politische Wirksamkeit der BILLUNGER nicht allein von den
Agnaten aus beurteilt werden kann. Diese standen vielmehr in einem verzweigten
Beziehungsgefüge, in dem die Verwandten einen nicht unbedeutenden
Platz einnahmen. Die bisherige Forschung konnte den durch die Heiraten
gegebenen Spuren deshalb nicht nachgehen, weil in der benutzten Überlieferung
nur wenige Hinweise auf die konkreten Auswirkungen der politischen Eheschließungen
zu finden waren. Die Gedenkquellen bieten aber die Möglichkeit zu
überprüfen, wie eng und wie dauerhaft die eingegangenen Verbindungen
mit anderen Adelsfamilien waren. Die Zahl der Verwandten, für deren
memoria man sorgte, läßt exakte Rückschlüsse auf den
Bestand der geschlossenen Verbindungen zu. Aus der Summe der Beobachtungen
ergibt sich ein Bild von den Personenkreisen, auf deren Unterstützung
die BILLUNGER
rechnen konnten.
Die Möglichkeit differenzierter Beurteilung der
billungischen
Kontakt- und Einflußsphäre bieten die Memorialzeugnisse jedoch
nicht nur im Falle der Verwandten. Gerade für die Einschätzung
der billungischen Politik im 11. Jahrhundert
ist es höchst wichtig zu prüfen, ob die bisherige Einschätzung
des billungischen Verhältnisses
zu Königtum und Reichskirche durch die Befunde der Necrologuntersuchung
bestätigt wird. Auf diesem Feld hat die Forschung die Frontstellung
der BILLUNGER gegen das Königtum und die mit diesem verbundene
Reichskirche pointiert herausgearbeitet. Im Hinblick auf die BILLUNGER
fragt
es sich, ob die schon erwähnten Auseinandersetzungen mit der Hamburg/Bremener
und Paderborner Kirche, die dieses Bild entscheidend prägten, tatsächlich
charakteristisch für das Verhalten der BILLUNGER zum Reichsepiskopat
sind. Immerhin ist darauf zu verweisen, dass eine ganze Reihe von Reichsbischöfen
der OTTONEN- und SALIER-Zeit
nachweislich dem Verwandtenkreis der BILLUNGER zuzurechnen sind.
Es ist zu vermuten, dass bei weiteren diese verwandtschaftliche Verbindung
nicht überliefert ist. Dies muß nachdenklich stimmen, denn es
konnte am Beispiel Thietmars von Merseburg erst in letzter Zeit eindrucksvoll
gezeigt werden, wie bestimmend die adelige Herkunft für das Denken
und Handeln eines sächsischen Bischofs in dieser Zeit gewesen ist.
Ottonische
und salische Reichsbischöfe waren
sich der Verpflichtungen, die ihnen ihre adelige Herkunft auferlegte, zweifelsohne
auch nach ihrer Erhebung bewußt. Angesichts diser Beobachtungen deutet
vieles darauf hin, dass eine globale Beurteilung des Kräftedreiecks
Königtum, Adel und Reichskirche der Vielschichtigkeit des Verhältnisses
nicht gerecht wird. Die Analyse des Lüneburger Necrologs verspricht
reiches Anschauungsmaterial zu einer neuen Beurteilung, enthält es
doch die Einträge von nicht weniger als 96 Erzbischöfen und Bischöfen.
Die im folgenden vorgelegte Untersuchung besteht also
im wesentlichen darin, die Personeneinträge in billungischbeeinflußte
Memorialüberlieferung als das soziale Bezugsfeld der BILLUNGER
zu erweisen und auf dieser personengeschichtlichen Basis einerseits die
Ergebnisse der bisherigen
BILLUNGER-Forschung zu überprüfen,
andererseits aber zu klären, inwieweit sich aus dem neuen Material
Erkenntnisse über bisher ungeklärte Zeiträume oder Bereiche
der billungischen Geschichte gewinnen
lassen. Hierzu gehört auch eine genauere Einschätzung der Eigenart
des mittelalterlichen Personenverbandes, den wir BILLUNGER nennen,
ohne bisher zu berücksichtigen, dass mit dieser Bezeichnung gravierende
Veränderungen innerhalb der bezeichneten Personengruppe unberücksichtigt
bleiben. Die Tragfähigkeit des Frageansatzes hängt entscheidend
davon ab, inwieweit die herangezogenen Zeugnisse als 'billungische'Memorialüberlieferung
gesichert werden können. Diese Basis der Untersuchung steht daher
im Zentrum der folgenden Überlegungen.
2. Das Michaels-Kloster in Lüneburg und die dortige Memorialüberlieferung
a) Die Klostergründung und das Verhältnis zu
den Billungern
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Das Michaelskloster wurde als adeliges Eigenkloster am
Herrschaftsmittelpunkt einer Adelsfamilie gegründet. Gründungszeitpunkt
und Gründer stehen nicht zweifelsfrei fest, denn offensichtlich hatten
sich schon früh unterschiedliche Traditionen vom Gründungsvorgang
gebildet. Die Unsicherheit resultiert vermutlich daraus, dass die Gründung
kein einmaliger Akt war, sondern einen gestreckten Verlauf nahm. Als dessen
Elemente sind der Bau einer Kirche und der benötigten Konventsgebäude,
die Besiedlung mit Mönchen und die Bestellung eines Abtes anzusehen.
Die älteste sichere Nachricht von der Existenz eines
Klosters bietet eine Urkunde OTTOS DES GROSSEN
vom 13. August 956, mit der dem Michaelskloster auf Intervention Hermann
Billungs der Salzzoll in Lüneburg überlassen wurde. Das hatte
zur Folge, dass in der Forschung, wie schon in mittelalterlichen Quellen,
Hermann
Billung als Klostergründer angesehen wurde. Spätere Verdener
Lokalüberlieferung weiß außerdem von einer Beteiligung
des Bischofs Amelung von Verden, der bekanntlich Hermanns
Bruder
war, zu berichten. Als Gründungszeitraum wurde also die Zeit um 956
angenommen. Doch dem steht zweierlei entgegen: Einmal ist in anderen Quellen
Hermanns
Sohn Bernhard als Klostergründer genannt. Dies vielleicht deshalb,
weil er es war, der dem Kloster den 1. Abt gab. Darüber hinaus zeigen
mehrere späte Lokalnachrichten, wie komplex der Vorgang einer solchen
Klostergründung gewesen sein muß. Die Nachrichten schreiben
nämlich bereits dem Bischof Wigbert von Verden zum Jahre 906 die Errichtung
einer Kapelle oder eines Klosters in Lüneburg zu und sprechen in diesem
Zusammenhang sogar von einer Beteiligung Herzog Ottos des Erlauchten. Wir
werden auf diese Nachrichten im Zusammenhang noch eingehender zu sprechen
kommen. Es scheint auf Grund der widersprüchlichen Nachrichten so,
als habe
Hermann Billung
bereits bestehende kirchliche Einrichtungen
benutzt, als er Mönche in St. Michael ansiedelte, während
Bernhard
I. es gewesen sein könnte, der die Gründung durch die Bestellung
des ersten Abtes vollendete. Angesichts der Befunde der Memorialüberlieferung
ist jedoch nicht zu raten, die Vorstellung über die ersten 'Äbte'
des Michaelsklosters allzu sehr nach der Benediktsregel auszurichten, denn
sowohl der 2. Lüneburger Abt Brun (A 64) als auch der 3., Gerdag (A
43), begegnen in den anderen Gedenkzeugnissen nicht als abbas, sondern
unter anderen Bezeichnungen: der eine als conversus, der andere als monachus.
Damit ist wohl genügend über die zeitgenössischen Einschätzung
der ersten Leiter der Lüneburger Mönchsgemeinschaft gesagt, die
wohl nur über sehr wenige Mönche geboten.
Für die Beurteilung des Verhältnisses der BILLUNGER
zu ihrer Klostergründung ist neben der Ansiedlung der Mönche
am Herrschaftsmittelpunkt der Familie vor allem wichtig, dass die Neugründung
zur Grablege der Familie Hermann Billungs wurde. Ferner scheint
sicher, dass die BILLUNGER die Vogteigewalt über das Kloster
innehatten, obwohl es dafür keinen konkreten Beleg gibt. Insgesamt
entzieht sich die Frühgeschichte der geistlichen Gemeinschaft von
St. Michael weitgehend der Erforschung. Keiner der Äbte wird durch
die Quellen profiliert und insgesamt blieben nur wenige Zeugnisse erhalten.
Trotzdem zeigt eine der wenigen erhaltenen Urkunden recht
plastisch, welche Aufgaben die BILLUNGER dem Konvent von St. Michael
vor allem zugedacht hatten. Auf Grund ihrer exemplarischen Bedeutung sei
die Urkunde im Wortlaut wiedergegeben: Notum sit omnibus in Lüneburg
civitate Deo sanctoque Michaeli fammulantibus, qualiter egregius ac venerabilis
dux Bernardus, ejusque dilecta domina Hildegart, pro se siuisque filiis
et suorum amicorum salute quoddam predium inibi tradiderunt Mulbizi vocatum
in ea denique verba: ut ex hoc predio in anniversariis Herimanni,
filii sui, matrisque ejus Hildegarde, et senioris Dedi et Thiammen et Theswide,
ejus matertere filie, C et XX agapes fecient pauperibus, ita vero ut unicuique
detur dimidius panis cum pleno beccario et uns carne, si carnem liceat
tunc edere et si non liceat, dentur pisces vel llegumina; fratribus vero
in ipsis diebus tale detur obsonium cum piscibus et pane atque medone,
ut in festis diebus.
120 Arme hatte also der Konvent von St. Michael an den
Todestagen der genannten Angehörigen und Verwandten der billungischen
Familie
zu verköstigen. Die Mönche erhielten außerdem Speise und
Met wie an den Festtagen. Zu diesen Bestimmungen paßt, dass noch
im 13. Jahrhundert bei der Neuanlage des Lüneburger Necrologs viele
Angehörige der billungischenFamilie
eine Kennzeichnung erhielten, die besagt, dass ihnen das gleiche Totengedenken
zustehe wie den Äbten von St. Michael, also wohl ein sehr aufwendiges
und feierliches. Mit den Aussagen der Urkunde stimmt auch zusammen, dass
derselbe Herzog Bernhard I. sich im Jahre 1005 beim Gebetsbund von
Dortmund verpflichten konnte, beim Tode jedes Mitglieds dieses Bundes 500
Arme speisen zu lassen - der Konvent von St. Michael besaß offensichtlich
die wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen für diese
Leistungen. Die den in den Gebetsbund eingeschlossenen 15 Bischöfen,
dem König und dem billungischen Herzog abverlangten Leistungen
sahen im einzelnen vor: in obitu cuiusque prenominatorum singuli episcoporum
infra XXX dies, nisi infirmitas impedierit, missam pro defuncto celebret,
et unusquisque presbiter im monasterio similiter faciat. Presbiteri vero
forenses tres missa peragant. Diaconi et ceteri inferioris ordinis psalteria
X. Rex et regina infra XXX dies MD denarios pro animae redemptione erogent
et totidem pauperes pascant. Episcopi singuli CCC pauperes pascant XXX
denarios expendant et triginta lumina accedant. Dux autem B. D pauperes
pascat et XV solidos expendet.
Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich praktisch
vorzustellen, welchen Stellenwert angesichts dieser Zeugnisse das im Auftrag
der billungischen Familie geleistete Totengedenken im Leben der Brüdergemeinde
von St. Michael gehabt haben muß. Nimmt man nur an, dass das Gedenken
für die Mitglieder, Verwandten und engsten Vertrauten der billungischen
Familie in ähnlicher Weise begangen wurde, wie es in den zitierten
Nachrichten ausgewiesen ist, ergibt sich für eine erheblich hohe Anzahl
von Tagen im Jahr die Verpflichtung des Konvents zur aufwendigen Armenspeisung,
aber auch als angenehme Begleiterscheinung der Genuß von Sonderzuwendungen.
Das Leben der Konventsmitglieder in Lüneburg wurde mit anderen Worten,
wenn sie ihre zugedachten Aufgaben ernst nahmen, in entscheidender Weise
durch die Memorialverpflichtung gegenüber der Stifterfamilie bestimmt.
Sie beeinflußte ihre liturgischen und sozialkaritativen Aufgaben,
aber auch die Regelungen hinsichtlich so elementarer Dinge wie Speise und
Trank. Und wenn man berücksichtigt, dass noch im 13. Jahrhundert die
BILLUNGER im Gedenken des Lüneburger Konvents den eigenen Äbten
gleichgestellt wurden, wird ersichtlich, welche Tradition der Gottesdienst
am Grab der Gründer hatte und wie reichhaltig die diesem Zweck vorbehaltene
materielle Ausstattung des Eigenklosters gewesen sein muß.
