Noch in einen anderen, nicht ganz so bekannten Ehestreit
hat Papst Nikolaus I. Partei ergriffen. Hier begegnet uns im schweren
und glanzvollen Leben der karolingischen Prinzessin
Judith, Königin von England und Gräfin von
Flandern, ein Frauenschicksal, das die Realität der fränkischen
Spätzeit spiegelt, den Widerstreit zwischen den Normen und den harten
Forderungen der Politik, aber auch den Sieg treuer Gattenliebe und die
Bedeutung ehelicher Verbindungen für die Stellung einer Dynastie und
die kulturelle Entfaltung einer Landschaft. Wir verdanken Heinrich Sproemberg
die wissenschaftliche Biographie der Judith.
Sie war eine Tochter des westfränkischen Herrschers
KARLS
DES KAHLEN und wird erst anläßlich ihrer Verlobung
erwähnt. Diese Verlobung mit Ethelwulf,
Oberkönig der Angelsachsen, im Juli 856 war eine Haupt-
und Staatsaktion.
Ethelwulf war damals
mindestens 50 Jahre alt, aber offensichtlich noch recht rüstig, er
war Vater eines eben erst 6-jährigen Sohnes und besiegte die Normannen
851 in der Schlacht bei Ockley. Judith
war 12 bis 13 Jahre alt, besaß damit gerade das kanonische Mindestalter
für Frauen. Eine Erschwerung bei dem Ehebündnis war von Anfang
an, daß Ethelwulf aus erster
Ehe eine Schar von Söhnen besaß, deren ältester, Ethelbald,
als sein Stellvertreter schon Regent in England war. Die zweite Heirat
Ethelwulfs
mit Judith hatte politische Hintergründe.
KARL
DEM KAHLEN gab die Freundschaft und verwandtschaftliche Verbindung
mit dem angelsächsischen Oberkönig erwünschte Gelegenheit,
sich gegenüber den fränkischen Nachbarkönigen und seinen
eigenen Vasallen zu profilieren. Zwistigkeiten mit dem Bruder, Ludwig
dem Deutschen, und der Ansturm der Normannen machten ihm zu
schaffen. Seine Familie rücksichtslos seinen politischen Interessen
dienstbar zu machen, war ihm selbstverständlich. Für Ethelwulf,
der das vom Vater ererbte Oberkönigtum der Westsachsen gegenüber
den Teilreichen behaupten mußte, bedeutete die eheliche Verbindung
mit einer Urenkelin KARLS
DES GROSSEN einen klaren Gewinn für sein Ansehen. Die
Hochzeit wurde mit großer Pracht in Verberie an der Oise bei der
Pfalz Senlis gefeiert unter Mitwirkung des Erzbischofs Hinkmar von Reims.
Bei der Eheschließung wurde Judith
nach fränkischem Brauch zur Königin der Westsachsen gekrönt.
Die erhaltene lateinische Krönungspredigt Hinkmars belehrte Judith
über ihre Pflichten als Frau und Herrscherin. Darauf folgte die Übergabe
des Ringes, die besondere Formel zur Krönung und die Einsegnung der
Königin. Dem glanzvollen Auftakt entsprach aber nicht der Empfang
in England, wo sich Ethelwulf einer
Verschwörung Ethelbalds mit den
angelsächsischen Großen gegenübersah, der wohl die Sorge
vor einer stärkeren Betonung der Königsgewalt nach karolingischem
Muster zugrundelag. Es kam zu einer Reichsteilung. In seinem Testament
sprach Ethelwulf seinem Sohn Ethelbald
das Oberkönigtum und die Obergewalt über das ganze Reich zu.
Judith, deren Königtum anerkannt wurde, kommt in diesem
Testament nicht vor, sie war aber von ihrem Gatten mit bedeutendem Besitz
in England bewidmet worden.
Schon 855 starb Ethelwulf.
Ethelbald
ergriff die Regierung - und heiratete Judith.
