Mehr als 2000 Jahre ist es her –
Alexandros war damals König von Makedonien und hatte soeben
nach den Sternen gegriffen –, seit Pytheas aus Massilia,
jener unter den antiken Geographen vielgescholtene Lügner,
seine berühmte Reise Über das Meer antrat. Es muß im
fahlen Morgenlicht eines kühlen Frühlingstages gewesen sein,
als aus der südfranzösischen Hafenstadt Marseille – welches
in der Antike Massilia hieß –, einer Pflanzstadt Korinths,
drei griechische Trieren ausliefen und unter gleichmäßigen
Ruderschlägen Kurs auf Gibraltar nahmen, welches von den
Alten Die Säulen des Herakles genannt wurde. Es war
höchste Vorsicht geboten, die von den Karthagern
kontrollierte Meerenge zu passieren und dabei den Wachen
durchs Netz zu schlüpfen. Der gesamte Bernsteinhandel lag zu
jener Zeit in Händen der damals größten Handelsmacht im
Mittelmeerraum Karthago, und seine Bewohner wachten
ängstlich darüber, daß ihnen ihr Monopol niemand streitig
machte.
Pytheas hatte als angesehener Bürger
Marseilles von den Stadtvätern den Auftrag erhalten, die
Herkunft des Zinns und Bernsteins zu ergründen. Zunächst
segelte er um die iberische Halbinsel herum, fuhr dann die
Küste der Bretagne hinauf und landete schließlich in
England. Er kam aber noch bedeutend weiter, denn nach seinen
Berichten hatte er den nördlichen Polarkreis überschritten
und war bis an die südliche Treibeisgrenze vorgestoßen.
Seine Berichte stießen in der Heimat auf Unglauben und
erweckten den Neid seiner Fachgenossen. Ihm verdanken wir
auch die Kunde, die uns Heutigen fast wie eine Verheißung
klingt, daß nämlich sechs Schiffstagereisen nördlich von
Britannien eine Insel liegt, wo die Sonne im Sommer niemals
untergeht. Jene Insel, die unter dem Namen Thule überliefert
ist, wurde in der verklärenden Darstellung unserer
Wikingersagen zur Heimat von Prinz Eisenherz, jenes
Heldentaten vollbringenden Recken aus dem Hohen Norden. Noch
immer aber rätselt die Nachwelt über den Verbleib dieser
geheimnisumwitterten Insel, die heute so verschwunden ist
wie das sagenhafte Atlantis, und noch immer sind nicht alle
Steinchen des Mosaiks aus Wahrheit und Legende wie zu einem
Puzzle zusammengesetzt.
Lange Zeit war man nämlich der
Meinung, daß Island oder Norwegen, speziell die Gegend um
Trondheim, mögliche Orte seien, wo man das sagenumwobene
Thule zu suchen habe. Norwegen mag zwar in der Antike, vor
allem wegen seines fjordartigen Charakters, für eine
Ansammlung von Inseln gegolten haben, ist aber wegen der
Anwesenheit des Golfstromes völlig eisfrei. Auch wenn man
eine Abdrift durch Westwind annimmt, so gelangt man doch auf
nördlichem Kurs keineswegs an seine Küste, genauso wenig,
wie man Grönland auf solchen Kursen erreichen würde, was
überdies selbst unter optimistischsten Annahmen in sechs
Tagen nicht zu machen gewesen wäre. Auch Island kommt nicht
in Betracht, weil es südlich des Polarkreises liegt und
somit ebenso weitab der Treibeisgrenze. Um den
Inselcharakter von Festland definitiv entscheiden zu können, muß man
wenigstens einmal darum herum gesegelt sein, und dies
dürfte bei der Größe Norwegens unter den damaligen
Verhältnissen kaum möglich gewesen sein.
Wo aber ist die Insel Thule, wenn
nicht in Island und nicht in Norwegen, dann zu suchen? Der
Längenkreis des östlichen England stimmt bis auf 5° mit dem
Längenkreis des westlichen Svalbard überein. Die einzige
offene Frage, die es in dieser Sache noch zu entscheiden
gilt, ist, ob Spitzbergen oder zumindest dessen südlichster
Ausläufer, die Bäreninsel, von den Shetland-Inseln aus in
nur sechs Tagen zu erreichen gewesen wäre. Die Bäreninsel
liegt auf 74° nördlicher Breite, die Shetland-Inseln
befinden sich auf 61°, die Differenz beträgt also gerade
einmal 13°. Ein Schiff, das sich mit 5 kn bewegt, legt in 6
Tagen eine Distanz zurück, die genau 12° entspricht.
Berücksichtigt man, daß der Golfstrom mit einem Knoten
nördlich setzt, so ist es ohne weiteres möglich, diese
Distanz mit einem griechischen Dreiruderer, der eine
Durchschnittsgeschwindigkeit von etwas mehr wie 4 kn
erreichte, zu überbrücken. Die Treibeisgrenze reicht in den
meisten Sommern bis weit unter Spitzbergen herab, so daß man
sie spielend an einem Tag erreichen kann, etwa die gleiche
Strecke, die ein Eisbär schwimmend zurücklegen kann. Und die
Bäreninsel heißt gerade deswegen so, weil auf ihr der Eisbär
heimisch war. Eine griechische Triere konnte über kürzere
Strecken Geschwindigkeiten von 7 kn erreichen, die maximale
Rammgeschwindigkeit betrug sogar 10 kn. Es war mit Schiffen
dieser Art überhaupt keine Frage, die von Pytheas angegebene
Entfernung zurückzulegen, und zwar hin und zurück, wenn
täglich in Schichten gerudert wurde, wobei immer eine
Ruderreihe pausierte, während die beiden anderen ruderten.
Die Zeiten, wo man nach Spitzbergen
nur mit dem Schiff gelangen konnte, sind längst vorbei.
Heute erreicht man die Insel von der norwegischen Hauptstadt
aus in wenigen Stunden. Transitreisende aus Deutschland
müssen bei der Einreise ihr Gepäck identifizieren. Von
meinem Reisegepäck fehlt jedoch ein Stück. Als wir von Oslo
starten, herrscht stockdunkle Nacht, es ist nach 22 Uhr
lokaler Ortszeit. Unter uns glitzert das Lichtermeer der
Stadt. Bald schon jedoch zeichnet sich am Horizont ein
heller Streif ab, der sich rasch zu einem wiedererwachten
Tag auswächst. Ein heißer Schluck Kaffee, der einzige
Service an Bord, der gratis ist, beruhigt meine Nerven rasch
wieder, obwohl nach der Theorie der Gifte Kaffee das
Gegenteil bewirken müßte. Doch an Schlaf wird in dieser
Nacht ohnehin kaum zu denken sein. Ein rötlicher, über den
Wolken liegender Schimmer zeigt an, daß wir allmählich die
Sonne einholen. Sie wandert von Westen her zurück über den
Horizont. Genau um Mitternacht wird sie im Norden stehen,
ein faszinierendes Schauspiel, welches sich nur im Hohen
Norden zeigt.
Wer direkt auf dem Nordpol steht, für
den ist überall Süden, wohin er auch blicken mag, aber wenn
er nur einen Schritt nach irgendwohin tut, liegt hinter ihm
sofort wieder Norden, und auch Westen und Osten gibt es
wieder. Zweimal im Jahr, nämlich zur Tag- und Nachtgleichen,
wandert die Sonne genau am Horizont entlang. Sie tritt nicht
völlig über ihn und sinkt auch nicht gänzlich unter ihn. Am
längsten Tag des Jahres bewegt sich die Sonne auf dem
Neigungswinkel der Ekliptik in stets gleicher Höhe über dem
Horizont, um im darauffolgenden Vierteljahr wieder bis zum
Horizont abzusinken. In der zweiten Jahreshälfte herrscht
ewige Nacht am Pol, und der Polarstern steht genau im Zenit.
Dies ist die Zeit, in der die Aurora borealis über dem
nördlichen Himmel aufflackert, während die Welt ringsum vor
Kälte erstarrt. Diese Erscheinung, die nur wenige Menschen
in ihrem Leben gesehen haben, kann zuweilen eine Ausdehnung
erreichen, daß sie selbst noch über Palästina zu beobachten
ist. In jedem Fall aber kündigt ihr Auftreten kommendes
Unheil an.
Als wir über Spitzbergen zur Landung
ansetzen, bricht mit voller Kraft die Sonne durch. Doch
unter den Wolken taucht eine völlig öde Landschaft auf. Der
erste Kontakt mit der Insel ist wenig erbaulich, eine Welt,
kahl, trist und leer und vor allem ohne Farben. Nur Flechten
und Moose gedeihen hier, und ab und an haben einige
Schneereste in den Gipfellagen den Winter überdauert. Wie
mag Pytheas wohl diese Begegnung empfunden haben? Hat er die
Hauptinsel Svalbards überhaupt betreten? Eins jedenfalls
scheint sicher: es dürfte ihm nicht wie mir ergangen sein,
denn im Unterschied zu ihm wußte ich, worauf ich mich
einlasse. Andererseits bin ich ohne Gepäck in Longyearbyen
angekommen, was meine Situation gegenüber der seinen doch
erheblich erschwert.
Die Maschine war bis auf den letzten
Platz ausgebucht, und wer hätte gedacht, daß diese
menschenleere Insel von einer solchen Flut von Touristen
heimgesucht wird? Schweißgebadet, bin ich einer von ihnen,
ohne Schlafsack, ohne Waschbeutel, doch haben die
Skandinavier die Ruhe weg. Ich solle mich am Zielort wieder
melden, heißt es nur – die Nerven möchte ich haben. Entweder
wurde mein Seesack gleich durchgehend nach Longyearbyen
abgefertigt, oder er wurde mittlerweile als herrenloses
Gepäckstück längst in die Luft gesprengt. Es scheint auf
jeden Fall spannend zu werden, und spannender konnte es auch
Pytheas nicht haben.
Die Menschen hier, das erfahren wir
als erstes an unserem Busfahrer, sind wortkarg und
melancholisch, von den Extremen der Jahreszeiten geprägt.
Wortlos nimmt der Mann meine 5 Euro für die kurze
Fahrtstrecke entgegen, ohne mir das Wechselgeld
zurückzugeben. Nach kaum mehr als zwei Minuten ist auch
schon der Hafen von Longyearbyen erreicht, Bykaia genannt,
wo neben etlichen großen Schiffen auch einige Jachten
liegen. Schnell ist die Pagan ausgemacht, ein Stahlschoner,
der in den nächsten drei Wochen unser Lebensmittelpunkt sein
wird.
Als ich das Schiff zum ersten Mal
sehe, falle ich beinahe in Ohnmacht: soviel Rost hätte ich
nun wirklich nicht erwartet. Die Jahre haben an dem
vermaledeiten Kahn ihre sichtbaren Spuren hinterlassen, und
der Besitzer hat scheinbar nichts getan, um die Scharten des
Verschleißes auszuwetzen. Auf den ersten Blick bietet das
Cockpit kaum mehr Platz als für vier Personen, wir aber sind
zu sechst.
Nach diesem ersten Eindruck begebe ich
mich nur mit Widerwillen hinab in den Salon, so als ob ich
mich vor einer weiteren bösen Überraschung schützen wollte.
Und in der Tat sehe ich mich erneut mit Dingen konfrontiert,
die gemischte Gefühle in mir wecken. Direkt gegenüber dem
Niedergang steht ein etwas antiquierter Holzofen, über dem
man seine Sachen zum Trocknen aufhängen kann. An Holz dürfte
es in diesem Revier nicht mangeln, denn altes Treibholz
liegt als Brennmaterial reichlich herum. Der Verdacht, der
sich mir sofort aufdrängt: dieses Schiff verfügt über keine
geeignete Heizung, um für die geplante Arktisfahrt den
nötigen Komfort zu bieten. Die Kajüte, die mir zugewiesen
wird, habe ich zwar für mich allein, aber dafür ist sie
nicht beheizt. Allein bei diesem Gedanken beginne ich
bereits zu frieren. Man wird sich warm anziehen müssen auf
diesem Törn. Wer hier leben muß, der wird auf eine harte
Probe gestellt. Das muß wohl der Grund sein, warum einer von
uns noch von der Möglichkeit Gebrauch macht, ein letztes Mal
in einem der Hotels der Stadt zu übernachten.
Zunächst finde ich außer Ditmar, der
bereits im Flugzeug neben mir saß und, wie es der Zufall
will, das gleiche Ziel hat wie ich, nur einen an Bord vor,
nämlich Reinhard, den Schiffsführer, einen liebenswerten
Menschen, der allerdings nicht gleich auf Anhieb sympathisch
erscheint, sondern erst, wenn man ihn näher kennengelernt
hat. Er ist klein, vollbärtig und sieht mit seiner Adlernase
fast ein wenig aus wie ein Tiroler oder Schweizer Bergbauer,
keinesfalls jedoch wie ein klassisch-nordischer Seemann.
Aber er hat etwas Gutes im Gemüt. Von Ditmar, der mich schon
während des Fluges angesprochen hatte, wo er einen etwas
verschlissenen Eindruck auf mich machte, ahnte ich bereits,
daß er einer von uns sein könnte, spätestens jedoch, als er
zielsicher auf unser Schiff zusteuert, wird mir klar, daß er
einer von den Unsrigen sein muß. Bis auf die zwei noch
Fehlenden sind jetzt außer mir lauter alte Männer an Bord,
von denen der eine oder andere durch Krankheit schon schwer
geprüft worden ist, und diese nun würden in den nächsten
drei Wochen meine ständigen Begleiter sein. Wie es scheint,
sind Ditmar und Wolfram nicht das erste Mal auf diesem
Schiff, denn man merkt sogleich, wie routiniert sie sich
darauf bewegen. Was sie nun bewogen haben mag, ein und
dasselbe Revier, wie einbestellt, bereits zum wiederholten
Male zu befahren, kann ich nicht sogleich herausfinden,
vielleicht ist es alter Männerfreundschaften wegen oder aus
weiß Gott welchen Gründen. Auf jeden Fall machen sie sich
mir dadurch verdächtig. Positiv ist, daß ich eine
Einzelkabine zugewiesen bekommen habe, ich also keinen
Schnarcher neben mir ertragen muß. Aber auch das erscheint
mir suspekt. Sogleich kündigt Reinhard an, daß es an Bord
keinen Alkohol gebe, daß jedoch wer solchen wolle mit seinem
Flugticket in der Stadt zollfrei einkaufen könne.
Nach einer relativ kurzen Nacht mit
nur fünf Stunden Schlaf wache ich am Morgen frierend auf,
leicht unterkühlt wegen der dünnen Bekleidung, die ich
trage, und wegen fehlender Decken. Es ist nicht möglich,
ohne Socken und warme Unterwäsche, sich im Schlafsack
wohlzufühlen. Daher gibt es nichts Wichtigeres als den Gang
unter die heiße Dusche, denn wie ich von Reinhard erfahre,
werden wir wohl gezwungen sein, anders als wir es von
zuhause gewohnt sind, uns für längere Zeit nicht zu duschen.
Wer das nicht wolle, so Ditmar, der könne sich ja draußen an
Deck aus der Pütz einen Eimer Meerwasser drüberkippen.
