Home |
Startseite |
Impressum |
Download |
Leserbriefe | Kontakt |
Gästebuch
"Wie phantastisch das an graue Vorzeit
erinnernde, den Kratersee umgebende steinerne Gewand sich im
klaren Morgenrot eines der Schöpfung abgerungenen Tages
ausnehmen muß, vermögen nur die zu erahnen, die
ehrfurchtsvoll erschaudernd auch die alles verzehrenden
Blitze sich vorstellen können, welche zuckend in
schwärzlicher Nacht ein lodernd Feuer in einen der Türme
warfen und seine Steine zum Bersten brachten."
Unter den Schwingen des Kondors
Eine Reise ins Andenhochland
(1.4.-28.4.2001)
Chamäleon-Reisen

Aufbruch am Januar-Fluß
Unter
Katarakten
Am
Papageienfluß
Im Land der
Gauchos
Nichts
als Zuckerrohr
Zwischen Menhiren und Säulenkakteen
Von Inkas
umgeben
Die Schöne
Von
Gringos und Campesinos
Goldfluß
Der Reiche Berg
Die Weiße
Stadt
Dinosaurierspuren
Suche nach
Eldorado
Im Mondtal
Das Reich
des Kondors
Vom Sohn der
Sonne
Schwimmende
Inseln
Die vier
Weltgegenden
Im Nabel der
Welt
Der Weg des
Inka
Das
Heilige Tal der Inkas
Goldschatz
des Inka
Nachruf
Etwa vierzehn
Stunden, einschließlich der kurzen Zwischenstops, dauert der
Flug von München nach Río de Janeiro. Wie immer war das
Einchecken in München und Frankfurt wieder einmal in letzter
Sekunde erfolgt, aber nun sind wir froh, daß wir an Bord sind.
Der Service bei der Fluglinie Varig ist längst nicht mehr das,
was er einmal war, aber das gilt nicht nur für diese
Gesellschaft, sondern allgemein im Luftverkehr. Als ob sie sich
gegen den Fluggast verschworen hätten: enge Sitze, so daß
selbst ein mittelgroßer Mann kaum seine Füße ausstrecken kann,
fast ungenießbares Essen, gerade soviel zu trinken, daß es zum
Verdursten zuviel, um seinen Durst zu löschen aber zuwenig ist.
Gereizt wie ich bin, wäre es an Bord der Maschine fast zu einer
handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem der Passagiere
gekommen, wenn nicht der Stuart dazwischengegangen wäre. Der
Anlaß dazu war worauf ich schon fast allergisch reagiere
, daß mein Vordermann seinen Sitz nicht senkrecht gestellt
hatte, als das Essen kam, und ich, nachdem auch mein zweiter
Hinweis ungehört blieb, dem allzu fühlbar nachgeholfen habe.
Als wir in Río
ankommen, herrscht strahlend schönes Wetter, Temperaturen
zwischen 25 und 30 Grad, ideal zum Baden also. Wie wir von
unserem örtlichen Begleiter erfahren, blickt Río auf einen sehr
heißen Sommer zurück, zwischen 35 und 40 Grad sollen es
täglich gewesen sein. Auch das Hotel, in dem wir schon vor
Jahren einmal abgestiegen sind, ist noch das gleiche, es ist
direkt an der Copacabana gelegen; aber ansonsten hat sich nichts
geändert. Der Strand ist heute stärker bevölkert als damals,
und noch immer laufen die Jogger an der Uferpromenade entlang,
mitten auf der Straße, die am Sonntag für den öffentlichen
Verkehr gesperrt ist.
Auf der
altbekannten Strecke, am Copacabana Palace, dem vornehmsten Hotel
der Stadt, und am Meridien vorbei, geht es durch einige der
zahlreichen Tunnels zum absoluten Muß Ríos, dem Zuckerhut. Die
erste Seilbahn auf den Asucar, wie er in der Landessprache
heißt, wurde 1912 von einem deutschen Unternehmen gebaut und war
bis 1973 in Betrieb. Spektakulärer sind die Kletterführen, die
sich hinaufziehen, denn der Berg ist auf allen Seiten von
Steilwänden umgeben. Auch wenn die geringe Bewölkung ansonsten
ideale Sichtbedingungen gewährt, ist der Ausblick aufgrund des
starken Dunstes wieder einmal nicht optimal. Der Panoramablick,
den man auf der Spitze des Zuckerhuts besitzt, ist einfach zu
traumhaft, als daß man irgendwelche Einschränkungen zu
akzeptieren bereit ist; ich verzichte daher auf ein Photo. Einen
gewissen Ersatz für das Entgangene bietet, daß man den
Flugzeugen über der Guanabara-Bucht bei ihrem Landeanflug
zusehen kann oder beim Start, wenn sie raketengleich im Steilflug
über den Zuckerhut hinwegschießen. Daß der Zuckerhut
geologisch genau zu den Verwitterungserscheinungen in Angola
paßt, liefert, nebenbei bemerkt, einen Beweis für Alfred
Wegeners Theorie von der Kontinentaldrift.
Die neue
Kathedrale Ríos wurde von Oskar Niemeyer entworfen, dem großen
Architekten Brasilias. Sie gleicht einem Kegelstumpf, dessen
Inneres einer Zwölfteilung unterzogen ist, jedes vierte
Zwölftel ist mit Glasfenstern ausgelegt. Das Gewölbe zeigt die
Form eines regelmäßigen Kreuzes.
An den Ständen
der Stadt wird ein sehr erfrischendes Getränk verkauft, und zwar
Guaranasaft, der aus einer Wurzel des Amazonasgebiets gewonnen
wird. Es schmeckt ähnlich der Coka-Cola, jedoch nicht ganz so
chemisch.
Obwohl ich die
Aussicht vom Corcovado kenne, der mit 704 m höchsten Erhebung in
der direkten Umgebung der Stadt, bin ich doch wieder der
Versuchung erlegen, sie genießen zu wollen, und es war wieder
genauso dunstig wie damals. Durch die zahlreichen Morros, jene
abgeschliffenen Granitkegel, die gegen ihre Umgebung überaus
hoch sind, darunter der dem Zuckerhut zum Verwechseln ähnliche
Zweibrüderberg, fällt ständig irgendwo Schatten ein, egal wie
die Sonne steht. Der höchste dieser Morros, der sowohl vom
Zuckerhut als auch vom Corcovado aus zu sehen ist, steht nicht
direkt bei der Stadt, sondern in einiger Entfernung zu ihr, und
das Besondere an ihm ist, daß er rundherum Überhänge besitzt.
Man darf nun mit seiner Phantasie nicht nachlassen, braucht sich
nur sämtliche Plattenbauten wegdenken, um sich eine Vorstellung
davon zu machen, wie diese traumhafte Landschaft in aller
Unberührtheit einmal ausgesehen haben mag, ehe die Portugiesen
kamen. Dazu muß man sich wirklich klare Sicht wünschen, und ich
wüßte nicht, wann es diese gibt oder ob es sie jemals gibt. Und
dann wäre die Versuchung groß, alle Morros der Umgebung auf
Erstbegehungswegen zu ersteigen. Wie Rutschbahnen, so glatt, sind
die schwarzen Felswände zum Teil, und uns bleibt bis heute
unbegreiflich, wie man sie, ohne lange nach einer Führe Ausschau
zu halten, überhaupt bezwingen kann.
An den Stränden
frönen die Menschen ihren Leidenschaften, als da sind: Drachen-
und Gleitschirmfliegen, Wellenreiten, Kokosmilch trinken, in der
Brandung stehen oder einfach nur an den kilometerlangen weißen
Sandstränden in der Sonne liegen. Schön müßte es sein, zu
einer der vorgelagerten Inseln hinüberzusegeln, die nichts
anderes sind als ebenfalls Morros, nur eben etwas tiefer
liegende, im Meer versunkene; sie alle stehen unter Naturschutz.
In der Nähe des
Sheraton, am Leblon, befinden sich zahlreiche Stundenhotels mit
teilweise illustren Namen, z.B. Sinless, d.h. sündenfrei, u.a.
Hier treffen sich der Chef mit der Sekretärin, der Ehemann mit
seiner Geliebten sowie alle, die ihre Liebe versteckt halten
müssen.
Nach einem
erquickenden Schlaf fühlen wir uns am nächsten Morgen topfit,
gerade das Rechte, um Río auf den Kopf zu stellen. Doch was tun,
wo die Stadt außer seichten Vergnügungen nur wenig
Ersprießliches bietet? Gewiß nicht sinnvoll wäre es, sich an
der Copacabana die Sonne aufs Haupt scheinen zu lassen oder in
der prallen Sonne herumzulaufen, wie es die Brasilianer tun,
speziell die weißen. In Río leben nämlich 40 % Weiße, ein
verhältnismäßig hoher Anteil im landesweiten Vergleich, und
deren besonderes Vergnügen scheint es zu sein, es an
Körperbräune ihren an die Sonne gewöhnten farbigen Landsleuten
gleichzutun. Ohnehin schlecht gegen die intensive UV-Strahlung
gewappnet, sorgen sie mit Fleiß dafür, daß ihre häßlichen
Pigmentflecken noch zahlreicher in Erscheinung treten, ihre
kalkfarbene Haut noch runzliger wird, zumal sie offenbar neidvoll
auf diejenigen blicken, welche die Natur mit einem kakaobraunen
Teint ausgezeichnet hat. Wie sehr hat sich doch das
Schönheitsideal gewandelt! Überhaupt hat Río sich seine
Traditionen bewahrt. Ehrgeizig hecheln schon am frühen Morgen
die Schönsten der Schönen, schweißgebadet und halbnackt, die
Uferpromenade entlang, um nur ja nicht in den Verdacht zu
geraten, es handele sich bei ihnen um Nichtstuer. Man muß sich
wirklich fragen, ob der Mensch dazu berufen sei, in seiner ganzen
Häßlichkeit sein Ebenbild, den Schöpfer, beleidigen zu wollen,
indem er seine sämtlichen körperlichen Mängel in solch
schamloser Weise zur Schau stellt und andere dazu zwingt, sich
diese anzusehen. Und es sind in der Tat fast nur Hellhäutige,
die sich das erlauben. Wenn nicht diese unerträgliche Hitze
herrschen würde, könnte man die Zeit sinnvoller durch
Wanderungen überbrücken. So versuchen wir uns denn, während
die anderen am Strand verbleiben, im Schatten der
Häuserschluchten in Richtung Stadtzentrum vorzuarbeiten,
lediglich mit einer Flasche Wassers bewaffnet, dessen man bei den
ständig steigenden Temperaturen reichlich bedarf. Unser Ziel ist
der Zuckerhut mit seinen idyllisch um ihn herum gruppierten
Badestränden. Es ist angesichts der getrunkenen Wassermenge
zwingend erforderlich, wenngleich fast aussichtslos, öffentliche
Bedürfnisanstalten ausfindig zu machen, es gibt sie schlichtweg
nicht. Allerorts steigt einem der Geruch von Urin in die Nase,
und genau das, diese mangelnde Hygiene, macht die Stadt so
unerträglich, aber es hat den Vorteil, daß es noch zusätzlich
zur Hitze den Appetit vertreibt.