Die zitierte Urkunde Herzog Bernhards ist für
unsere Untersuchung aber auch deshalb von außerordentlicher Bedeutung,
weil durch sie nachgewiesen wird, dass die BILLUNGER aktiv für
das Gedenken ihrer verstorbenen Angehörigen und Freunde sorgten, indem
sie dem Konvent in einem Rechtsakt deren Namen mitteilten, die karitativen
Leistungen am Todestag bestimmten und nicht zuletzt die materielle Grundlage
dieser Leistungen durch ihre Schenkungen sicherstellten. Die Schenkung
erweist die Familie also als den Initiator und Stifter des Gedenkens, die
sich des Konvents bediente, um die liturgischen und karitativen Akte am
dies anniversarius vollziehen zu lassen. Es ist bezeichnend für die
Überlieferungslage, dass nur ein solcher Schenkungsakt erhalten geblieben
ist. Durch die Bestimmungen des Dortmunder Gebetsbundes wird er jedoch
in eindeutiger Weise ergänzt, wobei zwingend naheliegt anzunehmen,
dass Herzog Bernhard auch seine in Dortmund übernommenen Verpflichtungen
durch den Lüneburger Konvent ableisten ließ. Beide Quellen bieten
also sichere erste Anhaltspunkte für die Praxis der billungischen
Totensorge. Der in den Memorialquellen des Lüneburger Michaelskloster
enthaltene Personenkreis verspricht dagegen genauere Einsichten, welche
Personen in eben diese Sorge eingeschlossen waren. Die rechtlichen Bestimmungen
und die Konkretion in der Praxis der Memorialquellen ergänzen sich
wechselseitig. Sie lassen es als aussichtsreich erscheinen, die Intensität
und das Ausmaß des Gedenkens fassen zu können, das eine sächsische
Adelsfamilie im 10. und 11. Jahrhundert praktizierte.
b) Die Memorialquellen
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Der überragenden Bedeutung, die die Gründerfamilie
für den Konvent von St. Michael hatte, entspricht deren Berücksichtigung
in der Memorialüberlieferung. Zwar ist uns originale Überlieferung
aus der Zeit der Billunger nicht erhalten, doch wurde zu Beginn des 13.
Jahrhunderts vom Lüneburger Konvent die relevante Memorialtradition
in der Neuanlage eines Kapitelsbuches zusammengefaßt. Dabei schrieb
man ein älteres Necrolog ab, dazu ein Diptychon mit den Namen der
Angehörigen der billungischenFamilie
und denen der Äbte von St. Michael sowie eine Liste Verdener Bischöfe.
Die wichtigsten Herrschaftsträger des Lüneburger Raumes, die
Eigenklosterherren und die Diözesanbischöfe, standen also für
den Lüneburger Konvent neben den eigenen Äbten im Zentrum des
Totengedenkens. Die reichhaltigste und umfangreichste dieser Memorialquellen
stellt das Necrolog dar. Da das Kapitelsbuch mit den angesprochenen Memorialzeugnissen
im zweiten Weltkrieg in Hannover verbrannt ist, sind wir in der unangenehmen
Lage, uns auf zwei Editionen aus dem 18. und 19. Jahrhundert verlassen
zu müssen. Während Gebhardi sich auf eine Teiledition beschränkte,
die lediglich die Namen der Würdenträger bietet, legte Wedekind
eine vollständige und sehr sorgfältige Edition des Necrologs
als Kernstück seiner dreibändigen 'Noten zu einigen deutschen
Geschichtsschreibern' vor. Die Untersuchungen in den 3 Bänden sind
zu einem nicht geringen Teil als Kommentare zu den Necrologeinträgen
zu verstehen.
Sorgfältig scheint die Edition einmal deshalb zu
sein, weil sie das Produkt einer jahrzehntelangen Beschäftigung mit
der billungischen Geschichte ist. Zum
anderen zeugt die formale Gestaltung der Edition davon, dass sehr viel
Akribie verwendet wurde. Wedekind hat nämlich durch einen zweifarbigen
Druck die Stellen der Handschrift unterschieden, an denen der mittelalterliche
Schreiber rote bzw. schwarze Tinte benutzte. Er hat überdies durch
unterschiedliche Drucktypen die anlegende Hand und die Hände des 13.,
14. und 15. Jahrhunderts kenntlich gemacht und außerdem Zeichen,
die zu den Namen gesetzt wurden, wiedergegeben. Diese Editionsmerkmale
scheinen die Verwendung der Arbeit ohne größere Vorbehalte zu
gestatten, da wir bei unseren Untersuchungen durch etwaige Lesefehler nicht
entscheidend beeinträchtigt werden. Dass Namen in größerem
Ausmaß fehlen könnten, erscheint als ausgeschlossen, da bei
den Würdenträgern der Namensbestand beider Editionen fast deckungsgleich
ist und Gebhardi keinen Namen aufführt, der nicht auch bei Wedekind
zu finden ist.
Trotz des Verlustes der Handschrift wissen wir durch
Beschreibungen an verschiedenen Stellen recht gut über sie Bescheid.
Sie enthielt neben dem Necrolog unter anderem Usuards Martyrolog, die Regel
der hl. Benedikt, das schon erwähnte Diptychon der billungischenFamilie
und der Äbte von St. Michael, eine Liste der Verdener Bischöfe
und nicht zuletzt das Chronicon St. Michaelis. Damit gibt sie sich als
Kapitelsbuch zu erkennen, das die für den Konvent von St. Michael
wichtigen liturgischen Gebrauchstexte und die relevante Memorialtradition
zusammenfaßte und zusätzlich historiographische Teile enthielt,
deren Nähe zur 'Stiftermemoria' gerade in neuerer Zeit zunehmend schärfer
gesehen wird.
Wedekind setzte die Anlage des Necrologs in die Zeit
zwischen dem Ende des 12. und dem ersten Drittel des 13. Jahrhunderts.
Die Zuweisung ist wohl richtig, da die jüngsten Einträge der
anlegenden Hand in diese Zeit weisen und später verstorbene Personen
von anderen Händen nachgetragen wurden. Die Beobachtung, dass ein
Großteil der Namen bereits bei der Anlage in das Necrolog eingeschrieben
wurde, deutet darauf hin, dass ein älteres Necrolog in ein neu angelegtes
übertragen worden ist. Dieser Vorgang, der der Aktualisierung der
Gedenktradition diente, ist auch sonst häufig zu beobachten.
Zusätzlich zu seiner Necrologedition erstellte Wedekind
ein alphabetisches Personennamenregister, das hier angesprochen werden
muß, da sich in ihm die Ergebnisse der Identifizierungsarbeiten Wedekinds
niedergeschlagen haben. Dieses Register, das kein vollständiges Register
der Namen des Necrologs sein will, sondern nur diejenigen berücksichtigt,
zu denen der Herausgeber Anmerkungen zu machen hatte, ist aus mehreren
Gründen nur eingeschränkt zuverlässig. Zum einen bringt
Wedekind keine Quellen- und Literaturbelege für seine Identifizierungen.
Das allein wäre noch erträglich, wenn die Identifizierungsarbeit
nicht auf unzureichenden methodischen Prämissen beruhte. Wedekind
hat sich nämlich nicht darauf beschränkt, die Personen zu identifizieren,
deren Todestage auch aus anderen Quellen bekannt waren, sondern er hat
systematisch die erzählenden und urkundlichen Quellen, vor allem des
sächsischen Raumes, durchgearbeitet und auch dann Identifizierungshinweise
gegeben, wenn nur der gleiche Name und Titel in anderen Quellen bezeugt
war. Das Verfahren hat er vor allem bei Personen angewandt, die seltene
Namen trugen, und sich in diesen Fällen auch nicht immer darum gekümmert,
ob der Eintrag im Lüneburger Necrolog auch den Titel der von ihm vorgeschlagenen
Person auswies. Mit dieser Methode füllte er vor allem die Lücken
bei der Gruppe der Grafen, so dass gerade hier neben einer Reihe nicht
beweisbarer Behauptungen auch in gehäufter Zahl Fehler festzustellen
sind. Trotz dieser kritischen Bemerkungen muß betont werden, dass
die Arbeit Wedekinds für ihre Zeit überaus kenntnisreich ist
und wichtige Arbeitshilfen bietet.
Das Necrolog stellt angesichts seiner Namenfülle
- allein von der anlegenden Hand wurden über 1.500 Personen verzeichnet
- zweifelsohne das zentrale Zeugnis der Lüneburger Memorialüberlieferung
dar. Mehr noch als die Sukzessionslisten der Verdener Bischöfe und
der Lüneburger Äbte verdient in den auf die BILLUNGER
gerichteten Untersuchungen ferner die sogenannte Tabula Gentis Billingorum,
das Diptychon der billungischen Familie, Aufmerksamkeit, das daher zunächst
vorgestellt sei.
Die ursprüngliche Zusammenstellung, die der Abschrift
im Kapitelsbuch als Vorlage diente, wurde wohl zwischen 1071 und 1085 vorgenommen.
Sie ist deshalb so interessant, weil der ausgewählte Personenkreis
eine strikte Beschränkung auf die Herzogsfamilie erkennen läßt:
Soweit man die Personen identifizieren kann, sind nur die Herzöge
der BILLUNGER, sowie deren Frauen und Kinder genannt. Die Namen
waren in zwei Kolumnen aufgeschrieben, die rechts die weiblichen und links
die männlichen Mitglieder der Familie auswiesen. Die Personen lassen
sich wie folgt identifizieren:
1 Herimannus dux
Herzog Hermann
+ 973 (H 6)
2 Bernhardus dux
Herzog Bernhard I.
+ 1011 (H 4)
3 Bernhardus dux
Herzog Bernhard II.
+ 1059 (H 20)
4 Ordulfus dux
Herzog Ordulf
+ 1072 (H 7)
5 Magnus dux
Herzog Magnus
+ 1106 (H 29)
6 Liudigerus com
Sohn Herzog Hermanns + 1011 (G 18)
7 Tiatmarus com
Sohn Bernhards I.
+ 1048 (G 133)
8 Herimannus com ? Sohn
Bernhards I.
9 Herimannus com Sohn Bernhards
II. + 1086
(G 56)
Sind die Männernamen also, abgesehen von einer Unsicherheit,
bestimmten Personen zuzuordnen, so gelingt diese bei den Frauennamen nicht
in gleicher Vollständigkeit:
10 Ode comitissa
Gemahlin Herzog Hermanns (G 27)
11 Hildesuith comitissa
12 Hildegard comitissa Gemahlin Herzog
Bernhards I. + 1011
13 Godestithi abbatissa Tochter Bernhards
I. (A
54)
14 Hidde
15 Gisle
16 Aille comitissa
Gemahlin Herzog Bernhards II. (H 41)
17 Uulfhilt comitissa Gemahlin
Herzog Ordulfs (H
14)
18 Hildigart
19 Iudita
20 Sophia comitissa
Gemahlin Herog Magnus + 109 (H 18)
An der Kennzeichnung durch den Titel comitissa sind die
Gemahlinnen der BILLUNGER-Herzöge zu erkennen. Wenn kein Fehler
vorliegt, ist demnach 11 Hildesuith entweder die bisher unbekannte
zweite Gemahlin Hermann Billungs oder die ebenfalls bisher unbekannte
1. Gemahlin Herzog Bernhards I. Dass wir mit derartigen Lücken
unserer Kenntnis der BILLUNGER-Genealogie zu rechnen haben, zeigt
die Tatsache, dass auch 10 Ode, die Gemahlin Hermanns, nur
durch zwei Necrologien bezeugt ist. Die Frauennamen ohne den Titel comitissa
geben aller Wahrscheinlichkeit nach Töchter der Herzöge wieder.
Von diesen ist jedoch nur Godesta als Herforder Äbtissin und
Tochter Herzog Bernhards I. auch anderweitig in Quellen bezeugt,
die anderen sind nicht belegt. Es fällt bei der Untersuchung des Diptychon
jedoch nicht nur auf, dass es 4r Töchter der billungischenHerzöge
gegeben hat, die in sonstiger Überlieferung nicht begegnen, sondern
auch, dass mehrere der anderweitig sicher bezeugten Frauen und Töchter
der Herzöge in diesem Diptychon fehlen.
Damit stellt sich die Frage nach Entstehung und Konzeption
des Diptychons. Zwar berücksichtigt die Aufstellung, soweit erkennbar,
eindeutig die Chronologie, doch ist es nicht wahrscheinlich, dass die Einträge
ad hoc bei der Geburt, Hochzeit oder beim Tod der genannten Personen gemacht
wurden, vielmehr spricht alles dafür, dass das Diptychon erst in der
Zeit um 1070 zusammengestellt wurde und man keine schriftlichen Vorlagen
verwertete. Nur so kann man nämlich erklären, warum so viele
wichtige Personen aus dem engeren Herzogsgeschlecht fehlen. Wenn aber schriftliche
Vorlagen nicht vorhanden waren, wird ersichtlich, warum man kurz nach 1070
die BILLUNGER-Genealogie über immerhin 5 Generationen nicht
mehr vollständig rekonstruieren konnte. Man benutzte Quellen, aus
denen man nur eben den vorgestellten Personenkreis in Erfahrung brachte.
Es fragt sich, welche Art von Quelle dies gewesen sein kann. Bei der Untersuchung
des Diptychons fällt besonders ins Auge, dass die BILLUNGER-Töchter
vollständig ausgelassen worden sind, die in andere Familien einheirateten.
Überdies fehlt als einzige Gemahlin eines BILLUNGERS die zweite
Frau Ordulfs, die ihren Gemahl um mehr als 30 Jahre überlebte.
Überdies ist bemerkenswert, dass mehrere Namen erwähnt sind,
hinter denen sich höchstwahrscheinlich jung verstorbene Kinder der
Herzogsfamilie verbergen. Diese Angehörigen der billungischen
Familie sind also deshalb in anderen Quellen nicht bezeugt, weil sie schon
im Kindesalter verstarben. Damit stehen sich bei der Anlage des Diptychons
detaillierte Kenntnisse der billungischenFamilie
und scheinbare Unwissenheit schroff gegenüber.
Für all diese auffälligen Beobachtungen bietet
sich jedoch eine einleuchtende Erklärung, wenn man unterstellt, es
seien im Diptychon die Personen aufgeführt worden, die im Lüneburger
Michaelskloster ihr Grab gefunden hatten, deren Gräber man mit anderen
Worten vor Augen hatte. Diese Annahme erklärt auch, warum die Töchter
des letzten BILLUNGER-Herzogs Magnus,
Wulfhild
und
Eilika,
nicht in das Diptychon aufgenommen wurden. Auch sie heirateten bekanntlich
in andere Familien ein und wurden wohl nicht in Lüneburg begraben.
