Le Goff Jacques: Seite 220-222
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"Ludwig der Heilige"

In Flandern, einem der größten und vermutlich dem reichsten Lehen des französischen Königreichs, waren die Frauen nach lehnsherrlicher Gewohnheit - und im Gegensatz zu der ausschließlich männlichen Nachfolgetradition der KAPETINGER-Könige - vollgültige Erbinnen der Grafschaft, sofern das Erstgeburtsrecht ihnen den Vorrang gab. Doch wegen der Eheverhältnisse der Gräfin, Margarete von Flandern, herrschte fast dreißig Jahre ein kompliziertes Durcheinander, das schon mehrfach für Aufruhr gesorgt und erheblichen Unfrieden gestiftet hatte. Von diesen Verwicklungen will ich nur das erzählen, was uns erlaubt, die Intervention Ludwigs IX. zu verstehen.
Gräfin Johanna, Witwe des in der Schlacht bei Bouvines besiegten Ferrand von Portugal war 1244 kinderlos gestorben und hatte die Grafschaft ihrer jüngeren Schwester Margarete hinterlassen. Margarete war in erster Ehe mit Bouchard von Avesnes, Bailli des Hennegau, verheiratet gewesen. Doch da Bouchard, ursprünglich für die kirchliche Laufbahn bestimmt, die Weihen des Subdiakons empfangen hatte, besaß seine Ehe keine Gültigkeit, und Johanna hatte schon 1216 für den Bund ihrer Schwester die Nichtigkeitserklärung der römischen Kurie erwirkt. Margarete und Bouchard von Avesnes hatten sich indessen nicht sofort getrennt und zwei Söhne bekommen. 1223 schloß Margarete eine zweite Ehe mit Wilhelm von Dampierre, dem sie drei Knaben gebar. So begann der Konflikt zwischen den Brüdern AVESNES, die auf ihr Erstgeburtsrecht pochten, und den DAMPIERRE, die ihren Halbgeschwistern, Sprößlingen einer illegitimen Ehe, das Erbrecht absprachen und denen die Gunst ihrer Mutter galt.
Ludwig IX. schaltete sich wiederholt ein, seines auf Ersuchen dieser oder jener der beiden Parteien, sei es aus eigenem Antrieb, weil ihm als obersten Lehnsherrn das Schicksal eines seiner wichtigsten Lehen nicht gleichgültig sein konnte. 1235 verbürgte er ein Abkommen zwischen Johanna und Margarete, das eine ungleiche Erbteilung vorsah: zwei Siebtel den AVESNES, fünf Siebtel den DAMPIERRE. Die ganze Angelegenheit war um so komplizierter, als ein Teil des Erbes, die Grafschaft Flandern, zum Königreich Frankreich gehörte, während der andere Teil, das Herzogtum Flandern und seit 1245 auch die Markgrafschaft Namur (mit der Kaiser FRIEDRICH II. Gräfin Margarete belehnt hatte, die aber inzwischen als Pfand für die große Leihgabe zugunsten des lateinischen Kaisers von Konstantinopel, Balduin II. von Flandern [Richtigstellung: Balduin
entstammte zwar über seine Mutter Jolanthe dem flandrischen Grafenhaus. Seine exakte Bezeichnung ist jedoch Balduin II. von Courtenay.], an den König von Frankreich gefallen war), im Reichsgebiet lag. Die kaiserlose Zeit nach dem Tode FRIEDRICHS II. im Jahr 1250 ließ dem König von Frankreich freiere Hand.
Im Jahr 1246 hatten Ludwig IX. und der päpstliche Legat Odo von Chateauroux im Rahmen der auf den Kreuzzug ausgerichteten Befriedungsmaßnahmen ein Abkommen ausgehandelt, demzufolge der Hennegau den AVESNES und Flandern den DAMPIERRE zufallen sollte. Margarete setzte ihren Sohn Wilhelm von Dampierre in die Grafenwürde ein. Doch Wilhelm, der sich dem Kreuzzug Ludwigs IX. anschloß und 1250 mit den wichtigsten Baronen aus dem Heiligen Land zurückkherte, starb ein Jahr später ganz plötzlich. Margarete übertrug den Grafentitel seinem jüngeren Bruder Guido, der im Februar 1252, während sich König Ludwig noch im Heiligen Land aufhielt, Blanka von Kastilien den Lehnseid leistete. Unterdessen hatte der Papst 1249 endlich die Legitimität der Brüder AVESNES anerkannt.
Aber Gräfin Margarete verweigerte Johann von Avesnes den Hennegau und wollte ihm nur die Markgrafschaft Namur belassen, deren Lehnsherrschaft sie ihm 1249 abgetreten hatte. Im übrigen stiftete sie ihre Söhne DAMPIERRE, Guido und seinen Bruder, sowie etliche französische Barone an, sich in einem Handstreich der seeländischen Inseln zu bemächtigen, über die sie für die Grafschaft Flandern Lehnshoheit beanspruchte. Die Landung auf Walcheren war ein Desaster, und im Juli 1253 nahm der Graf von Holland, ein Bruder des Römischen Königs, die DAMPIERRE und mehrere französische Barone gefangen. Daraufhin rief Gräfin Margarete Karl von Anjou, den jüngsten Bruder Ludwigs des Heiligen, zu Hilfe. Für seinen Beistand versprach sie ihm den Hennegau. Karl ging auf den Vorschlag ein, besetzte Valenciennes und Mons, wurde aber von seinen Ratgebern dazu überredet, einen Waffengang gegen den Römischen König, der mit dem König von Frankreich im besten Einvernehmen stand, zu unterlassen.
Aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, beschloß Ludwig IX., in den Konflikt einzugreifen. Dafür hatte er drei gute Gründe: Zwei seiner Vasallen, der Graf von Flandern und dessen Bruder, befanden sich - nachdem der Graf von Holland die anderen französischen Barone freigelassen hatte - immer noch in Gefangenschaft; sein eigener Bruder war in die Sache verstrickt, und er wollte dem Abkommen von 1246 Respekt verschaffen. Verärgert über die unvorsichtigen Initiativen seines Bruders, rief er als erstes Karl von Anjou nach Paris zurück.
Behutsam in seinem Vorgehen, suchte Ludwig dann in Gent Gräfin Margarete auf, um sie seiner Unterstützung zu versichern und ihr seine Vorschläge zu unterbreiten. Nachdem die Gräfin und ihre Söhne AVESNES übereingekommen waren, Ludwig IX. als Schiedsrichter zu akzeptieren, fällte dieser am 24. September 1256 seinen Spruch (Dit de Peronne), der im wesentlichen eine Neuauflage des Abkommens von 1246 war: Hennegau den AVESNES, Flandern den DAMPIEERE. Aber inzwischen war der Hennegau an Ludwigs Bruder, Karl von Anjou, vergeben. Ludwig verschaffte Karl die Möglichkeit, sich ohne Gesichtsverlust aus der Affäre zu ziehen: Gräfin Mararete kaufte den Hennegau zu einem sehr hohen Preis zurück. Für die Freilassung der DAMPIERRE mußte sie auch dem Grafen von Holland ein stattliches Lösegeld zahlen, aber kurz danach söhnte sich der überlebende ihrer beiden Söhne aus dem Haus AVESNES, Balduin, Graf von Hennegau, mit ihr aus.