Am Ende der
Copacabana angelangt, erkunden wir den "Weg der
Fischer", an dem die Einheimischen ihrem Angelvergnügen
nachgehen. Ich kann aber nicht erkennen, daß irgendeiner einen
gewaltigen Fang gemacht hätte. Im Anschluß daran geraten wir
unvermutet auf Kasernengelände, wo wir von den Soldaten mit
ruhigen, aber bestimmten Worten des Platzes verwiesen werden. Um
weiterzukommen, bleibt es uns nicht unbenommen, durch einen der
vielen Tunnels zu schreiten, in denen der Fahrzeuglärm das
einzige ist, was stört. Am Ende der Röhre erreichen wir in
wenigen Minuten, am Yachtclub vorbei, die Talstation der Seilbahn
auf den Zuckerhut, wo wir bereits tags zuvor waren. Hier am Platz
befindet sich anscheinend eine Militärakademie, wo stolze
Uniformen und noch stolzere Gesichter die einzig stolzen,
die ich im ganzen Land gesehen habe , an eine längst
vergangene Tradition anknüpfen. Meines Wissens ist aber
Brasilien mit Ausnahme eines Grenzkonflikts mit Paraguay nie in
Kriegshandlungen verwickelt gewesen. An dieser Akademie beginnt
die Pista Cláudio Courtinho, ein in den Vorberg des Zuckerhuts
getriebener Uferweg, der offenbar für die körperliche
Ertüchtigung der Offiziersanwärter angelegt wurde und daher der
Öffentlichkeit nur begrenzt zur Verfügung steht. Es sind
wiederum fast nur hellhäutige Brasilianer, die sich hier mit
schweißgebadeten Körpern bei 35 Grad im Schatten abstrampeln.
Wie fast alle Angehörigen eines Industrielandes leiden auch die
Brasilianer auffallend an Übergewicht, so daß sich bei vielen
Männern auf der Brust bereits Ansätze weiblicher Formen
entwickeln. (Müssen uns Menschen mit einer solchen Behinderung
nicht leid tun?) Am Ende des Weges, wo dieser jäh aufhört,
steht man unerwartet vor einem Turm. Die Aussicht auf die
vorgelagerten Inseln ist traumhaft und der Spaziergang durch eine
urwüchsige Tropenflora nach soviel Stadtluft trotz der
drückenden Schwüle erholsam. Von unseren Städten sind wir es
gewohnt, daß die Kirchen als Häuser zu Ehren Gottes alles
andere überragen. In Río wie auch in den meisten anderen
Metropolen Südamerikas verschwinden sie hingegen, wie David
hinter Goliath, zwischen sie um ein Vielfaches überragenden
Wolkenkratzern.
Etwas enttäuscht
sind wir, daß es uns nicht gelungen ist, in Río eine e-Mail zu
verschicken. Das Handy funktioniert hier nicht, und das Internet
scheint für die meisten Brasilianer noch immer ein Fremdwort zu
sein. Als wir dann endlich ein Café gefunden haben, scheitert
unser Einwahlversuch daran, daß wir uns nicht auf portugiesisch
verständigen können. Mit Englisch kommt man nämlich hier kaum
durch. Schade! denn in einem der mondänen Einkaufszentren der
Stadt, wo die "Upper class" verkehrt, haben wir Frauen
gesehen, so schön, daß es einem den Schlaf raubt.
Am Abend verlassen
wir Río; unter uns liegt das Lichtermeer der Stadt. Der Himmel
ist noch immer wolkenlos, soweit das Auge reicht. Als ich durch
das Bullauge nach draußen blicke, sehe ich unvermutet das Kreuz
des Südens, und ich werte es als ein gutes Zeichen. Kaum sind
vierzig Minuten verstrichen, als sich unter uns die Lichter von
São Paolo abzeichnen, unendlich an Zahl. Nach einem kurzen
Zwischenstop geht es erneut in den nächtlichen Sternenhimmel
nach Foz Iguaçu, wo wir kurz vor Mitternacht ankommen, zum
Umfallen müde.
Als wir am
nächsten Morgen aufwachen, erwartet uns nach Auflösung der
Frühnebelfelder ein strahlend schöner Tag mit bestem
Photowetter. Die Luft ist einzigartig klar, und mit 24 °C
herrschen auch für Mitteleuropäer erträgliche Temperaturen. Im
kühlen Luftzug unseres offenen Fahrzeugs werden wir an die
Katarakte des Iguaçu-Flusses herangebracht, wo dieser auf einer
Länge von 4 km über eine Höhe von bis zu 73 Metern
herabstürzt. Iguaçu liegt 225 m über dem Meeresspiegel, auf
dem 29ten südlichen Breitengrad. Die Temperaturunterschiede
können hier extrem sein. So wurden in den Sommermonaten bereits
Temperaturen von 49 °C im Schatten gemessen, so daß man auf der
Kühlerhaube einer schwarzlackierten Limousine in der Sonne
Spiegeleier braten konnte; im Winter hingegen treten regelmäßig
Minusgrade auf. Das kälteste Jahr, an das Einheimische sich
erinnern können, war 1945, wo elf Grad unter Null erreicht
wurden. Wir befinden uns hier in der Vegetationszone des
subtropischen Regenwaldes, der am Boden sehr dicht ist. Selbst
Araukarien, die normalerweise auf Höhen unter 500 m nicht
vorkommen, gehören zum festen Baumbestand; dank einer
Elsternart, die für die Verbreitung der Samen sorgt, ist dies
möglich. In den Wäldern findet man Jaguar, Ozelot und
Nasenbär. Letzterer bringt eine Beißkraft von zwei Tonnen auf
für alles, was ihm in den Mund gelegt wird. Daher wird davor
gewarnt, diese Tiere, die es hier sehr zahlreich gibt, zu
füttern oder zu streicheln.
Besonders reich an
Arten ist die Insektenwelt. Riesige und überaus
farbenprächtige, nur hier vorkommende Schmetterlinge erfreuen
das Auge des Besuchers. Es ist aber nicht möglich, die
zahlreichen Schmetterlingsarten alle zu kennen und die
vielfältigen Pflanzen einzuordnen, zu zahlreich sind diese, als
daß ein gewöhnlich Sterblicher sie alle identifizieren könnte.
Ist es doch im allgemeinen beklagenswert, wenn jemand, nur weil
er die Namen nicht kennt, nicht angeben kann, was er gesehen hat
und um welche Gattungen es sich handelt, und dies zeigt, wie
wenig er sich eigentlich dafür interessiert. Darum sollte sich,
wer eine Reise tut, schon vor Antritt derselben mit den
geographischen, zoologischen und botanischen Gegebenheiten
vertraut machen, er sollte die Namen und den Verlauf der Flüsse
kennen, besondere geologische Sehenswürdigkeiten nach den
Gesteinen, die dort vorkommen, beurteilen können und um ihre
Entstehung wissen. Kulturen, die ausgestorben sind, sollten
zeitlich eingeordnet werden können, sonst verhält es sich wie
bei jemandem, der zwar nicht blind und taub ist, aber dennoch
nicht sieht und nicht hört und wie ein Tor allezeit auf Erden
wandelt.
Obwohl mir die
argentinische Seite der Wasserfälle nicht neu ist, ziehe ich es
vor, sie ein zweites Mal zu besichtigen, anstatt auf dem
Campingplatz auszuharren und auf die anderen zu warten. Die
Besichtigung beschließt man üblicherweise mit einer Fahrt zum
Dreiländereck Argentinien - Brasilien - Paraguay. Dieses liegt
genau an der Stelle, wo der Río Iguaçu in den Paraná mündet.
Letzterer entsteht am Zusammenfluß von Río Grande und Río
Paranaibo und ist nach dem Amazonas der wasserreichste aller
Ströme Südamerikas. Nach dem Zusammenfluß mit dem Río Uruguay
heißt er Río de la Plata, der wiederum kein eigentlicher Strom
ist, sondern ein Mündungstrichter bzw. eine Meeresbucht; an ihr
liegt Montevideo und auf der gegenüberliegenden Seite Buenos
Aires. An der Mündung des Río Paraguay in den Río Paraná
liegen die beiden Städte Resistencia und Corrientes. Der Río
Paraguay aber entspringt im Pantanal und nimmt bei Asunción den
Río Pilcomayo auf, der Grenzfluß ist zwischen Argentinien und
Paraguay. Als weiteren wasserreichen Strom nimmt der Río Uruguay
kurz vor seiner Mündung in den Río de la Plata noch den Río
Negro auf.
An einem
Mittwochmorgen verlassen wir Foz do Iguaçu und überqueren auf
der "Freundschaftsbrücke" den Paraná, den
Papageienfluß, bei Ciudad del Este, der Stadt des Ostens, nach
Hongkong und Miami der drittgrößte Warenumschlagplatz der Welt.
Bislang ist es der paraguayanischen Regierung nicht gelungen, den
illegalen Drogenhandel, die Waffen- und Autoschiebereien, die
Geldwäsche und die von hier ausgehenden terroristischen
Aktivitäten islamischer Gruppen zu unterbinden. 80 % der Waren
gehen, ohne daß Zoll entrichtet wird, über die Grenze. Die
Beamten, die hier ihren Dienst tun, sind mehrheitlich korrupt,
bei ihrem niedrigen Gehalt für viele durchaus verständlich.
Über eine
Brücke, von der aus sich bereits ein Blick auf die Silhouette
von Asunción auftut, überqueren wir die gewaltigen Wassermassen
des Río Paraguay. Hier ist es schlagartig aus mit den
Lateritböden, denn ab dort betreten wir graue Chacoerde. Der
Chaco ist kaum besiedelt, obwohl er die ertragreichsten Böden
der Erde hat, die aber schwer zu bewirtschaften sind, das
Grundwasser ist nämlich zu salzhaltig. Der Ombú- oder
Teufelsbaum (phytolacca dioica), der hier gedeiht, gehört zur
Familie der Kermesbeerengewächse. Kein Tier würde sich auch nur
in seinen Schatten begeben, zumal er voller Giftstoffe ist.
Unser heutiger
Camping-Platz liegt im Botanischen Garten von Asunción, einem
Mückenparadies, einer schwül-heißen Hölle, in der man in der
Nacht nur schwer Schlaf findet. Seit drei Tagen konnte ich mich
nun schon nicht mehr rasieren, und die sanitären Verhältnisse
scheinen dies auch heute nicht zuzulassen. Besonders beschämend
finde ich das Verhalten einer kleinen Gruppe junger Deutscher,
die ihren Übernachtungsplatz als Müllhaufen hinterlassen. Als
sie dann noch denken, sie müßten sich vor ihrer nächtlichen
Abreise mit dröhnender Musik aus dem Kofferradio verabschieden,
gehe ich kurz entschlossen hin und drehe ihnen das Radio aus.
Dies führt anfangs zwar zu lebhaften Protesten, aber am Ende
kann ich mich durchsetzen. Nachts werden wir durch das
Gebrüll der Löwen, die in den benachbarten Käfigen eingesperrt
sind, immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Es klingt wenn
man gerade aus einem Albtraum erwacht , als würden ihnen
in der Arena Christen zum Fraß vorgeworfen.
Paraguay ist das
Land der Guaraní-Indianer. Besonders verdient gemacht um ihre
Missionierung und ihren Schutz haben sich die Jesuiten, jener
Orden, den Ignatius von Loyola gegründet hat. Jesuiten müssen
neben ihrem Theologiestudium noch einen weiteren Studiengang
absolvieren. Als Patres haben sie ihre Schutzbefohlenen vor dem
Zugriff der Sklavenjäger bewahrt, aber auch vor den Spaniern,
und sie konnten ihnen erstaunliche Kunstfertigkeiten abgewinnen,
vor allem auf den Bereichen der Bildhauerei, der Schnitzkunst und
der Musik. Da der Orden keine Steuern zahlen mußte, wurde er
immer reicher, was schließlich den Neid weltlicher Herren
erweckte und in der Vertreibung der Jesuiten aus Paraguay
gipfelte. Falsch ist die Ansicht, die Jesuiten hätten die
Inquisition in Südamerika ausgeübt, was richtigerweise den
Dominikanern, den "Hunden Gottes," zugeschrieben werden
muß. Franzosen wurden als Hugenotten, Holländer als Calvinisten
und Briten als Anglikaner von der Inquisition verfolgt und mit
dem Bann belegt und konnten sich daher nicht festsetzen. Auch die
weitere Geschichte Paraguays trieft von Blut. Der blutigste
Krieg, der überhaupt jemals geführt wurde, war der sogenannte
Chaco-Krieg, ein Grenzstreit, der buchstäblich bis auf den
letzten Mann ausgetragen wurde. Nach seinem Ende gab es in
Paraguay nahezu keine Männer mehr. Nicht umsonst werden die
jungen Männer dort früher als anderswo zum Militärdienst
herangezogen. Der Geburtsschein wird in der Regel erst lange nach
der Geburt ausgestellt, wobei man meist einige Jahre zugibt,
damit die Bürschchen früher eingezogen werden können.