Da keine Person aufgeführt ist, die nachweislich
nicht in Lüneburg bestattet ist, dagegen aber alle, von denen man
weiß, dass sie dort ihr Grab fanden, spricht für die angebotene
Lösung wohl einiges. Damit eröffnet sich aber ein interessanter
Einblick in die Struktur der Herzogsfamilie. Neben den weiblichen Mitgliedern
der Herzogsfamilie wurden seit dem 11. Jahrhundert auch die jüngeren
Brüder der Herzöge in Lüneburg bestattet. Diese Personen,
die häufig gemeinsam mit den Herzögen oder in deren Vertretung
in den Quellen begegnen, partizipierten offensichtlich an der Herrschaft
des Herzogsgeschlechts und verzichteten auf eine eigenständige Herrschaftsbildung,
wie die Wahl ihres Begräbnisortes wohl mehr als wahrscheinlich macht.
Die sich abzeichnende Kooperation der Brüderpaare steht damit im krassen
Gegensatz zu den Zwistigkeiten, die aus dem 10. Jahrhundert zwischen Hermann
Billung und den Nachkommen Wichmanns des Älteren gemeldet
werden. Wie es scheint, wurden in der Zeit des Aufstiegs der Sippe unter
beträchtlichen Reibungsverlusten Formen der Herrschaftsausübung
gefunden, die sich später bewährten. Sie erlaubten eine Integration
auch der männlichen Familienmitglieder, die nicht das Herzogsamt innehatten.
So scheint es nicht zufällig, dass seit dem Beginn des 11. Jahrhunderts
keine Auseinandersetzung mehr zwischen Angehörigen derbillungischen
Sippe überliefert sind. Die Formierung des Geschlechts und die Regelung
der Aufgabenverteilung scheint vollzogen. Während das Diptychon einen
Blick auf die innere Struktur der billungischenSippe
erlaubt, erfaßt das Lüneburger Necrolog einen erheblich umfassenderen
Personenkreis. Seine Einträge reichen außerdem in ältere
Zeiten zurück. Gelingt es, was durch erste Beobachtungen wahrscheinlich
gemacht werden konnte, zu zeigen, dass die im Necrolog enthaltenen Personen
vornehmlich auf Initiative der Herzogsfamilie im Gedenken bewahrt wurden,
dann darf das Necrolog den Rang eines Kronzeugnisses für die
billungische
Totensorge beanspruchen. Um diesen Nachweis geht es im folgenden Kapitel.
Hinzuweisen ist vorweg ferner darauf, dass es noch andere Klöster
und Stifte gegeben hat, die unter dem Einfluß der billungischenSippe
standen und deren Memorialüberlieferung daher bei der Untersuchung
im Blick bleiben muß. Dies gilt vor allem für die Kanonissenstifte
Borghorst und Möllenbeck. Aus beiden geistlichen Gemeinschaften sind
Necrologien überliefert, in denen Angehörige der billungischen
Familie und Vertreter ihres Verwandtenkreise zahlreich begegnen. Beide
geistlichen Institutionen gehören zum Einflußbereich der billungischenSippe,
die auch die Vogtei in ihrer Hand hatte. Die Ausgangsbasis der Untersuchung
ist also dadurch bestimmt, dass necrologische Überlieferung sowohl
aus dem Hauskloster am Herrschaftsmittelpunkt des Herzogsgeschlechts, eben
aus St. Michael in Lüneburg, erhalten ist, als auch aus Stiftsgründen
von Verwandten der BILLUNGER, die diese bewußt unter den Einfluß
der Sippe stellten. Es besteht also die Möglichkeit zu prüfen,
welche Initiativen der Adelssippe zum Totengedenken an zentraler Stelle
und in Randpositionen zu beobachten sind.
3. Das Necrolog von St. Michael als Zeugnis des Gebetsgedenkens einer Adelsfamilie
a) Der Horizont der Necrologeinträge
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Die Analyse eines Necrologs hat bestimmte methodische
Grundregeln zu beachten. Da im folgenden diese Regeln in gewisser Weise
modifiziert werden, sind einige grundsätzliche Erwägungen nötig.
Ein Necrolog als historische Quelle zum Sprechen zu bringen, bedeutet zunächst,
die Personen des Necrologs zu identifizieren. Das ist deshalb nicht ganz
leicht, weil diese in ein kalendarisches, nicht in ein chronologisches
Gerüst eingebunden sind. Ihr Todesjahr ist daher im Gegensatz zu ihrem
Todestag zunächst nicht bekannt. Dies verhindert in den meisten Fällen
eine schnelle und sichere Ansprache der Personen. Der Prozentsatz der mittelalterlichen
Personen, deren Todestag bekannt ist, ist nämlich äußerst
klein, wenn man von den Gruppen der höchsten weltlichen und geistlichen
Würdenträger, wie Königen und Bischöfen, einmal absieht.
Die Arbeit der Personenidentifizierung geschieht daher im wesentlichen
als eine Arbeit des Vergleichens. Hierbei scheint es wichtig, alle Personen
des Necrologs in die Untersuchungen einzubeziehen, und sich nicht, wie
dies häufig geschah, von vornherein auf die angeblich historisch allein
aussagefähigen Würdenträger zu beschränken. Erst die
Aufdeckung sämtlicher Horizonte der Überschneidung mit anderen
Necrologien bietet die Gewähr, die Gründe für die Einschreibung
bestimmter Personengruppen in ein Necrolog zuständig diskutieren,
mit anderen Worten das Beziehungsnetz des Überlieferungsträgers
rekonstruieren zu können.
Wenn im folgenden trotzdem der Horizont der weltlichen
und geistlichen Würdenträger im Vordergrund des Interesses steht,
dann ist das dadurch gerechtfertigt, dass andere Arbeitsschritte des Vergleichens,
die ebenfalls unternommen wurden, nicht zum Erfolg führten. Das Lüneburger
Necrolog weist nämlich engere Überschneidungen mit anderen Necrologien
nicht auf. Und dies nicht ohne Grund. Das im Konvent von St. Michael praktizierte
Gedenken wurde nämlich nicht bestimmt durch die monastische Verbrüderung
mit anderen geistlichen Konventen, sondern durch die Verpflichtung zum
Gebet für eine Adelssippe und ihr soziales Umfeld. Der Personenkreis
des Necrologs kehrt daher in seinen wesentlichen Teilen nicht in anderen
Necrologien wieder. Es unterscheidet sich damit nicht unerheblich von den
Inhalten der Necrologien, die allein monastischen Gemeinschaften und ihren
Verbrüderungen verpflichtet sind. Damit entfällt weitgehend die
Möglichkeit, die Priester, Mönche und Laien des Necrologs in
die Untersuchung einzubeziehen, denn sie sind zum größten Teil
nur im Lüneburger Necrolog überliefert. Aussagen über ihre
Herkunft und ihren Lebenszeitraum, sowie über etwaige Beziehungen
zu den BILLUNGERN oder zum Lüneburger Konvent können daher
nur beschränkt gelingen. Bei einer solchen Ausgangssituation kommt
den Amtsträgern in Kirche und Welt eine höhere Bedeutung zu,
da nur sie in der Überlieferung genügend profiliert sind, um
Anhaltspunkte für die Gründe ihrer Eintragung in die Lüneburger
Memorialüberlieferung zu geben. Und wenn sie zudem so zahlreich vertreten
sind wie im Lüneburger Necrolog, erhöht sich naturgemäß
die Chance, die Personenkonstellation mit Hilfe weiterer Quellen in den
richtigen politischen und sozialen Zusammenhang zu stellen.
Insgesamt erweisen sich im Lüneburger Necrolog 248
von der anlegenden Hand eingetragene Personen als weltliche oder geistliche
Würdenträger. Hiervon sind 24 Personen Angehörige von Herrscherfamilien,
30 Personen aus Herzogsfamilien, 2 Päpste, 96 Erzbischöfe und
Bischöfe, 67 Äbte und Äbtissinnen und schließlich
129 Grafen und Gräfinnen. Diese Anzahl ist als beachtlich hoher Prozentsatz
der Einträge anlegender Hand zu charakterisieren, denn diese verzeichnet
insgesamt 1525 Personen, von denen 880 wahrscheinlich Laien und 645 Personen
mit kirchlichen Weihegraden sind. Auch dieses Verhältnis von Würdenträgern,
Laien und Klerikern macht noch einmal deutlich, dass sozial hochgestellte
Personen und Gruppen an der Zusammenstellung dieses Personenkreises beteiligt
gewesen sein müssen. In erster Linie wird man also an das Geschlecht
der Klosterherren zu denken haben. Dieser generelle Eindruck wird durch
viele signifikante Einzelfälle nachhaltig bestätigt, wie sich
im Verlaufe der Identifizierung zeigte.
Das Ergebnis der Bemühungen um die Identifizierung
der ins Lüneburger Necrolog eingetragenen Würdenträger findet
sich im Kommentarteil. Gelang die Identifizierung in einer Reihe von Fällen
gar nicht, konnten in anderen nur Hinweise gegeben werden, so ergab sich
doch bei dem weitaus überwiegenden Prozentsatz eine sichere Ansprache
der Personen. Ebenso ließen sich bei vielen Personen die Gründe
erkennen, die zur Einschreibung ins Lüneburger Necrolog führten.
Dieser Kommentarteil liefert also die Materialbasis der folgenden Untersuchungen.
In 2 Diagrammen ist der Versuch unternommen worden, den Gesamtbefund zu
struktuieren und ihn transparent zu machen. Aus den Diagrammen ergeben
sich auch Anhaltspunkte dafür, wo Untersuchungen besonders erfolgversprechend
sind. Aus Gründen der Übersichtlichkeit, aber auch aus inhaltlichen
Gründen bot es sich an, in den Diagrammen die weltlichen und geistlichen
Würdenträger zu trennen. Während bei den weltlichen Würdenträgern
als Differenzierungskategorie 'Angehörige und Verwandte der billungischen
Familie', ferner 'Angehörige von Königs-, Herzogs- und Grafengeschlechtern'
verwandt wurden, war bei den Bischöfen die Einteilung nach Diozösen
naheliegend. Die Diozösen wurden so angeordnet, dass die Lüneburg
benachbarten Bistümer den Anfang bildeten und die sächsischen
vor den nichtsächsischen aufgeführt wurden. Auf die Gruppe der
Äbte und Äbtissinen wurde in den Diagrammen verzichtet, da, von
den Lüneburger Äbten selbst abgesehen, zu wenige Personen dieser
Gruppe sicher identifiziert werden konnten. Zunächst sei mit Hilfe
dieser Diagramme die Frage diskutiert, auf welche Initiatoren des Gedenkens
der Gesamtbefund der geistlichen und weltlichen Amtsträger weist.
Aus beiden Diagrammen lassen sich verschieden Befunde
leicht ablesen: ins Auge fällt zunächst die starke Berücksichtigung
von Angehörigen und Verwandten der billungischen
Familie. Dies ist zweifellos als ein eindeutiger Hinweis auf die Stifter
des Gedenkens zu werten. Bemerkenswert ist ferner der vorrangig sächsische
Horizont des Necrologs, der sich sowohl bei der Gegenüberstellung
der Gruppen sächsischer und nichtsächsischer Grafen, als auch
beim Vergleich der Bischöfe aus sächsischen und außersächsischen
Diözesen ergibt. Eigenständige Beziehungen des Lüneburger
Konvents zu diesen Personengruppen sind in der ablesbaren Dichte ebenfalls
wohl wenig wahrscheinlich.
Auch bei der Suche nach zeitlichen Strukturen ergeben
sich auffällige Anhaltspunkte. Die intensive Phase der Necrologführung
lag zweifelsohne in der späteren OTTONEN-Zeit
- grob markiert durch die Jahre 980 bis 1030. Hierbei bieten beide Diagramme
übereinstimmende Befunde. Es ist wohl kaum als zufällig anzusehen,
dass mit dem angesprochen Zeitraum auch die aktivste Phase der billungischen
Geschichte genannt ist.
Unterschiedliche Aussagen lassen sich den Diagrammen
dagegen für die Frage nach den Anfängen des Gedenkens entnehmen.
Während im Lüneburger Necrolog kein Laie festgestellt werden
konnte, der in der 1. Hälfte des 9. Jahrhunderts verstarb und überhaupt
nur einer aus dem ganzen 9. Jahrhundert nachweisbar ist, zeigt sich bei
den Bischöfen ein anderer Befund. Mehrere Bischöfseinträge
reichen bis in die 1.Hälfte dieses Jahrhunderts zurück. Auch
noch zu Beginn des 10. Jahrhunderts lassen sich erstaunlicherweise mehr
Bischöfe als Laien im Lüneburger Necrolog nachweisen. Es fragt
sich, ob dies allein damit begründet werden kann, dass sich Laien
aus dieser Zeit schwieriger identifizieren lasen. Bemerkenswert ist ferner
der auf den ersten Blick feststellbare Rückgang der Eintragsdichte
und auch die Verengung des Gedenkhorizonts im Verlaufe der SALIER-Zeit.
Er stimmt mit dem in der Forschung konstatierten Nachlassen des billungischen
Einflusses auf die sächsische Politik überein. In aller Vorsicht
kann also gesagt werden, dass die Befunde der Diagramme wichtige Abschnitte
der billungischen Geschichte zu spiegeln
scheinen. Dies ist aber wiederum als ein Indiz für den Einfluß
des Geschlechts auf die Auswahl der Necrologeinträge zu werten. Die
Diagramme sind selbstverständlich nur dazu geeignet, signifikante
Befunde in Erscheinung treten zu lassen. Aus ihnen allein kann noch keine
Erklärung der Befunde abgelesen werden. Mit anderen Worten weisen
sie den Weg zu den Themen und Problemen, bei denen sich durch die Einbeziehung
des Necrologs neue Erkenntnisse zur billungischen
Geschichte ergeben könnten.
