In Flandern, einem der größten und vermutlich
dem reichsten Lehen des französischen Königreichs, waren die
Frauen nach lehnsherrlicher Gewohnheit - und im Gegensatz zu der ausschließlich
männlichen Nachfolgetradition der KAPETINGER-Könige
- vollgültige Erbinnen der Grafschaft, sofern das Erstgeburtsrecht
ihnen den Vorrang gab. Doch wegen der Eheverhältnisse der Gräfin,
Margarete
von Flandern, herrschte fast dreißig Jahre ein kompliziertes
Durcheinander, das schon mehrfach für Aufruhr gesorgt und erheblichen
Unfrieden gestiftet hatte. Von diesen Verwicklungen will ich nur das erzählen,
was uns erlaubt, die Intervention Ludwigs IX.
zu
verstehen.
Gräfin
Johanna, Witwe des in der Schlacht bei Bouvines besiegten
Ferrand von Portugal war 1244 kinderlos
gestorben und hatte die Grafschaft ihrer jüngeren Schwester Margarete
hinterlassen.
Margarete
war in erster Ehe mit Bouchard
von Avesnes, Bailli des Hennegau, verheiratet gewesen. Doch
da Bouchard, ursprünglich für die kirchliche Laufbahn
bestimmt, die Weihen des Subdiakons empfangen hatte, besaß seine
Ehe keine Gültigkeit, und Johanna
hatte schon 1216 für den Bund ihrer Schwester die Nichtigkeitserklärung
der römischen Kurie erwirkt. Margarete
und Bouchard von Avesnes hatten sich indessen nicht sofort getrennt
und zwei Söhne bekommen. 1223 schloß Margarete
eine zweite Ehe mit Wilhelm von Dampierre, dem sie drei Knaben gebar.
So begann der Konflikt zwischen den Brüdern AVESNES,
die auf ihr Erstgeburtsrecht pochten, und den DAMPIERRE, die ihren
Halbgeschwistern, Sprößlingen einer illegitimen Ehe, das Erbrecht
absprachen und denen die Gunst ihrer Mutter galt.
Ludwig IX. schaltete
sich wiederholt ein, seines auf Ersuchen dieser oder jener der beiden Parteien,
sei es aus eigenem Antrieb, weil ihm als obersten Lehnsherrn das Schicksal
eines seiner wichtigsten Lehen nicht gleichgültig sein konnte. 1235
verbürgte er ein Abkommen zwischen Johanna
und Margarete, das eine ungleiche Erbteilung
vorsah: zwei Siebtel den AVESNES, fünf Siebtel den DAMPIERRE.
Die ganze Angelegenheit war um so komplizierter, als ein Teil des Erbes,
die Grafschaft Flandern, zum Königreich Frankreich gehörte, während
der andere Teil, das Herzogtum Flandern und seit 1245 auch die Markgrafschaft
Namur (mit der Kaiser
FRIEDRICH II. Gräfin Margarete belehnt hatte, die aber
inzwischen als Pfand für die große Leihgabe zugunsten des lateinischen
Kaisers von Konstantinopel, Balduin II. von Flandern
[Richtigstellung: Balduin
entstammte zwar über seine Mutter Jolanthe
dem
flandrischen Grafenhaus. Seine exakte Bezeichnung ist jedoch
Balduin
II. von Courtenay.], an den König von Frankreich gefallen
war), im Reichsgebiet lag. Die kaiserlose Zeit nach dem Tode FRIEDRICHS
II. im Jahr 1250 ließ dem König von Frankreich freiere
Hand.
Im Jahr 1246 hatten Ludwig IX.
und der päpstliche Legat Odo von Chateauroux im Rahmen der auf den
Kreuzzug ausgerichteten Befriedungsmaßnahmen ein Abkommen ausgehandelt,
demzufolge der Hennegau den AVESNES und Flandern den DAMPIERRE
zufallen
sollte. Margarete setzte ihren Sohn
Wilhelm
von Dampierre in die Grafenwürde ein. Doch
Wilhelm, der
sich dem Kreuzzug Ludwigs IX. anschloß
und 1250 mit den wichtigsten Baronen aus dem Heiligen Land zurückkherte,
starb ein Jahr später ganz plötzlich.
Margarete
übertrug
den Grafentitel seinem jüngeren Bruder Guido, der im Februar
1252, während sich König Ludwig
noch im Heiligen Land aufhielt, Blanka von Kastilien
den Lehnseid leistete. Unterdessen hatte der Papst 1249 endlich die Legitimität
der Brüder AVESNES anerkannt.
Aber Gräfin Margarete verweigerte
Johann
von Avesnes den Hennegau und wollte ihm nur die Markgrafschaft
Namur belassen, deren Lehnsherrschaft sie ihm 1249 abgetreten hatte. Im
übrigen stiftete sie ihre Söhne DAMPIERRE, Guido
und seinen Bruder, sowie etliche französische Barone an, sich in einem
Handstreich der seeländischen Inseln zu bemächtigen, über
die sie für die Grafschaft Flandern Lehnshoheit beanspruchte. Die
Landung auf Walcheren war ein Desaster, und im Juli 1253 nahm der Graf
von Holland, ein Bruder des Römischen Königs, die DAMPIERRE
und mehrere französische Barone gefangen. Daraufhin rief Gräfin
Margarete Karl von Anjou, den jüngsten Bruder Ludwigs
des Heiligen, zu Hilfe. Für seinen Beistand versprach sie
ihm den Hennegau. Karl ging auf den
Vorschlag ein, besetzte Valenciennes und Mons, wurde aber von seinen Ratgebern
dazu überredet, einen Waffengang gegen den Römischen König,
der mit dem König von Frankreich im besten Einvernehmen stand, zu
unterlassen.
Aus dem Heiligen Land zurückgekehrt, beschloß
Ludwig
IX., in den Konflikt einzugreifen. Dafür hatte er drei
gute Gründe: Zwei seiner Vasallen, der Graf von Flandern und dessen
Bruder, befanden sich - nachdem der Graf von Holland die anderen französischen
Barone freigelassen hatte - immer noch in Gefangenschaft; sein eigener
Bruder war in die Sache verstrickt, und er wollte dem Abkommen von 1246
Respekt verschaffen. Verärgert über die unvorsichtigen Initiativen
seines Bruders, rief er als erstes Karl von Anjou
nach Paris zurück.
Behutsam in seinem Vorgehen, suchte Ludwig
dann in Gent Gräfin Margarete auf,
um sie seiner Unterstützung zu versichern und ihr seine Vorschläge
zu unterbreiten. Nachdem die Gräfin und ihre Söhne AVESNES
übereingekommen waren, Ludwig IX. als
Schiedsrichter zu akzeptieren, fällte dieser am 24. September 1256
seinen Spruch (Dit de Peronne), der im wesentlichen eine Neuauflage
des Abkommens von 1246 war: Hennegau den AVESNES, Flandern den DAMPIEERE.
Aber inzwischen war der Hennegau an Ludwigs
Bruder, Karl von Anjou, vergeben. Ludwig
verschaffte
Karl die Möglichkeit, sich ohne Gesichtsverlust aus der
Affäre zu ziehen: Gräfin Mararete kaufte
den Hennegau zu einem sehr hohen Preis zurück. Für die Freilassung
der DAMPIERRE mußte sie auch dem Grafen von Holland ein stattliches
Lösegeld zahlen, aber kurz danach söhnte sich der überlebende
ihrer beiden Söhne aus dem Haus AVESNES, Balduin,
Graf von Hennegau, mit ihr aus.