In Paraguay tragen
schon die Schulkinder Uniformen. Dies wird damit begründet, daß
soziale Unterschiede nicht bereits im Kindesalter sichtbar werden
und die Chancengleichheit zumindest äußerlich gewahrt bleibt.
Das Schulsystem Lateinamerikas ist so aufgebaut, daß das
Klassensystem erhalten bleibt, d.h. wer arm geboren ist, der wird
auch arm sterben. Das oberste Lehrziel ist der Patriotismus und
der Nationalismus. Viele Schulabgänger treten bereits mit einem
beachtlichen Schuldenberg ins Berufsleben ein. Den Politikern
sind die Defizite des hiesigen Schulsystems bekannt, aber an die
Sache herangehen und dieses ändern will auch keiner, vielleicht
weil viele denken, daß, wenn möglichst viele ein niedriges
Bildungsniveau besitzen, diese auch leichter zu manipulieren
seien und man seinen korrupten Geschäften desto besser nachgehen
könne. Nichts hat sich, seit ich das letzte Mal hier war,
geändert, es ist immer noch das gleiche Bild. Ab jetzt beginnt für mich der
eigentlich neue Teil der Reise.
Gleich an der
Grenze überqueren wir den Río Pilcomayo, der in Bolivien
entspringt. Die Grenzabfertigung zieht sich in die Länge, für
viele ein Grund, um mit den Indios um Waren zu feilschen. Da
denke ich mir: Früher haben die Weißen sich für Glasperlen und
andere wertlose Gegenstände zu Spottpreisen gewaltige Gebiete
Landes erworben, heute hingegen sind sie es, die indianische
Ringe und sonstigen Kitsch für kostbare Dollars erstehen. So
ändern sich die Zeiten, und beinahe alles kehrt sich um. Noch
vor nicht allzulanger Zeit herrschte an den
Grenzabfertigungsstellen zu Argentinien die reinste Willkür. Ein
Beamter beispielsweise, der für zehn Tage in den Osterurlaub
ging, legte die Formalitäten für die Zeit seiner Abwesenheit
komplett lahm.
Die
Erschließungsgeschichte der La-Plata-Staaten beginnt mit Amerigo
Vespucci, dem Namenspatron Amerikas. Man glaubt, daß er den Río
de la Plata als erster entdeckt hat, aber mit Sicherheit weiß
man es nicht. Gewiß jedoch ist, daß Juan Diaz de Solis'
Expedition an Land ging und alle bis auf einen von den Indianern
aufgefressen wurden. Der nächste, der kam, war Pedro de Mendoza,
ein Kammerherr Karls V., der von Sevilla aus die erste große
Expedition in den Mündungstrichter des Río de la Plata, des
Silberflusses, unternahm und 1536 Buenos Aires gründete. Er
starb jedoch während der Reise. Andere vollendeten sein Werk und
segelten den Paraguay-Fluß hinauf bis zum Zusammenfluß mit dem
Río Pilcomayo, wo sie als erste dauerhafte Siedlung auf dem
südamerikanischen Kontinent Asunción gründeten. Buenos Aires
hingegen wurde nach seinem ersten Gründungsversuch von den
Indianern zerstört, später aber wieder aufgebaut.
Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der interessante
Bericht des Straubingers Josef Schmidel, der Mendoza begleitet
hatte und somit zum ersten Chronisten Argentiniens wurde.
Kurz hinter der
Grenze ist ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: Die
Malvineninseln sind argentinisch! Ob das stimmt, mag der Leser
selbst beurteilen. Der erste nämlich, der 1592 auf die
Falkland-Inseln kam, war ein britischer Pirat namens John Davis,
der die Inseln aber nicht betrat. Aus dieser Zeit hat sich
folgende nette Anekdote bewahrt: Erst nachdem ein Matrose die
unter Seeräubern berüchtigte Drake-Straße durchquert hatte,
war er zum Tragen eines Ohrrings berechtigt, und dieser
berechtigte wiederum dazu, beim Wasserlassen die Hose
herunterzulassen. 1690 landete dann der Engländer John Strong
auf den Inseln, aber auch er erklärte sie nicht zum Besitz der
britischen Krone. 1764 gründen die Franzosen eine erste Kolonie
auf Ostfalkland, worauf nur zwei Jahre später unabhängig davon
die Engländer die Kolonie Port Egmont in Westfalkland errichten.
Gemäß dem Vertrag von Tordesilla hat Frankreich die Oberhoheit
Spaniens über alle Gebiete des Südatlantiks anerkannt und
seinen Besitzanspruch an der neu gegründeten Kolonie an Spanien
abgetreten, nicht so England. Nachdem 1770 die Spanier ihren
käuflich erworbenen Besitz übernehmen wollen und die Engländer
aus Port Egmont vertreiben, droht England mit Krieg. Die Spanier
geben daraufhin Port Egmont zurück, ohne ihren Anspruch auf die
restlichen Gebiete aufzugeben. Seitdem sind die Malvinas
Zankapfel zwischen Briten und Argentiniern, denn die Argentinier
betrachten sich nun einmal als Rechtsnachfolger der Spanier,
zumal auch Spanien Argentinien als souveränes Land anerkannt
hat. Über diesen Besitzstreit entbrannte schließlich der
Falklandkrieg.
Der Name
Argentinien leitet sich vom lateinischen Wort für Silber, argentum,
ab. Es gibt jedoch kein Silber in Argentinien. Der Name geht
zurück auf die Silberfunde, die während der Expedition des
Sebastian Caboto gemacht wurden, einem italienischen Seefahrer in
spanischen Diensten, der 1526 die Mündung des Río de la Plata
erreichte und den Paraná bis Rosario weitersegelte. Diese
Expedition ist allerdings gescheitert; alle Schiffe bis auf das
von Diego García sind gesunken. Der Río de la Plata hieß
ursprünglich Mar de Solís, benannt nach dem spanischen
Seefahrer Juan Díaz de Solís, der 1516 die Flußmündung
entdeckt und für Spanien beansprucht hatte. Magellan gab der am
Mündungstrichter des Río de la Plata gelegenen Stadt Montevideo
ihren Namen.
Argentinien
gliedert sich politisch in 22 Provinzen. Statistisch gesehen
leben derzeit knapp 13 Menschen auf einem Quadratkilometer, im
Großraum von Buenos Aires sind es 13-14 Millionen. 90 % der
Bevölkerung sind Weiße, meist italienischer oder spanischer
Abkunft. Da Kreolen als Menschen zweiter Klasse galten, die von
politischen Ämtern ausgeschlossen waren, schickten früher viele
Spanier ihre schwangeren Frauen zum Gebären nach Spanien, damit
ihre Kinder volle politische Rechte besaßen. Indianer gibt es in
Argentinien kaum noch, da sie 1879 bis auf den letzten Mann
ausgerottet worden sind, man veranstaltete sogar Treibjagden auf
sie. Che, ein indianisches Wort, was soviel heißt wie Volk, ist
alles, was von den Ureinwohnern noch übriggeblieben ist.
Die Indianer sind
vor ca. 30000 Jahren, aus der Mongolei kommend, über die
Beringstraße nach Amerika eingewandert. Diese Datierung ist aber
vermutlich nicht haltbar und muß auf ca. 50000 v. Chr.
vorverlegt werden. Durch spätere Einwanderer wurden die
früheren nach Süden abgedrängt. Die Besiedelung endete jäh,
als der Meeresspiegel wieder anstieg. Vor 10000 Jahren etwa wurde
die Magellan-Straße geflutet. In Südamerika spalteten sich die
eingewanderten Indios auf in solche, die die Andenkette
besiedelten, und andere, welche im Urwald lebten. Dementsprechend
unterschiedlich ist auch die kulturelle Entwicklung, die beide
Gruppen nahmen, verlaufen. Im nordöstlichen Brasilien, in Minas
Gerais, gibt es Fundstätten, die auf 14150 v. Chr. datieren.
Insbesondere im Andenhochland bildeten sich Hochkulturen aus,
deren Hinterlassenschaft wir noch heute bestaunen.
Um das Alter
dieser indianischen Kulturen zu bestimmen, sind verschiedene
Methoden in Gebrauch. So sind etwa im Zuge der Isotopenforschung
auch für die Archäologie bessere Datierungsmethoden, quasi als
Nebenprodukte, abgefallen. Die Aufnahme von C14 durch
einen lebenden Organismus hört auf, sobald dieser abstirbt. Die
Meßgenauigkeit des Verfahrens ist ausreichend bis etwa 40000 v.
Chr. Für die Datierung von Keramiken verwendet man heutzutage
überwiegend das Thermolumineszenz-Verfahren, aus dem man durch
Aufheizen der Probe und anschließender Spektralanalyse
gesicherte Angaben erhält.
Argentinien ist
ein waldarmes Land, lediglich hier im Chaco gibt es noch einige
Quebracho-Wälder (quebracho colorado). Quebracho-Holz ist sehr
hart und gegen Termitenbefall resistent. Leider führt die
Einfuhr fremder Baumarten nach Südamerika wie etwa der dreißig
von insgesamt 230 in Australien vorkommenden Eukalyptusarten, die
hier gut gedeihen, zu einer Verfälschung des Vegetationsbildes.
Die endemischen Flaschenbäume können bis zu 200 Liter Wasser
speichern. Der Flaschenbaum besitzt eine äußerst stachelige
Rinde, ein ideales Nagelbett also für einen angehenden Fakir! Er
schützt sich dadurch gegen alle Tiere, die von ihm fressen
wollen. Seine Krone ist von den Nestern der Korbmachervögel
bevölkert.
Noch liegen viele
sogenannte Estanzias am Weg. Eine Estanzia ist ein reiner
Viehzuchtbetrieb, eine Hazienda ist entweder ein Milchbetrieb
oder ein reiner Ackerbaubetrieb. Argentiniens Farmen haben
Flächenausdehnungen von der Größe des Saarlandes.
Zweitgrößter Grundbesitzer im Land ist die Familie des
italienischen Strickwarenmagnaten Carlo Benetton, die 850000
Hektar auf sich vereint. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in
Argentinien ist die Baumwolle; sie gedeiht nur im sogenannten
Baumwollgürtel. Die ersten Funde von Baumwolle stammen aus
Mexiko und datieren in das Jahr 5800 v. Chr., das Verdienst ihrer
Verbreitung in Europa gebührt den Arabern.