So berührt sich die Frage nach den Anfängen
des Gedenkens mit der nach den 'Anfängen' des billungischen
Geschlechts. Die Necrologeinträge reichen ganz eindeutig in Zeiten
zurück, in denen sich die sonstigen Spuren der BILLUNGER in
der Überlieferung verlieren. Es ist also die Frage zu stellen, ob
der im Necrolog enthaltene Personenkreis neue Aussagen über die Vorfahren
der BILLUNGER und über die Anfänge ihrer Geschichte zuläßt.
Der zeitliche Schwerpunkt der Necrologeinträge im endenden 10. Jahrhundert
und beginnenden 11. Jahrhundert, der auf eine Intensivierung und Ausweitung
der billungischenAußenbeziehungen
weist, stellt ausreichendes personengeschichtliches Material zur Verfügung,
um die Probleme der billungischenHerrschaft
auf breiter Grundlage diskutieren zu können. Und es scheint nicht
überflüssig, sich darüber Gedanken zu machen, welche Gründe
für die Verengung des eingetragenen Personenkreises in der SALIER-Zeit
maßgeblich sein können.
b) Der Einfluß der Billunger auf die Auswahl der
eingetragenen Personen
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Schon der Gesamteindruck der beiden Diagramme spricht
stark dafür, dass im Lüneburger Necrolog nicht der Beziehungshorizont
des Konvents von St. Michael sondern der des Herzogsgeschlechts aufscheint.
Es scheint undenkbar, dass der Lüneburger Konvent unabhängig
von der Herzogsfamilie Beziehungen zu der angeführten Vielzahl von
weltlichen und geistlichen Großen unterhalten haben soll. Da diese
Annahme die Basis des Untersuchungsansatzes darstellt, sei sie durch eine
Detailanalyse gesichert. Neben den Befunden der Diagramme ist schon die
Gedächtnisstiftung Herzog Bernhards I. für seine verstorbenen
Verwandten und auch die Verpflichtung, die der gleiche Herzog im Dortmunder
Gebetsbund einging, als Hinweis darauf gewertet worden, dass der Konvent
in Lüneburg im Auftrag und in Stellvertretung der billungischen
Familie das Gedenken im Gebet leistete. Die zitierten Quellen zeigten auch,
dass die Auswahl der Verstorbenen, derer gedacht werden sollte, von den
BILLUNGERN
selbst vorgenommen wurde. Unter dem Gesichtspunkt der Auswahl muß
daher der Personenkreis des Lüneburger Necrologs diskutiert werden.
Die wichtigsten Personen im Gedenken einer Adelsfamilie
sind sicherlich die eigenen Familienangehörigen. Das Diagramm der
weltlichen Würdenträger zeigt, wie kontinuierlich die bekannten
Angehörigen der billungischenFamilie
im Lüneburger Necrolog vertreten sind. In der Tat sind, mit einer
Ausnahme, alle aus anderen Quellen als Mitglieder des Geschlechts bezeugte
Personen im Necrolog verzeichnet. Ihnen stand, wie schon betont wurde,
die gleiche liturgische und karitative Leistung an ihrem Todestag zu wie
den Äbten von St. Michael. Unter diesen Einträgen begegnen auch
die bekannten Mitglieder des sogenannten Wichmann-Zweiges
der billungischenSippe, Wichmann
der Ältere, Wichmann der Jüngere und Egbert der
Einäugige. Ihre Auseinandersetzungen mit Hermann Billung haben
offensichtlich nicht bewirkt, dass ihnen das Totengedenken der Sippe verwehrt
wurde. Ohne hieraus voreilige Schlüsse ziehen zu wollen, sei doch
angemerkt, dass durch diese Beobachtung die Vorstellung von zwei feindlichen
'Zweigen' der BILLUNGER zumindest in Zweifel zu ziehen ist.
Der einzige Angehörige derbillungischenSippe,
der im Lüneburger Necrolog fehlt, ist der am 5. Mai 962 verstorbene
Bischof
Amelung von Verden, der ein Bruder Hermann Billungs und Wichmanns
des Älteren war. Wenn auch diese singuläre Auslassung durch
verschiedene Gründe bedingt sein kann, sei zumindest darauf hingewiesen,
dass zum 5. Mai in der Edition Wedekinds lediglich ein Name der anlegenden
Hand ausgewiesen ist. Nach ihm folgt die längste Memorienstiftung
des Necrologs, die dem 14. Jahrhundert zuzuordnen ist. Es scheint nicht
ausgeschlossen, dass zugunsten dieser Zeilen der Name der Anlage ausradiert
werden mußte, denn sie benötigte aller Wahrscheinlichkeit nach
mehr Platz, als in der Handschrift für Einträge zum 5. Mai vorgesehen
war. Die abgesehen von dieser Ausnahme gelungene Aufzeichnung aller der
Personen, die in der Forschung den BILLUNGERN zugerechnet werden,
ist als weiterer eindeutiger Hinweis auf die Beteiligung der BILLUNGER
bei
der Ausrichtung des Gedenkens festzuhalten.
Genauso eindeutig wie bei den Mitgliedern derbillungischen
Familie ist der Befund, wenn man die ins Necrolog aufgenommenen Verwandten
zusammenstellt. Man kann allgemein sagen: Ging ein Mitglied der billungischen
Familie eine Ehe ein so wurden die Angehörigen des Ehepartners im
Gebetsgedenken des Lüneburger Konvents bewahrt. Zum Teil überdauerte
diese Verbrüderung mehr als ein Jahrhundert, zum Teil gingen die Kontakte
schneller verloren, etwa nach dem Tod der Ehepartner.
Ein gutes Beispiel für den Zusammenhang verwandtschaftlicher
Beziehungen und dem Gebetsgedenken ist die Familie der Grafen von Stade.
Die bekannte Rivalität zwischen Hermann Billung und Heinrich
dem Kahlen von Stade, von Thietmar von Merseburg ausführlich berichtet,
wurde zu einem uns unbekannten Zeitpunkt durch die Heirat Bernhards
I. mit Hildegard, der Tochter Heinrichs des Kahlen, überwunden.
Von da an finden wir beide Familien mehrfach bei gemeinsamen Aktionen gegen
die Seeräuber, Dänen und auch gegen die Hamburger Domkirche.
Korrespondierend mit diesem gemeinsamen Vorgehen auf politischem Feld,
finden sich auch viele Mitglieder der Stader Grafenfamilie im Lüneburger
Necrolog, so etwa der zitierte Heinrich der Kahle, seine Mutter Swanhild
und seine Gemahlin Judith, seine Söhne Heinrich II. und Luder-Udo,
ferner des letzteren Sohn Siegfried sowie die beiden Markgrafen Udo I.
und Udo II. Auch einer der wenigen nichtsächsischen Grafen im Lüneburger
Necrolog, der im Jahre 982 bei Cotrone gefallene Udo von Rheinfranken,
gehört als Bruder der Judith in die Verwandtschaft der Stader Grafen
und ist daher hier zu nennen.
Ein ähnlicher Befund zeigt sich bei der Familie
der EKKEHARDINER. Offensichtlich bestanden zu den Markgrafen von Meißen
schon zu Zeiten Gunthers gute Beziehungen, denn das Lüneburger Necrolog
nennt zwei Gefallene der Schlacht von Cotrone namentlich, einer davon ist
Gunther. Dessen Sohn Ekkehard von Meißen heiratet Swanhild,
die Tochter Hermann Billungs. Beide Ehepartner erscheinen im Lüneburger
Necrolog, ebenso ihre Kinder Ekkehard II., Gunther, der Salzburger Erzbischof,
Eilward, der Bischof von Meißen sowie Liudgard mit ihrem Gemahl Werner,
dem Markgrafen der sächsischen Nordmark. Dass die enge Verbindung
beider Familien, die das Totengedenken deutlich macht, auch ihren Niederschlag
im politischen Bereich fand, lehren im Falle der EKKEHARDINER die Ereignisse
nach dem Tode OTTOS III. Sie zeigen
Herzog
Bernhard I. als Parteigänger Ekkehards bei dessen Versuch, die
Nachfolge
OTTOS III. im Königtum
anzutreten. Zum Verständnis der billungischenHerrschaft
in Sachsen sind gerade die Heiratsverbindungen mit den Stader und Meißner
Grafen in der Spätphase des 10. Jahrhunderts interessant. Sie müssen
unter dem Aspekt der Konsolidierung der billungischenStellung
in Sachsen gesehen werden. Durch die Heiraten wurden potentielle Rivalen
dauerhaft, wie die Kontinuität der Necrologbefunde zeigt, zu Bundesgenossen
gewonnen. Das politische Gewicht der BILLUNGER kann also nur zuständig
bewertet werden, wenn man den Verbund der genannten Adelsfamilien in Rechnung
stellt.
Aufschlußreich für unsere Fragestellung sind
neben diesen sächsischen Adelsfamilien jedoch auch die Verwandtschaften
der BILLUNGER, die nicht dem sächsischen Stamm angehörten.
Im Jahre 961 heiratete
Mathilde, die Tochter Hermann Billungs,
Balduin von Flandern. Auch diese Ehe, obschon bereits 962 durch den Tod
des Grafen beendet, zog die Aufnahme von Mitgliedern der flandrischen Grafenfamilie
ins Lüneburger Necrolog nach sich. Neben Arnulf I. finden sich Susanna,
Schwiegertochter Mathildes, sowie Balduin IV. und seine Gemahlin
Otgia. Auch ein Sohn Mathildes aus ihrer 2. Ehe mit dem Grafen Gottfried
von Verdun, Herzog Gozelo von Nieder- und Ober-Lothringen, erscheint im
Lüneburger Necrolog.
Zwei weitere Beispiele: Die Gemahlin Magnus Billung,
Sophia
von Ungarn, war in 1. Ehe mit dem Grafen Ulrich von Istrien
verheiratet gewesen. Dieser 1070 verstorbene Graf steht ebenso im Lüneburger
Necrolog wie sein Sohn aus dieser Ehe, der im Jahre 1112 verstorbene Graf
Ulrich. Einer der wenigen außerdeutschen Könige aus der Zeit
der BILLUNGER, der sich im Lüneburger Necrolog nachweisen läßt,
ist König Magnus von Norwegen.
Auch bei ihm bietet sich als Grund für die Eintragung die 1042 geschlossene
Ehe des BILLUNGERSOrdulf mit dessen Schwester Wulfhild
zwingend
an.
Die Durchsicht der billungischenHeiraten
erbringt also in allen Fällen ähnliche Ergebnisse: Eine Verschwägerung
mit den BILLUNGERN zog für die neuen Verwandten auch das Totengedenken
des Lüneburger Konvents nach sich. Diese Verpflichtung aber kam dem
Konvent wohl nur durch die billungische
Familie selbst übertragen worden sein, denn sie war es ja, die zum
Gebet für die Verwandten verpflichtet war.
Fast nebenher ergeben sich bei dieser Durchsicht auch
Einblicke in das Selbstverständnis und die planvolle Heiratspolitik
der billungischenFamilie. In der zweiten
Generation der BILLUNGER überwogen die Heiratsverbindungen
mit mächtigen Adelsgeschlechtern, vor allem Sachsens. Nach der Konsolidierung
der billungischen Herrschaft
weist auch die Heiratspolitik ein gesteigertes Selbstverständnis aus:
Die BILLUNGER-Söhne, die die Herzogswürde bekleiden sollten,
heirateten nun ausländische Königstöchter.
Beziehungen des Lüneburger Konvents zu den angesprochenen
Adelsfamilien sind ohne die Vermittlung der BILLUNGER nicht vorstellbar,
zumindest nicht in dieser Dichte. Die hervorragende Berücksichtigung
der BILLUNGER-Verwandten läßt also die BILLUNGER wiederum
als Stifter und Initiatoren des Gedenkens in Erscheinung treten. Es wurde
ferner schon auf das starke laikale Element im Lüneburger Necrolog
hingewiesen, das den Anteil der Kleriker und Mönche an den Necrologeinträgen
weit übersteigt. Besonders auffallend sind in diesem Zusammenhang
die Todesmeldungen, die von einem gewaltsamen Tod der Betroffenen sprechen.
Hier erweist sich das Necrolog als Quelle für die Härte und Intensität
des Kampfes an der Slawengrenze, auch wenn wir die Schlachten und Gefechte,
in denen die genannten Personen fielen, zumeist aus sonstiger Überlieferung
nicht kennen. Davon ist jedoch unbenommen, dass die im folgenden aufgeführten
Personen wohl nur durch die Vermittlung der BILLUNGER ins Lüneburger
Necrolog eingetragen worden sein können. Es handelt sich in der Mehrzahl
sicher um Personen, die unter dem militärischen Oberbefehl der Billunger
standen.
15.1. Bernhardus comes et Emmuke l. et Reinheri
a Sclauis occ. et
Brun et Burcherd et Ippo occisi
3.2. Ernost, Boue, reinbodo, Edo, Thiadrich
occisi cum sociis suis
18.2. Frethericus et Beio occisi
13.6. Ethelbertus et multi alii cum eo accisi
14.6. Frithericus occisus et Heio occisus
15.6. Christin com. et Eppo et Verlef occ.
16.6. Thietmarus occisus,... Herrmannus, Egbertus,
Marquardus a Slauis occisi
17.6. Frithericus l. fr. nr. a Slauis occis...
26.6. Brun comes et Oddo I. Liudierus et alii cum
eo occisi
12.7. Esico et Mero et reinherd et Gerhelm et multi
alii occisi..