Nachdem wir uns nun noch ein letztes
Mal die Annehmlichkeiten der Zivilisation haben angedeihen
lassen, uns insbesondere mit frischen Eiern verköstigt
haben, geht es noch einmal in die Stadt hinein, um
Frischwaren einzukaufen. Der ganze Ort hat nur einen
Supermarkt, der allerdings nahezu alles reichhaltig zur
Auswahl bietet. Das einzige, worauf ich nicht verzichten
möchte, ist die tägliche Dose Bier, und eine ganze Palette
sollte für drei Wochen hinreichen. Nicht zuletzt dürfte auch
meine schlanke Linie davon profitieren. Meine Mitsegler
allerdings decken sich mit reichlich Schnaps und Wein ein,
Bier verschmähen sie. Angesichts der Kälte würde es ihnen
gar nicht schmecken, heißt es.
Beim Gang durch den Ort weist mich
Harald, unser Jüngster, den ich soeben noch auf dem Schiff
kennengelernt habe, auf ein Denkmal hin, das für die Opfer
eines Eisbärenunfalls errichtet worden ist, der sich hier in
der unmittelbaren Umgebung ereignet hat. Eine Studentin und
ihr Freund hatten sich zu weit in die Berge hinauf gewagt,
wo sie einen schlafenden, ausgehungerten Eisbären
aufschreckten, der daraufhin das Mädchen anfiel und auffraß.
Ihr Freund konnte sich gerade noch retten, weil der Bär mit
seinem Opfer beschäftigt war, für sie aber kam jede Hilfe zu
spät. Auch gestern ist wieder ein Eisbär im Ort gesichtet
worden, den man glücklicherweise vertreiben konnte. Überall
an den Ein- und Ausfallstraßen sind Hinweisschilder
aufgestellt, die auf die Gefahr hinweisen. In den
Verkaufsläden Longyearbyens wird ein größeres Sortiment an
Langwaffen angeboten, ohne die man sich außerhalb
geschlossener Ortschaften nicht bewegen darf. Wer zu Ski-
und Trekkingtouren aufbricht, ist sogar gesetzlich
verpflichtet, eine Langwaffe mitzuführen.
Wie befürchtet, ist Wolframs Gepäck
noch immer nicht eingetroffen, somit wird sich unsere
Abfahrt verzögern. Ihm ergeht es, wie es gestern mir
ergangen ist. Doch sorgt man sich naturgemäß um andere
weniger als um seine eigenen Sachen. Nachdem das vermißte
Gepäckstück dann endlich eingetroffen ist, können wir am
späten Nachmittag noch auslaufen. Die Pagan besitzt relativ
viel Segelfläche, und das laufende Gut ist ziemlich
unübersichtlich. Nach einer Woche sei man mit der
Leinenführung vertraut, meint Reinhard.
Die Sonne zeigt sich nun deutlicher.
Als wir am Abend den Aventfjord verlassen, herrschen ideale
Windverhältnisse. Stabil liegt die Pagan in den Wellen.
Jenseits des Isfjords ziehen sich zahlreiche Gletscher bis
ins Meer herab: der Borebreen an der Borebukta, links
anschließend der Nansenbreen und darunter der Esmarkbreen in
die Ymerbukta. Als wir das Ende des Isfjords erreichen,
sehen wir auf der gegenüberliegenden Seite die rauchenden
Schlote der Steinkohlebergwerke von Barentsburg. Recht
voraus fährt ein Schiff, welches abwechselnd weiße, schwarze
und rote Dämpfe abläßt. Schon von weitem riechen wir die
Industrieabgase, wissen aber nicht, um was es sich handelt.
Unser Ziel ist die Landmarke Daudmannsodden, wegweisend der
riesige Berg Alkhornet am Eingang des kleinen Fjords
Trygghamna, wo im Sommer kolonienweise Vögel brüten. Viele
der Zugvögel haben sich bereits – obwohl wir erst August
haben – in den Süden aufgemacht, um dort ihre
Winterquartiere zu beziehen.
Unsere Fahrt verläuft längs einer
immer atemberaubenderen Szenerie, je weiter wir an die
Westküste Spitzbergens vorstoßen. Da unser
Tag-Nacht-Rhythmus durch das „nächtliche“ Unternehmen ganz
außer Tritt geraten ist, halte ich es mit dem Schlafengehen
so, daß ich mich nur dann hinlege, wenn ich Müdigkeit
verspüre, und wieder aufstehe, sobald ich erwache, auch wenn
ich nur für eine Stunde fest geschlafen habe. Auf diese
Weise sammelt der Körper rund um die Uhr ebensoviel Stunden
Schlaf wie in einer zusammenhängenden Nacht. Mit in den
Schlafsack nehme ich wegen der Kälte fast alles, was ich
unter dem Anorak auf dem Leibe trage, das ist ein bißchen
unbequem, aber es wärmt.
Als ich nachts an Bord komme, finde
ich außer dem Skipper niemanden mehr, der noch wach
geblieben wäre. Alle haben sich in ihre Kojen verkrochen und
ihn allein am Ruder zurückgelassen, so daß er über meine
Gesellschaft nicht unerfreut ist. Wir befinden uns
inzwischen mitten auf dem Forlandsund, zu unserer Linken
zieht sich die majestätische Kette von Prinz-Karls-Forland
hin. Dabei halten wir direkt auf den Berg Eidempynten zu, zu
dessen Rechter sich der Eidembreen herabzieht. Alle
Gletscher, meint Reinhard, seien in den letzten zehn Jahren
stark zurückgegangen, im Juli seien damals die Berge noch
regelmäßig tief verschneit gewesen, manche Gletscher hätten
sich sogar um bis zu 40 m zurückgezogen. Treibeis habe die
Umrundung Spitzbergens außer im Spätsommer meist gänzlich
verhindert, und nur dreimal sei es ihm bisher gelungen, die
Durchfahrt durch die Hinlopenstraße zu meistern, einmal
jedoch sei er schon gezwungen gewesen, umzukehren. Es sei
keine andere Jacht mehr in dieser Gegend außer der des Arved
Fuchs, die ein Fernsehteam an Bord habe, das jetzt, nachdem
die Dreharbeiten beendet seien, nach Hause zurückgebracht
werden wolle. Ihr Hilferuf, abgeholt oder im Vorbeifahren
mitgenommen zu werden, hatte uns schon gestern erreicht,
doch Reinhard hatte dieses Ansinnen strikt abgelehnt. Wir
seien die zweite Jacht, der dieses Jahr eine
Spitzbergenumrundung gelingen könnte, meint er, als er uns
auf dem Kartentisch die geplante Route erläutert. Schon in
einer Woche wolle er am nördlichsten Punkt unserer Reise
angelangt sein, höher als 80° nördlicher Breite. Nach der
zweiten Woche gedenke er, an der Ostseite Spitzbergens
entlangsegelnd, die Umrundung abgeschlossen zu haben, und
die dritte Woche sei der Überfahrt nach Norwegen
vorbehalten.
Wir reden noch ausführlich über dieses
und jenes. Dabei erfahre ich, daß die Vaihere, jenes Schiff,
das ich zuletzt in der Antarktis gesehen habe, vordem in der
Arktis gesegelt sei. Nachdem aber die Mannschaft einen
Eisbären erschossen hatte, und zwar nicht aus Notwehr,
sondern gezielt, war ihr eine Strafe von 6000 Euro auferlegt
worden, was den Skipper schließlich dazu veranlaßt habe,
sein Schiff von der Arktis in die Antarktis zu überführen.
Dies sei der Mannschaft in nur 37 Tagen gelungen. Nach
weiteren Geschichten über eine abgestürzte JU52 aus dem
Zweiten Weltkrieg, die, auf Prinz-Karls-Forland zerschellt,
in den Bergen liege und, um nicht geborgen werden zu müssen,
unter Denkmalschutz gestellt worden sei, erreichen wir unser
Tagesziel Farmhamna, wo wir nach 12stündiger Fahrt völlig
durchgefroren ankommen und unseren Anker ausbringen. Die
fantastisch anmutende Insel Tromsøya markiert die Einfahrt
in unsere Ankerbucht. Hier lebt eine Trapperfamilie, der wir
einen Besuch abstatten und uns bei der Gelegenheit ein wenig
an Land bewegen wollen.
Bei strahlendem Sonnenschein, es
herrscht nahezu Windstille, setzen wir zügig im Dingi über.
Am Ufer erwarten uns ein Dutzend kläffende Huskies. Behutsam
treten wir an die Behausung des Trappers heran, der hier
seit 1990 lebt. Fast schüchtern erfolgt die gegenseitige
Begrüßung. Hans, so heißt unser Trapper, ist seiner Herkunft
nach Däne, seine Frau Marianne stammt aus Norwegen. Die
beiden haben zwei Kinder und zwei Hunde, Rex, einen
deutschen Schäferhund, und einen Spaniel. Wir werden zu
einer Tasse Kaffee auf der Veranda eingeladen. Von hier
genießt man einen traumhaften Blick auf die Berge der
Umgebung und die Lagune. Ringsum befindet sich Moor, über
das sich im Frühjahr, insbesondere in den Monaten März und
April, wenn alles verschneit ist und im Frost erstarrt, so
mancher Polarbär heranwagt. Doch Rex, der deutsche
Schäferhund, leistet dann ganze Arbeit, der Hund verscheucht
den Bären, so jedenfalls will es die Erzählung des
Trapperehepaares wissen. Es sei heuer im Durchschnitt um 8°
wärmer gewesen als in den Vorjahren, meint unsere
Trapperehefrau, und Wind herrsche entweder überhaupt nicht,
was in diesem Fall zu Stromversorgungsengpässen führe, oder
aber es gebe gleich Starkwind. Derart nun haben die Extreme
unter dem Pol zugenommen.
Nach der freundlichen Bewirtung machen
wir uns sogleich auf zu einer Wanderung, zu den
nahegelegenen Vogel- und Robbenkolonien. Große Scharen von
Wildgänsen fliegen auf, sowie wir ihrer angesichtig werden.
Unsere beiden Waffenträger marschieren mutig voraus, denn
auch wenn die Wahrscheinlichkeit, um diese Jahreszeit und in
dieser Region Eisbären zu finden, gering ist, so ist eine
Begegnung doch nicht auszuschließen. Was mich an den Waffen
einzig stört ist, daß unsere beiden Beschützer den Lauf
unbedachtsam auf Personen richten, was eine überaus
schlechte Angewohnheit ist, etwas, was man grundsätzlich
vermeiden sollte. Beim Wandern durch die menschenleere und
gottverlassene Gegend, vorbei an den Nestern brütender
Küstenschwalben, werden wir von den beunruhigten Vögeln
angegriffen. Zu unserem eigenen Schutz sind wir daher
gehalten, uns mit Stöcken zu bewaffnen und diese über
unserem Kopf in die Höhe zu halten, denn die Schwalben
hacken immer nur auf den höchsten Punkt ein. Nur so können
wir unseren Weg ungefährdet fortsetzen, wobei sich schwer
sagen läßt, ob jetzt wir die seltsameren Vögel sind oder
jene Küstenschwalben, die lediglich ihrem Instinkt folgen.
Doch welch weitere unangenehme Überraschung! Überall am
Strand verstreut liegen massenhaft Gegenstände unserer
sogenannten Zivilisation herum, die, vom Meer angeschwemmt,
vom Golfstrom bis hierher befördert worden sind: Dosen,
Flaschen, Schuhe und anderer Plastikmüll, aber auch Reste
von Fischernetzen. Dazu gesellen sich ganze Baumstämme,
Treibholz aus Sibirien, das, bei Überschwemmungen
davongespült, nun hier liegenbleibt, bis es endgültig
verrottet. Ohne das Eis würde das Treibholz Svalbard gar
nicht erreichen, sondern vorher untergehen. So hatte sich
das von uns keiner vorgestellt, uns wer es jetzt auf diese
Weise erfährt, der sollte darüber nachdenken.
Als wir zurückkommen, hat der Wind auf
Stärke 6 aufgefrischt und ist noch dazu auflandig geworden,
so daß wir über unser Fortkommen ins Grübeln geraten. Auf
der Hinüberfahrt werde ich vom Spritzwasser gründlich
durchnäßt, doch das schlimmste ist, daß unsere Heizung
mangels Treibstoff nicht benutzt werden kann. Um nicht mit
nassen Klamotten vorlieb nehmen zu müssen, behalte ich die
nassen Sachen einfach an, bis sie am Körper getrocknet sind.
Das Ankereinholen gerät zu allem
Unglück nicht gerade zu einem Bravourstück. Zwei Männer
müssen die Ankerkette per Hand hochziehen, weil die
Winschautomatik nicht funktioniert, und das mit klammen
Fingern in arktischen Breiten. So habe ich mir das alles
nicht vorgestellt, sonderlich nicht bei 30 kn Windstärke. Es
ist immer riskant, die Ankerkette mit der Hand aufzuholen,
noch dazu bei hohem Seegang. Durch plötzlichen Zug kann
Spannung auf die Kette kommen, so daß diejenigen, welche sie
in Händen halten, gegen den Schiffsdruck nicht mehr ankommen
und loslassen müssen, so daß sie ausrauscht. Dann beginnt
dasselbe Spiel von vorn, eine Art Sisyphusarbeit.
Auf meine Frage, wie es denn mit der
Wettervorhersage aussehe, antwortet Reinhard nur: „Das
wissen die selber nicht.“ Der norwegische Wetterbericht
würde anders lauten als der dänische. Warum Reinhard
allerdings mit leeren Tanks losgefahren ist und diese nicht
bereits in Longyearbyen gefüllt hat, bleibt auf ewig
rätselhaft, denn ohne Treibstoff funktioniert weder die
Heizung, so daß man nicht einmal seine nassen Sachen
trocknen kann, noch gibt es auf dem weiteren Weg viele
Möglichkeiten zu tanken. Das Flach vor uns mit nur vier
Metern Wassertiefe hindert uns daran, unser heutiges
Tagesziel zu erreichen, zu hoch ist das Risiko einer
Grundberührung aufgrund des hohen Seegangs. Außenherum zu
fahren hätte einen Umweg von 80 Seemeilen zur Folge, so daß
wir notgedrungen in der nahegelegenen Eidembucht, zu Füßen
des Eidembreen, ankern müssen, bis sich die Unbilden der
Witterung wieder halbwegs beruhigt haben.
Aufgrund der Durchnässung völlig
durchgefroren, entschließe ich mich an diesem Abend
erstmals, ein heißes Bad zu nehmen. Das Prozedere dabei ist
folgendes: Zunächst muß eine Kanne heißen Wassers mit 35
Pumpzügen kalten Wassers zu einem mäßig-warmen Gemisch
vereinigt werden. Sodann seift man sich am ganzen Körper ein
und braust sich mit der verbliebenen Wassermenge tüchtig ab.
In der Regel reicht diese Menge aus, um alle
Seifenrückstände restlos zu entfernen. Freilich ist das Gros
meiner Gefährten eher wasserscheu, wie man das unter
Seglern, die sich lieber innerlich begießen, häufig erlebt.
Aber schließlich muß ja einer mit gutem Beispiel vorangehen,
damit die anderen nicht völlig verwildern, welche Gefahr
meist dann besteht, wenn keine Frauen an Bord sind. Beim
anschließenden Genuß eines kühlen Bieres lassen sich die
zurückliegenden Unannehmlichkeiten rasch wieder vergessen.
Ein Relikt aus längst vergangenen
Tagen, besitzt die Pagan einen Holzfeuerofen als Inventar,
dazu eine Petroleumlampe, was einen Hauch von Gemütlichkeit
auf diesem sonst so unzeitgemäßen Schiff aufkommen läßt.