Am lehmig-braunen
Río Bermejo, dem zweiten großen Chaco-Fluß nach dem Río
Pilcomayo, stehen die lilafarbenen Wasserhyazinthen gerade in
voller Blüte. Beiderseits der Straße wächst argentinischer
Papyrus, eine endemische Art. Auch die Canauba-Palmen gedeihen
hier zahlreich. An der Straße sehen wir drei Jabirus, Verwandte
des Silberstorchs, und einen Adler. Die an ihrem gelben Halsband
erkennbare Schneckenweihe (polyborus plancus) man nennt
sie hierzulande Caracara , hat einen stark gebogenen
Schnabel. Auch Stauße bekommen wir zu Gesicht. Der
südamerikanische Nandu unterscheidet sich vom afrikanischen
Strauß insoweit, als er kleiner ist, auch sind Männchen und
Weibchen gleichgefiedert. Hier verlassen wir die Provinz Formosa
und betreten die Provinz Chaco. Es beginnt zu regnen. Im Chaco
prallen häufig antarktische Luftmassen, die ungehindert über
die Pampa hinwegfegen, mit warmen Luftströmungen aufeinander,
was zu sehr ergiebigen Niederschlägen führen kann.
Unser heutiges
Tagesziel ist Avia Teray. Nach Übernachtung an einer Tankstelle
steht uns ein weiterer Fahrtag durch die monotone, von heftigen
Regengüssen gebeutelte Landschaft des Chaco bevor. Das Wetter
ist so wie die Landschaft, trübselig und von undurchdringlichen
Nimbostratuswolken verhangen. Alles steht unter Wasser, und dort,
wo Vegetation fehlt und der nackte Chacoboden hervortritt, graben
sich die Reifen tief in die aufgeweichten Schlammassen. Unser
allradgetriebenes Fahrzeug zeigt bisweilen bereits deutliche
Anzeichen eines Getriebeschadens. Hoffentlich wird uns das in dem
unerschlossenen Gelände, durch welches wir noch kommen werden,
nicht zum Verhängnis, und wir stehen womöglich ohne Ersatzteile
da.
Wir verlassen nun
die Provinz Chaco und reisen nach Santiago del Estero ein. Längs
der Straße sitzen immer wieder Rabengeier, so genannt nach dem
sie kennzeichnenden schwarzen Kopf. Auch sind immer häufiger
Feigenkakteen in die Landschaft eingestreut. Die Früchte der
Feigenkakteen nennt man hierzulande Tunas, sie sind eßbar.
Niemals würde in
Argentinien jemand auf die Idee kommen, daß ihn der Staat
durchfüttern würde. Den Begriff des Sozialstaates kennt man in
Lateinamerika nicht. Ein Lehrer verdient in der Provinz Santiago
del Estero weniger als 234 US$ im Monat, wobei es an der Regel
ist, die Gehälter mit mehrwöchiger Verspätung auszubezahlen.
Der Peso ist im Verhältnis 1:1 an den Dollar gekoppelt. Ein
Handwerker verdient zwischen 600 und 800 Pesos, ein Polizist
400-500 Pesos. Verkäufer leben von Provisionen und bekommen in
der Regel überhaupt kein Gehalt. Der Staat nimmt den Menschen
nichts, aber dafür gibt er ihnen auch nichts. Die Familie ist in
Lateinamerika noch intakt, sie ist das einzige soziale Netz, das
es gibt. Junge Ehepaare leben in der Regel bei den Eltern,
Altersheime kennt man nicht. Fast alle leben jedoch in
Wohneigentum.
Bei Quimili nehmen
wir nicht den direkten Weg nach Santiago del Estero, da uns die
Straße zu schlecht ist, sondern biegen Richtung Süden ab. Es
muß hier gewaltig geregnet haben in den vergangenen Tagen, da
richtige Seen entstanden sind, wo sich die Kuhreiher und
Kormorane wohlfühlen, die diese Feuchtgebiete zahlreich
bevölkern. Bei Cnia. Dora erreichen wir die Straße Nr. 34, die
nach Rosario hinabführt. Über den Río Dulce gelangen wir
schließlich nach Santiago del Estero.
Die Stadt wurde
1553 durch Capitan Francisco de Aguirre gegründet und ist somit
die älteste argentinische Ansiedlung. Im Sommer kann es hier
unerträglich heiß werden, bis zu 50 Grad. Aus der Kolonialzeit
hat sich kaum noch etwas erhalten. Überhaupt macht die Stadt
einen heruntergekommenen und verwahrlosten Eindruck. Die
Dominikanerkirche ist das einzige, was es zu besichtigen gibt.
Sie ist im Innern schlicht, weist nur wenige Stukkaturen auf und
macht äußerlich den Eindruck einer Wehrkirche. Die Orientierung
in der Stadt fällt schwer, da die Straßen schachbrettartig
angelegt sind und ein Haus dem andern gleicht. Die Bewohner
machen ebenfalls nicht den Eindruck, als ob sie überwiegend
italienischer Abstammung seien, mit Sicherheit ist viel
Indianerblut eingeflossen. Mit großer Freundlichkeit begegnen
die Einheimischen demjenigen, der ihrer Kultur Interesse
entgegenbringt, und so geschah es mir, als ich unter dem
Standbild des Stadtgründers und Konquistadors Aguirre, in
kontemplative Betrachtung versunken, von einem Mann hellauf
begeistert nach der Uhrzeit gefragt werde.
Unser
Camping-Platz am Fluß liegt im Schatten von
"langnadeligen" Casuarinen, und der Río Dulce führt
ungewöhnlich viel Wasser um diese Zeit, wahrscheinlich infolge
der heftigen Niederschläge der vergangenen Tage. Auf der ihn
überspannenden Brücke stehen am Abend die Fischer, arme und
brave Leute, und werfen ihre Ruten aus. Große und prächtige
Exemplare von Fischen sehen wir sie allerdings nicht
herausziehen. Nachdem wir in der Nacht die
südamerikanische Fröhlichkeit aus den dröhnenden Lautsprechern
der benachbarten Disco erfahren durften, fühlen wir uns am
nächsten Morgen wie gerädert.
Über Río
Hondo verläuft unsere heutige Tagesroute, ein kurzes Stück nur,
nach San Miguel de Tucumán, einem Zentrum der
Zuckerrohrwirtschaft. Das Zuckerrohr wurde von Bischof Colombres
eingeführt, in dessen Haus ein kleines Museum über die
Zuckerrohrverarbeitung eingerichtet ist. Das Zuckerrohr gehört
zur Familie der Süßgräser, der Poaceen. Saccharum robustum
kommt noch heute in seiner Wildform in Neuguinea vor. Die Dächer
der Eingeborenenhütten werden dort mit den Stengeln des
Zuckerrohrs gedeckt. Alexander der Große lernte die Pflanze auf
seinen Feldzügen kennen, die Araber brachten sie nach Europa.
Ihr Verbreitungsgebiet stimmt in etwa mit dem der Palmen
überein. Sie erreicht fünf bis neun Meter Höhe und wird bis zu
zwanzig Jahre alt, die Blätter können zwei Meter lang werden.
Es gibt zwölf verschiedene Unterarten des Zuckerrohrs, dessen
herbe Stengel immer noch von Hand geschlagen werden.
Niemals in der
Geschichte hat ein spanischer Herrscher seine Kolonien selbst
besucht. Den Kolonien war es zunächst untersagt, Eisen zu
produzieren, und auch der Handel und Anbau von Oliven war auf das
Mutterland beschränkt. Später, als es im Ausland produzieren
ließ, wurde Spanien durch den Reichtum seiner Kolonien arm. Der
Handelsweg der Spanier war abstrus: von Sevilla, am Guadalquivir
gelegen, gelangten die Waren nach Nombre de Dios, einem
Räubernest, das später von Drake niedergebrannt wurde, sodann
auf dem Königsweg nach Peru und von dort über Tucumán nach
Buenos Aires, mit dem Erfolg, daß die Waren unwahrscheinlich
teuer wurden, was in den Kolonien zu Unzufriedenheit führte.
Die wohl
schillerndste Figur der jüngeren argentinischen Geschichte ist
zweifellos Juan Domingo Perón, der mit dem faschistischen Europa
sympathisierende Diktator und Kinderschänder. Seine spätere
Gemahlin Eva Duarte, vom Volk vergöttert und liebevoll Ewita
genannt, wurde von Perón schamlos für seine politischen Zwecke
ausgebeutet. Nachdem sich die beiden auf einem Ball kennengelernt
hatten, ging Eva Duarte anschließend nicht in ihre Wohnung,
sondern sie ging in die ihres späteren Gemahls, wo sie seine
13jährige Geliebte aus dem Hause ohrfeigte und an ihrer Statt
auf ihn wartete. Dies brachte ihr in den vornehmen Kreisen von
Buenos Aires den Ruf einer Prostituierten ein. Das Ende der
Perón-Herrschaft endete damit, daß der Diktator von seinen
ehemaligen Armeekollegen buchstäblich aus der Casa rosada
hinausgebombt wurde. Perón ging danach zu seinem Freund Franco
ins Exil. Seine zweite Frau, eine ehemalige
Tingeltangeltänzerin, von Perón zur Vizepräsidentin ernannt,
war nur mehr eine hilflose Marionette. Die Präsidentschaft ging
nach der gewonnenen Wahl und nach dem Tode Peróns an sie über.
Peróns wohl berühmtester Ausspruch war, er werde ganz
Argentinien ausrotten, zuerst die Aufständischen, dann die
Zaghaften, am Ende die Furchtsamen. Wegen der Kritik an seiner
Regierung ließ Perón zahlreiche Regimegegner inhaftieren. Viele
der Gefolterten wurden bei lebendigem Leib über dem Südatlantik
aus dem Flugzeug gekippt.
Am Ende seines
Monologs meint unser Reiseleiter zynisch, er wisse gar nicht,
warum wir Deutschen so stolz auf unseren Alexander von Humboldt
seien. Der Universalgelehrte Alexander von Humboldt habe
schließlich nur auf französisch publiziert und erst auf dem
Sterbebett eine Übersetzung ins Deutsche genehmigt, denn er
wollte in die französische Akademie der Wissenschaften
aufgenommen werden, was ihm letztendlich auch gelang.
Im Gebiet von Río
Hondo gibt es Thermalquellen, deren es im gesamten Andenbereich
zahlreiche gibt. Über den zum See aufgestauten Río Dulce, der
hier für die Stromerzeugung genutzt wird, gelangen wir in die
Provinz Tucumán, die kleinste Provinz Argentiniens. Vor der
Stadt, nach der die Provinz benannt ist, tauchen die ersten Berge
auf. Unsere Durchquerung des Chaco haben wir damit glücklich
hinter uns gebracht. Das Flußbett des Río Soli, welchen wir
überqueren, ist mit reichlich Wasser gefüllt, da es in den
Bergen wohl ordentlich geregnet haben muß.
Tucumán führt
den Beinamen "Garten der Republik", es hat seinen Namen
nach dem indianischen Häuptling Tucumán. Die Stadt wurde 1565
von Diego de Villarroel gegründet. In Tucumán wurde am 9. Juli
1816 die Unabhängigkeitsakte unterzeichnet. Am Platz der
Unabhängigkeit befinden sich mehrere alte Bauten, die
architektonisch besonders interessant sind. Gegenüber der
Kathedrale steht ein in der Art des Kolonialstiles errichtetes
Gebäude, das mehrere Stile in sich vereint. Auch die
vergitterten Fenster erinnern unmittelbar an die Kolonialzeit,
ebenso die Balkone. Den gesamten Giebelfirst zieren die von der
Gotik her bekannten fratzenhaften Figuren, wie sie nicht nur an
den Kathedralen, sondern auch an Profanbauten angebracht waren.