Diese Heirat zwischen Stiefmutter und Stiefsohn widersprach den kirchlichen
Vorschriften und der weltlichen Gesetzgebung. Aber offenbar hat der westfränkische
Hof aus politischen Gründen diese Ehe anerkannt, und die Kirche hat
sie toleriert; älterer angelsächsischer Brauch hat sich dabei
durchgesetzt. Die Initiative zur Eheschließung lag bei Ethelbald.
Aber zweieinhalb Jahre nach der Hochzeit - 860 - starb auch er. Die kinderlose
Witwe Judith kehrte nach Veräußerung
ihres englischen Besitzes in Ehren nach Frankreich zurück. Sie wurde
in der festen Stadt Senlis unter väterlichem und königlichen
Schutz und Bewachung durch den Bischof samt ihrer Schatz verwahrt. Ihr
blieb nur die Wahl, hier in strenger Haft zu leben oder einen Mann nach
dem Befehl ihres Vaters anzunehmen.
Nach zwei freudlosen Jahren nahte im Frühjahr 862
die Rettung: Es gelang ihr mit Ritter Balduin, der ihre Liebe gewonnen
hatte, verkleidet in Nacht und Nebel aus Senlis zu entfliehen. Balduins
Herkunft ist umstritten; so viel ist wohl sicher: Ein ebenbürtiger
Partner für eine karolingische
Prinzessin war er nicht. Allerdings war der Mangel an Königshäusern
germanischen Geblüts schon immer eine Schwierigkeit für die Verheiratung
der karolingischen Prinzessinnen; deshalb
hat man nicht unbedingt auf Ehepartnern aus der hohen Aristokratie bestanden.
Aber diese Ehe Judiths paßte
keineswegs in das politische Kalkül ihres Vaters. Vielleicht hatte
Balduin
im Gefolge von Judiths Bruder Ludwig
den Zugang zu Judith gefunden; Ludwig
stimmte
der Heirat seiner Schwester mit Balduin zu. Die beiden jungen, aber
schon mit dem Königstitel geschmückten Brüder
Judiths,
Ludwig
der Stammler und Karl von Aquitanien,
schlossen Ehen, die der Vater nicht anerkennen wollte. Die dritte Ehe Judiths
besaß einen politischen Hintergrund: den Aufstand der Söhne
und Großen gegen den autoritären KARL
DEN KAHLEN. Diesmal aber hatte Judith
aus Liebe geheiratet. Der wohl schon vorgewarnte königliche Vater
sprengte durch seinen eiligen Marsch nach Senlis die Verschworenen auseinander,
es gelang ihm aber nicht, das junge Paar zu ergreifen. Er berief ein Hofgericht,
das
Balduin wegen Frauenraubes - obwohl feststand, daß Judith
ihm freiwillig gefolgt war - und Untreue verurteilte; Balduins Lehen
wurden eingezogen. KARL rief auch die
Kirche an; die am Hof weilenden Bischöfe exkommunizierten unter Anführung
Hinkmars Balduin und Judith.
Damit verfielen auch Judiths Ansprüche
an das in Senlis deponierte englische Gold., Hinkmars unversöhnliche
Feindseligkeit gegen das junge Paar entsprach seiner scharfen Verurteilung
jeglichen Frauenraubes. Balduin und Judith
flohen zunächst an den Hof des lothringischen Herrschers Lothar
II., der die Schicksalsgenossen gerne aufnahm. Wahrscheinlich
wurden sie hier getraut. KARL DER KAHLE
forderte ihre Auslieferung.
Balduin wußte, daß er mit
seiner jungen Frau am Hof Lothars auf
die Dauer nicht sicher war und tat einen kühnen Schachzug: Er floh
mit Judith über die Alpen zur
Kurie und appellierte an den Papst, "er vertraue mehr auf die Hilfe der
Apostel Petrus und Paulus als auf den Schutz der Könige dieser Erde.