14.7. Gunther et Udo et alii occisi
6.8. Gero occisus et Volquardus occisus
9.8. Esic et multi Christiani interemti
10.8. Conradus dux et multi catholici ab Ungariis
interfecti
26.8. Ethilgerus et Tilunoldus occisi
10.9. Willehadus marchio et Thiedricus comes et
Bernhardus et multi alii interfecti a Sclavis
22.9. Wichmannus comes et multi alii occisi et
Hoico occisus
27.10. Thiedricus comes et multi cum eo a Sclavis interfecti
et Godescale l. occisus
Recht deutlich dokumentiert das Necrolog, dass der Krieg
gegen die Slawen nur in den Sommer- und Herbstmonaten geführt werden
konnte, was auf versorgungstechnische und klimatische Gründe zurückzuführen
sein dürfte. Die Resonanz der Kämpfe in der Gedenküberlieferung
läßt sich aber auch als ein Hinweis auf die Initiatoren des
Gedenkens bewerten. Gerade für viele der im Kampf gefallenen Personen
dürfen wir annehmen, dass die BILLUNGER
zu ihrem Gedenken verpflichtet
waren: es handelte sich um Personen aus ihrem Gefolge. Was die laikalen
Personen anbetrifft, können wir hiermit die Diskussion der Frage abschließen,
wer der Initiator des Gedenkens war, das das Lüneburger Necrolog spiegelt.
Es hat sich wohl ganz eindeutig erwiesen, dass dies nur die BILLUNGER
selbst gewesen sein können. Wir haben, zumindest in den Laien, also
Personen aus dem Beziehungsfeld der BILLUNGER
vor uns, deren memoria
im Auftrage der Familie vom Lüneburger Konvent gepflegt wurde.
In gleicher Weise ist die Frage nach der Stiftung des
Gedenkens jedoch auch für die Personen geistlichen Standes zu stellen.
Und es liegt da schon näher anzunehmen, dass sich in ihnen unter anderem
auch die monastischen und kirchlichen Umweltbeziehungen des Lüneburger
Konvents spiegeln. Dies ist vor allem bei den ins Necrolog eingetragenen
Mönchen und Äbten durchaus nicht unwahrscheinlich.
Die politisch einflußreichste Gruppe der geistlichen
Würdenträger sind jedoch die Bischöfe. Daher ist es für
unsere Untersuchung wesentlich, ob sie zum Beziehungsfeld der BILLUNGER
gerechnet werden dürfen oder lediglich mit dem Lüneburger Konvent
in Gebetsbeziehungen standen. Auf Grund zahlreicher Indizien scheint es
möglich, diese Frage zugunsten der BILLUNGER
zu entscheiden,
auch wenn nicht für jeden Einzelfall sichere Anhaltspunkte zur Verfügung
stehen. Mit anderen Worten: es ist nicht auszuschließen, dass einige
Bischöfe auf Grund ihrer Beziehungen zum Lüneburger Konvent ins
Necrolog eingeschrieben wurden, die überwiegende Mehrheit war jedoch
mit den BILLUNGERN verbrüdert. Ein Blick auf die Diagramme
zeigt zunächst einmal, dass die Bischofsernennungen im Necrolog gerade
zu dem Zeitpunkt zurückgehen, zu dem die BILLUNGER ausstarben.
Ja, schon mehrere Jahrzehnte vorher trat ein merklicher Rückgang der
Eintragung von Bischöfen ein, der genau mit dem Befund bei den laikalen
Gruppen korrespondiert. Dieser kongruente Befund deutet auf die gleichen
Initiatoren der Eintragungen, eben die BILLUNGER, hin. Außerdem
zeigt das Necrolog zwar ein deutliches Übergewicht der sächsischen
Bischöfe, es hat sozusagen vor allem sächsischen Horizont. Doch
tauchen, vor allem in der Zeit zwischen 950 und 1050, immer wieder Bischöfe
aus nichtsächsischen Diozösen auf, bei denen es sich zum Teil
um die wichtigsten Reichsbischöfe ihrer Zeit handelt. Und gerade bei
diesen sind nicht selten Kontakte zu den BILLUNGERN auch durch andere
Quellen belegt, die die Gründe für das Gebetsgedenken der Familie
erhellen. Ebenso zeigen sich Beziehungen nach Prag, Gnesen und Posen, und
dokumentieren eine Weite des Einzugsbereichs, der eher bei der Herzogsfamilie
als bei dem Konvent von St. Michael zu erwarten ist. Diese allgemeinen
Beobachtungen, die auch bei der Gruppe der Bischöfe auf die BILLUNGER
als Stifter des Gedenkens weisen, lassen sich durch charakteristische Einzelfälle
noch zusätzlich stützen.
Während etwa die durch das Necrolog dokumentierten
Gedenkbeziehungen zum Erzbistum Hamburg/Bremen vom Anfang des 10. bis zur
Mitte des 11. Jahrhunderts kontinuierlich waren und alle Erzbischöfe
aufgeführt wurden, brachen sie in der Regierungszeit des Erzbischofs
Alebrand/Bezelin (1035-1043) offensichtlich ab. Danach findet sich bis
1168 kein Hamburger Erzbischof mehr im Lüneburger Necrolog. Nun sind
uns die Streitigkeiten der BILLUNGER mit den benachbarten Erzbischöfen
durch die Schilderungen Adams von Bremen hinlänglich bekannt. Dieser
setzte den Beginn der 'Verfolgung' der Hamburger Kirche durch das Herzogsgeschlecht
sogar schon in den Anfang des 11. Jahrhunderts. Auch wenn diese Angabe
wohl eine tendenziöse Vordatierung darstellt, ist unübersehbar,
dass sich die Verschlechterung der Beziehungen der BILLUNGER zu
den Erzbischöfen nachhaltig im Lüneburger Necrolog niederschlug.
Die Aufnahme der Bischöfe ins Necrolog wurde also von den Interessen
der BILLUNGER bestimmt.
Ähnliche Befunde liefert die Untersuchung der Bischöfe
von Verden im Lüneburger Necrolog. Auch hier sind die Einträge
weitgehend vollständig. Über Bischof Amelung, der zum
5. Mai überraschend fehlt, wurde schon gesprochen. Außer ihm
ist bis zum Ende des 11. Jahrhunderts von den Verdener Bischöfen nur
ein einziger nicht ins Gedenken aufgenommen worden. Es handelt sich um
Bischof Brun, der im Jahre 976 verstarb. Von ihm wissen wir durch den Bericht
Thietmars von Merseburg, dass er Hermann Billung gebannt hatte und sich
trotz der Bitten Herzog Bernhards I. weigerte, den toten Herzog
vom Bann zu lösen. Angesichts dieser Tatsache überrascht es nicht,
dass Brun im Lüneburger Necrolog fehlt, obwohl er nach dem Zeugnis
Thietmars ein Verwandter der BILLUNGER war.
In beiden angeführten Fällen schlugen sich
also Schwierigkeiten der BILLUNGER mit den Bischöfen der Umgebung
Lüneburgs im Necrolog nieder. Das kann aber wiederum nur heißen,
dass auch die Eintragung der Bischöfe entscheidend von der billungischen
Familie bestimmt wurde. Ist dies aber schon bei den Bistümern der
Fall, die Lüneburg benachbart sind, können wir das Gleiche um
so sicherer von denen annehmen, die vom St. Michaelskloster räumlich
weit entfernt lagen und aus denen nur ein Bischof, oder allenfalls wenige,
Aufnahme ins Lüneburger Gebetsgedenken fanden. Gerade zu solchen Bischöfen
sind ja spezielle Beziehungen anzunehmen, die eher die Herzogsfamilie als
der Konvent von St. Michael zu knüpfen in der Lage war.
Ein sprechendes Beispiel für einen solchen Sachverhalt
stellt die Eintragung Erzbischof Gunthers von Salzburg dar, der als einziger
Vertreter des bayerischen Erzbistums im Lüneburger Necrolog begegnet.
Diese Tatsache findet jedoch eine einleuchtende Erklärung, wenn man
berücksichtigt, dass Gunther aus der Familie der Markgrafen von Meißen
stammte, die gerade zu seiner Lebenszeit mit den BILLUNGERN
durch
Heirat eng verbunden war - Gunther war ein Sohn der Tochter
Hermann
Billungs,
Swanhild. Ähnliches gilt auch für den Eintrag
des Bischofs Dietrich von Metz, der zum Verwandtenkreis der Nachkommen
Wichmanns
des Älteren gehörte und mit diesen in konkreten Beziehungen
stand.
Die Eintragung beider Bischöfe erfolgte also aus
Gründen ihrer verwandtschaftlichen Beziehungen zu den BILLUNGERN.
Angesichts
dieser Beobachtungen, die in den folgenden Untersuchungen noch um eine
Reihe weiterer Fälle vermehrt werden, können wir auch bei der
Gruppe der Bischöfe davon ausgehen, dass sie das Beziehungsfeld der
billungischen
Familie wiedergeben, und sie daher für unsere Untersuchungen ohne
Einschränkungen verwerten.
Damit ist der Nachweis gelungen, dass sich in der Gedenktradition
des Lüneburger Nekrologs die Beziehungsfelder zweier Personengruppen
finden. Neben dem Konvent von St. Michael, der seine verstorbenen Äbte
und Mönche und wohl auch die Verstorbenen anderer verbrüderter
Gemeinschaften in das Necrolog eintrug, hat die billungische
Familie ihre Gedenkverpflichtungen durch den Lüneburger Konvent ableisten
lassen. Sie wurden mit der konventsspezifischen Tradition vereinigt. Auch
wenn durch diese Vermischung in vielen Einzelfällen nicht sicher zu
unterscheiden ist, auf wessen Initiative eine Person im Gebetsgedenken
bewahrt wurde, und es wohl überhaupt nicht angebracht scheint, in
dieser Frage strikt alternative Vorstellungen zu entwickeln, ist davon
unberührt, dass der exzeptionell weite Horizont der Einträge
von geistlichen und weltlichen Amtsträgern dem Beziehungsfeld der
BILLUNGER
zuzurechnen
ist, wie Einzelfälle und Gesamtbefund hinreichend sichern. Damit ist
eine tragfähige Basis gegeben, diese Personenkonstellationen mit dem
bisherigen Wissen von der Geschichte der BILLUNGER zu konfrontieren.
c) Die Welfen als Erben der Billunger
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Unsere Untersuchungen des Lüneburger Necrologs beschränken
sich auf die Zeit der billungischen
Herrschaft. Damit soll nicht übersehen werden, dass das Necrolog auch
nach dem Aussterben der BILLUNGER im Mannesstamm weitergeführt
wurde. Wir beschränken uns jedoch auf einige Hinweise zu den Einträgen
aus dieser späteren Zeit, die schon deshalb nicht unwichtig sind,
weil sie die in den vorigen Abschnitten vorgetragenen Beobachtungen zur
Frage der Stiftung des Gedenkens nachhaltig stützen.
Im Jahre 1106 starben die BILLUNGER im Mannesstamm
aus. Die Töchter des letzten BILLUNGER-Herzogs Magnus,
Wulfhild
und Eilika, waren mit dem WELFEN
Heinrich dem Schwarzen bzw. Otto von Ballenstedt verheiratet. Diese erbten
die billungischen Eigengüter;
der Herrschaftsmittelpunkt kam in den Besitz der WELFEN.
Die aus dem Herzogsamt erwachsenen Besitztitel gingen dagegen an LOTHAR
von Supplinburg über. War damit auch zunächst der
Machtbereich der BILLUNGER weitgehend zerschlagen, so bildete sich
in der Hand der WELFEN ein neuer, nicht minder großer, als Heinrich
der Stolze durch seine Gemahlin Gertrud
die Besitzungen LOTHARS von Supplinburg
dem welfischen Erbe hinzufügen konnte und auch dessen Nachfolger im
Herzogsamt wurde. Ohne im einzelnen auf die Schwierigkeiten einzugehen,
die Heinrich der Stolze und sein Sohn, Heinrich der Löwe, zu meistern
hatten, ehe sie in den uneingeschränkten Besitz des Erbes gelangten,
ist für uns vor allem wichtig, dass die WELFEN
nach dieser Zeit als die Haupterben der BILLUNGER anzusprechen sind
und Lüneburg in ähnlicher Weise als ihr Herrschaftsmittelpunkt
in Sachsen gelten kann, wie er dies vorher für die BILLUNGER
gewesen
war.
Diese allgemein bekannten Beziehungen der WELFEN
zu Lüneburg werden durch die Befunde des Necrologs vollauf bestätigt.
Hatten die WELFEN bereits in ihrem
schwäbischen Hauskloster Weingarten ein Zentrum des Gedenkens an ihre
verstorbenen Angehörigen eingerichtet, so tritt nach dem Aussterben
der BILLUNGER daneben das Michaelskloster in Lüneburg. Hier
finden sich, wie in Weingarten, alle engeren Familienangehörigen der
WELFEN
im Necrolog. Ebenso ist eine Reihe von Personen aufgeführt, deren
Eintragung ins Lüneburger Necrolog wohl nur durch ihre Verwandtschaft
mit den WELFEN begründet ist.
Als Beispiele seien genannt: Herzog Konrad I. von Zähringen, der Schwiegervater
Heinrichs des Löwen;
König Waldemar
I. von Dänemark und sein Sohn Knut
VI., die durch die Ehe Knuts
mit Gertrud, der Tochter Heinrichs
des Löwen, zum Verwandtenkreis der WELFEN
gehörten; schließlich Prebislaus, ein Fürst der Wenden,
der 1178 auf einem Turnier in Lüneburg starb und dort begraben wurde.