Zwei Putten über dem Giebelfenster, die ein Wappen in Händen
halten, erinnern an den Barock. Links davon befindet sich ein
Gebäude im Stil des Rokkoko, das einen sehr schönen Innenhof
besitzt. Wiederum links von diesem steht ein Haus im
neoklassizistischen Stil, und schließlich folgt zu dessen Linker
ein weiteres, wie es für die faschistische Epoche Italiens zu
Zeiten Mussolinis typisch ist. An der nächstgelegenen
Straßenkreuzung steht die neoklassizistische Franziskanerkirche.
Es folgt der vom Architekten Domingo Selva errichtete
Präsidentenpalast. In der Congreso Tucumán befindet sich die
Casa Avellaneda (Haus Nr. 56), die auf das Jahr 1836 datiert ist
und in der Nicholas Avellaneda geboren wurde, der von 1874-1880
Präsident Argentiniens war und die Ausrottung der Chaco-Indianer
angeordnet hat. Heute ist darin ein kleines Museum untergebracht.
Etwas weiter, in der Casa Historica, die tatsächlich noch aus
der Kolonialzeit stammt, tagte der Kongreß der
Unabhängigkeitserklärung. Das nach außen relativ schmucklose
Gebäude birgt in seinem Innern insgesamt drei Innenhöfe. Auf
der gegenüberliegenden Seite, wo der Eingang zu den
Pferdestallungen war, hängen an den Innenwänden Reliefs von
Schlachtenszenen. Unweit von hier steht in der Straße des 9.
Juli die Dominikanerkirche, die dem heiligen Thomas von Aquin
geweiht ist und heute zur Universidad del Norte gehört. Ein
typisches Beispiel für die Tucumánische Architektur des 19.
Jahrhunderts ist die Casa de los Padilla, die ebenfalls einen
sehr schönen Innenhof besitzt. Die Kathedrale heißt auch
Kathedrale der eintausend Säulen. Unweit dieser findet sich
schließlich die Mercedarierkirche, die Kirche des Gnadenordens.
Hier in den Bergen
um San Miguel de Tucumán haben sich in den 70er Jahren des
vergangenen Jahrhunderts die Guerilleros verschanzt. Die
Guerillagruppe der Montaneros, die in diesem Gebiet agierte,
wollte seinerzeit mit Waffengewalt versuchen, das System zu
verändern. Einer kleinen Zahl von Land-oligarchen stand eine
Masse von verschuldeten Landarbeitern gegenüber, an die feudalen
Verhältnisse der Kolonialzeit anknüpfend. Doch nicht nur die
Militärs haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert, sondern
auch die extrem rechten und linken Gruppierungen der Guerilla.
Der politische Dialog wurde anstatt durch Diskussionen mit der
Waffe geführt. Mit dem verlorenen Malvinen-Krieg endete auch die
Herrschaft des Militärs.
Als wir am
Morgen des Palmsonntags aufbrechen, eröffnet sich uns ein erster
Blick auf die freier werdende Bergkette der Anden, die hier
zwischen 4000 und 5000 m hoch sind. Wie eine Wand, so steil,
ragen sie auf, und gespenstisch lichten sich davor die Nebel,
während dahinter der blaue Himmel durchschimmert. Nun beginnt
unsere eigentliche Andenüberquerung, es erscheinen die ersten
schneebedeckten Berggipfel der Sierra Aconquija. Während an den
Ostabhängen der Anden genügend Feuchtigkeit aufsteigt und
abregnet, was dort ein üppiges Pflanzenwachstum hervorruft, sind
die innerandinen Täler wesentlich trockener. Die Westseite der
Anden hingegen ist völlig trocken. Hier liegen die
niederschlagsärmsten Wüsten der Erde, etwa die Atacamawüste,
wo es seit Menschengedenken, seit Beginn der
Wetteraufzeichnungen, nicht geregnet hat.
Links und rechts
der Straße sehen wir bereits die ersten Inkalilien mit ihren
weißen Blütenblättern, die zur Familie der Amaryllidaceen
gehören. Die umgebende Natur ist ein Paradies für Epiphyten.
Dies sind Pflanzen, die einen Baum nicht parasitär im Sinne
eines Wirts benutzen, sondern sich seiner lediglich bedienen, um
an ihm emporzuklettern und dadurch dem Licht näherzurücken.
Üppig und urweltartig grün ist der Bewuchs, als wir uns auf
einer Schotterstraße, die durch die Regenfälle der vergangenen
Tage aufgeweicht ist, unter Schütteln und Schaukeln über
Schlaglöcher hinweg auf schmaler werdender Straße in immer
größere Höhen hinaufwinden, den Wildbach stets zu unserer
Linken. Für Pkw mit niedrigem Radstand ist die Straße schier
unpassierbar. Aufgrund von Murenabgängen sind Bulldozer am Werk,
die Straße freizuschaufeln. Ein Fahrzeug vor uns gerät direkt
in einen Steinschlag, die Heckscheibe wird zertrümmert. Leute
versuchen das Fahrzeug anzuschieben. Die Wurzeln der Bäume sind
nicht tiefreichend, aber weitverzweigt, ideal also, um von
Schlamm- und Geröllmassen mitgerissen zu werden. Vor einem
Hangrutsch geraten wir ins Stocken, nichts geht mehr. Noch immer
lösen sich tonnenschwere Gesteinsbrocken, so groß wie ein
kleines Fahrzeug, donnern unter Getöse und Krachen auf die
Straße und blockieren den Weg. Was die Planierraupen bereits
freigeräumt haben, wird erneut von Gesteinsmaterial zugedeckt.
Stunden des Bangens und Wartens vergehen. Teilweise wirken die
Minen ratlos und sorgenvoll, wir können aufgrund der Größe
unseres Fahrzeugs weder wenden noch weiterfahren. Die Pkw haben
es da leichter, sie können umkehren. Selbst der Reiseleiter, der
sonst immer markige Worte in den Mund genommen hat, ist
verstummt. Mich persönlich reut es jetzt, daß wir keine
Vorräte und nichts zum Trinken eingekauft haben, Essen wäre
jetzt eine angenehme Überbrückung. Einige, zu denen auch ich
zähle, reißen makabre Witze. Als der Weg freigeschaufelt ist
drei Stunden hat es gedauert ist uns zur Wahl
gestellt, die steinschlaggefährdete Schneise entweder zu Fuß zu
umgehen oder im Fahrzeug sitzenzubleiben. Die weitaus meisten
folgen meinem Beispiel und waten zu Fuß durch die Schlammassen,
stets in sicherem Abstand zur Gefahrenzone. Mit total verdreckten
Stiefeln manche tragen nur loses Schuhwerk gelingt
uns ein Hinüberkommen. Auch das Fahrzeug kann unbeschadet
queren. Die anschließende Fahrt auf schmaler, jedoch teilweise
befestigter Straße verläuft wirklich abenteuerlich. Ein
Fußbreit daneben und wir lägen alle in der Schlucht. Dichte
Wolken stauen die Feuchtigkeit, und obwohl wir schon über 1000 m
an Höhe gewonnen haben, ist es ordentlich schwül.
Tausendfältig verschiedene Pflanzen machen der sprichwörtlichen
Grünen Hölle alle Ehre. Und schon stehen wir vor dem nächsten
Erdrutsch. Dieser währt jedoch nicht lange.
Schließlich,
nachdem wir das Schlimmste hinter uns haben, kommen wir ins
Gebiet der Menhire, die etwa ins 8. Jahrhundert n. Chr. datieren.
Diese geheimnisumwitterten Monolithen können bis zu 3,50 m hoch
sein. Einige der Menhire weisen eingemeißelte Gesichter auf. Es
handelt sich bei dieser Megalithkultur um ein unbekanntes Volk,
welches hier in prähistorischer Zeit ein astronomisches Zentrum
errichtet hat, das vor allem der Beobachtung der Planetenbewegung
diente. Über die wahre Bedeutung weiß man jedoch nichts
Genaues, man ist auf reine Spekulation angewiesen.
Mittlerweile haben
wir die Baumgrenze erreicht, wo der Regenwald durch eine
Grasbüschellandschaft abgelöst wird. Agaven und Säulenkakteen
(Trichocereus) sind das Charakteristische dieser Landschaft. Die
gelbblütigen Berberitzen bzw. Beisselbeeren stehen gerade in
voller Blüte, auch die Yuccapalmen blühen. Am Stausee von El
Mollar besitzen viele Stadtbewohner Wochenendhäuschen, in die
sie entfliehen, wenn in Tucumán unerträgliche Temperaturen
herrschen. Die Straße passiert in etwa 2500 m Höhe eine
archäologische Stätte, die allerdings noch nicht ausgegraben
ist, die aber als das Wohngebiet derer gilt, welche die Menhire
aufgestellt haben. In geographischen Breiten wie dieser ist
selbst in diesen Höhen noch Ackerbau möglich, die Nähe zum
Äquator gleicht die Höhe aus. Hier reift der Mais bis auf 3800
m, die Kartoffel gedeiht noch in über 4000 m Höhe. Die Gegend,
die jetzt kommt, heißt Abra del Infiernillo, die Paßhöhe liegt
auf 3042 m über dem Meeresspiegel. Das Gestein steht dort in
Sedimenten an; auch Tuffgestein, unter Druck geratene
Vulkanasche, trifft man häufig an, da mit der Gebirgsbildung der
Anden ein gewaltiger Vulkanismus einherging.
Bald machen wir
Bekanntschaft mit den ersten Lamas und Alpakas, die beide mit dem
Kamel verwandt, jedoch kleinwüchsiger sind. Diese Tiere scheinen
es zu lieben, wenn man ihnen einen Nasenkuß gibt. Die bunten
Fäden, welche sie durch die Ohren gezogen haben, dienen dem
Besitzer als Erkennungszeichen. Es gibt zwei Wildformen, das
Vicuña und das Guanako. Es ist strengstens verboten, Vicuñas
abzuschießen, denn beinahe wäre diese Art ausgerottet worden.
Nach Überschreitung des Tafi del Valle zeichnet sich vor unseren
Augen bereits das Tal des Río Santa María ab, das um diese
Jahreszeit allerdings ziemlich trocknen ist. Dort bekommen wir
den ersten Kondor zu Gesicht. Trotz seiner 3,50 m
Flügelspannweite ist nicht er der Vogel mit den breitesten
Schwingen, sondern das ist der Albatros mit vier Metern.
In Quilmes
lebte ein Indianervolk 25000 Menschen stark ,
welches hier schon im Jahre 1000 n. Chr. ansässig war, in einer
stadtähnlichen Anlage mit Mauern und Festungswerken. Den Inkas
gelang es nie, die Stadt zu erobern. Selbst die Spanier brauchten
viel Zeit, um Quilmes einzunehmen.
Quilmes ist für
uns der erste Höhepunkt auf dieser Reise, Río und die
Iguaçu-Fälle nicht eingerechnet. Man hat sich die
archäologische Stätte etwa wie folgt vorzustellen: Strategisch
überaus günstig gelegen, schmiegt sich die Stadt harmonisch an
einen Bergrücken, der von zwei Seitengipfeln flankiert wird. In
einem Halbrund fügt sie sich zwischen die zwei Festungshügel
ein, mit dem Rücken an die Felswände gelehnt, terrassenartig
untergliedert nach Art eines Amphitheaters, dessen Sitzreihen den
Terrassen entsprechen, und wie zu mehreren Stockwerken
übereinandergesetzt. Beide Kuppen sind mit Wehranlagen
überzogen, der Fortaleza del Norte und der Fortaleza del Sud.