Die Rechtslage war verwickelt. Die kirchenrechtliche Verurteilung Balduins
setzte die gewaltsame Entführung voraus, von einer solchen war aber
keine Rede. Nach fränkischem Recht unterstand
Judith
als Witwe nicht mehr der Muntgewalt des Vaters. Diese Frage
war vom kirchlichen Standpunkt aus, der im Konsens der Brautleute den rechtskonstitutiven
Akt der Ehe sah, nicht ausschlaggebend, wenn auch Judiths
dritte Ehe keine dotierte Muntehe war. Aber Balduin hatte den Königsschutz
gebrochen, unter dem Judith stand,
und das Recht seines Lehnsherrn verletzt.
Der Papst ging sehr vorsichtig vor. Politisch spielte
seine Auseinandersetzung mit Hinkmar über die Grenzen der päpstlichen
und erzbischöflichen Gewalt eine Rolle. Er nahm die Appellation Balduins
an. Daß Judith sich vor ihm rückhaltlos
für Balduin erklärte, hat sein Verhalten mitbestimmt.
In einem Brief an KARL DEN KAHLEN betont
er, daß Judith ihm mit eigenem
Mund gesagt habe, daß sie Balduin über alles liebe und
ihm freiwillig gefolgt sei. Er bat den König, Balduin zu verzeihen
und ihn in Gnaden wieder aufzunehmen, er fürchte, Balduin könne
sich sonst mit den Normannen verbinden. Im Brief an die königliche
Mutter Judiths betont er Balduins
Schuld und reumütiges Bekenntnis. Er sieht sich als Vermittler in
einem Familienkonflikt.
Sene Rechtsauffassung geht aus einem Brief hervor, den
er an KARL wegen der ebenfalls ohne
väterliche Erlaubnis geschlossenen Heirat seines jüngeren Sohnes
Karls
von Aquitanien richtete. Er tadelte die Ehe wider den Willen
des Vaters, lehnt es aber ausdrücklich ab, aus diesem Grund die Ehe
aufzulösen. Der Fall Balduins lag ähnlich. Die Bischöfe
bat er, beim König Fürsprache für Balduin einzulegen.
Hinkmar willfahrte dieser Bitte nicht; ihm ist es zuzuschreiben, daß
der König erst im Oktober 863 Judith
vor sich kommen ließ, und zwar in Verbrie, wo ihre erste Hochzeit
stattgefunden hatte. Balduin forderte unter Berufung auf den Papst
sofortige Vornahme der offiziellen Eheschließung, die dann auch in
Auxerre vorgenommen wurde. Aber noch drei Jahre nach der Hochzeit war Balduin
vom König nicht ausgestattet worden. Der Papst mahnt den König,
auch hierin das Seinige zu tun. Das Stichwort "dos" fällt zwar nicht,
schließlich gehörte zur Verzeihung auch die Restituierung Balduins
in
seine Lehen, aber der Gedanke der Dosbestellung dürfte mit im Spiel
gewesen sein. Der zähen Energie
Balduins
gelang es schließlich,
auch die Bewidmung mit Flandern zu erreichen.
Über Judith
hören wir nichts mehr. Sie hatte ihr Lebensglück gefunden. Ihre
königliche Abkunft und ihre reiche Mitgift stärkten die Stellung
ihres Gatten, dem auf diesem gefährdeten Außenposten des westfränkischen
Reiches in einem von Wasser und Wald beherrschten Gebiet, das der politischen
Ordnung entbehrte, eine schwere Aufgabe gestellt war.
Judiths enger Verbindung zum westfränkischen Hof war es
auch zuzuschreiben, daß in diesem östlichsten Gebieten W-Frankens
die karolingische Kultur eine dauernde
und tiefe Wirkung gewann. Sie schenkte Balduin zwei Söhne,
Balduin
II., Nachfolger seines Vaters, und Rudolf,
Graf von Cambrai. Bis 1127 blühte die flandrische Dynastie,
deren Stammutter Judith war.