Doch dieser Eindruck soll täuschen. Kaum, daß wir
ausgelaufen sind und ich mich zur Ruhe gebettet habe, höre
ich an Deck ein Krachen, und es ist genau die Deckluke
meiner Koje, auf die schwere Gegenstände herabprasseln. Weil
ich das Schiff noch nicht gut genug kenne, denke ich mir
nichts dabei. Vielleicht wurde lediglich eines der Segel
niedergeholt. Daher bleibe ich, gespannt lauschend, was
weiter folgen würde, in meiner Koje liegen. Als ich mich
jedoch zum Wachwechsel melde, ruft Ditmar mir bereits
entgegen, ich könne ruhig liegenbleiben, wir würden bald in
unseren Ausgangshafen zurückkehren. „Warum?“ frage ich.
„Weil wir gleich Anker werfen! Ein Schäkel ist ausgerissen
und Reinhard muß in den Mast hoch“, lautet seine Antwort.
Dabei fällt mir die Haftungsausschlußklausel ein, die ich im
Vertrag gelesen habe, daß nämlich eine Liegezeit von 72
Stunden noch keinen Schadensersatzanspruch begründet. Nun
fällt es mir wie Schuppen vor den Augen: die Pagan würde des
öfteren solche Macken haben, wie es eben bei einem
verrosteten alten Kahn gar nicht anders sein kann. Der
Skipper meint, er würde heute nichts mehr reparieren,
sondern erst am nächsten Morgen. Nach einem Whiskey gegen
den Frust begeben wir uns erstmal zur Ruhe. Es ist das erste
Mal, daß ich wieder die ganze Nacht durchschlafe.
Als ich morgens als letzter aus meiner
Koje krabbele, hängen die anderen bereits im Mast und
versuchen den Schaden zu reparieren. Man ist sich über die
richtige Vorgehensweise, wie er am besten zu beheben sei,
nicht einig. Zunächst scheint sich mit seinen Vorschlägen
Wolfram, unser ältester und erfahrenster Mitsegler,
durchzusetzen. Am Ende gelingen jedoch alle Versuche nicht,
die durch den Mast geführte Leine zu fassen, so daß die
konventionelle Lösung Reinhards die Oberhand gewinnt.
Einen ganzen Tag hat uns diese
Reparatur gekostet, ehe wir den zweiten Anlauf unternehmen,
gegen die widrigen Nordwinde aufzukreuzen. Dies ist mit
langen Schlägen verbunden, bei denen sich nur wenig Höhe
gewinnen läßt, und leider sagt auch der Wetterbericht keine
Änderung voraus. Die polaren Winde bringen nicht nur Kälte,
sondern auch Wolken und Winde mit sich, so daß selbst der
Aufenthalt im Salon ungemütlich ist. Niemand ist bisher
seekrank, lediglich die wenig abwechslungsreiche Kost wird
zum Problem, denn schon nach zwei Tagen ohne frisches Obst
verspüre ich Lust darauf.
Die Lektüre der frühen Entdeckungen
der Polarregionen beflügelt meine Fantasie. Tatsächlich
kamen die meisten auf den ersten Arktisexpeditionen durch
Kohlenmonoxidvergiftung um, und nur selten verloren welche
ihr Leben durch Eisbären. In der Tat ist jämmerliches
Frieren das einzig Abwechslungsreiche während dieses
endlosen Aufkreuzens. Als ich meine Wache antrete, erblicke
ich immer noch die vertrauten Berggestalten der vergangenen
Stunden, d.h. wir haben kaum Höhe gemacht. Über dem Pol
liegt ein ausgedehntes Tief, und noch immer fällt der
Luftdruck. Zwischendurch blinzelt die Sonne ein wenig durch
die Wolkendecke, die nicht sonderlich dick ist, so daß die
Gletscher ihre ganze Pracht entfalten können. Eine
französische Jacht ist das einzige Schiff, welches das
gleiche Ziel hat wie wir, nämlich das Untiefengebiet bei
Sarstangen unterhalb der Engelsbukta zu durchqueren, das von
allen Jachten, die durch den Forlandsund fahren, passiert
werden muß.
Da wir insgesamt nur 6 Personen an
Bord sind, erfolgt die Wachaufteilung in jeweils 3 Schichten
à 3 Stunden. Reinhard hat uns altersmäßig so eingeteilt, daß
immer zwei in etwa Gleichaltrige zusammen sind, d.h. ich
teile mich mit dem Skipper, der sich auch selbst an den
Wachen beteiligt. Während unserer ersten Schicht erzählt
Reinhard mir ganz nebenbei, daß er vor Grönland einmal
durchgekentert sei. Der Wind soll dabei über 80 kn betragen
haben, das Schiff habe etwa 20 s gebraucht, bis es sich
wieder aufgerichtet hatte, genauso lange, wie ein Mensch den
Atem anhalten kann. Der Schreck sei erst hinterher gekommen,
erzählt Reinhard weiter, und er wäre der einzige gewesen,
der draußen im Cockpit gestanden sei. Die Maschine sei
danach unbrauchbar gewesen, und zwei Mann der Besatzung
hätten sich abbergen lassen, weil sie nicht das Risiko
eingehen wollten, ohne Motorhilfe zurücksegeln zu müssen.
Ohne daß ich es bemerkt habe, haben
wir das Flach, das den Forlandsund durchzieht, gemeistert.
Als ich meine nächste Wache beschließe, ist die ganze Welt
in ein undurchdringliches Schwarz getaucht, über uns ziehen
drohende Wolken hinweg, die Sonne besitzt nicht genügend
Kraft, um dem Meer Farbe zu verleihen, aber sie reicht aus,
die Segel in der Dunkelheit weiß erstrahlen zu lassen. Uns
gegenüber liegt die Nordspitze von Prinz-Karls-Forland,
dahinter öffnet sich der Blick auf das Polarmeer, das bis
hierher absolut eisfrei ist. Die Wachablösung kommt schon
wieder zu spät, insbesondere den Jüngeren an Bord fällt es
ersichtlich schwer, sich an feste Zeiten zu halten. Daß
Pünktlichkeit eine Voraussetzung für beruflichen Erfolg ist,
wissen die beiden anscheinend nicht, doch wer sollte es
ihnen auch beigebracht haben, wo doch unsere ganze
Gesellschaft daran krankt, daß Disziplinlosigkeit immer mehr
um sich greift.
1200 Seemeilen sind es insgesamt, die
wir zurücklegen müssen, das sind pro Tag im Schnitt 60
Seemeilen. Bereits nach der ersten Woche müssen wir ganz
oben im Norden sein, auf über 80° nördlicher Breite, die
restlichen 2 Wochen sind für den Rückweg nach Tromsø
reserviert. Ich weiß mittlerweile nicht mehr, warum ich mir
das angetan habe, rund Spitzbergen in zwei Wochen hätte mir
auch gereicht. Eigentlich bräuchte es diese Überfahrt über
die Barentssee gar nicht. Auch glaube ich etwas von vier
Tagen gelesen zu haben, die dafür anzusetzen sind. So hatte
ich es mir ausgemalt. Und nun räumt Reinhard ein, daß daraus
auch leicht 6-7 Tage werden könnten, wenn nicht der richtige
Wind herrsche. Als ich ihm vorwerfe, daß ich es unfair
finde, die kürzestmögliche Zeit dafür anzusetzen, nur um
niemanden von der Reise abzuschrecken, ist er mir beleidigt.
Er läßt mich die gesamte nächste Wache draußen alleine
verbringen, ohne mir wie früher heißen Tee zu servieren.
Als wir nach 24stündiger Fahrt endlich
in Ny Ålesund ankommen, herrscht dort gerade Niedrigwasser,
d.h. wir können mit unserem Boot, wie wir es eigentlich
vorgehabt hatten, nicht am Tankanleger längsseits gehen.
Reinhard befürchtet, daß wir gegen den Steg gedrückt werden
könnten, und verliert in der unübersichtlichen Situation
sofort die Nerven, fängt an, uns anzuschreien, aber das
Problem löst er dadurch nicht. Ditmar springt an Land; dabei
fällt ihm die Leine ins Wasser, so daß er nicht wieder aufs
Schiff zurück kann. Hilflos stehen wir dem Problem gegenüber
und wissen uns nicht zu helfen; wir müssen vier Stunden
abwarten, bis Hochwasser eintritt. Unverantwortlich finde
ich es auch von unserem Skipper, daß er von Ditmar verlangt,
er solle in einen der als Fender dienenden Autoreifen
steigen und von dort aufs Boot springen. Nicht auszudenken,
was passiert, wenn er ins Wasser fallen oder sich sonst
irgendwie verletzen würde. Nur der Tankwart kommt auf die
rettende Idee, Ditmar mit einem Außenborder-Motorboot zu uns
aufs Schiff zu bringen, von wo wir ihn dann glücklich an
Bord ziehen. Der ganze Zirkus wäre überhaupt nicht nötig
gewesen, wenn Reinhard sein Schiff vor dem Auslaufen
vollgetankt hätte und nicht erst auf halber Strecke den
Versuch dazu machen würde. Man kann mit etwas Umsicht
durchaus voraussehen, vor allem, wenn man schon einmal hier
war, daß bei Ankunft auch Niedrigwasserstand herrschen kann
und man dadurch, zumal, wenn man nur wenig Zeit hat,
Aufschub erleidet. Das hat nichts damit zu tun, wie unser
Besserwisser Wolfram meint, daß man das Wetter nicht planen
könne. Überhaupt ist es eine Zumutung zahlenden Gästen
gegenüber, aufgrund von Treibstoffmangel den Ofen nicht
heizen zu können. Unsere Klamotten sind fast alle naß, und
angesichts der Kälte trocknen sie ohne Wärme nicht. Sich mit
einem nicht beheizbaren Schiff in arktische Breiten
vorzuwagen, ist eine große Herausforderung für die
Expeditionsteilnehmer, von denen die meisten ohnehin bereits
verschnupft sind.
Um uns die Wartezeit ein wenig zu
verkürzen, steuern wir die gegenüberliegende Insel
Blomstrandhalvøya an, die vormals eine Halbinsel war, jetzt
aber zur Insel geworden ist, und booten dort aus. Zu sehen
sind hier Reste eines Marmorsteinbruchs mit den zugehörigen
Förderanlagen. Ein britischer Geschäftsmann war seinerzeit
der Idee verfallen, den hier vorkommenden Marmor zu brechen
und nach Europa zu verschiffen. Was er dabei allerdings
nicht bedachte war, daß der Marmor, sobald er einmal vom
Permafrost aufgetaut ist, in Stücke zerbröselt. Die Bucht
bei Blomstrandhalvøya ist sehr malerisch gegenüber vom
Kongsbreen gelegen und bietet Anreize zu Landgängen.
Nach diesem kurzen Zwischenstop fahren
wir zurück zur Tankstelle, um die leeren Kanister
aufzufüllen. Der Treibstoff kostet hier deutlich mehr als in
Longyearbyen, da er aber aus der Bordkasse bezahlt wird,
kann es Reinhard egal sein. Unser Anlegemanöver am Kai gerät
fast zu einem Desaster, unser Skipper schreit und
lamentiert, daß wir sein Schiff kaputtmachen würden. Wir
müssen uns anhören, daß wir entweder die Leinen nicht
richtig führen würden oder die Fender nicht genau an der
richtigen Stelle seien. Zudem, meint Reinhard, hätten wir
sein Schiff mit Diesel „versaut“. Ditmar wird dazu
verdonnert, mit Pütz und Spülmittel alles aufzuwischen. Er
verrichtet auf dem Schiff beinahe alle niederen Arbeiten mit
der bemerkenswerten Ergebenheit eines Sklaven, hat für sich
die schlechteste Koje reserviert und ist einfach Mädchen für
alles. Bei ihm überwiegt eindeutig der soziale Instinkt; von
seiner Ausbildung her gelernter Psychologe, war er längere
Zeit am Max-Planck-Institut tätig. Alles in allem ergänzt er
unsere chaotische Mannschaft nahezu perfekt. Auch Wolfram,
unser Ältester, für den mit 66 das Leben anfängt,
beschäftigt sich unentwegt mit Aufräumarbeiten an Bord. Er
weiß sich, was Reparaturen angeht, überall zu helfen, ist
für jedes auftretende Problem ein kompetenter
Ansprechpartner und hat für alles die richtige Lösung. Ein
echter Bastler!
Wir verlassen den Kongsfjord bei Kap
Guissez, überqueren den tief ins Landesinnere reichenden
Krossfjord und schlagen grob nördlichen Kurs ein. Im
spärlichen Sonnenlicht leuchten die kalbenden Gletscher in
eisigem Blau. Es heißt, daß diese westlichste Ecke
Spitzbergens sich meist in Wolken gehüllt zeige, und wer
auch nur die Bergspitzen zu Gesicht bekäme, dürfe sich
bereits glücklich schätzen. Das Dauertief über dem Nordpol
und die es umgebenden Tiefs halten uns fest im Griff. Mit
besserem Wetter können wir nicht rechnen, wir müssen sogar
froh sein, wenn es nicht auch noch regnet.
Wie eingangs erwähnt, sind auf so
einem Schiff, wo Menschen zusammentreffen, die etwas
Extremes unternehmen wollen, immer auch einige komische
Käuze und schrullige Gestalten darunter. Einer von denen ist
Wolfram, der irgendwann in seinem Leben, sei es auf
ärztliche Empfehlung oder aus besserer Einsicht, zum
Rohkostesser geworden ist. Auf meine Frage, ob er auch Fisch
roh verzehre, antwortet er: „Nicht nur das, sondern auch
Fleisch, Leber usw.“ Mich ekelt schon allein der Gedanke
daran, wie ein Tier rohe Innereien zu verschlingen, denn
Essen ist schließlich nicht bloßes Engineering, sondern auch
ein Stück Lebensqualität. Als ich scheinheilig meine,
vielleicht habe diese seine Lebensweise auch etwas für sich,
denn unsere Vorfahren, die Kimbern und Teutonen, seien
schließlich, nachdem sie von den Römern die Zubereitung
warmer Mahlzeiten übernommen hätten, völlig verweichlicht
und hätten danach keine Schlacht mehr gewinnen können,
pflichtet mir Wolfram bei und meint nur: „Vielleicht sollten
wir alle damit anfangen.“ Seine Frau, sagt er weiter, sei
froh darüber, denn sie brauche seinetwegen nicht zu kochen.
Nach einer entsetzlich kalten Nacht,
in der es sogar zu schneien begonnen hat, machen wir einiges
an Strecke gut, um nach Norden zu gelangen, aber es darf
dazwischen keinen Stop mehr geben, um rund Spitzbergen zu
segeln. Meine Füße sind überhaupt nicht mehr warm geworden,
obwohl ich fast sechs Stunden am Stück geschlafen habe. In
meiner Koje hat sich Kondenswasser gebildet, es tropft von
der Decke, Koje und Schlafsack sind permanent naß. Draußen
ist alles grau in grau, ein Fischer und ein Kreuzfahrtschiff
sind alles, was wir in den letzten Stunden an Lebenszeichen
gesehen haben. Reinhard erzählt mir beiläufig, daß Olivier
in 2009 eine Durchquerung der Nordwestpassage plane, und ich
lausche verzückt seinen Worten. Doch mich umgibt die
Realität, ein relativ beklemmendes Gefühl vom Ende der Welt
beschleicht mich. Meine Lippen sind völlig ausgetrocknet,
und ich habe die ganze Nacht lang nur einen Becher heißen
Blaubeersaft getrunken. Jedes Zeitgefühl ist mir verloren
gegangen, und schon der Gedanke, wieder in meine nassen
Stiefel schlüpfen zu müssen, bereitet mir Unbehagen. Ich
sehne mich nach Wärme, nach einem stillen Ankerplatz, nach
dem Knistern des Feuers im Ofen.