Auch auf dem zentralen Bergkegel hat man Festungsanlagen
gefunden. Die Stadt gleicht somit einem uneinnehmbaren
natürlichen Bollwerk. Die äußere Befestigung ist an die 4 ½
km lang. Eine unterirdische Wasserleitung führte einstmals aus
den nahegelegenen Bergen frisches Quellwasser heran, so daß die
Inkas, die nicht verstehen konnten, daß Wasser nicht von der
Stelle geschöpft wird, wo die Ansiedlung liegt, sich wunderten,
wie die Eingeschlossen so lange durchhalten konnten, und die
Belagerung schließlich aufhoben. Ringsum war Quilmes von
feindlichem Inka-Gebiet umgeben, aber seine Eroberung blieb den
Spaniern vorbehalten, die die letzten hier noch ansässigen
Familien verschleppten.
In meinem
Tatendurst stürme ich in der kurzen Zeit, die wir uns für die
Besichtigung vorgenommen haben, hinauf auf die Fortaleza del
Norte, wo sich mit steigender Höhe ein immer grandioserer Blick
auf das unter uns liegende Ruinengelände eröffnet, eine Sicht
wie aus der Vogelperspektive. Das Wettergeschehen hat sich zu
einer märchenhaften Szenerie gewandelt, bizarre Erosionsformen,
die in allen Farben leuchten, und die phantastische Welt der
Riesenkakteen, die selbst vor dem Ruinengelände nicht halt
machen, tun sich unter uns auf. Das glitzernde Gestein besteht
aus Hornblende, Mauern und Gebäude sind aus ebendiesem
Naturstein gebaut, durch Mörtel miteinander verbunden, und man
darf nun seiner Phantasie freien Lauf lassen, um sich
vorzustellen, wie diese majestätische Anlage einmal ausgesehen
hat, bevor die Spanier sie eroberten. Es ist ein wahrhaft
erhabenes Gefühl, dieses zu erleben, und allein dafür hätte
die weite Reise sich schon ausgezahlt. Ach! bliebe uns doch nur
etwas mehr Zeit zum Verweilen, zum Nachdenken und zur Besinnung.
Doch wir hasten weiter, einem vagen Ziel entgegen, als läge die
Welt schon morgen begraben.
Zu Füßen der
Anlage befindet sich ein kleines Museum, das ganz im Stil der
dekorativen Elemente von Quilmes errichtet ist. In ihm sind die
Stücke der Ausgrabung und die in der näheren Umgebung gemachten
Funde ausgestellt, hauptsächlich Keramiken. Es gibt zweierlei
Arten von Keramik, bemalte und geritzte, und viele Exponate sind
innen poliert und von einer Ebenmäßigkeit, als wären sie mit
der Töpferscheibe geformt. Aber die Indios kannten das Rad nicht
und auch nicht die Scheibe und alles, was sich dreht. Als
auffälliges Muster, mit dem auch die Vasen verziert sind, tritt
immer wieder die Spirale in Erscheinung, die entweder als
Schlangensymbol oder als Wellenmuster gedeutet wird, aber dies
ist rein spekulativ, denn ihre wahre Bedeutung kennen wir nicht
und werden sie vielleicht niemals ergründen. Vieles hat auch ein
geometrisches Muster, und man unterscheidet rotgebrannte und
schwarzgebrannte Keramik. Der Erhaltungszustand ist meist
ausgesprochen gut, zumal es sich mehrheitlich um Grabbeigaben
handelt. In den größeren Gräbern beerdigte man die Toten
aufrecht sitzend. Zur Bearbeitung des harten Materials war
überwiegend Werkzeug aus Obsidian in Gebrauch.
Kurz vor
Cafayate erreichen wir die Provinz Salta. Sie grenzt an fünf
argentinische Provinzen und an drei Länder. Sie erstreckt sich
auch ins Tiefland hinab, wo noch wie einst Tiefland-Indianer
leben: die Matakos, Chorotes, Chiriguanos. Die Indios wagen es
aber nicht, sich bei Volkszählungen als Indios auszugeben, weil
sie Repressalien fürchten, und lassen sich daher in den
Registern als Mischlinge führen. Die Gegend rund um Cafayate ist
Weinbaugebiet, wo auf den vulkanischen Böden des
Calchaquí-Tales vor allem der Torrontés, ein ausgezeichneter
Weißwein, gedeiht. Jedoch werden hier auch Rotweine gekeltert.
Der Name Cafayate stammt aus der Sprache der Calchaquí-Indianer
und heißt "Ort, an dem es alles gibt." Die Stadt wurde
1840 gegründet. Die Kirche ist fünfschiffig und wurde im
neo-gotischen Stil errichtet. Der Ort macht insgesamt einen
gepflegteren Eindruck, verglichen mit dem, was wir bisher gesehen
haben. Auf der Plaza kann man die verschiedenen Weine kaufen,
auch die Weinprobe ist gestattet.
Man spürt nun den
deutlichen Temperaturunterschied zum Tiefland. Es kann zwar am
Tage relativ heiß werden, aber nachts kühlt es empfindlich ab.
In der Nacht zeigt sich der südliche Sternenhimmel in seiner
ganzen Pracht. Über uns leuchtet in funkelndem Rot der
Überriese Antares im Sternbild des Skorpions, und der Orion
steht auf dem Kopf. Vor Sonnenaufgang ist die Venus gut zu sehen,
und es ist völlig wolkenlos am Morgen. Links von uns befindet
sich der schneebedeckte Vulkan Cachi, der um die 6720 m hoch ist.
Bei Los Modenos, den Sanddünen, wo wir in der morgendlichen
Kühle bei glasklarer Luft eine prächtige Fernsicht auf den
Vulkan haben, machen wir halt. Später überqueren wir den Río
Calchaquí. Ein anderer Fluß, der sogenannte Muschelfluß oder
Río Conchos, dessen Tal sich zu einer grandiosen Schlucht
verengt, mit von der Winderosion phantastisch geschliffenen
Gebilden im weichen Tuff- und Porphyrgestein, ist nun einige Zeit
unser Begleiter. Bizarr geformte, rot gezackte Felstürme tun
sich vor uns auf, die unter dem tiefblauen Himmel zu einer
kontrastreichen Komposition eines plakativen Farbenspiels
geraten. Los Castillos, die Festungen, sind wildzerklüftete
Naturburgen, die zu dieser frühen Stunde noch tief im Schatten
liegen. Es ist eine Landschaft wie auf dem Mars, wo ständig
starke Stürme toben, die dem Fels den typischen Windschliff
verleihen, eine Welt, wasserlos, entrückt, scharfkantig und
unnahbar. Viele Felsen sind durchlöchert, würden eine ideale
Kulisse zu einem Monumentalfilm abgeben, wo Sklaven zum Bau von
etwas ganz Großem gepeitscht werden. Ehrfurchtsvoll, in Kapuzen
gehüllten betenden Mönchen gleich, schreiten wir schweigend
hinab zum Cerro El Zorrito, und wir gelangen dorthin von El
Obelisco, dem Obelisken, einer freistehenden Felsnase,
einzigartig unter den übrigen Gebilden. Wahrlich, man müßte
viel mehr Zeit erübrigen können für einen ausgedehnten
Streifzug zu einer Erkundung all dessen, was es da zu sehen gibt,
alle Felsen ersteigen und immer neue Ausblicke erhaschen, denn
jene Felsgebilde zeigen von jeder Seite ein anderes Gesicht. Es
muß hier, wenn man die richtige Tageszeit wählt, Orte geben mit
ungeahnten Fotomotiven. Es ist eine wahrhaft wundersame Welt,
diese Muschelschlucht, und nur das Paradies mag schöner sein,
Helios über uns und Hades unter uns, eine Welt, die sich aus nur
drei Farben zusammensetzt: dem roten Untergrund aus Gneis, dem
dort, wo er gedeiht, wo Wasser fließt, in den Flußbetten,
sattgrünen Bewuchs und dem tiefblau sich wölbenden, zumeist
wolkenlosen Himmel. Kann es je einen stärkeren Kontrast geben?
Nur das Gekreische der Papageien man nennt sie hierzulande
Smaragd-Sittiche unterbricht die Lautlosigkeit. Welch ein
Gegensatz zu den trüben, nassen Niederungen des Tieflands! An
der Stelle Tres Cruces schweift der Blick weit hinab in das Tal
des Río Concho, wo um diese Jahreszeit die Aloen schon verblüht
sind. Sind es doch stets die Gegensätze, die der Mensch sucht!
Wer am Meer lebt, bevorzugt das Gebirge, und wer im Gebirge
wohnt, sehnt sich nach dem Meer. Mir fällt zu dieser Landschaft
nichts anderes ein als die Grabinschrift Ewitas, die im Lied von
Madonna ihren wohl schönsten Ausdruck gefunden hat:
"Dont cry for me, Argentina."
Am unteren Ende
der Quebrada de las Conchas liegt der kleine Ort Alemania, wo
allerdings nie, wie manche meinen, Wein angebaut worden ist, wohl
aber einige Hippies wohnen, die vom Kunsthandwerk leben. Dieses
Alemania liegt in einem Trockenflußtal. An der Straße blühen
Blumen mit gelben, glockenförmigen Blüten: es ist die
sogenannte Cantuta; sie ist die Nationalblume Perus, allerdings
in ihrer rotblühenden Form. Die Vegetation wird dichter, je
weiter wir die Schlucht herabkommen. Am Straßenrand spielt ein
Indio auf einer Charango, einem Saiteninstrument, dessen
Klangkörper aus dem Panzer des Gürteltiers, einer geschützten
Art, hergestellt wird. Der Stausee von Cabra Corral, an
dem wir bald vorbeikommen, dient vornehmlich der künstlichen
Bewässerung. Auf den La-Cornisa-Bergen, die um die 3000 m hoch
sind, liegt noch Schnee, was darauf hindeutet, daß es in diesem
Sommer stark geregnet hat. Die Provinz Salta trägt auch den
Beinamen La Linda, die Schöne; ihre Fahne ist rot-schwarz. Bis
wir die gleichnamige Stadt erreichen, verläuft die Fahrt durch
uninteressantes Kulturland. Wir befinden uns hier in einer
Region, in der Tabak angebaut wird, den man erst nach Kolumbus in
Europa eingeführt hat. Er wird von unten nach oben geerntet, und
die unteren Blätter der Tabakpflanze sind zugleich die
wertvolleren.
Die Stadt Salta,
durch die der Río Arenales fließt, wurde 1582 von Hernando de
Lerma gegründet. Ihre Anlage, in etwa 1000 m Höhe gelegen,
entspricht genau der Festlegung Philipps II.: um einen Hauptplatz
konzentrieren sich die Straßen, schachbrettartig angeordnet,
getreu dem hippodamischen Prinzip, nach dem in der Antike die
Städte Milet und Priene angelegt waren. Der Cabildo, das alte
Rathaus, stammt aus dem 17. Jahrhundert. Von kunstgeschichtlichem
Interesse in Salta sind die im neoklassischen Stil erbaute,
prächtig ausgestattete Kathedrale sowie die ebenfalls im
neoklassischen Stil gehaltene, bedeutend bescheidenere
Franziskanerkirche, die mit 54 m Höhe den höchsten Kirchturm
Südamerikas besitzt. Bedingt durch die Armut, sind die hiesigen
Menschen gläubiger als bei uns, und die Reichtümer, welche die
Kirchen Südamerikas angehäuft haben, sind ein Hohn auf die
Besitzlosen. Man kann sich lebhaft vorstellen, in welchem
Überfluß die Geistlichen gelebt haben müssen, wenn schon ihre
Gotteshäuser derart prunkvoll ausgestattet waren. Und wo wir
gerade dabei sind: heute mittag haben wir endlich das
langersehnte argentinische Rindersteak in gewohnter Qualität
gegessen, zart und innen blutig, und das Ganze zu einem
vertretbaren Preis von 10 US$ inklusive Getränk. bekanntlich
sind die Argentinier eine Fleischfressernation, denn jeder
erwachsene Argentinier verzehrt im Schnitt etwa 1 kg Fleisch pro
Tag (kaum zu glauben, aber so wird es berichtet). Die für die
Zubereitung des gegrillten Fleisches, welches man Asado nennt,
erforderliche Holzkohle wird in den Kohlemeilern des Chaco
gewonnen.