Es wird darauf verzichtet, den Personenkreis im Lüneburger
Necrolog aus der Zeit der WELFEN eingehender
zu untersuchen, jedoch ist zu bemerken, dass er weder in der Größenordnung
noch in der Weite des Einzugsbereichs mit dem billungischen
vergleichbar ist. Zwar erscheint die Gruppe der engeren Familienangehörigen
in beiden Fällen vollständig im Necrolog, der Kreis der eingetragenen
Verwandten und Vertrauten der BILLUNGER ist jedoch ungleich größer
als der der WELFEN. Dies kann daran
liegen, dass die WELFEN nicht mit der
gleichen Intensität das Gebetsgedenken stifteten und initiierten wie
die BILLUNGER, es könnte aber auch andeuten, dass der Rückhalt
des alemannischen Adelsgeschlechts in Sachsen nicht so ausgeprägt
war wie der der BILLUNGER. Auch die vielen Auseinandersetzungen
der WELFEN mit sächsischen Großen
deuten nachhaltig in diese Richtung. Diese Hinweise mögen genügen,
um anzudeuten, dass auch die WELFEN-Forschung
durchaus Grund hat, den Personenkreis des Lüneburgwer Necrologs in
ihre Überlegungen einzubeziehen.
4. Aspekte billungischer Herrschaft im Spiegel des Necrologs
a) Zur Frage nach den 'Anfängen' des Geschlechts
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Da das Eintreten der BILLUNGER in die geschichtliche
Wirksamkeit sozusagen schlagartig - mit der Bestellung
Hermann Billungs
zum princeps militae im Jahre 936 - geschah, hat sich die Forschung intensiv
bemüht, die Vorfahren der 'ersten' BILLUNGER namhaft zu machen.
Bis auf die Nachricht des Chronicon St. Michaelis aus dem 13. Jahrhundert,
das berichtet, Hermanns Vater habe Billing geheißen,
fanden sich jedoch keine konkreten Hinweise auf etwaige Vorfahren. Daher
wurde auf der Grundlage genealogisch-besitzgeschichtlicher Methoden die
sächsische Überlieferung des 9. Jahrhunderts nach diesen durchsucht.
In Frage kamen vor allem Personen, die die sogenannten 'Leitnamen' der
späteren BILLUNGER - etwa Hermann, Wichmann, Egbert oder Bernhard
- trugen und Besitz in den Gegenden hatten, in denen später auch die
Herzogsfamilie begütert war. Personen, die solche Kriterien erfüllten,
fanden sich in nicht geringer Anzahl, was wohl auch darin begründet
ist, dass die in der billungischenFamilie
begegnenden Namen zu den gebräuchlichsten sächsischen Namengut
zu rechnen sind. Ohne die Wege der Forschung im einzelnen nachzugehen,
seien einige der Personen genannt, bei denen eine Verwandtschaft mit den
späteren BILLUNGERN im Bereich des Möglichen liegt.
Bereits im Jahre 811 wird in den Reichsannalen ein Graf
Wichmann erwähnt, der zu den fränkischen Unterhändlern
gehörte, die mit den Dänen über einen Friedensschluß
berieten. Ein Graf diese Namens läßt sich um 825 auch in der
Corveyer Tradition nachweisen. Es liegt daher nahe, beide Belege auf dieselbe
Person zu beziehen. Neben weiteren Personen namens Wichmann und Hermann,
die im Verlaufe des 9. Jahrhunderts in sächsischer Überlieferung
nachgewiesen werden können, ist vor allem der Graf Hermann
bemerkenswert, der in den um 860 verfaßten Miracula S. Willehadi
in Lesum genannt wird. Lesum ist später als Haupthof der BILLUNGER
bezeugt. Besondere Aufmerksamkeit darf auch der Graf Egbert beanspruchen,
der 892 von König ARNULF in zwei
Schenkungen 66 Königshufen in Gebieten erhielt, die später als
Herrschaftsbereiche der BILLUNGER anzusprechen sind.
Hinter der Fülle von Hinweisen, die die Forschung
zu den Vorfahren der BILLUNGER zusammentrug, verbergen sich, so
will man gerne glauben, auch die tatsächlichen Vorfahren der sächsischen
Herzöge. Trotzdem bleiben alle Hinweise hypothetisch und dies nicht
ohne Grund. Es wurde schon einleuchtend darauf hingewiesen, dass es zur
historischen Erforschung einer Sippe oder Familie nötig ist, dass
diese sich bewußtseinsmäßig als eine solche etabliert
hat. In der Regel geschieht dies durch die Bindung an ein objektives Substrat
der Herrschaft, etwa ein Amt, einen Besitzschwerpunkt, eine 'Stammburg'
oder ein Hauskloster. Gerade die Bindung an ein Hauskloster hatte zumeist
zur Folge, dass dort Überlieferung entstand, die Einblicke in die
Geschichte der Sippe oder des Geschlechts ermöglicht. Bevor dieser
Prozeß der bewußtseinsmäßigen Bindung und der Pflege
des Zusammmengehörigkeitsgefühls eingesetzt hat, lassen sich
zwar Hinweise auf mögliche Vorfahren sammeln, sie sind jedoch historisch
kaum verwertbar, da die mittelalterlichen Verwandtschaftsgruppen selbst
noch kein Bewußtsein einer historischen Kontinuität entwickelt
hatten.
In diesem Sinne könnte also der Beginn familienbezogener
Memorialüberlieferung den 'Beginn' der billungischenGeschichte
markieren. Der Moment, in dem man in der Eigenkirche oder in dem Eigenkloster
das Gedenken an die verstorbenen Angehörigen zu pflegen begann und
dies schriftlich fixierte, ist wohl als ein sehr früher Zeitpunkt
anzusehen, an dem das Gemeinschaftsbewußtsein eines mittelalterlichen
Personenverbandes für uns faßbar wird. Die Zusammengehörigkeit
setzte neben dem Wissen, wer zur Familie oder Sippe gehörte, vor allem
ein Bewußtsein der Verpflichtung zur Gebetshilfe voraus. Überdies
müssen bestimmte Organisations- und Kommunikationsformen gegeben sein,
um dem Gedenken Kontinuität zu sichern. Es ist daher zu fragen, inwieweit
das im 13. Jahrhundert angelegte Lüneburger Necrolog, in das ja eine
ältere Vorlage einging, noch Nachrichten aus der Phase der billungischen
Geschichte überliefert, die durch andere Quellen nicht erhellt wird.
Die Identifizierung der im Lüneburger Necrolog enthaltenen
Würdenträger erlaubt einen Überblick über die verschiedenen
zeitlichen Schichten des Gedenkens. Die Diagramme der weltlichen und geistlichen
Würdenträger zeigten, dass zwar einige wenige Bischöfe aus
dem 9. Jahrhundert verzeichnet sind, ansonsten jedoch die eingetragenen
Personen frühestens im 10. Jahrhundert verstarben. Sie zeigen auch,
dass die Necrologführung, und damit das Gedenken, in der 1. Hälfte
des 10. Jahrhunderts auf einen durchaus kleinen Personenkreis beschränkt
blieb und sich erst in der Spätphase des 10. und zu Beginn des 11.
Jahrhunderts ausweitete. Diese Beobachtungen scheinen genau zu dem zu passen,
was über den Gründungsvorgang des Michaelsklosters überliefert
ist: Der Beginn des 10. Jahrhunderts wird in späteren Quellen als
Gründungszeit einer Kirche in Lüneburg bezeugt, an deren Errichtung
sich Bischof Wigbert von Verden und Herzog Otto der Erlauchte beteiligt
haben sollen. Später erbaute dann Herzog Hermann Billung am
gleichen Ort ein Kloster, dem wiederum erst Herzog Bernhard I. den
1. Abt gab und hiermit die Klostergründung vollendete.
Wir müssen also damit rechnen, dass die Gedenktradition
des Michaelsklosters in die Zeit vor der Einrichtung des Klosters zurückgeht,
dass mit anderen Worten ältere Traditionen in das Gedenken des Konvents
von St. Michael eingingen. Diese sind aber wohl von den Interessen der
Klostergründer nicht zu trennen. Daher ist vorrangig zu klären,
welchen Personenkreis das Lüneburger Necrolog aus der Zeit vor 950
überliefert und in welchem Verhältnis die eingetragenen Personen
zur billungischen Familie standen,
die selbst in dieser Zeit in den Quellen ja noch kaum faßbar ist.
Aus dem 9. Jahrhundert sind im Lüneburger Necrolog
4 Bischöfe, 2 Bremer und 2 Hildesheimer, enthalten und zwar, in der
chronologischen Folge ihrer Todesjahre, Gunther von Hildesheim (+ um 834,
B 73), Willirich von Bremen (+ 838, B 38), Liudrich von Bremen (+ 845,
B 106) und Altfried von Hildesheim (+ 874, B 102). Von den Laien ließ
sich nur eine Person sicher dem 9. Jahrhundert zuweisen. Der am 8. August
im Necrolog genannte
Bitti comes ist wohl mit dem am 7. August in
ein Kalendar des Abtes Hartbert von Lobbes eingetragenen Bitti gleichzusetzen.
Das Kalendar führte der Abt von Lobbes in seinem sächsischen
Exil, er hielt sich unter anderem in Corvey auf. Da er den Todesnachrichten
die Angabe des Wochentages, an dem die Personen verstarben, hinzufügte,
läßt sich ermitteln, dass der Graf Bitti höchstwahrscheinlich
868 oder 874, in jedem Fall aber im 9. Jahrhundert verstarb. Weitere Aussagen
zu seiner Person sind nicht möglich, da er sonst bisher nicht nachgewiesen
werden kann.
Die Zusammenstellung der Belege aus dem 9. Jahrhundert
bietet also nur wenige Anhaltspunkte für eine Auswertung. Es ist bekannt,
dass geistliche Gemeinschaften bei der Erstanlage eines Necrologs die Gedenktradition
einer anderen geistlichen Institution, in deren Tradition sie standen,
übernahmen, doch deuten die wenigen Personen aus dem 9. Jahrhundert
im Falle des Lüneburger Necrologs nicht auf eine solche Übernahme.
In den Bistümern Bremen und Hildesheim, an die man auf Grund der genannten
Bischöfe zunächst denken würde, regierten in dieser Zeit
jeweils mehrere weitere Bischöfe, die nicht ins Lüneburger Necrolog
aufgenommen wurden. Diese Beobachtung schließt wohl die Annahme aus,
es sei die Memorialtradition einer dieser Bischofskirchen in Lüneburg
übernommen worden.
Für das 9. Jahrhundert lassen sich also nur hypothetische
Aussagen über den Charakter des Totengedenkens machen, das sich im
Lüneburger Necrolog erhalten hat. Ebenso bleibt der etwaige Anteil
der Vorfahren der
BILLUNGER an diesem Gedenken im Dunkeln. Die aus
diesem Zeitraum bezeugten Personen, vor allem Bischöfe, deuten immerhin
darauf, dass in die billungische Gedenktradition
hochgestellte Personen aus dem Raum eingingen, in dem die Herrschaft der
BILLUNGER
später
ihr Zentrum hatte. Da wir nur sehr wenige Todestage von Laien aus Sachsen
kennen, die im 9. Jahrhundert lebten, ist nicht auszuschließen, dass
sich, unidentifiziert, die Vorfahren der BILLUNGER noch unter den
Einträgen verbergen. Man muß mit der Möglichkeit rechnen,
dass die Vorfahren der BILLUNGER ein eigenständiges Totengedenken
bereits im 9. Jahrhundert installiert hatten, dessen Aufzeichnungen später
in die Lüneburger Gedenktradition eingingen. Angesichts der wenigen
Identifizierungen läßt sich die Vermutung jedoch nicht sichern.
Aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts überliefert
das Necrolog folgende Bischöfe:
Adalgar von Hamburg/Bremen (+ 917, B 184), Reginwart
von Hamburg/Bremen (+ 918 B 137), Waldbert von Hildesheim (+ 919, B 156),
Adalward von Verden (+ 933, B 150), Unwan von Paderborn (+ 935, B 82) und
Unni von Hamburg/Bremen (+ 936, B 124).
Die Bischofseinträge nehmen also an Dichte nicht
unerheblich zu.
Ferner führt das Lüneburger Necrolog aus dieser
Zeit folgende weltliche Würdenträger auf: König
HEINRICH I. (+ 936, K 24), Wichmann den Älteren (+ 944,
G 39) sowie 3 Personen, deren Todesjahr zwar nicht genau festliegt,
die jedoch sicher vor dem Jahre 932 verstarben. Es handelt sich nämlich
um Personen, die auch in der 931/32 angelegten Abschrift eines Gandersheimers
Necrologs, die sich im Verbrüderungsbuch von St. Gallen erhalten hat,
aufgeführt sind.
In der Necrologabschrift und im Lüneburger Necrolog
entsprechen sich die Einträge: 10 Ekkepret = 7.2. Ekbert comes; 13
Mathilt = 14.2. Mathild regina; 15 Hiltigart = 3. 3. Hilligard regina.
Von diesen Belegen sind zunächst nur die für
Hildegard eindeutig einer bekannten Person zuzuweisen. Am 3. März
eines unbekannten Jahres verstarb nämlich Hildegard,
die Tochter Ludwigs des Jüngeren
und der LIUDOLFINGERIN Liudgard. Sie
ist im Necrolog von Aschaffenburg an diesem Tage als Hildegardis
abbatissa regis filia verzeichnet. Im Lüneburger Necrolog
ist ihr Titel also offensichtlich verderbt wiedergegeben. Es scheint leicht
möglich, dass aus regis filia durch Versehen regina wurde. Interessanterweise
findet sich auch im älteren Necrolog von St. Maximin in Trier am 3.