Ebenso überraschend, wie das Tief
aufgezogen ist, stellt sich ein Zwischenhoch ein, das nun
den Blick auf den wildesten Abschnitt der
südwestspitzbergischen Küste freigibt. In der Nacht ist
frischer Schnee gefallen, so daß alles wie überzuckert
aussieht. Hier erscheint die Natur noch halbwegs gesund,
mächtige Eisdecken wälzen sich bis ins Meer herab: der
Femtebreen (der fünfte Gletscher) und etwas nördlicher der
Sjettebreen (der siebte Gletscher), überragt von den
höchsten Bergen Atgeiren (935 m) und Keftitoppa (971 m) des
Albert-I.-Landes. Zwischen beiden Gletschern erstreckt sich
der Klingenbergfjellen. Hier war es, wo Wilhelm Barents 1595
auf die Insel stieß und ihr wegen der zahlreichen Nadeln und
Zacken ihrer Gebirge den Namen Spitzbergen gab. Man kann
wirklich von großem Glück sagen, daß die Summe aus Wind und
Wolken für uns günstig ist. Reinhard erzählt, daß er auf
seinem ersten Törn in diesem Jahr nur schlechtes und nasses
Wetter hatte. Dichter Nebel und teilweise auch wenig Wind
behinderten das Vorankommen. Eine andere Gruppe hatte nur
allerbestes Wetter, dafür aber auch spiegelglatte See, so
daß sich die Berge darin spiegelten; der Diesel wurde auf
dieser Reise knapp. Wir können insgesamt mit dem Wetter
bislang zufrieden sein, wenngleich Reinhard meint, er habe
noch nie ein so hartnäckiges Tief am Nordpol erlebt. Daß
dies Begleiterscheinungen des Klimawandels seien, sei
unverkennbar, meine ich.
Es müßte herrlich sein, nun auf Skiern
eine Gletscherwanderung zu unternehmen, allein für längere
Landaufenthalte bleibt uns keine Zeit. Immer wieder müssen
wir einen Schlag hinaus aufs Meer machen, damit wir den
Magdalenefjord erreichen.
Unter den Unannehmlichkeiten einer
Polarreise wäre auch der begrenzte Umgang mit Süßwasser zu
nennen, denn für fast alle Lebensäußerungen steht nur
Meerwasser in ausreichender Menge zur Verfügung. Es dient
der körperlichen Reinigung, zum Saubermachen und zum
Geschirrspülen. Abgesehen davon, daß wir Meerwasser an Bord
nicht heiß machen können, weil unser Kochgeschirr
ausschließlich für Süßwasser bestimmt ist, ist kaltes
Meerwasser auch nicht fettlöslich, so daß das ganze
bestandene Fett als Rückstand in den Geschirrtüchern bleibt.
Zudem haben viele Segler die Angewohnheit,
Spülmittelrückstände nicht gründlich abzuwaschen, was
zusätzlich für ein schmieriges Gefühl in den
Abtrockentüchern sorgt. Am Ende bleibt immer ein dünner
Fettfilm auf dem Geschirr kleben. Darüber hinaus ist
Geschirrspülen bei Seegang eine unangenehme Tätigkeit, weil
durch die Schaukelbewegung des Schiffs stets viel Wasser
verspritzt wird. Auch werden die Augenlider durch das
Waschen mit Seewasser gereizt, so daß ein ständiges Brennen
der Augen die Folge sein kann.
Am Nachmittag des fünften Tages nach
Auslaufen erreichen wir bei teils düsterer, teils heiterer
Stimmung den Magdalenefjord, in den wir aus Zeitgründen
jedoch nicht einlaufen können. Noch dazu ist dieser wegen
zahlreicher Untiefen nur unter Maschine sicher zu passieren.
Kreuzfahrtschiffe steuern den Magdalenefjord, an dessen
Ufern früher zahlreiche Walfänger gelebt haben, ebenfalls
an. In seinem Innern befindet sich auf einer Insel ein
Walfänger-Friedhof. Nebenbei bemerkt, einen Wal haben wir
bisher immer noch nicht gesehen, es wurden ja auch kaum noch
welche am Leben gelassen.
Wir nehmen nun die schmale Durchfahrt
Sørgattet zwischen der Insel Danskøya und der Halbinsel
Reuschelhalvøya in den Smeerenburgfjord. Unser heutiges
Übernachtungsziel ist die Holmia-Bucht, an deren südlichem
Ende der Holmiabreen ins Meer mündet. Hiermit haben wir eine
geographische Breite erreicht, die nur mehr 10’ vom 80.
Breitengrad entfernt ist.
Sehr in Erstaunen versetzt uns an
diesem Abend Michael, der, kaum daß wir angelegt haben, ein
Bad in dem 3° kalten Wasser nimmt. Allerdings gesteht er
ein, daß er ein solches Kältebad regelmäßig an sich
vornimmt. Wir anderen, die wir die freiwillige Abkühlung im
kalten Gletscherwasser verfolgen, werden darüber beinah in
einen Kälteschock versetzt. Überhaupt, so nährt sich mir der
Verdacht, bin ich hier an Bord nur von hartgesottenen
Männern umgeben, die allesamt nicht zimperlich sind. Der
Kreis derer, die zum Segeln arktische Gewässer aufsuchen,
sei außerordentlich klein, meint Reinhard dazu. Von dieser
nordwestlichsten Ecke Spitzbergens aus wurden übrigens auch
die meisten Polarexpeditionen gestartet.
Nach einem gemütlichen Abendessen, das
wir nicht wie sonst in Schräglage einnehmen müssen,
schließen wir noch einen Landgang an, auf einen der die
Bucht umrahmenden Berge. Von dort haben wir einen
fantastischen Rundblick über die gesamte Bucht, die
vorgelagerten Inseln und die kalbenden Gletscher.
Spiegelglatt und grünlich schimmert die Wasseroberfläche,
die so ruhig daliegt, daß unser Schiff sich darin spiegelt.
Wir setzen wie üblich mit dem Dingi über, da es aber nur ein
paar Schläge sind, rudern wir an Land und lassen den
Außenborder an seinem Platz. Die Furcht, einem Eisbären zu
begegnen, ist unser ständiger Begleiter. Doch noch will
Meister Petz sich nicht zeigen, wir haben einfach kein
Glück, oder sollte ich sagen, wir haben ausgesprochenes
Glück, gerade keinem zu begegnen. Während wir ängstlich nach
Eisbären Ausschau halten, sehen wir unten in der Nähe
unseres Schlauchboots einen Polarfuchs vorbeilaufen.
Reinhard erzählt bei der Gelegenheit die Geschichte von
einer Jägerin auf Spitzbergen, die es auf insgesamt 1000
Eisbärenabschüsse brachte, wohl um es der Männerwelt zu
zeigen oder den Beweis anzutreten: „Was ihr könnt, das
können wir noch lange.“
Nachdem in der heutigen Nacht absolute
Ruhe herrscht, Wind und Wellen wegen der Geschütztheit der
Ankerbucht keine Geräusche verursachen und das Holzfeuer für
wohlige Wärme sorgt, schlafen wir alle die Nacht tief durch,
so daß ich mich am nächsten Morgen wie neu geboren fühle.
Als wir gleich in der Frühe den Anker einholen, liegt
draußen in der Bucht ein russischer Eisbrecher, der Leute
zum Bisgerbreen ausbootet. Der Wind ist heute so schwach,
daß wir die Genoa ausbringen können. In majestätisch
langsamer Fahrt gleitet die Pagan durch die Meerstraße
Svenskegattet, vorbei an den Inseln Indre Norskøya und Ytre
Norskøya, hinaus ins Nordpolarmeer, vorbei am Raudfjord, mit
Ziel Mushamna, der einzigen Ankerbucht in dieser Gegend. Das
Meer ist ruhig, es bläst ein angenehm schwacher Wind,
nirgends sind Eisberge in Sicht oder auch nur zu erahnen.
Von den schroffen, jäh abfallenden Klippen und den sich ins
Meer ergießenden Gletschern bekommen wir nicht viel zu
sehen, die ganze Umgebung ist in leichten Nebel gehüllt.
Tiefliegende Wolken verwehren uns die Sicht auf die
Berggipfel. Die Polarnacht senkt sich langsam herab. Auch
von Treibeis ist weit und breit keine Spur, ganz im
Gegensatz zu früheren Jahren. Bald könnte die gesamte
Polarregion eisfrei sein, die globale, vom Menschen gemachte
Erwärmung treibt das Eis schon jetzt auf breiter Front
zurück. Der Lebensraum für viele Tierarten, insbesondere für
Eisbären, wird zusehends geringer, und der Mensch hat das
alles zu verantworten, nichts ist vor ihm sicher. Er führt
einen Krieg gegen die Natur, den er nicht gewinnen kann.
Je schlechter die Lichtverhältnisse
werden, desto mehr ähnelt unsere Reise einem allein durch
den Wind bestimmten Herumirren auf See. Niemandes Augenmerk
ist mehr auf das Land gerichtet, alles konzentriert sich
auf das GPS. Wir sind nur mehr eine Seemeile vom 80.
Breitengrad entfernt, dabei einen Kurs von weniger als 90°
steuernd. Draußen herrscht Schneefall, und die Wachhabenden
sind dauernd beschäftigt mit dem Setzen und Bergen der
Segel. Die Pagan verfügt über keinerlei Rollreffs, sie ist
ein Schiff der klassischen Art.
In-Bewegung-bleiben hilft gegen die
Kälte, aber Gemütlichkeit kommt dabei nicht auf. Wir segeln
direkt vor dem Wind, Schmetterling, wie es in der
Seemannssprache heißt. Reinhard bittet Wolfram, den Ofen zu
heizen, die Kälte hat auch ihn erreicht. Doch wenn nichts
nach einer Unregelmäßigkeit aussieht und alles im Lot zu
sein scheint, neiden oft die Götter des Menschen Glück, und
die Schicksalsgöttinnen bestimmen Schlechteres für ihn. Als
ich in meiner Koje liege, immer wieder in Abständen das
Kondenswasser von den Luken wische, weil mich das
regelmäßige Tropfen irritiert, vernehme ich plötzlich
Brandgeruch. Ich springe hoch, schlüpfe rasch in meine
Schuhe und öffne die Kajütentür, als mir von draußen dicke
Rauchschwaden entgegenschlagen. Niemand, der unter Deck ist,
nimmt davon gebührend Notiz. Allein Harald steht neben dem
Ofen und macht ein betretenes Gesicht. „Reitet euch der
Wahnsinn?“ frage ich nur. „Ein Brand ist jetzt das letzte,
was wir gebrauchen können.“ „Der Ofen ist schon aus“,
beschwichtigt Harald, unser Jüngster. Derart verhält es sich
also, wenn Männer unter sich sind, die alle eine gehörige
Portion Selbstbewußtsein zuviel besitzen. Sie fürchten sich
vor nichts, ihnen kann nichts passieren, und falls doch,
dann werden sie das Kind schon schaukeln. Wie und warum es
dazu kam, kann nur an einer verkehrten Reihenfolge bei der
richtigen Vorgehensweise gelegen haben. Erst hätte der Ofen
ausgemacht gehört, wenn man schon für sonst nichts mehr
Aufmerksamkeit besitzt, ehe man sich hätte ablenken lassen
dürfen.
Als wir den 80. Breitengrad
überschreiten, ist dies für uns erst einmal ein Grund zum
Feiern. Michael spendiert schottischen Whiskey, den wir im
Freien genießen, unter lautem Jubilieren. Bis 1867 war es
keinem Menschen jemals gelungen, in diese Breiten
vorzustoßen, wie wir es nun auf dieser Segeljacht erfahren
dürfen, die den Namen Pagan trägt. Wir sind gerade im
Begriff, die Insel Moffen anzulaufen, wo es noch große
Walroßkolonien geben soll. Allerdings steht die Insel unter
Naturschutz, womit man sich ihr auch nicht auf mehr als 200
m nähern darf. Was wir dort zu sehen bekommen, können wir
uns allenfalls im Fernglas aus der Nähe betrachten,
geschweige denn, daß es möglich ist, diese Kolosse stets und
eindeutig von angeschwemmtem Treibholz zu unterscheiden.
Die Insel Moffen ist eine flache
Sandbank, die die Form eines Atolls besitzt; wie sie aber
entstanden ist, darüber vermögen allein die Geologen
Auskunft zu erteilen. Nach dieser Stippvisite, die aufgrund
der Windsituation notwendig geworden war, gehen wir auf
Halbwindkurs mit Zielrichtung Woodfjord. Nun zeigt sich auch
das arktische Wetter von seiner schlechtesten Seite. Der
Himmel öffnet seine Schleusen, Wind und Seegang versetzen
das Schiff in ein unaufhörliches Schaukeln. Immer wieder
müssen welche von uns aufs Vorschiff, um die Segelstellung
zu korrigieren, zum Ein- und Ausreffen oder zum Segelbergen.
Der Wind bläst kontinuierlich aus Nordwest, wir machen daher
bis zu sechs Knoten Fahrt. In den Hochlagen der Berge fällt
Schnee, und die Wolken hängen tief. Nur die Vögel scheinen
Gefallen an unserem Schiff zu finden, umschwirren es, als
wollten sie sich damit messen. Als ich nach drei Stunden
völlig durchnäßt und durchfroren wieder das Schiffsinnere
aufsuche, ist heißer Blaubeersaft, das Standardgetränk auf
der Pagan, das einzige, was die trüben Gedanken verjagt.
Als wir in die Mushamna-Bucht
einlaufen, entdecken wir einen Eisbären, wie er sich soeben
anschickt, ins Wasser zu gehen. Zunächst sind wir alle
einhellig der Meinung, er würde auf uns zuschwimmen, doch er
will nur die Bucht durchqueren, um am anderen Ufer seinen
Weg fortzusetzen. Es ist ein gewaltiges Tier, welches hier
vor uns in freier Wildbahn im Wasser treibt, das wir gerne
aus größerer Nähe betrachten würden, doch leider kommen wir
nicht näher an ihn heran. Vielleicht wollte Reinhard auch
nicht dichter an den Eisbären heranfahren, denke ich mir
hinterher, und ärgere mich, weil wir doch die einmalige
Gelegenheit dazu gehabt hätten.
Eisbären sind sehr ausdauernde
Schwimmer, die 40 % ihrer Zeit im Wasser verbringen und nur
60 % an Land. Reinhard erzählt, der Bär könne auch gut
klettern und wäre theoretisch sogar in der Lage, auf unser
ankerndes Schiff zu kommen. Dabei frage ich mich, ob es mir
überhaupt etwas nützen würde, mich nachts in der Kajüte
einzuschließen und das Pfefferspray und mein Stilett
griffbereit neben mich zu legen.