Vor dem
Archäologischen Museum der Stadt steht ein Reiterstandbild von
Güemes, einem Gaucho-Führer, der mit seinen Infernales den
Royalisten schwer zu schaffen machte. Manchmal, wenn die Leute in
Argentinien einen Reiter sehen, glauben sie, daß es sich dabei
um einen Gaucho handele. Gauchos gibt es jedoch schon seit Ende
des vorletzten Jahrhunderts nicht mehr, sondern es handelt sich
um sogenannte Peóns, zu deutsch Viehtreiber. Gauchos waren wilde
Gesellen, die aus Verbindungen zwischen weißen Vätern und
indianischen Müttern hervorgingen und die aus beiden
Gesellschaften ausgestoßen waren, weil ihre Eltern einen
Tabubruch begingen. Die in der argentinischen Literatur
beschriebene Gaucho-Romantik hat es nie wirklich gegeben, denn
die, die diese Bezeichnung dereinst führten, waren in der Regel
rauhe Gesellen, die Dörfer überfielen, Vieh raubten, die
Weißen ermordeten und ihre Frauen vergewaltigten. Im
Museum finden sich Fundstücke präkolumbianischer Epochen. Die
Gefäße sind entweder antropomorph oder zoomorph ausgeführt,
schwarzgebrannte Keramiken mit Ritzdekor weisen vielfach
Schlangenmotive auf. Auch Muscheln oder Korallen wurden
bearbeitet, als Währung galten Türkise und Salz. Der
Lapislazuli wurde auf der chilenischen Seite der Anden gefunden.
Die Nahrungsbeschaffung war im Hochlandbereich wesentlich
einfacher als im Tiefland, als Speisen dienten Hirse, Mais,
Kartoffeln und Chilischoten. Auch den Mais, der bislang in Europa
nicht bekannt war, verdanken wir der Entdeckung Amerikas, und die
Kartoffel hat ihren Ursprung auf der Insel Chiloé. Die
Aschote-Nuß hingegen dient zum Einfärben der Haut.
Auf den Cerro San
Bernardo führt eine Seilbahn hinauf. Mit dieser erreicht man in
etwa zehn Minuten den Gipfel des Hausberges von Salta. Die beste
Aussicht auf die majestätische Bergwelt dürfte man wohl am
Vormittag haben, da dann zum einen kein Gegenlicht herrscht und
sich zum zweiten am Nachmittag meist Quellwolken bilden, die die
Berge ganz oder teilweise einhüllen. Salta ist überdies
bekannt für seinen berühmten "Zug in den Wolken",
dieser sollte Salta mit Antofagasta verbinden; 1929 war das erste
Teilstück fertig. Der Adhäsionsantrieb läßt auf einer Strecke
von 1000 m nur eine Steigung von 25 m zu (2,5%). Der Zug braucht
für diese 900 km lange Strecke, die auf Höhen von 4500 m
führt, drei Tage, und er verkehrt nur sehr selten.
Wegen seiner
Erdgas- und Erdölvorkommen zählt Salta zu den reicheren
Provinzen Argentiniens. Das Land kann seinen Bedarf an Erdöl und
Erdgas selbst decken. Agrarisch befinden wir uns mit
dieser Region in einem Coka-Anbaugebiet. Während der Anbau von
Cokablättern und der Handel damit in Argentinien unter Strafe
gestellt ist, ist ihr Genuß in Bolivien erlaubt. Allerdings
versucht dort die Regierung, den Anbau durch gewaltsame
Maßnahmen einzudämmen. Auch den Inkas war es nicht erlaubt,
Coka zu kauen; lediglich die "Spitzel" des Herrschers
durften dies tun. In Cuzco waren zur Zeit der Inkaherrschaft
geschlossene Türen verboten, so daß die Wächter an allen
Türen lauschen konnten, ob nicht drinnen etwas gegen den
Herrscher gesagt würde. Ein schlimmeres Bespitzelungssystem
konnte man sich selbst zu Nazi- oder SED-Zeiten kaum vorstellen.
Unser
Reiseleiter ist ein gewaltiger Hüne, einer jener Recken aus dem
Hohen Norden, die Erinnerungen an den Raubzug der Wikinger
wachrufen. Seine lange blondgelockte Mähne, sein
kurzgeschnittener Bart, das selbstbewußte Auftreten und sein
Ohrring deuten an, daß er nicht frei von Eitelkeit ist. Von
Geburt Österreicher, gibt er als Heimat den Sauwald an, irgendwo
zwischen Mühl- und Innviertel gelegen, und mit einem Ausdruck
von Stolz weist er auf die rauhen Sitten hin, die dort herrschen.
Er habe aber noch keinen gefressen, und niemand brauche sich vor
ihm zu fürchten, wirft er mit kehlig-heiserer Stimme zu unserer
Beruhigung ein. Auch scheint es sein besonderes Anliegen zu sein,
die Andersartigkeit eines jeden in der Gruppe zu dulden, worauf
er gleich in seiner Antrittsrede hinweist. Seine kleine Gruppe
von Gefolgsleuten beherrscht er durch einen autoritären
Führungsstil, der ihm wohl von Geburt oder durch ein hartes
Leben zu eigen ist, welches er in dieser Form seit zwanzig Jahren
führt. Wehe, wenn es jemand wagen sollte, seinen Ausführungen
nicht zu folgen oder sich gar selbständig zu machen! Die ganze
Gruppe hätte dann darunter zu leiden. Seine Vorträge hält er
weitgehend frei, und sein Wissen ist beeindruckend. Ich denke
mir, was ein Mensch von seiner Begabung ausgefressen haben muß,
um sich einer solchen Lebensweise zu unterziehen, denn er führt
ein selbstzerstörerisches Leben, das schon am Morgen von der
Flasche geprägt ist, von immerwährendem Zigarettenkonsum. Ein
Glück für uns, daß Körperpflege und Reinlichkeit zu seinen
Tugenden zählen. Der Mann ist gerade einmal so alt wie ich, aber
ungleich stärker vom Verschleiß gezeichnet. Zuhause hat er ein
Weib und einen Sohn, die er aber, ständig auf Wanderschaft
wie es für alle Angehörigen der germanischen
Völkerschaften typisch ist , nur selten sieht. Alles in
allem ein rauher Krieger, der einen verzweifelten Einzelkampf
führt, und, einem Kreuzritter gleich, nicht ohne äußeres
Zeichen von Frömmigkeit und Mildtätigkeit gegenüber den Armen!
Anstatt eines ordentlichen Frühstücks begnügt er sich meistens
mit einer Tasse Kaffee, und dazu raucht er seine obligatorische
Zigarette auf nüchternen Magen. Mit einem ohnehin starken Hang
zum Trinker ist ihm, um von seinem Suchverhalten abzulenken, auch
ein Glas Mate-Tee eine willkommene Abwechslung.
Nach einer Stunde
Fahrtzeit verlassen wir die Provinz Salta und kommen in die
Provinz Jujuy. Mehr als 60% der Einwohner sind Mestizen.
Es war des Inkas Gewohnheit, Menschen umzusiedeln. So wurden
Indios vom Titicacasee nach hierher verpflanzt. Die Bevölkerung
weist auch einen deutlich stärkeren indianischen Einschlag auf.
Die Indios werden heute Indigeñas oder Campesinos genannt, der
Terminus Indio wurde in Bolivien abgeschafft. Wer sie
"Indios" nennt, macht sich verdächtig. Das Wort
Gringo, "Ausländer", ist allerdings kein Schimpfwort,
das Wort Yankee-Gringo allerdings sehr wohl. Durch derartige
Maßnahmen versucht die einheimische Bevölkerung anscheinend,
sich selbst aufzuwerten, wobei man ihr die Abstammung vom
"Indio" ja unstreitig ansieht.
Vor Jujuy wird die
mautpflichtige Straße zur Autobahn ausgebaut. Das Straßennetz
Argentiniens ist fast ganz in privater Hand. San Salvador de
Jujuy, am Río Grande und Río Chico gelegen, wurde 1565 erstmals
gegründet, 1575 wiederholt und 1593 durch Don Francisco de
Anaganioris zum drittenmal, diesmal auf Dauer, ohne daß es von
den Indianern wieder zerstört worden wäre. Auch hier wird noch
das Quechua, die indianische Sprache, gesprochen. Auf dem
Hauptplatz, der Plaza Belgrano, steht das Standbild dieses
Unabhängigkeitskämpfers und Generals. Auf ihn, einen Mann, der
alle Schlachten, die er schlug, bis auf die Schlacht von Tucumán
verloren hat, gehen die Flagge und das Wappen Argentiniens
zurück. Nur noch der Cabildo mit seinen Kolonnaden stammt aus
der Kolonialzeit. Auch ein Brunnen mit einer Statue des Erzengels
Michael steht dort. Die Kathedrale ist, wie so oft, im
neoklassischen Stil erbaut. Das Regierungsgebäude erinnert an
das Château dOsuy in der Nähe von Paris. Justitia mit der
Waage und dem Schwert und Merkur der Götterbote zieren als
Plastiken die Frontseite des Gebäudes. In der Kathedrale ist die
geschnitzte Kanzel, auf welcher Jakob auf der Himmelsleiter
dargestellt ist, bemerkenswert. Vor der Stadt liegen die
Elendsviertel, die sogenannten Baniis, die früher zumeist auf
öffentlichem Boden errichtet waren und daher einfach mit
Bulldozern weggeschoben wurden. Heute nimmt man davon Abstand;
man versucht eher, diese in normale Wohnviertel umzuwandeln.
Durch das
zunächst weitläufige, dann rasch enger werdende Tal des Río
Grande, der um diese Jahreszeit kein Wasser führt, fahren wir
stetig bergan in die Quebrada de Humahuaca. Wo anfangs noch
üppiges Grün vorherrschend war, verliert sich die Vegetation
allmählich in der Baumlosigkeit, und nur noch Büsche gedeihen
dort und Gräser. Auch die alte Eisenbahnlinie nach La Paz wurde
aufgelassen, auf der bolivianischen Seite verkehrt sie allerdings
noch. Noch ist die Straße nicht asphaltiert. Immer wieder sieht
man Murenabgänge, d.h. daß es im Sommer gewaltig geregnet haben
muß. Wir kommen nun wieder in das Gebiet der Säulenkakteen, die
sich gegenwärtig zu Füßen einer Erosionsformation hinziehen.
Cardones (Trichocereus pasacana), wie sie auch genannt werden,
werden bis zu 8 m hoch. Sie gehören zur Familie der Sukkulenten
und können in extrem wasserarmen Gebieten überleben. Wenn ein
Kaktus abstirbt, verholzt er.
Das weiße
Argentinien liegt nun endgültig hinter uns, wir befinden uns im
Gebiet der Quiu-Indianer, deren Lebensgewohnheiten deutlich
anders sind als die der weißen Argentinier. Sie leben noch in
Häusern aus Lehmziegeln ohne jede Beheizung. Bettgestelle sind
ihnen unbekannt, man schläft auf dem Boden, nur von einer
Lamadecke gewärmt. Die Häuser haben meist nur einen einzigen
Raum, die Feuerstelle ist außerhalb des Hauses. Lasten werden im
andinen Bereich zumeist auf dem Kopf getragen. Die Felder werden
teilweise noch mit Harkpflügen und Ochsen bestellt.