März der Eintrag: Hildigard regina. Es liegt also hier der gleiche
Fehler vor. Wichtig für die Beurteilung der genannten Personen ist
auch, dass im jüngeren Necrolog von St. Maximin zum 7. Februar, wie
in der Gandersheimer Necrologabschrift und im Lüneburger Necrolog,
ein Egbertus comes verzeichnet ist. Wir können auch diese Person in
3 Necrologzeugnissen nachweisen, ohne allerdings zunächst zu wissen,
um wen es sich handelt. Bei der 3. Person, Mathilde, scheint es ebenfalls
nicht ausgeschlossen, dass der Titel regina durch einen Fehler bedingt
ist. Eine Königin dieses Namens, die am 24. Februar verstorben wäre,
ist nämlich nicht bekannt. Da die gleiche Person im Gedenken der ottonischen
Familie bewahrt ist, und daher vor 932 verstorben sein muß, liegt
es nahe anzunehmen, dass wir eine früh verstorbene, sonst unbekannte
Tochter König HEINRICHS I. und
seiner Frau Mathilde vor uns haben.
Es läge in diesem Fall der gleiche Sachverhalt vor wie bei Hildegard.
Die genannten Personen aus der 1. Hälfte des 10.
Jahrhunderts weisen also auf die ottonische
Familie, die nach der Meinung der Forschung durch die Heirat Wichmanns
des Älteren mit einer Schwester der Königin
Mathilde mit den BILLUNGERN verwandtschaftlich verbunden
war. Damit wird aber gleichzeitig deutlich, dass sich für diese Zeit
Personen im Lüneburger Necrolog nachweisen lassen, die als Verwandte
der BILLUNGER anzusprechen sind. Es scheint also so, als habe das
Gedenken an Verwandte und Angehörige bereits in der Zeit vor 932 begonnen.
Dieser Eindruck wird zur Gewißheit, wenn man die
aus der gleichen Zeit im Lüneburger Necrolog bezeugten Bischöfe
in die Überlieferung einbezieht. Von den oben genannten 7 Bischöfen
aus dieser Zeit begegnen nämlich 3 - Reginward und Unni von Hamburg/
Bremen sowie Adalward von Verden - auch in dem Eintrag einer Verwandtengruppe
aus Sachsen im Reichenauer Verbrüderungsbuch. Karl Schmid konnte zeigen,
dass der spätere Hamburger Erzbischof Adaldag - auch er wurde ins
Lüneburger Necrolog eingetragen - eine Gruppe seiner Verwandten in
das Gebetsgedenken der Reichenauer Mönche aufnehmen ließ. Außer
den Namen von 49 teils verstorbenen, teils noch lebenden Männern und
Frauen wurden in der Zeit zwischen 919 und 933 auch die Mitglieder der
geistlichen Gemeinschaften von Hildesheim, Verden, Gandersheim, Corvey,
Bremen, Neuenheerse, Wendhausen, Herford und Essen in das Gebetsgedenken
eingeschlossen. Dies augenscheinlich deshalb, weil Mitglieder der Verwandtengruppe
den genannten sächsischen Domkapiteln, Klöstern und geistlichen
Frauengemeinschaften angehörten. Je 2 verstorbene und 2 lebende Personen
werden in dem Eintrag als Bischöfe bezeichnet: Uuicpertus eps., Reginuuartus
eps., Adaluuardus eps., Unni eps.. Damit sind die Bischöfe Reginward
von Hamburg (B 137), Adalward von Verdun (B 150), Unni von Hamburg (B 124)
und ein Bischof Wigbert von Hildesheim oder ein gleichnamiger von Verden
gemeint. Als die für uns wichtigste Entdeckung muß der Nachweis
angesehen werden, dass diese Personengruppe dem Verwandtenkreis der 'Nachfahren
Widukinds' zuzuordnen ist. Das Charakteristische dieser Verwandtengruppe
scheint nicht zuletzt darin gegeben, dass nur ihre Mitglieder, die in den
geistlichen Stand eintraten, in der Überlieferung faßbar werden,
dass die Gruppe aber so einflußreich und mächtig war, dass man
sie bei der Vergabe von Bischofssitzen im nördlichen Sachsen über
längere Zeit kaum übergehen konnte. Weiter scheinen ausgezeichnete
Beziehungen zum Corveyer Konvent, dem mehrere der genannten Bischöfe
vor ihrer Erhebung angehörten, ebenso gegeben zu sein wie enge Beziehungen
zu den Hausklöstern der OTTONEN,
zu Gandersheim, Wendhausen, Neuenheerse und Essen.
Die identifizierten Personen des Lüneburger Necrologs
aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts weisen nun so vielfältige
Bezüge zu den Personen der Verwandtengruppe der 'Nachfahren Widukinds'
auf, dass eine neue Spur zu den Vorfahren der BILLUNGER gefunden
scheint. Diese Spur ist deshalb um so wertvoller, weil sie nicht durch
die Feststellung des Namenguts allein gewonnen wurde, sondern weil die
späteren BILLUNGER diese Personen in ihrem Gebetsgedächtnis
bewahrten. Es ist mit anderen Worten ein Bewußtsein der Zusammengehörigkeit
nachgewiesen. Bei einer eingehenden Analyse der Einträge des Lüneburger
Necrologs und der Namen der Verwandtengruppe im Reichenauer Verbrüderungsbuch
ergeben sich folgende signifikante Beobachtungen:
1. Von den 4 im Reichenauer Eintrag genannten
Bischöfen fehlt im Lüneburger Necrolog nur der Bischof Wigbert,
von dem nicht sicher gesagt werden kann, ob es sich um den Hildesheimer
oder den Verdener handelt. In beiden Bistümern amtierte nämlich
zur fraglichen Zeit ein Bischof namens Wigbert. Von den 3 anderen ist für
Adalward von Verden ausdrücklich bezeugt, dass er der Verwandte und
Lehrer Adaldags von Hamburg/Bremen war. Den Bischofssitz von Verden hatten
aber nach Adalwald, wie schon betont, mehrfach Angehörige und Verwandte
der billungischen Familie inne. Da
die Verwandtengruppe offensichtlich bei der Besetzung von Bistümern
im nördlichen Sachsen besonders berücksichtigt wurde, ist dies
ein Indiz für die Zugehörigkeit der späteren BILLUNGER
zu dieser Gruppe.
2. Sowohl unter den Lebenden als auch unter den
Verstorbenen des Reichenauer Eintrags erscheint der Name Waldbert. Ins
Lüneburger Necrolog wurde aber wiederum der in der fraglichen
Zeit verstorbene Bischof Waldbert von Hildesheim (+ 919, B 156) eingetragen.
Dieser Bischof ist zwar im Reichenauer Eintrag nicht genannt - oder nicht
als Bischof gekennzeichnet -, es kann aber kein Zweifel daran bestehen,
dass auch er der Verwandtengruppe zuzurechnen ist.
3. Bischof Unwan von Paderborn (+ 935), ein weiterer
der 7 Bischöfe aus der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts im Lüneburger
Necrolog, trägt nicht nur einen 'immedingischen' Namen, sondern es
fällt angesichts der wenigen Quellenzeugnisse, in denen er überhaupt
erwähnt wird, ins Auge, dass er zweimal gemeinsam mit der Königin
Mathilde in Urkunden HEINRICHS I. intervenierte.
Damit rückt auch er in einen verwandtschaftlichen Zusammenhang mit
den 'Nachfahren Widukinds', zu denen die IMMEDINGER seit langem gerechnet
werden.
4. Sowohl für die Bischöfe des Reichenauer
Eintrags als auch für die des Lüneburger Necrologs aus der fraglichen
Zeit ist charakteristisch, dass sie ihre Laufbahn als Corveyer Mönche
begannen. Dies ist für Adalgar von Hamburg/Bremen, Wigbert von Hildesheim
und Adalward von Verden sicher bezeugt. Die Verwandtengruppe übergab
also ihre für den geistlichen Stand bestimmten Söhne zunächst
dem Corveyer Konvent. Vor diesem Hintergrund ist der Eintrag Bitti comes
ins Lüneburger Necrolog, dessen ja auch in Corvey gedacht wurde, von
höchstem Interesse, zeigt er doch, dass Beziehungen zwischen dem Corveyer
Konvent und den Vorfahren der BILLUNGER bereits im 9. Jahrhundert
nicht unwahrscheinlich sind. Und höchst aufschlußreich ist auch,
dass der Bischof Brun von Verden, der Verwandte der BILLUNGER,
seine geistliche Laufbahn ebenfalls in der Weserabtei begann. Die Verwandtengruppe,
der die BILLUNGER zuzurechnen sind, behielt demnach weiterhin den
Brauch bei, ihre Söhne in den Corveyer Konvent eintreten zu lassen.
Außer durch die konkreten Nachrichten zu den einzelnen
Bischöfen lassen sich auch durch eine Untersuchung der Namen des Eintrags
weitere eindeutige Indizien für einen Zusammenhang der frühen
BILLUNGER
mit der Verwandtengruppe der 'Nachfahren Widukinds' gewinnen. So taucht
der Name Egbert unter den Verstorbenen und den Lebenden des Reichenauer
Eintrags auf. Ihm begegnen wir ja ebenfalls bei dem am 7. Februar verstorbenen
Grafen, der auch im
ottonischen Gedenken
und im jüngeren Necrolog von St. Maximin in Trier genannt ist. Bisher
konnten wir keine Angaben über den Grafen machen, doch muß er
vor 932 verstorben sein, da die Gandersheimer Necrologabschrift, in der
er genannt ist, in diesem Jahr angelegt wurde.
Angesichts dieser zeitlichen Zuordnung liegt es nahe,
ihn mit dem Grafen gleichzusetzen, dem im Jahre 892 von König
ARNULF in exzeptioneller Weise Güter in den Regionen Sachsens
geschenkt wurden, in denen später Herrschaftsschwerpunkte der BILLUNGER
lagen. In der Forschung wird mit guten Gründen vermutet, dass
dieser Graf Egbert König ARNULF
bei dessen Kriegszug gegen die Mährer militärisch unterstützt
hatte. Dass er in einer Urkunde marchio genannt wird, deutet jedenfalls
auf militärische Befehlsgewalt im Grenzgebiet hin. Bedenkt man weiter,
dass im Jahre 929 der Befehlshaber in der Schlacht bei Lenzen den BILLUNGER-Namen
Bernhard
trug und dass im Jahre 936 die billungische
Sippe ein Anrecht auf das Amt des princeps militae zu haben glaubte, werden
Zusammenhänge deutlich, die es mehr als wahrscheinlich machen, dass
der Graf Egbert des Lüneburger Necrologs mit dem von König
ARNULF beschenkten Grafen identisch ist. Wir können in
ihm also einen Vorfahren der BILLUNGER sehen und beschreiben, wodurch
diese Vorfahren der BILLUNGER historisch charakterisiert sind. Sie
hatten, wie ihre Nachfahren, militärische Befehlsgewalt im Grenzgebiet,
unterhielten enge Beziehungen zum Königtum, zur Reichsabtei Corvey
und zu den LIUDOLFINGERN, und sie waren
schließlich verwandtschaftlich mit den 'Nachfahren Widukinds' verbunden.
Durch Hinweise auf Namen, die in dem Reichenauer Eintrag
der 'Nachfahren Widukinds' begegnen, und die im Lüneburger Necrolog
Entsprechungen bei den Personen haben, die bisher nicht identifiziert werden
konnten, seien die Beobachtungen abgerundet. Dem billungischen
'Leitnamen' Bernhard im Reichenauer Eintrag stehen im Lüneburger
Necrolog bisher unidentifizierte Grafen gleichen Namens gegenüber,
die am 15. Januar bzw. 12. September verstarben. Der Name Adalburg erscheint
ebenfalls im Eintrag der 'Nachfahren Widukind' und ist auch sonst in diesem
Zusammenhang bezeugt. Im Lüneburger Necrolog begegnet zum 4. Juni
eine Gräfin dieses Namens, die bisher nicht identifiziert werden konnte.
Schließlich sind ins Lüneburger Necrolog 2 bisher unbekannte
Gräfinnen namens Thiadburg und ein Graf namens Theodericus zum 11.
August, 20. September und 2. Juni eingetragen. Auch diese Namen sind im
Reichenauer Eintrag vertreten.
Durch eine Fülle von Einzelbeobachtungen kann also
nachgewiesen werden, dass die Vorfahren der BILLUNGER in engsten
Kontakten zu den 'Nachfahren Widukinds' standen. Sie sind mit anderen Worten
selbst als ein Teil dieser Verwandtengruppe anzusprechen. Die Summe all
dieser Beobachtungen präzisiert das Wissen um diebillungische
Frühgeschichte nicht unerheblich. Wir können die Existenz eines
den Vorfahren gewidmeten Totengedenkens in einer Zeit nachweisen, die einige
Jahrzehnte vor dem ersten Auftreten des BILLUNGERSHermann in historiographischen
Quellen liegt. Damit soll jedoch nicht behauptet werden, dass es sich bei
diesem Gedenken bereits um das Totengedenken der
BILLUNGER gehandelt
hat. Es scheint sinnvoller, von Vorstufen zu sprechen, die den Beginn der
Formierung der Verwandtengruppe anzeigen.
Deutlich wird aber faßbar, dass die frühen
'BILLUNGER'
in engsten Beziehungen zu dem Verwandtenkreis der Nachfahren Widukinds
standen, der im endenden 9. Jahrhundert den überragenden Einfluß
auf die wichtigsten Bischofssitze im nördlichen Sachsen gewonnen hatte.