Als ich morgens gegen 4 Uhr durch die angeworfene Maschine
aufwache und als erstes über Ditmar stolpere, der ein ebenso
verdutztes wie schläfriges Gesicht macht, und mich bei ihm
erkundige, was die Ursache dafür sei, antwortet er nur: „Der
Anker ist weggedriftet.“ In der Tat ist bald das Rasseln der
Ankerkette zu vernehmen. Reinhard hatte Michael und Harald
geweckt, um den Anker an anderer Stelle auszubringen, uns
Ältere hatte er schlafen lassen. Wir können von Glück sagen,
daß nicht mehr passiert ist, dürfen uns aber auch glücklich
schätzen, daß wir bisher nicht Ankerwache gehen mußten, was
mit Sicherheit nicht zur Hebung der Moral beigetragen hätte.
Doch die letztere ist gut, alle an Bord sind guter Dinge und
vergnügt, obwohl es eigentlich über die letzten beiden Tage
wenig Erfreuliches zu berichten gibt. Jeder Anflug von
Kritik an Schiff oder Schiffsführung wird insbesondere von
Wolfram sofort im Keime erstickt. Er ist ein Meister im
Ausreden gebrauchen und hat für alles eine plausible
Erklärung. Als ich am nächsten Morgen in die Runde frage,
warum das Schmutzwasser im Waschraum nicht ablaufe, bekomme
ich nicht einmal eine Antwort. Derart fest steht die
Mannschaft hinter ihrem Skipper. Leute wie ich, die nicht
für alles Verständnis aufbringen und die Veranlagung zur
Meuterei besitzen, würden auf diesem Schiff nicht einen
Mitverschwörer finden. Überhaupt sorgen sich meine Mitsegler
viel mehr um mich als ich mich umgekehrt um sie. Wenn ich
draußen in der Kälte stehe, reicht mir immer einer
unaufgefordert etwas Heißes zum Trinken. Meist gibt es das
Lieblingsgetränk auf der Pagan, heißen Blaubeersaft. Der tut
richtig gut, wenn man durchgefroren ist.
Da wir heute Sonntag haben, gibt es bei der Gelegenheit ein
etwas aufwendigeres Frühstück, gebratenes Fleisch mit
Frühstücksei. Essen ist beinah zu unserer einzigen Freude
geworden, abgesehen von dem anhaltend guten Wind, nach dem
die meisten Segler so außerordentlich lechzen. Aber rings um
uns zeigt sich die Welt schon seit Tagen in einem
beharrlichen Grau. Wenn einmal kurz die Sonne herauskommt,
ist das schon ein Grund, darauf aufmerksam zu machen. Fotos
habe ich auf der ganzen Reise bisher noch nicht einmal so
viele gemacht, daß es für wenigstens einen vollen Film
ausreicht. Nur Öde und Weite! Das einzige, was mich auf
positive Gedanken bringt, sind die Gespräche mit Reinhard.
Er schwärmt mir von seinen Bergtouren auf den Azoren vor,
erzählt davon, wie sie oben auf dem Pico, dem höchsten Berg
Portugals, biwakiert hätten, und daß es auf dem ganzen
Archipel zur Zeit der Hortensienblüte nur eine einzige Farbe
dort gebe, nämlich Blau. Wir indes segeln einem neuen Rekord
entgegen, noch über den 80. Breitengrad hinaus zum
höchstgelegenen Punkt unserer Reise, der zugleich unser
Umkehrpunkt sein wird.
Da es auf einer Reise wie dieser wenig zu tun gibt, wenn
nicht gerade Manöver gefahren werden, kochen wir, und wenn
wir nicht kochen, dann schlafen wir. Selbst das Lesen fällt
schwer in dem ewigen Auf und Ab. Ditmar, unser Psychologe
und Psychiater, sorgt sich um uns wie eine Mutter um ihre
Kinder. Innerhalb weniger Minuten zaubert er einen heißen
Teller Suppe auf den Tisch, die wir mit Genuß auslöffeln.
Das eingekaufte Brot ist immer noch genießbar, so daß es
uns, was das leibliche Wohl angeht, an nichts mangelt.
Erneut kreuzen wir den 80. Breitengrad, was für einige ein
Grund ist, dies mit einem weiteren Whiskey zu begießen. Wir
anderen nehmen erst den wahren Umkehrpunkt unserer Reise bei
80,5° nördlicher Breite zum Anlaß, diesen unseren weitesten
Vorstoß in die Arktis gebührend zu feiern und darauf mit
einem Glas besten Cognacs anzustoßen. Mir persönlich
gereicht dies zu einer besonderen Ehre, denn ich habe
innerhalb eines halben Jahres sowohl den südlichsten als
auch den nördlichsten Punkt der Erdkugel, soweit es in
meinen Kräften stand, segelnderweise erreicht. Welchem
Polarforscher des 19. Jahrhunderts ist das jemals gelungen,
ja selbst, wie viele Segler unter den heute Lebenden gibt
es, die das von sich sagen können? Ich glaube, keinen.
Von jetzt ab geht unsere weitere Reise bis zu unserer
Endstation ausschließlich in Richtung Süden, und jeden Tag
ein Stück südlicher. Doch vorher wollen wir noch
Nordaustland anlaufen, den sogenannten Murchison-Fjord, wo
wir in der Kinnvika genannten Bucht vor Anker gehen werden,
wenn es die Eisverhältnisse erlauben. Während wir die
Hinlopenstraße queren, haben wir fast achterlichen Wind, so
daß wir die Genoa mit dem Spiebaum auf der dem Groß
gegenüberliegenden Seite befestigen müssen. Als wir uns
unserem Ziele nähern und den Spiebaum gerade wieder
abnehmen, passiert das Unerwartete: der Spiebaum schlägt mit
Wucht auf die andere Seite und verheddert sich in den
Wanten. Reinhard verliert schon wieder die Nerven, rennt
schreiend und schimpfend übers Vorschiff, so als ließe sich
die Situation dadurch meistern. Ich stehe an der Pinne und
kann ihm beim Bergen nicht helfen, und außer mir ist niemand
an Deck. Die Genoa hat nun auf der falschen Seite einen
Wulst gebildet und zieht das Schiff vor sich her, will sich
für keine Seite so recht entscheiden, so daß es uns erst
nach leichtem Anluven gelingt, das Segel wieder auf die
Leeseite zu ziehen. Das Ganze vollzieht sich unter Geschrei
und mit Hektik, so als hätte Panikmache schon jemals ein
Problem gelöst.
Ganz unvermutet verschwindet Nordaustland in plötzlich
aufziehendem Nebel, so daß wir die Fahrt mit GPS- und
Radarunterstützung fortsetzen müssen. Ein sechs Meter aus
dem Wasser ragender Felsen, der sich in der Nähe unserer
Fahrrinne befindet, bereitet uns Sorgen. Die
Navigationsinstrumente sind auf der Pagan ungeschickterweise
unter Deck angebracht, so daß man zu ihrer Ablesung, wenn
man sicher Kurs halten will, jedesmal in die Offiziersmesse
hinabsteigen muß oder auf mündliches Zurufen angewiesen ist.
Aber durch die ältere Bauart des Schiffes bedingt ließ sich
offenbar keine andere Lösung zur Nachrüstung mit
elektronischen Instrumenten verwirklichen als diese die
Navigation außerordentlich erschwerende. Auch die
seglerische Ausbildung meiner Mitsegler ist teilweise eine
nur angelernte, was die zum Teil recht unprofessionell
wirkende Seemannschaft erklärt. Als wir in die Bucht
einlaufen, behindert starker Schneefall das Arbeiten an
Bord. Der Anker hält beim ersten Ausbringen nicht sofort.
Drei Männer müssen ihn ziehend wieder einholen, die
elektrische Ankerwinsch war schon von Anbeginn der Reise
defekt. Bei etwas rauherer See können solche Aktionen
schnell ungemütlich werden und sind außerdem nur bei
angelegter Schwimmweste zu empfehlen. Zum Glück bleibt uns
das heute erspart.
Während wir noch mit dem Ankermanöver beschäftigt sind,
sehen wir, wie zwischen den wenigen zusammengezimmerten
Hütten der Polarstation Menschen hin und her laufen. Wer die
Menschen sind und was sie hier in dieser unwirtlichsten
Gegend, die man sich denken kann, wollen, werden wir erst
morgen herausfinden können, denn heute ist es für alle
weiteren Aktionen schon zu spät. Außerdem hat Michael
Geburtstag und will eine Runde Whiskey ausgeben. Dazu
zaubert Wolfram ein exzellentes Fleischgericht auf den
Tisch, und die Stimmung wandelt sich von Nervosität zu
behaglicher Gemütlichkeit. Dabei wird gescherzt und es
werden Possen gerissen, ein stilles Glück auf Nordaustland,
wo normalerweise der Tod lauert. Mit uns indes scheint es
das Schicksal gut zu meinen, denn wie Reinhard uns heute
bestätigt, war es ihm erstmals in seiner Karriere möglich,
hier in der Kinnvika, auf der Storstein-Halbinsel, vor Anker
zu gehen. Bisher versperrte stets Treibeis den Zugang zu
dieser Bucht. Dieses Jahr aber scheint alles anders zu sein:
kein Treibeis weit und breit.
Am nächsten Morgen liegt Schnee auf unserem Schiff, mehrere
Zentimeter frisch gefallener Neuschnee. Ditmar sagt zu mir,
als ich aus meiner Koje komme: „Schau mal nach draußen, wir
haben einen weiteren Mann an Bord“, und als ich vergeblich
Ausschau halte: „Siehst du ihn nicht?“ „Nein“, antworte ich.
„Schau doch nochmals genau hin, genau in diese Richtung!“
Noch ein wenig schlaftrunken, habe ich nicht bemerkt, daß
Ditmar einen Schneemann gebaut und ihn so geschickt auf die
Winsch gesetzt hat, daß ich ihn ganz übersehen habe. Ein
lustiges Bild! Über den Neuschnee freuen wir uns wie kleine
Kinder. Nach dem Frühstück wird das Schlauchboot zu Wasser
gelassen, und wir schicken uns an, Nordaustland zu betreten.
Die Eisbärengefahr sei hier etwa zehnmal größer als auf
West-Spitzbergen, meint Reinhard, als wir an Land gehen.
„Eisbären sind Meister im Tarnen“, sagt er, „also bleibt
schön beisammen und versucht den Eisbären durch Geschrei zu
vertreiben, falls er sich uns nähern sollte. Erst wenn das
nichts hilft, müssen wir tun, was dann unvermeidlich ist.“
Seinerzeit habe er zahlreiche Drohbriefe erhalten, fährt
Reinhard fort, als er versuchte, für Svalbard einen Skipper
mit Sachkundenachweis in der Waffenhandhabung anzuheuern,
meistens von militanten Naturschützern. Ein etwas
unheimliches Gefühl habe ich schon in mir, als ich in
Nordaustland als erster an Land gehe. In Reih´ und Glied,
aus besagter Vorsichtsmaßnahme, stapfen wir durch den
frischen Pulverschnee, und das erste was passiert ist, daß
wir uns eine Schneeballschlacht liefern. Wolfram, unser
Norddeutscher, hat sich ein bayerisches Outfit zugelegt, mit
Kniebundhose und Tirolerhut. Daher ist er auch unser
begehrtestes Fotomotiv.
Bald schon kommt uns ein Mann aus
einer der Hütten entgegen, vor denen wir gestern aus der
Ferne Leute herumlaufen sahen. Er stellt sich uns als
Expeditionsleiter einer kleinen Gruppe von internationalen
Wissenschaftlern vor, zu der auch zwei Frauen gehören. Er
erzählt, daß heute ihr letzter Tag auf der Insel sei, uns
daß sie bereits im Packen begriffen seien. Dieses Jahr sei
sehr wichtig für ihn gewesen, erklärt ein anderer der
Forscher, die sich hauptsächlich mit Glaziologie
beschäftigen, und fährt fort, daß die Treibeisgrenze dieses
Jahr sehr fest und stabil gewesen sei, so daß nichts bis
hierher vorgedrungen ist. Tatsache dürfte sein, daß sich das
Eis immer weiter nach Norden zurückzieht, weil die Polkappen
langsam abzuschmelzen beginnen. Außer uns, bestätigt die
US-Amerikanerin, die sich nach eigenen Angaben schon den
ganzen Sommer über in der Kinnvika aufhält, sei lediglich
ein weiteres Segelschiff hier gewesen. Es muß die Dagmar Åan
des Arved Fuchs gewesen sein, von der wir vor gut einer
Woche den Hilferuf entgegengenommen haben.
Während wir nun bei günstigen Winden
in die Hinlopenstraße hineinsegeln, scheint es sich zunächst
aufzuhellen, doch schon ziehen neue schwarze Wolkenfelder
heran, und es schneit. Ringsum zeigen sich die Tafelberge
und kargen Polarwüsten in einem weißen Kleid, zur Linken die
abgeflachten Erhebungen von Vestfonna, zu unserer Rechten
die ebenfalls gewaltigen Eiskappen von Valhallfonna, die
bis zum Lomfjord reichen. Reinhard sagt, er habe in den
letzten zehn Jahren nicht ein einziges Mal erlebt, daß
mitten im August ein derart dichtes Schneetreiben herrschte.
Daß die Hinlopenstraße eisfrei sei, das sehe er schon jetzt.
Ich pflichte ihm bei, rufe mir die Satellitenbilder ins
Gedächtnis, die ganz klar zeigten, wie sehr die Eisflächen
in diesem Jahr zurückgegangen sind. In wenigen Jahren,
fürchte ich, wird Eis in Spitzbergen eher eine Seltenheit
sein.
Während wir für die Reise nach Norden
längs der Westküste eine gute Woche gebraucht haben,
verläuft unsere Rückfahrt durch die Hinlopenstraße unter
idealen Windbedingungen in nur 24 Stunden, wobei wir bis
nach Barentsøya kommen. Wir haben diese gesamte Strecke ohne
Zwischenstop zurückgelegt, und weder der Skipper noch die
Mannschaft zeigen ein ernsthaftes Verlangen, irgendwo
zwischendrin an Land zu gehen. Zunächst läßt sich noch dann
und wann die Sonne kurz blicken, oder man sieht sie in der
Ferne durch die Wolkenfelder blinzeln. Außer Seevögeln sehen
wir nur mehr wenige Tiere, und leider auch keine Eisbären
mehr. In der Ferne schießen die Fontänen von Walen in die
Höhe, und außer ein paar treibenden Robben gibt es in dieser
unwirtlichen Gegend sonst nichts an Lebewesen. Dann setzt
Schneefall ein, der nicht mehr aufhören will. Bald darauf
ist die ganze Küste in undurchdringliche Nebelschleier
gehüllt, aus denen nur gelegentlich markante Tafelberge,
steil abfallende Gletscher und ausgedehnte Eiskappen zum
Vorschein kommen.
Der Wind bläst anfangs genau
achterlich, unser Skipper möchte daher den Spiebaum
ausbringen. Als es ihm nicht gelingt, die Genoa auf die
andere Seite zu ziehen, gehen ihm erneut die Nerven durch,
er schimpft und läuft schreiend über das Schiff. Anstatt
besonnen zu reagieren, läßt er abfallen, ohne vorher das
Groß durch einen Bullenstander gesichert zu haben. Dies
führt unweigerlich zu einer Patenthalse, woraufhin er erneut
ausrastet. Er schickt mich nach unten, um die anderen aus
ihren Kojen zu holen, weil er alleine mit der Situation
nicht fertig wird. Als ich zu den Kajüten vordringe,
schlagen mir von unten dicke Rauchschwaden entgegen, die aus
dem Ofen kommen, der nur dann geheizt werden darf, wenn der
Wind von achtern weht, nicht aber bei Wind aus anderen
Richtungen. „Öffnet schnell die Luken, sonst erstickt ihr!“
rufe ich meinen schlafenden Mitseglern zu. Auf dieses hin
wird der Ofen ausgemacht, worauf es wieder klamm und feucht
im Schiff wird. Die meisten von uns haben nasse Sachen an
und können diese nirgends trocknen, was nicht nur für
Unbehagen sorgt, sondern auch den Wunsch in uns wachruft,
diese kalten Zonen möglichst bald zu verlassen. Einige
husten, andere haben Schnupfen, es ist wie das
entbehrungsreiche Leben eines Walfängers. Des weiteren zehrt
dieses nicht enden wollende Schwerwettersegeln an unseren
Kräften; es gab seit unserer Abreise nicht einen Tag mit
strahlendem Sonnenschein, allenfalls kurze Lichtblicke, und
das Schlimmste steht uns noch bevor, die Überquerung der
Barentssee.
Nach ca. 32 Stunden ununterbrochenen
Schwerwettersegelns laufen wir nach der Durchquerung des
Freemansunds Barentsøya an, noch vor wenigen Jahren wegen
Treibeises, des rauhen Klimas und herumlungernder Eisbären
für ein Anlanden unmöglich. Sie ist die viertgrößte Insel
Svalbards, und gemeinhin war man früher der Meinung, daß sie
eine Halbinsel von Spitzbergen sei, bis irgendwann der
Heleysund entdeckt wurde. Schon vor uns ist die Noorderlicht
eingetroffen, ein holländischer Schoner, der eine Gruppe von
20 Touristen hierhergebracht hat, die uns von Bord aus
freundlich begrüßen. Als es Abend geworden, ist wieder
gutes Wetter eingekehrt, das Barometer steigt, und es
herrscht beste Fernsicht. In der tiefstehenden Sonne
fasziniert insbesondere das wie Basaltsäulen aussehende
pechschwarze Gestein.
Am nächsten Morgen, nachdem wir alle
gut 12 Stunden geschlafen haben, machen wir uns daran, mit
dem Schlauchboot auf die Insel überzusetzen. Der Wind ist
abgeflaut, die See spiegelglatt, der Himmel bedeckt. Nur am
Horizont zeigt sich ein Lichtstreif. Wir sehen gerade noch,
wie die Masten der Noorderlicht am Horizont verschwinden.
Auf Barentsøya gibt es nicht viel zu entdecken: Eisbären-
und Rentiergerippe, versteinerte Walknochen und Federreste
von Spuren eines Mahles, wo der Polarfuchs die Eiderente
gerupft hat. Der Boden ist mit Moosen und Flechten bedeckt,
und in exponierten Lagen finden wir sogar Svalbardmohn.
Rinnsale, die vom Fuße eines Gletschers herabströmen,
ergießen sich ins schalblaue Meer. Draußen in der Bucht
liegt die Pagan still vor Anker, und dahinter breitet sich
eine endlose Reihe von Svalbard-Gletschern aus. Ein
Polarfuchs ist das einzige Lebewesen, welches in dieser
Einöde aus fantastisch geformten Steinblöcken herumstreunt.
Reinhard möchte, um seinen Gewehrlauf
zu reinigen, einen Probeschuß abgeben. Ein am Strand
angespültes Gefäß wird über einen Holzpflock gestülpt wie
der Apfel auf den Kopf des Wilhelm Tell. Und dann passiert
es! Unvermutet löst sich ein Schuß. Der laute, unerwartete
Knall läuft unter mehrfachem Echo durch die Berge hin und
zurück. Zum Glück wird niemand verletzt. Es hätte schlimmer
ausgehen können! Der zweite, diesmal gezielte Schuß trifft
das Gefäß und zerschlägt es in zwei Stücke. Und wieder hallt
der Schuß von den steilen Felswänden zurück, unterbricht für
einen Moment die Stille und Abgeschiedenheit der Insel. Als
wir zurück auf dem Boot sind, kommen einige Robben
herbeigeschwommen und blicken ohne jede Scheu neugierig aus
dem Wasser. Sie wollen mit uns spielen, doch wir sind nur
darauf fixiert, Momente des Lebens elektronisch
festzuhalten, so als gäbe es für Erlebtes kein anderes
Speichermedium.
Unter Motor fahren wir am Nachmittag
in Richtung der drittgrößten Insel Svalbards, nach Edgeøya,
wo wir in der Dolerittneset genannten Bucht, die auch als
Kap Lee bekannt ist, vor Anker gehen. Dieses Kap ist ein
beeindruckender Felsklotz, der typisch ist für die
geologische Region, welche sich durch ausgedehnte
Tafelberge, hohe Steilküsten und charakteristische
Schutthalden, bedeckt mit zäher Fließerde, auszeichnet. Im
Rosenbergdalen, einem eisfreien Tal, wächst sogar Gras, wie
man es bei uns kennt. Jetzt wird verständlich, warum die
Wikinger Grönland als grün bezeichneten. Dieses Grün steht
in herbem Kontrast zu den Basaltklippen, die man hier am
Strand antrifft. Der Formenreichtum jener Landschaft lädt
ein zu ausgedehnten Streifzügen längs der Küste, die immer
wieder durch angeschwemmtes Treibholz und versteinerte,
Tausende Jahre alte Walknochen eine urzeitliche Stimmung in
uns weckt. Rentiere nahen sich friedlich, ohne jede Scheu
vor dem Menschen. Dies ist die Insel Thule, die lang
gesuchte, deren Küsten im Herbst von schweren Stürmen
heimgesucht werden, ewig feindlich dem Menschen.
Am nächsten Morgen verlegen wir unser
Schiff ca. 5 Seemeilen weiter in die sogenannte Diskobucht.
Dort erwartet uns ein Canyon, in dem sich unzählige
Vogelkolonien eingenistet haben, und den wir deshalb
besuchen wollen. Unser erster Ankerversuch schlägt fehl, der
Anker hält in dem felsigen Untergrund nicht. Daher bedarf es
eines weiteren Anlaufs, und dieses Mal greift der Anker.
Zwischenzeitlich hat der Wind arg aufgefrischt. Wir liegen
nämlich ziemlich weit draußen und müssen mit dem Zodiac fast
eine halbe Seemeile zurücklegen, um an Land gehen zu können.
Der Seegang schlägt hohe Wellen, so daß wir von Spritzwasser
völlig durchnäßt werden. Auch droht das Schlauchboot
vollzulaufen. Die Befürchtung ist, daß der Wind an Stärke
zunehmen könnte und wir nicht mehr ohne Risiko zurück aufs
Schiff können. Die Vorstellung des Kenterns in dem kleinen
Gefährt zerrt an den Nerven.
Zielstrebig marschieren wir auf
unseren Canyon zu, nachdem wir unser Schlauchboot an Land
gezogen und sicher vertäut haben. Aus dem Canyon plätschert
munter ein Bach hervor, der sich nach nur kurzem Lauf ins
Meer ergießt. Je näher wir den durchlöcherten Felsabstürzen
kommen, desto lauter dringt das Kreischen der Vögel an unser
Ohr, die hier zu Hunderttausenden in kleinen Höhlen brüten.
Wir steigen über verstreut herumliegende Kadaver, Tonnen von
Möwendung und Federn hinweg, bis wir unvermutet am Ende der
Schlucht stehen, wo das Bächlein unterirdisch aus der
Felswand tritt. Das aufgeregte Schreien der Vögel mahnt zur
Rückkehr, denn die zweite Hälfte der Crew will ebenfalls
noch die Überfahrt riskieren. Beinahe alle unsere Sachen
sind durchnäßt und müssen getrocknet werden, ehe wir
weitersegeln können. Für ein Liegen über Nacht erscheint uns
die Bucht zu unruhig, daher verlegen wir das Schiff in die
sogenannte Russenbucht. Diese ist zwar an drei Seiten von
Tafelbergen umrahmt und dünkt uns dadurch geschützter, aber
ausgerechnet auf der vierten steht die Dünung herein. Unser
ruhiges nächtliches Liegen wird daher durch regelmäßige
langsame Schaukelbewegungen beeinträchtigt.
Das Barometer ist während der Nacht
kontinuierlich gefallen, am nächsten Morgen herrscht
Windstärke 6, der Wind kommt aus Norden, ideal also, um uns
nach der Bäreninsel abzusetzen. Das Aufholen des Ankers ist
angesichts der hochschlagenden Wellen mit nicht geringen
Schwierigkeiten verbunden. Im Rhythmus der Wellen bewegt
sich der Bug auf und ab. Dann passiert es, daß uns aufgrund
des überstarken Zuges die Kette ausrauscht. Den zweiten
Versuch wiederholen wir mit Unterstützung der Ankerwinsch,
denn das jedesmalige ruckartige Ziehen erfordert die Kraft
von drei Männern.
Nachdem das Untiefengebiet vor der
Bucht überwunden ist, nehmen wir südlichen Kurs auf und
bringen den Spiebaum aus. Diesmal läßt Reinhard den
Bullenstander vorsichtshalber zuerst anbringen, was uns vor
einer Patenthalse bewahrt. Genau im Süden Spitzbergens liegt
die Bäreninsel, die unser nächstes Ziel ist, 196 Seemeilen
von unserem letzten Ankerplatz entfernt. Zunächst kommen wir
gut voran, der Wind ist weder zu stark noch zu schwach, es
herrscht sogar eitel Sonnenschein, und die Stimmung an Bord
ist gut. Auch für das leibliche Wohl ist gesorgt, das Chilli
con carne läßt die gute Laune noch andauern. Doch bald schon
trübt sich der Himmel ein, und bittere Kälte macht sich auf
dem Schiff breit, die einen in den Schlafsack treibt, damit
man wenigstens ein bißchen Wärme verspürt. Das erste Mal
werden wir heute die Sonne wieder untergehen sehen, wenn
auch nur für kurze Zeit.
Als ich schlafend in der Koje liege,
wird plötzlich die Tür aufgerissen, und Reinhard schreit
herein: „Wenn ihr Wale sehen wollt, müßt ihr an Deck
kommen.“ Verdutzt werfen wir uns alle, die wir uns noch vor
kurzem schlafend fanden, in unsere Klamotten und stürzen,
noch immer im Halbschlaf, an die frische Luft hinaus. Doch
von Walen keine Spur mehr! „Dort, wo die Vögel kreisen“,
erklärt Reinhard. Dennoch: nichts zu sehen. Plötzlich eine
gigantische Fontäne, die aus dem Wasser schießt, und dann
eins, zwei, drei Rückenflossen, die sich schaukelartig kurz
aus dem Meer erheben, um danach ebenso sanft wieder darin zu
versinken. Es sind Minkwale. So schnell, wie das Spektakel
begonnen hat, ist es wieder zu Ende. Doch halten wir
weiterhin Ausschau.
„Ich dreh´ mal kurz bei“, sagt Harald.
Doch er denkt wieder nicht daran, daß unten der Ofen noch
brennt. Im Handumdrehen sind der gesamte Salon sowie die
Bugkojen in giftige Dämpfe gehüllt, genau wie neulich bei
unserer Patenthalse. Hustend suche ich einen Ort, an dem ich
frische Luft schnappen kann. Panikartig kommt der Skipper
herabgestürzt und macht den Ofen aus. Er ist immer noch der
einzige, der weiß, wie das geht. Wir werden um kostbare
Minuten unseres besten Schlafes gebracht, bis wieder frische
Luft in den Kajüten ist. Doch dafür macht sich erneut
erstarrende Kälte auf dem Schiff breit. Es kommt mir hier
noch kälter vor als ganz hoch im Norden, und ich spüre meine
Füße kaum noch. Es ist wie das Vorstadium des Erfrierens.
Wohin man sich auch drückt, an was man sich auch lehnt, da
ist nichts, was den elementaren Wunsch nach Wohlsein
erfüllen könnte. Mittlerweile hat auch mich der Husten
erreicht, und am nächsten Morgen bin ich verschnupft, als
letzter von allen. Niemand mehr will jetzt bewundert werden
und sich mit der Pütz einen Eimer kalten Wassers über den
Kopf gießen wie noch tags zuvor. Der kalte Ost-Svalbardstrom
hält uns fest im Griff.
Als ich gegen zwei Uhr morgens meine
Wache antrete, läuft das Schiff unter Maschine. Kein
Lüftchen regt sich mehr. Der Himmel ist grau in grau. Die
Sonne geht auf. Nur einen Spaltbreit am Horizont sieht man
sie aus dem Meer auftauchen, um sie kurz danach, nachdem sie
für einige Minuten unsere Segel zum Erleuchten gebracht hat,
wieder hinter den Wolkenschichten verschwinden zu sehen.
Danach breitet sich erneut Trostlosigkeit aus. Zwischendurch
versuchen wir gelegentlich die Segel zu setzen, doch schon
bald müssen wir einsehen, daß der immer wieder kurz
auffrischende Wind nur eine Laune der Natur ist.
Draußen auf dem Meer ist eine
russische Fangflotte aufgezogen, mindestens 11 Schiffe. Sie
sind gekommen, das Meer leer zu fischen. Früher kam es aus
diesem Grunde immer wieder zu Streitigkeiten mit den
Norwegern. Doch Norwegen besitzt mittlerweile andere
Erwerbsquellen, um sich nicht erneut auf einen
Fischereikrieg einlassen zu müssen. Nichtsdestotrotz
befinden wir uns außerhalb nationaler Hoheitsgebiete, wo
jeder sich frei bedienen kann. Und dennoch: Falls nicht bald
auf internationaler Ebene Gesetze beschlossen werden, um die
Fangquoten zu begrenzen, werden die Meere bald weltweit
leergefischt sein.
Am nächsten Morgen ist Wolfram, wie
schon tags zuvor, derjenige, der das Frühstück auftischt.
Doch schlagen die Eßgewohnheiten in arktischen Breiten
manchmal Purzelbäume, diesmal beim Öffnen einer Dose
Frühstücksfleisch. Jeder, der pures Fett nicht essen kann,
würde den dicken Fettrand verschmähen. Doch Wolfram läßt ihn
sich von mir auf eine Scheibe Brot schmieren, wobei es
festzuhalten gilt, daß auf diesem Schiff nichts, aber auch
rein gar nichts weggeworfen wird, alles findet noch
irgendwie Verwendung. Der beste Resteverwerter in dieser
Hinsicht ist Ditmar. Nicht nur, daß er alle Reste
ausnahmslos aufißt, mutet er auch anderen selbiges zu. Doch
sind die Geschmäcker verschieden. Ich jedenfalls kann mich
auch mit einer Dose Bier bescheiden, und als Brotaufstrich
reicht mir besagtes Frühstücksfleisch mit einer Prise Salz.
Die Zeit verstreicht, scheinbar
sinnlos. Der größte Unsinn aber, den eine Segelreise je
haben kann, ist das ständige Fortbewegen unter Maschine.