Die bisher unbekannten Vorfahren der BILLUNGER erlangten ferner
bereits in dieser Zeit eine beachtliche Königsnähe, wie die Schenkungen
ARNULFS
erkennen
lassen. Und schließlich standen sie in einem vertrauten Verhältnis
zu den LIUDOLFINGERN, wofür das
wechselseitige Totengedenken für Angehörige beider Sippen Zeugnis
gibt. Man muß sich vergegenwärtigen, dass in der Nachfolge Adalwalds
von Verden der Bruder Hermann Billungs,
Amelung, den Verdener
Bischofssitz bestieg und sein Nachfolger Brun
ebenfalls ein Verwandter
der BILLUNGER war, um einzusehen, in welchem Maße das Geschlecht
der BILLUNGER
das Erbe der Verwandtengruppe um die Hamburger, Verdener
und Hildesheimer Bischöfe antrat . Angesichts der späteren Besitzschwerpunkte
der BILLUNGER im nördlichen Sachsen liegt es nahe, anzunehemen,
dass sich dieser Besitz ebenfalls zu einem großen Teil aus dem Erbe
dieser Verwandten rekrutierte.
Damit werden aber auch die politischen Ansprüche
der BILLUNGER, sei es auf das Amt des princeps militae sei es auf
bestimmte Bischofssitze, erst eigentlich verständlich. Es kann keine
Rede davon sein, dass Hermann Billung als 'homo novus' die politische Bühne
betrat, vielmehr gehörte er einer traditionsreichen Verwandtengruppe
an, deren Vornehmheit und Einfluß zumindest im nördlichen Sachsen
konkurrenzlos war. Und das Totengedenken zeigt, auch wenn wir noch nicht
wissen, in welchen Zusammenhängen seine älteste Schicht entstand,
dass sich die späteren BILLUNGER durchaus ihrer Herkunft bewußt
waren. Sonst hätten sie das Gedenken an ihre Vorfahren nicht in die
Gedenktradition des Michaelsklosters aufnehmen lassen. In diesem Zusammenhang
ist auch ein Problem zu diskutieren, das in der Forschung bis heute nicht
gelöst erscheint. Zwar geht man einhellig davon aus, dass der BILLUNGER
Wichmann der Ältere eine Schwester der Königin
Mathilde geheiratet habe. Strittig und unentschieden ist jedoch,
ob es sich um Friderun oder Bia handelte. Ein konkretes Quellenzeugnis
gibt es für diese Heirat nicht. Doch werden Wichmann der Jüngere
und Egbert der Einäugige, die man mit guten Gründen, jedoch
ebenfalls ohne ein direktes Quellenzeugnis, als Söhne Wichmanns
des Älteren ansieht, von Widukind von Corvey als consobrini und
nepotes OTTOS DES GROSSEN bezeichnet.
Außerdem ist von den beiden Brüdern in den Annales Quedlinburgenses
und, daraus übernommen, bei Thietmar von Merseburg als von materterae
regis filii die Rede. Scheint somit durch die angeführten Quellen
das Verwandtschaftsverhältnis genügend genau angegeben, so entdeckt
man bei der Durchsicht der anderen einschlägigen Quellenstellen gewichtige
Gegengründe, die eine Heirat Wichmanns des Älteren mit
einer der genannten Schwestern der Königin
Mathilde geradezu ausschließen. Friderun kann, das hat
schon Ruth Bork richtig gesehen, deshalb nicht die Frau Wichmanns
gewesen sein, weil sie erst im Jahre 971 starb. Widukind bemerkt nämlich
schon für die 50-er Jahre in Bezug auf Wichmann den Jüngeren,
er sei, destitutus a patre et matre, von OTTO
DEM GROSSEN erzogen worden. Ruth Bork entschied sich deshalb
für Bia als Gemahlin des älteren Wichmann. Diese
muß jedoch auf Grund ihres Todesdatums ebenfalls von der Zuordnung
ausgeschlossen werden. Da Bia nämlich in der Abschrift des
ottonischen
Familiennecrologs im Verbrüderungsbuch von St. Gallen enthalten ist,
muß sie spätestens in den Jahren 931/32 gestorben sein. Nun
nennt aber Widukind von Corvey, dem in diesen Fragen zweifelsohne die Rolle
eines Kronzeugen zukommt, den jüngeren Wichmann und Egbert
noch
zu den Jahren 953/54 iuvenus und adolescentes. Selbst wenn also einer von
ihnen im letzten Lebensjahr der Bia
geboren worden wäre, wäre
er zum besagten Zeitraum 22 oder 23 Jahre alt gewesen, der andere Bruder
in jedem Fall noch älter. Selbst dieser knappste Zeitansatz schließt
daher eine Bezeichnung wie adolescentes in den Jahren 953/54 wohl aus.
Außerdem wird in der Forschung angenommen, dass auch Hathwig,
die 1014 verstorbene Äbtissin von Gernrode und Vreden, eine Tochter
Wichmanns
des Älteren gewesen sei. Über deren Lebensdaten sind wir
durch Thietmar von Merseburg sehr genau unterrichtet. Sie wurde 13-jährig
mit Siegfried, dem Sohn des Markgrafen Gero, verheiratet, der nach 7-jähriger
Ehe um das Jahr 959 verstarb. Demzufolge muß sie 939 geboren sein.
Ihre vermeintliche Mutter Bia
war zu diesem Zeitpunkt schon längst
verstorben. Hinzu kommt, dass Bia im Gandersheimer Necrolog als
praeposita bezeichnet wird. Sie gehörte also an ihrem Lebensende einer
geistlichen Gemeinschaft an, was eine Ehe mit dem 944 verstorbenen Wichmann
dem Älteren ebenfalls ausschließt. Zu diesen Befunden paßt,
dass weder Friderun noch Bia im Lüneburger Nec [Dies zeigt sich auch
im westlichen Sachsen, wo die BILLUNGER mit Wichmann III.
und seiner Vogteigewalt über Vreden, Metelen und Borghorst im 11.
Jahrhundert einen Herrschaftsschwerpunkt hatten. Vreden ist als Gründung
der Nachfahren Widukinds bekannt; in Borghorst zeigt das
billungischbeeinflußte
Totengedenken ebenfalls deutliche Spuren der Nachfahren Widukinds]. Angesichts
der späteren Besitzschwerpunkte rolog erscheinen, was angesichts der
sonstigen Vollständigkeit der Eintragungen von Familienangehörigen
auffällt und ebenfalls gegen eine Ehe einer der genannten Frauen mit
Wichmann
dem Älteren spricht.
Es bleibt also nichts anderes übrig, als entweder
anzunehmen,
Wichmann habe eine andere, namentlich unbekannte Schwester
der Königin Mathilde geheiratet,
oder die Tatsache einer verwandtschaftlichen Bindung zwischen der Familie
der Königin Mathilde und den BILLUNGERN
zu konstatieren, ohne eine genauere genealogische Zuordnung zu wagen. An
der Tatsache der Verwandtschaft selbst zu zweifeln, besteht gerade angesichts
der neuen Beobachtungen zu den Anfängen des billungischenGedenkens
kein Anlaß.
Offen bleiben muß dagegen zunächst noch, wo
dieses Gedenken ursprünglich geführt wurde und welche Personengruppe
für seine Pflege verantwortlich war. Ungeklärt ist auch, zu welchem
Zeitraum es mit dem Gedenken des Konvents von St. Michael in Lüneburg
vereinigt wurde. Diese Fragen sind jedoch erst zu klären, wenn auch
die weitere Entwicklung dieses Gedenkens in den Blick getreten ist.
Zum Schluß dieser den Anfängen desbillungischen
Gedenkens geltenden Untersuchungen sei noch eine Beobachtung mitgeteilt,
die in diesem Zusammenhang nicht unwichtig zu sein scheint. Es ist schon
oft vermutet worden, dass Widukind von Corvey ebenfalls zu den Nachfahren
Widukinds zu rechnen sei. Damit würde er jedoch ebenfalls zu dem Verwandtenkreis
gehören, der sich in der 1. Hälfte des 10. Jahrhunderts im Lüneburger
Necrolog nachweisen läßt. Auch weist die plastische und anteilnehmende
Schilderung, die Widukind den Rebellen Wichmann und Egbert
zukommen
ließ, nachdrücklich darauf hin, dass bei ihm in diesen Fällen
mehr als nur historiographisches Interesse an den handelnden Personen anzunehmen
ist. Schließlich waren es ja auch, wenn die Beobachtungen der Forschung
richtig sind, seine Verwandten. Wir hätten in Widukind also ein weiteres
Mitglied der Verwandtengruppe vor uns, das im Corveyer Konvent seine geistliche
Laufbahn begann.
Es ist daher nicht unwahrscheinlich, dass Widukind von
Corvey, dessen Todestag bisher unbekannt ist, sich unter den Todeseinträgen
des Lüneburger Necrologs verbirgt. Die Suche erhält dadurch eine
bestimmte Richtung, dass der Name Widukind im Merseburger Necrolog
gänzlich fehlt. Gerade im ottonischen Totengedenken,
das zum Zeitpunkt seines Todes in Quedlinburg unter der Leitung der Äbtissin
Mathilde gepflegt wurde, wäre der Historiograph auf Grund
seiner Beziehungen zur Königsfamilie, und namentlich zur Äbtissin
Mathilde, eigentlich zu erwarten. Da dem nicht so ist, wird
der Blick auf die Zeit gelenkt, für die das Merseburger Necrolog keine
Einträge überliefert, auf die Zeit zwischen dem 1. Januar und
dem 17. März. Und in der Tat wird man im Lüneburger Necrolog
in dieser Zeit fündig: Am 3. Februar begegnet dort als 1. Eintrag
zum Tag Widukind presbyter monachus. Wenn diese Beobachtung auch nicht
mehr als ein Hinweis sein kann, so ist doch zu bedenken, dass der Name
Widukind im 9., 10. und 11. Jahrhundert selbst in Sachsen nur sehr selten
belegt ist. Auch spricht die Eintragung am Anfang der Namen zum 3. Februar
dafür, dass Widukind zur ältesten Schicht der Necrologeinträge
gehört. Der Titel ist ferner derjenige, den man auch bei dem Corveyer
Historiographen erwarten mußte. Es scheint daher angesichts der anderen
Personen aus dem Kreis der Nachfahren Widukinds nicht abwegig, mit aller
Vorsicht anzunehmen, dass sich hinter den zitierten Eintrag der berühmte
Corveyer Mönch verbirgt.
Trotz der wenigen Personen, die wir aus den 1. Jahrzehnten
des 10. Jahrhunderts im Lüneburger Necrolog nachweisen können
- wobei nicht anzunehmen ist, dass die Zahl sich erheblich vergrößern
würde, wenn es gelänge, im Necrolog alle Personen dieses Zeitraums
zu identifizieren -, zeichnen sich die ältesten Bindungen der billungischen
Sippe doch klar ab. Ungefähr zur gleichen Zeit, als Adaldag, der spätere
Erzbischof von Hamburg/Bremen, seine Verwandten in das Reichenauer Gebetsgedenken
aufnehmen ließ, intensivierte man auch bei den Vorfahren der BILLUNGER
die
memoria der Todestage von Verwandten und Freunden. Dabei wurde im wesentlichen
der gleiche Personenkreis festgehalten. Die Vorfahren der
BILLUNGER
- zu denken ist etwa an die Generation der Eltern Hermanns - sind
daher dem Kreis der Nachfahren Widukinds zuzurechnen. Zu diesen Befunden
paßt die späte Nachricht aus Verden, dass bereits Bischof Wigbert
von Verden, der ebenfalls dem Verwandtenkreis angehörte, im Jahre
906 in Lüneburg eine Kirche erbaut habe. Hier könnte also bereits
ein auf die Sippe bezogenes Gedenken gepflegt worden sein, das später
in die billungische Gedenktradition
einging, denn das Gedenken an die Verstorbenen, wie es sich im Lüneburger
Necrolog spiegelt, ist sicher älter als die Gründung des Michaelsklosters.
Es gibt aber keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass dieses Gedenken
von Anfang an in Lüneburg geführt worden sein müßte.
Eine Übertragung von einem anderen Ort ist gleichermaßen denkbar.
In den ältesten Schichten des Totengedenkens läßt
sich also der Formierungsprozeß der Sippe beobachten, die unscharf
zunächst als Gruppe von Verwandten faßbar wird. Wir sind zunächst
nicht in der Lage, ihren Kern zu erkennen, bestimmte Personen als Initiatoren
des Gedenkens zu erweisen oder den Ort zu nennen, an dem dieses Gedenken
praktiziert wurde. Aus dieser weitläufigen Verwandtengruppe hat sich
jedoch im Laufe des 10. Jahrhunderts das Geschlecht der BILLUNGER
entwickelt, das die späteren Charakteristika seiner Herrschaft, den
Besitz, die Lehen und die Ämter erwarb und im Erbgang Mitgliedern
des Geschlechts bewahrte. In die Zeit dieses Prozesses fallen dann auch
die bekannten Auseinandersetzungen zwischen den sogenannten 'Zweigen' der
BILLUNGER.
Schon die ersten Beobachtungen zu den Anfängen des
'billungischen'Totengedenkens
zeigen daher, dass die aus dem Hoch- und Spätmittelalter entlehnte
Vorstellung von verschiedenen Zweigen eines Geschlechts an der frühmittelalterlichen
Wirklichkeit der Verwandtengruppe, aus der später die BILLUNGER
herauswuchsen, vorbeigeht. Das benutzte Bild von den 'Zweigen' erfordert
einen vorhergehenden 'Stamm', mit dem die sich abzeichnende Verwandtengruppe
sicher nichts gemein hat. So erweist es sich als höchst problematisch,
für das frühe 10. Jahrhundert von den 'BILLUNGERN' zu
reden, da so unterschiedliche Erscheinungsformen wie die Verwandtengruppe
des frühen 10. Jahrhunderts und das Herzogsgeschlecht des 11. Jahrhunderts
kaum zureichend mit denselben Begriffen angesprochen werden können.
Den sich abzeichnenden Prozeß der Formierung des Geschlechts gilt
es bei der weiteren Untersuchung im Auge zu behalten.