Beharrlich gleichmäßiges Dröhnen der Motoren, das einen fast
einnebelt, aber von der Schaukelei einiges wegnimmt! Das
einzige vor Augen schwebende Ziel ist das Erreichen der
Insel Björnøya, die sich steil aus dem Meer erhebt. Doch
auch sie wird nur Sprungbrett sein. Noch kurz zuvor habe ich
mich beklagt, daß die Abgase des Ofens nach hinten ziehen
und den Aufenthalt an Deck unerträglich machen. Nun ist das
ganze Schiff kalt. Selbst im Schlafsack vermag man sich kaum
mehr aufzuwärmen. Das einzige, was noch Hoffnung bereitet,
ist das baldige Erreichen des Golfstroms, welcher beim
Zusammentreffen mit dem Ost-Svalbardstrom die Bäreninsel
zumeist in Nebel hüllt. Doch bis dahin sind es noch achtzig
Seemeilen, ist es noch fast ein ganzer Tag.
Aus der Bordbibliothek habe ich mir
Das letzte Abenteuer von Heimito von Doderer
herausgekramt, einen Ritterroman. Der verstärkt die düsteren
Gedanken noch, denn einst tötete man einen Drachen, weil man
König werden wollte, durch die als Siegespreis verheißene
Heirat mit einer Königstochter. In diesem Roman jedoch
verliert die Tötung des Drachens vollends ihren Sinn, weil
dem Ritter die Braut nicht gefällt. Er hätte sich vor seiner
Aventüre nach der Schönheit seiner Angebeteten erkundigen
sollen. Und so, wie der Kampf mit dem Drachen als sinnlos
erscheint, so ergibt auch die Ansteuerung einer vom Nebel
verhüllten Insel inmitten der Barentssee keinen Sinn.
Nach endlos scheinender Fahrt tauchen
irgendwann in der Nacht, die nur kurz gewesen ist, die
Umrisse der Bäreninsel am Horizont auf. Das letzte Teilstück
können wir sogar unter Segeln zurücklegen. Einsam, weil alle
außer mir im Tiefschlaf liegen, stehe ich in der Plicht und
starre fasziniert auf diese Insel, die in ihrer Kargheit und
Abgeschiedenheit noch unwirtlicher erscheint als die meisten
anderen Spitzbergen-Inseln. Wie ein Wunder erscheint es uns,
daß der Himmel plötzlich aufklart, die Sonne sich zeigt und
die Umrisse der Küstenlinie nun deutlicher hervortreten. Wir
folgen dem Verlauf der Ostküste längs des „Elendsgebirges“,
wo der Reihe nach die Gipfel des Skuld, des Verdende und des
Urd an uns vorbeiziehen. In der Walroßbucht bei Kap Nilsson
bringen wir den Anker aus, der erst im zweiten Anlauf
greift. Ein norwegisches Forschungsschiff ist gerade am
Auslaufen, als wir eintreffen, so daß wir die von Steilufern
gesäumte Bucht ganz für uns alleine haben. Nachdem die
Wetterbedingungen nahezu ideal sind: strahlend-blauer
Himmel, fast spiegelglatte See, kein Wind, planen wir einen
Landgang auf der Insel. Obwohl die hier noch lebenden
Eisbären sämtlich betäubt und in nördlichere Gefilde
verbracht worden sind, ist unser Gewehr wieder mit von der
Partie. Zu sehr wurde unsere Fantasie von dem Unfall, der
sich während der Barents-Expedition am 6. September 1595 auf
der Bäreninsel ereignete, inspiriert. Zwei von Barents
Leuten hatten sich zu weit weg von ihrem Schiff gewagt, als
plötzlich hinter einem der beiden eine große hagere, weiße
Gestalt stand. Der Bär packte den einen der beiden mit
seiner Tatze, während der andere ängstlich davonlief und das
Entsetzliche nur aus der Ferne beobachten konnte. Er mußte
mit ansehen, wie der Bär seinem Kameraden durch einen Biß in
den Kopf den Schädel in zwei Hälften spaltete und das aus
der Halsschlagader tretende Blut ausschlürfte, ehe er ihn
schließlich vollends auffraß. Vom Schrecken gepackt, floh
die gesamte Mannschaft aufs Schiff und suchte das Weite.
Allein uns bleibt ein solches
Schicksal erspart. Wir legen unter Steilküste an und ziehen
unser Schlauchboot an Land, um es in einer der dortigen
Höhlen festzumachen. Von der alten Walfangstation ist nicht
mehr viel erhalten geblieben. Die Aussicht von der die Bucht
umrandenden Steilküste ist einfach traumhaft. In großen
Mäandern auslaufend, stürzt ein Wildwasserbach von den
kahlen Abhängen herab, giftgrüne Tundravegetation aus Moosen
und Flechten machen den Bodenbewuchs aus. Wir wandern hinauf
zu den Steilklippen, die an der Blyvika majestätisch
abbrechen. Bedauerlicherweise ist das gesamte Gebiet südlich
von uns zum Naturschutzgebiet erklärt worden, welches nicht
betreten werden darf. Gerne hätten wir unsere Wanderung noch
fortgesetzt, längs der unberührten Küste, doch Reinhard
winkt ab. Die Touristen seien selber schuld, daß immer
strengere Auflagen gemacht würden, meint er, vor allem die
Kreuzfahrer, die hier ihre Leute ausbooteten, die
anschließend in Massen über unberührte Landstriche
ausschwärmten und keinerlei Rücksicht auf die hier brütenden
Lummenkolonien nähmen. Wir wenden uns daher dem Nordteil der
Insel zu, steigen in einem Bachbett zwischen schluchtartigen
Wänden empor, bis wir von oben herab die herrliche Aussicht
genießen können.
Kaum zurück, wird der Anker aufgeholt
und die kurze Fahrt in die Nachbarbucht, die Sørhamna,
angetreten. Zuvor bringen wir noch unsere Angel aus, und ehe
wir es uns versehen, haben drei große Fische angebissen,
Dorsche bzw. Kabeljaus, die unseren heutigen Speisezettel
abrunden werden. Noch während der Fisch zubereitet wird,
eröffnet uns Reinhard, daß wir um 23 Uhr, d.h. in drei
Stunden, ablegen werden. Die Hoffnung, endlich wieder eine
ganze Nacht durchschlafen zu können, erfüllt sich nicht.
Wolfram spendiert darauf eine Runde Whiskey. Meine Sachen
sind noch gar nicht trocken, und die Aussicht, nasse Stiefel
anziehen zu müssen, ist nicht gerade verlockend.
Erneut vergehen Stunden größter
Unbehaglichkeit. Ein rechter Wind will sich nicht
einstellen. Lediglich die Möwen treiben ihr neckisches Spiel
mit uns, so als wollten sie uns zeigen, daß sie von den
Launen der Witterung unabhängig sind. Als unsere Fahrt nicht
einmal mehr einen Knoten beträgt, holt Reinhard verärgert
die Segel ein. Der pendelnde Großbaum schlägt ihm dabei auf
den Hinterkopf, so als wolle das Schicksal zu allem Unglück
noch eins draufsetzen. Zum Glück passiert ihm nicht viel.
Am nächsten Morgen zeigt sich die
Sonne, aber der Himmel erscheint wie eingefroren. Ganz
schwach nur sieht man jetzt noch die Bäreninsel am Horizont:
erneut ein herrlicher Tag. Mittlerweile ist auf der Pagan
das Wasser knapp geworden, d.h. wir müssen mit den
restlichen fünfzig Litern sparsam umgehen. Zusätzlich ist
auch unser Treibstoff zur Neige gegangen, d.h. wir werden
ständig bangen müssen, ob wir die verbleibenden 174
Seemeilen bis Torsvag noch unter Maschine laufen können,
denn der Wind hat sich längst verabschiedet. Wir scheinen
von ausgedehnten Tiefs umgeben, das Barometer steigt weder,
noch fällt es. Immer wieder ziehen dicke Regenwolken durch.
Unser Skipper meint, was unsere Rückfahrt anbelangt, würden
die Reserven in jedem Fall knapp werden, denn wir können mit
nicht mehr als 3-4 kn Fahrt rechnen, das Schiff könne nur
unter günstigsten Bedingungen eine schnellere Fahrt machen.
Der Grund ist, daß sein Vorbesitzer den Mast hat kürzen
lassen. Er wollte nach eigenen Angaben ein stabileres Schiff
haben. Das hat man nun davon! Auch ein Satellitenempfang
ist, was fehlt. Seit unserem Ablegen in Longyearbyen haben
wir keinerlei Wetterinformation mehr einholen können, denn
dieses Seegebiet wird durch Navtex nicht abgedeckt, und der
Ukw-Funk hat zu geringe Reichweiten.
Mehrere Tage sind wir nun schon auf
See. Mühsam kämpft sich die Pagan Schlag für Schlag,
Seemeile um Seemeile voran. Reinhard läßt die volle Takelage
ausbringen, mit dem Erfolg, lediglich einen Knoten Fahrt zu
machen. Dann dreht der Wind auch noch auf Süd, wir kommen
entweder nur in östlicher oder nur in westlicher Richtung
voran, nähern uns unserem Ziel jedoch kaum. Die ganze
komplizierte Takelage ist eher unvorteilhaft, als daß sie
etwas nützt, mündet bloß in ein andauerndes Rauf und Runter,
und dies bei strömendem Regen. Ich sehne nur noch das Ende
herbei, das Schiff und der anhaltende Schwachwind werden zu
einem Gefängnis. Reinhard ist sichtlich unzufrieden, doch er
überträgt seine Gefühle in einer Art und Weise auf andere,
daß man sich schuldig fühlt. Hätte ich besser darauf
verzichten sollen, mich zu waschen? frage ich mich. Dann
hätten wir jetzt mehr Wasser, aber der Wind wäre der
gleiche. Als meine Wache nach drei Stunden beendet ist,
haben wir in Richtung auf unser Ziel nur sieben Seemeilen
zurückgelegt, und es liegen noch 144 Seemeilen vor uns. Die
Zeit, die uns dafür bleibt, beträgt ganze drei Tage, und im
Schnitt machen wir nicht mehr als 4 Seemeilen in der Stunde.
Draußen regnet es, als würde der Himmel seine Schleusen
öffnen. Die Klimazonen haben sich verschoben. Hier in
Nordnorwegen, wo es keine Äcker gibt, die das begehrte Naß
benötigen, um Feldfrüchte hervorzubringen, gehen heutzutage
ergiebige Niederschlagsmengen nieder. Doch dem Boden fehlt
die fette Krume, um entsprechende Getreidesorten auch
anbauen zu können. In den südlicheren Breiten häufen sich
dagegen die Dürren, und Brände brechen aus. Und der
Menschheit ist nicht bewußt, was sie da anrichtet. Da uns
Süßwasser fehlt, haben wir eine Pütz in den Mastkorb
hochgehängt, um das Regenwasser aufzufangen, nach Art einer
Zisterne. Not macht eben erfinderisch.
Je näher wir unserem Ziel kommen,
desto mehr wird die Reise der Pagan zu einem Horrortrip.
Strom setzt und hindert uns daran, unter Segeln unseren
Wegpunkt zu erreichen. Wir haben noch ca. 102 Seemeilen vor
uns, jedoch kommt der Wind nicht aus der gewünschten
Richtung, um ihn auch ansteuern zu können. Unser
Treibstoffvorrat ist bereits so knapp, daß wir gezwungen
sind, uns ausschließlich durch Segeln fortzubewegen. Die
ständige Nervosität, den Rückflug zu verpassen und hier
tagelang festzusitzen, ist nervenaufreibend, zumal dann auch
niemand von unseren Angehörigen weiß, ob etwas passiert ist.
Ich will daher nur noch eins: runter von diesem Schiff!
Egal, wo man sich an Bord aufhält, ob unter Deck oder im
Schlafsack, überall holt einen das Gefühl ein, daß einem die
Zehen abfrieren. Es zieht im Salon, als ob einige Fugen
undicht wären. An ein Austrocknen nasser Sachen ist nicht
mehr zu denken. Seit drei Tagen wird nur noch geschneuzt,
auch läßt mich ein hartnäckiger Husten nicht mehr los. Zur
Zerstreuung lesen kann man auch kaum, weil es im Salon
einfach zu düster ist.
Als wir noch ca. 95 Seemeilen von
unserem Wegpunkt vor dem Tromsø-Fjord entfernt sind, haben
wir kein Süßwasser mehr, drei Tage, bevor unser Törn zu Ende
ist – und es sieht nicht nach Regen aus! Am letzten Tag auf
Hoher See, nennen wir es göttliche Fügung oder unabwendbares
Schicksal, kommt noch einmal richtig Wind auf. Längst haben
wir das Fisherman abgenommen, welches wir jetzt wieder
gebrauchen könnten. Ein glühendes Abendrot zieht sich
ringförmig um uns hin. Gegen Mitternacht kommt der Vollmond
durch die Wolken und schickt seine schwachen Strahlen auf
das Meer. Es ist das erste Mal, daß wir ihn wieder sehen.
Als ich am Morgen wieder aus meinem
Schlafsack krieche, habe ich kaum ein Auge zugetan. „Hast du
auch schlecht geschlafen?“ meint Reinhard. Ich bejahe.
„Vielleicht liegt das am Mond“, fährt er fort. Und: „Sieht
man den Mond in der Antarktis auch?“ geht seine Frage
weiter. Ich bin ersichtlich überrascht, daß er solche
grundlegenden astronomischen Zusammenhänge nicht weiß. Warum
eigentlich sollte der Mond von irgendeiner Stelle der Erde
aus nicht zu sehen sein? – Die Sonne erwacht. Das Meer hat
seine blaue Farbe von früher wieder angenommen. Mich
fröstelt noch immer. Mein Schlafsack war heute morgen ganz
naß. Die Pendelbewegungen des Schiffs sorgen dafür, daß das
Kondenswasser unaufhörlich auf mein Bettlaken tropft. Was
würden Sie sagen, wenn Sie sich in ein Hotelbett legen und
das Kopfkissen wäre klatschnaß? Sie würden bestimmt an die
Rezeption gehen und verlangen, daß Sie trockene Bettbezüge
bekommen. Hier auf dem Schiff ist das anders – doch ich sage
nichts. Reinhard hat mich nicht ein einziges Mal kritisiert,
obwohl ich viele kleine Fehler gemacht habe: die Leinen
verwechselt, zu dicht an den Wind gegangen oder zu spät
abgefallen, oder ich habe die Knoten nicht schnell genug
geknüpft. Er hat alles mit einer Engelsgeduld ertragen. Der
Gedanke, noch volle drei Tage auf diesem Schiff verbringen
zu müssen, deprimiert mich. Den anderen macht das alles
deutlich weniger bis gar nichts aus. Sie essen zusammen aus
einer Schüssel oder vom selben Besteck, was ich nicht
könnte. Keiner wäscht sich nach der Toilette die Hände.
Natürlich dürfen Menschen nicht nur danach beurteilt werden,
wozu sie im Schlechten fähig sind, es sind auch ihre guten
Seiten in Betracht zu ziehen. Dennoch fühle mich als
Außenseiter, und ich versuche es zu verbergen.
Im Dunst über dem Horizont zeichnen
sich kurzfristig die Umrisse von Land ab: Norwegen! Welch
dramatisch schöne Steilküste, die vor uns aus dem Meer
erwächst. Nach drei vollen Tagen des Kämpfens gegen Wind und
Wetter kommen wir, ersichtlich angegriffen, in Torsvag an,
und, siehe da! die Dagmar Åan des Arved Fuchs ist auch schon
da. Sie muß uns überholt haben, ohne daß wir es bemerkten.
Neugierig wie wir sind, versuchen wir mit den Leuten an Bord
in Kontakt zu kommen. Doch sie erweisen sich als recht kurz
angebunden, von Gesprächsbereitschaft und
Auskunftsfreudigkeit keine Spur! Jedes Wort muß man ihnen
aus der Nase ziehen. Die werden doch wohl nicht glauben, daß
das, was sie können, andere nicht auch könnten! Alle tragen
sie die gleiche Markenkleidung ihres Sponsors. Wie sich
herausstellt, brauchte keiner von ihnen für die Reise etwas
zu bezahlen, d.h. sie reisen Hand gegen Koje. Aber, wie es
heißt, es soll sehr schwer sein, an einen der begehrten
Plätze heranzukommen, denn Arved Fuchs sucht sich seine
Begleiter persönlich aus. Natürlich sind wir für diese
Leute, wenngleich wir ihre Landsleute sind, wie unliebsame
Verwandte, denen man am besten aus dem Weg geht. Was sie uns
aber erzählen, deckt sich weitgehend mit unseren eigenen
Erfahrungen, daß sich nämlich das Eis um den Pol dramatisch
zurückgezogen hat, selbst die Nordwestpassage sei komplett
eisfrei, sagen sie.
Nachdem wir uns mental wieder etwas
gefangen haben, erst nach und nach zu begreifen beginnen,
daß wir zurück in der Zivilisation sind, kehrt auch das
Mitteilungsbedürfnis langsam zurück, wir reden wieder
miteinander. Vermutlich, um über diese Situation des freien
Falls zurück in die wahre Welt mit all ihren Problemen
hinwegzukommen, hat Reinhard eine CD eingelegt. Es ist das
erste Mal, daß ich auf diesem Schiff Musik höre, und sie ist
wohlklingend, könnte nur durch ein Glas gediegenen,
blutroten Weines noch in ihrer Wirkung gesteigert werden.
Dazu gibt es als besonderes Abendessen auch noch Spaghetti à
la Bolognaise, und es öffnen sich dabei wieder die Lippen.
Die versprochene Heilung der Seele scheint eingetreten.
Reinhard erzählt uns beim Essen, daß er nach einer
Bergbesteigung in den Alpen alle seine Zehen verloren habe.
Ich schließe daraus, daß dieses Trauma ihn veranlaßt haben
könnte, vom Alpinismus auf das Segeln überzuwechseln. Jetzt
verstehe ich auch seine geringe Anteilnahme, wenn jemand an
Bord über Erkältung, Schnupfen oder gefrorene Beine klagte,
und warum er dafür kein Mitgefühl aufbringt. Nicht ein guter
Tip kam jemals von ihm, wie man sich dagegen schützen kann.
Vielleicht an dieser Stelle noch ein
Wort zu meinen anderen Mitseglern, die ich nach gut drei
Wochen einigermaßen kennengelernt habe. Die auffälligste
Persönlichkeit ist sicherlich Ditmar, der ausgebildeter Arzt
ist, mit Fachrichtung Psychiatrie. Ein altes Vorurteil
besagt, daß wer diesen Beruf ergreift selbst irgendwelche
Verrücktheiten an sich haben muß, und auf Ditmar trifft das
hundertprozentig zu. Er zeigt ein beinahe krankhaftes
Verlangen, anderen dienen zu können. Egal, ob es darum geht,
wer den Abwasch macht, wer das Essen zubereitet, wer die
notwendigen seglerischen Arbeiten auf dem Schiff verrichtet,
jedesmal drängt er sich nach vorn, und es kann ihn keiner
darin übertreffen. Er besitzt eine übertriebene
Aufmerksamkeit für alles, was Menschen möchten oder auch
nicht wollen, und er nimmt freiwillig anderen die Arbeit ab.
Man könnte ihn gut ausnützen, wenn man wollte, und er würde
sich nicht dagegen wehren. Im Gegenteil, er empfände eher
noch eine innere Befriedigung dabei, wenn man ihm noch mehr
abverlangen würde. Ob solcher menschlichen Werte hat er uns
den Aufenthalt an Bord mehr als versüßt.
Wolfram kennen wir bereits als den,
der alles besser weiß, alles besser kann und von keinem
Kritik an Schiff oder Schiffsführer duldet. Es war
maßgeblich sein Verdienst, daß es zu keiner Meuterei an Bord
gekommen ist, wobei ich sicherlich der einzige gewesen wäre,
der am ehesten die Neigung dazu besessen hätte. Die beinah
einzige von Wolframs Unarten ist es, um auch an ihm ein Haar
zu krümmen, daß er beständig durch die Hand schneuzt.
Michael, wegen seines wikingerhaften
Aussehens scherzhaft Erik der Rote genannt, ist neben
Reinhard die wohl chaotischste Persönlichkeit an Bord.
Ebenfalls Arzt, ist er dennoch den Genüssen des Lebens nicht
abhold, dem Rauchen wie dem Trinken ergeben, wenn er es auch
in Grenzen hält. Er badete mehrmals im eiskalten
Arktiswasser, schlief manchmal allerdings übermäßig lang,
dafür war sein Engagement beim Kochen und Abwaschen eher
gering. Aber er kann gut Fische ausnehmen.
Harald ist der jüngste von uns,
hochgewachsen und gutaussehend und seines Zeichens
Jungunternehmer. Er trinkt nicht und er raucht nicht, und
eine Freundin hat er meines Wissens auch nicht. Aber auf dem
Schiff war er sicherlich der dynamischste, der immer, wenn
Not am Mann war, ins Wasser sprang, ohne sich dabei um seine
erfrorenen Zehen zu kümmern. Auch könnte man ihn zu den
echten Hoffnungsträgern unter den Seglern rechnen. Was an
Harald aufstößt, ist seine Geschmacksverwirrung, die ich in
dieser extremen Form noch nicht erlebt habe:
Preiselbeermarmelade aufs Schmalzbrot, in Orangensaft
eingetunktes Weißbrot, um nur einige zu nennen, sind
Kreationen, die ich noch bei keinem anderen gesehen habe.
Und auch er ißt alles auf, wo immer sich Reste zeigen, und
beklagt sich dann, daß er zugenommen habe.
Über mich brauche ich nicht sonderlich
viel zu erzählen. Mein oftmals patrizierhaftes Verhalten
habe ich auf diesem Törn weitgehend abgelegt, mich an allem
einschließlich Seemannschaft beteiligt, soweit es in meinen
Kräften stand, obwohl ich sicherlich mehr hätte geben
können. Aber ich besitze nun einmal die Schwäche, mich
verwöhnen zu lassen, und diese Eigenschaft konnte ich auch
auf diesem Törn nicht ganz ablegen.
Die kommende Nacht verbringen wir,
nachdem wir alle heiß geduscht haben, in relativer
Behaglichkeit. Es ist das erste Mal, daß wir wieder
durchschlafen können. Als wir am Morgen aus unseren Kojen
kriechen, hat die Dagmar Åan bereits abgelegt und befindet
sich auf dem Weg nach Tromsø. Wir hingegen beschließen, noch
einmal im Fjord zu übernachten, ehe wir übermorgen unseren
Zielhafen ansteuern wollen. An Vanøya vorbei, laufen wir
unter Maschine durch den Hamarfjord, bei spiegelglatter See
und bewölktem Himmel. Es ist warm heute, sowie sich auch nur
die Sonne zeigt. Die einsame Bergwelt ringsum erzeugt ein
Gefühl der Weltfremdheit, die sich im Wesen der Bewohner
dieses Landes niederschlägt. Selten, daß hier einer auf
einen zugeht – geradezu, als würde er sich davor fürchten –
oder von sich aus ein Gespräch anknüpft. Wie sehr
unterscheiden sich diese Menschen doch von den
kontaktfreudigen, redseligen Südländern. Man hat das Gefühl,
als würde jeder von ihnen ein Problem mit sich herumtragen,
so daß er das Reden verlernt hat. Wie schön muß es doch
sein, wieder in den Süden zu kommen, wo die Menschen nur so
vor Tatendrang sprühen, wo man das Gefühl hat, daß das Leben
dort pulsiert, ganz im Gegensatz zum Hohen Norden, der vor
Kälte und Einsamkeit nur so strotzt.
Beim Abendessen stellt Reinhard die
Frage, ob wir nicht Lust hätten, noch einen Zwischenstop
einzulegen, und als wir alle zustimmend nicken, wird
einmütig beschlossen, daß wir mit Zwischenstop in
Andersletta Reinøya ansteuern wollen. Unterwegs fangen wir
mit der Angel noch einmal frischen Fisch für unser
Abendessen. Leider beißen nicht nur große Fische an wie auf
der Bäreninsel, wobei wir im Unterschied zu dort neben
Kabeljau auch einen Schellfisch aus dem Wasser ziehen, der
am Ende auf meinem Teller landet.
Bei Karlsøya legen wir einen
Zwischenstop ein. Hier finden wir die Hinterlassenschaft
eines Popkonzertes, welches erst vor sechs Wochen
stattgefunden hat und bei dem sich alles, was Rang und Namen
hat, aus ganz Skandinavien eingefunden hat. Viele bunt
bemalte Häuser erinnern noch an die Hippies, die sich damals
hier niederließen. Daneben leben auch noch viele Künstler
auf der Insel, die ihre Bedeutung als zentraler Fischereiort
längst eingebüßt hat. Die Landschaft der Umgebung ist
großartig. Steil abfallende, schneebedeckte Berge und
zahlreiche Seitenfjorde machen die Gegend zu einem kaum
jemals zu erschließenden Labyrinth.
Im Hafen von Andersletta bringen wir
noch einmal den Anker aus, ein letztes Mal. Während die
sechs von uns gefangenen Fische in der Pfanne brutzeln,
erklingt aus den Lautsprechern Musik, welche unsere Fantasie
in höhere Sphären aufsteigen läßt. Es ist die Hymne aus dem
atemberaubenden Film „Nomaden der Lüfte“, für den Aufnahmen
in Grönland und Spitzbergen gedreht wurden, an Stellen, an
denen auch Reinhard mit seiner Pagan schon gewesen ist und
mit denen er daher persönliche Erinnerungen verbindet. Die
sphärischen Klänge versetzen mich in eine Art Rausch, ein
Zustand, wie er nur durch den Genuß von Drogen noch zu
übertreffen ist.
An unserem letzten Segeltag geht es
nur noch darum, nach Tromsø hinüberzufahren. Unsere letzte
Route führt um die Insel Reinøya herum, vorbei am Ullsfjord
und durch den Grøtsund. Mächtige Gletscher des Lyngsfjellen
bestimmen die großartige Szenerie, welche an die Alpen
erinnert. Ein letztes Wendemanöver mißlingt, der Wind weht
einfach zu schwach, wir benötigen die Unterstützung der
Maschine.
Während der sich hinziehenden Fahrt
nach Tromsø krame ich aus der Bordbibliothek ein weiteres
interessantes Büchlein hervor: Konradin reitet, von
Otto Gmelin, welches ich, nachdem ich davon fasziniert bin,
in einem Zug auslese. Es schildert die tragische Gestalt
Konradins, des letzten aus dem Hause Hohenstaufen, in den
hohe Erwartungen gesteckt wurden, die sich aber nicht
erfüllt haben. Wegen des Versuchs, sich seine Erblande
zurückzuholen, wurde er von Karl von Anjou auf dem
Marktplatz von Neapel durch das Schwert vom Leben zum Tode
befördert. Mit ihm erstarb die Hoffnung vieler Deutscher,
Größe und Glanz des Reiches mehren und fortsetzen zu können.
Das Brummen des Motors reißt mich aus
meinen Gedanken. Durch die teils trübe, teils heitere
Szenerie der Fjordlandschaft kommen wir langsam aber sicher
nach Tromsø, dem Ziel unserer Reise. Schon von weitem kann
man die den Fjord überspannende Brücke erkennen, welche die
Insel, auf der die Stadt liegt, mit dem Festland verbindet.
Dann taucht die Eismeerkathedrale zu unserer Linken auf,
eigenartig in ihrer Form, und hinter dieser sehen wir die
Seilbahn auf den Hausberg Tromsøs schweben, von dem man eine
herrliche Aussicht auf die Stadt und ihren Hafen hat. Tromsø
ist Universitätsstadt, entsprechend jung ist seine
Bevölkerung. Wehe aber, wer hier eine Frau sucht! Die Frauen
in diesem Land sind kühl und würdigen einen Mann nicht eines
Blickes. Gut die Hälfte aller Norwegerinnen hat dunkles,
bisweilen schwarzes Haar, was auf ihre finno-ugrische
Herkunft schließen läßt. Die meisten aber, gleich welcher
Haarfarbe, haben blaue Augen.
Fünfzehn Jahre ist es her, seit ich
zum letzten Mal hier war, doch an einiges kann ich mich noch
gut erinnern. Diesmal allerdings kommen wir von See her, und
was wir in den vergangenen drei Wochen geleistet haben, ist
außer uns in diesem Jahr nur einer weiteren Jacht geglückt,
der Dagmar Åan des Arved Fuchs. Noch vor drei Wochen
blockierte eine Eisbarriere die Hinlopenstraße, so daß wir
zur Umkehr gezwungen gewesen wären. Oder aber, wir hätten
den ungleich weiteren Weg um Nordaustland herum nehmen
müssen. Dies alles ist uns zum Glück erspart geblieben. Ich
war wahrscheinlich der einzige an Bord, der gewußt hat, daß
es kein Eis geben würde – nach guter Seemannschaft sind
Eisgebiete grundsätzlich zu meiden –, weil ich kurzfristig
gebucht habe, nachdem mir die Satellitenbilder gezeigt
haben, daß in diesem Sommer nahezu die halbe Polgegend
abgeschmolzen ist. Aber die anderen haben fest mit Eis
gerechnet, und sie wären bereit gewesen, sich in der
Hinlopenstraße von den Eismassen einschließen zu lassen.
In nur drei Wochen hat die Pagan nicht
nur Spitzbergen umrundet, sondern auch die Barentssee
überquert, unter teilweise widrigen Winden. Als sie am
letzten des Monats August ihren Zielhafen erreicht, gehen
von Bord sechs gestählte Nordaustlandfahrer, die in dieser
Zeit ein eingeschworenes Team geworden sind. Wann hat die
Welt je glücklichere Stunden erlebt? Es endet damit ein
großer Traum. Nicht die Urgewalten der Arktis haben uns
gebändigt, sondern wir haben sie gezähmt. Beinah alles ging
so glatt vonstatten, daß es uns die Götter neiden könnten.
Dann erklingen die Gläser, und wir liegen uns vor Freude in
den Armen. Jubel, Trubel, Heiterkeit stehen jedem ins
Gesicht geschrieben. Am Abend sehen wir, als Vorboten von
etwas noch Größerem, die seltene Erscheinung der Aurora
borealis über uns aufflackern. Zuerst sind es nur wenige
Strahlen, die sich sternförmig über den nächtlichen Himmel
ausbreiten, doch dann werden immer größere Teile des
Firmaments davon erfaßt. Fast unheimlich mutet uns diese
Erscheinung an, und noch nie sahen wir den Stern Polaris so
hoch im Zenit. Annähernd 1200 Seemeilen hat die Pagan in den
vergangenen drei Wochen hinter sich gebracht, sie ist bis an
die südliche Treibeisgrenze vorgedrungen. Zugleich ist es
uns damit gelungen, die historische Reise des Pytheas von
Massilia nachzustellen, nach dem sagenhaften Thule, sechs
Tagereisen nördlich von den britischen Inseln.