Traditionelles Nahrungsmittel ist der Mais, das indianische
Maismehl heißt Chicha. Da Wasser in dieser Höhe bereits bei 85
°C siedet, muß man stundenlang kochen, bis die Gerichte gar
sind. Fleisch wird in dünne Streifen geschnitten und
luftgetrocknet, ähnlich dem Biltong in Afrika. Das in Streifen
geschnittene Fleisch wird an Leinen zum Trocknen aufgehängt. Der
erste Schluck, der getrunken wird, wird auf den Boden gekippt, da
die Erde als Pachamama, als Große Mutter, angesehen wird. Auch
Pachacámac, der Erderschaffer, will versöhnt werden. Niemand
würde einen Spaten anfassen, um ein Haus zu bauen, wenn nicht
vorher ein Opfer dargebracht wurde. Sind die geopferten Speisen
verfault, ist dies ein gutes Zeichen, ist dies jedoch nicht der
Fall, so wurde das Opfer nicht angenommen. Auch Haustiere werden
gehalten. Bereits vor Ankunft der Spanier kannten die Indios den
sogenannten spanischen Nackthund, der eine höhere
Körpertemperatur hat als unsere Hunde. Dazu gesellen sich
Truthahn und Meerschweinchen, die vor der Entdeckung Amerikas in
Europa unbekannt waren.
Als auch der
Pflanzenwuchs aufhört, treten farbige, mineralhaltige
Einschlüsse hervor. Graublaue Stellen sind kupferhaltig, weiße
deuten auf Gips oder Kaolin hin, schwarz-rote auf eisenhaltige
Verbindungen und gelbe auf Schwefel. Erneut tauchen neben der
Straße alluviale Erosionsformen auf, Bilder wie aus dem
Märchen. Vom Friedhof von Maimara hat man einen wunderschönen
Blick auf den Berg der sieben Farben, den Cerro de Sette Colores.
Die Pucara von
Tilcara beides sind Wörter aus dem Quechua , eine
alte inkaische Festung, hebt sich kaum gegen den Hintergrund ab.
Außerdem sind nur mehr die Grundmauern erhalten. Von hier aus
ist es nicht mehr weit bis zum Wendekreis des Steinbocks. Wir
fahren heute bis Huacalera, das genau am Wendekreis liegt, und
nächtigen direkt an der Straße bei einer Indio-Familie. Am
Monument des Wendekreises gedeiht immer noch Pampa-Gras. Nachts
kann es sehr kalt und sehr windig werden. Etwa eine halbe Stunde
nach Sonnenaufgang legt sich der Wind meist.
Noch immer im Tal
des Río Grande, verläuft unsere Fahrt am nächsten Morgen
weiterhin bergan, während sogleich im morgendlichen Sonnenlicht
der rote Untergrund des Gesteins linker Hand in einem
überwältigenden Karminrot erstrahlt: eine Symphonie der Farben
im zerrissenen Fels.
In Humahuaca
findet sich ein nach meinem Dafürhalten nicht sonderlich
spektakuläres Mahnmal für die Helden der
Unabhängigkeitsbewegung, das sogenannte Indio-Denkmal. "Rom
kommt von Romulus, Bolivien kommt von Bolivar", beginnt
unser Reiseleiter in seiner betont markigen Ausdrucksweise seine
Einführung in die Befreiungskämpfe Lateinamerikas. "Ich
werde nicht eher ruhen, bis ganz Amerika von den Spaniern befreit
ist," soll Bolivar anläßlich eines Besuchs auf dem
Gianicolo in Rom gesagt haben. Von ihm stammt auch der berühmte
Ausspruch: "Ich habe versucht, den Ozean zu pflügen."
Bolivar starb 1831 völlig vereinsamt an der Tuberkulose. Alle
großen Befreier Südamerikas waren Freimaurer und durften somit
nicht kirchlich beigesetzt werden.
Die Straße steigt
nun stark an. Ein letzter Blick zurück auf die Quebrada de
Humahuaca macht deutlich, welche Höhe wir bereits erreicht
haben, nämlich mehr als 3000 m. Die Welt sieht hier fast
mittelgebirgsähnlich aus, nirgendwo finden sich markante
Erhebungen, die Vegetation ist auf ein Minimum reduziert,
Sträucher und Kakteen dominieren, und der nackte Boden tritt
offen zutage. Es ist schier unglaublich, wie diese Kakteen noch
aus den steilsten Felswänden sprießen. Selbst der Himmel hat
mittlerweile sein Aussehen verändert, über uns wölbt sich ein
Firmament eisiger Cirren.
Aus berufenem
Munde werden wieder erschütternde Wahrheiten enthüllt:
Lateinamerika sei von Korruption durchsetzt. Ein Betrugsskandal
in Höhe von 15 Millionen US$ war es, welcher zuletzt aufgedeckt
wurde. Allein die Präsidenten haben sich während ihrer
Amtszeiten um hunderte Millionen Dollar bereichert. Man munkelt
sogar, daß Fujimori 250 Millionen Dollar in 46 Koffern außer
Landes gebracht haben soll, zumal man keine Auslandskonten von
ihm gefunden hat. Da die Staatsdiener nicht angemessen entlohnt
werden, sind sie gezwungen, sich darüber hinaus ein
entsprechendes Zusatzeinkommen zu verschaffen. Der Staat weiß
dies und toleriert es. Ein Führerscheinentzug etwa ist mit
langem Schlangestehen verbunden. Gegen ein entsprechendes
"Angebot" können selbst Strafzettel umgangen werden.
Wer in Südamerika leben will, muß Kontakte pflegen. Nur durch
Beziehungen kommt man weiter. Diese beschränken sich allerdings
auf die oberen Schichten. Behördengänge werden vom sogenannten
"Patron" erledigt, da seine Arbeiter als kleine Leute
nichts erreichen würden.
Wir gelangen nun
wieder in ein Gebiet mit sehr buntem Untergrund. Unser Weg
schlängelt sich parallel zur Eisenbahnlinie durch eine Schlucht,
und wieder harren unser spektakuläre Felsbänderungen. Auch
wurden durch Windverfrachtung Sanddünen an den Abhängen
abgelagert, wo sie sich gelb bis rötlich gegen das Gestein
abzeichnen. Besonderes Augenmerk verdient ein phantasievolles
Gebilde, das die Gestalt ineinander verschlungener Robbenkörper
hat. Als wir die Abhänge des Nevado de Chañi passiert haben,
tauchen nach längerer Zeit wieder schneebedeckte Berge auf, die
bis zu 5800 m hoch aufragen. Noch in 4000 m Meereshöhe kann man
hier Tiefseeablagerungen finden, die im Zuge der andinen Faltung
auf dieses Niveau angehoben wurden. In der Nähe von Tres Cruces,
an dem wir gerade vorüberfahren, liegt eine Grenzkontrollstelle.
In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich eine Mine, wo unter
amerikanischer Leitung Zink und Blei gefördert werden. In 3800 m
Höhe erreichen wir die erste Boumilla, dies sind Hochtäler, die
mit Erosionsmaterial angefüllt sind. Hier begegnet uns erstmals
auch eine größere Herde von Lamas und Alpakas. Letztere sind
eine Mischung des Lamas mit dem Schaf und können sich nicht
weitervermehren.
Auf staubiger
Piste nähern wir uns unaufhaltsam der bolivianischen Grenze. In
Abra Pampa gibt es noch einen alten Bahnhof der bolivianischen
Eisenbahn zu sehen. Auf der Weiterfahrt begegnet uns ein Zug, der
Erz verfrachtet, was geradezu einer Seltenheit gleichkommt. Gegen
Mittag erreichen wir La Quiaca, die nördlichste Stadt
Argentiniens und ein lichtdurchfluteter Ort, in dem fast
ausschließlich Indios leben. Ich habe in dieser Höhenlage nicht
mit solchen Temperaturen gerechnet und bin für 25 °C viel zu
warm angezogen. Die Temperaturen im Hochland können zwischen +30
°C am Tag und -15 °C in der Nacht schwanken. Die
Grenzabfertigung in Villazón verläuft recht zügig; innerhalb
einer Stunde ist alles geschehen, allerdings werden hinter der
Grenze die Straßen bedeutend schlechter.
Einiges zur
Landeskunde: Bolivien ist präsidiale Republik, Präsident ist
der ehemalige Diktator Hugo Banzer Suárez, Nachfahre deutscher
Einwanderer. Es gibt in Bolivien auch eine Partei der
Analphabeten, denn seit der Freitagsrevolution sind auch diese
wahlberechtigt. Bolivien ist ringsum von Staaten eingeschlossen,
es hat im sogenannten Salpeterkrieg mit Chile seinen Zugang zum
Meer verloren. Chile ist bislang nicht bereit, die besetzten
Gebiete zurückzugeben, da dort die größten Kupfervorkommen
beider Staaten liegen. Der Nevado de Sajama ist mit seinen 6520
Metern der höchste Berg des Landes, die Landesflagge ist
rot-gelb-grün. Der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt in
Bolivien sieben Stunden.
Nach Schätzungen
leben heute knapp 8 Millionen Einwohner in Bolivien, davon sind
41% jünger als 15 Jahre. Da sich die Bevölkerung auf die
großen Städte verteilt, bleibt für das Hinterland nicht mehr
viel übrig. 80% der Bevölkerung leben im Hochland, 65% sind
ketschuasprachige Indios, 30% Mestizen, 1% Mulatten und 4%
Weiße. Spanisch sprechen nur etwa 50% der Bevölkerung. Bolivien
zählt mit Haiti zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Mehr
als 60 % der bolivianischen Bevölkerung leben unter der
Armutsgrenze, und das Land steht vor einem Bürgerkrieg. Sehr
viele Menschen wandern aus den Dörfern ab in die Slumviertel der
Großstädte, wo sie dann das Lumpenproletariat stellen.
Die Häuser der
Armen sind mit Icho-Gras gedeckt so nennt man das
Büschelgras des Hochlandes und haben keinen Schornstein,
die luftgetrockneten Adobe-Ziegel dienen als Bausubstanz. Als
Brennmaterial wird Lama-Dung verwendet, der Rauch zieht durch das
Grasdach ab, was das Innere zugleich von Insekten reinigt. In
ihren Behausungen leben die Menschen ohne Heizung, denn daran
besteht kein Interesse.
Es ist völlig
unmöglich für einen Weißen, die Mentalität eines Indios
verstehen zu wollen. Abstrakt zu denken ist dem Indio nahezu
unmöglich, er besitzt völlig andere Denkmuster. Auch arbeitet
der Indio nur soviel, wie er zum Leben unbedingt braucht. Junge
Paare führen zunächst Ehe auf Probe. Das Kennenlernen sieht
folgendermaßen aus: Interessiert sich ein junges Mädchen für
einen Burschen, nimmt sie einen Spiegel und blendet ihn damit.
Interessiert er sich dann für sie, bewirft er sie mit Steinen,
jedoch nicht, um sie zu verletzen. Danach zerrt er sie ins
Gebüsch, keine besonders romantische Vorstellung! Die
Indiofrauen tragen als Kopfbedeckung Melonen, und ihre Röcke
bestehen aus bis zu sieben Einzelteilen. Kinder werden bis zum
Alter von zwei Jahren gestillt.
In dieser Gesellschaft hat der Mann das Sagen.
Die Frau akzeptiert, daß ihr Mann betrunken nach Hause kommt,
sie schlägt, eine andere Frau hat, und es ist schwer, einen
Grund hierfür zu finden außer dem, der in der
gesellschaftlichen Tradition begründet liegt. Ein anderer
möglicher Grund ist, daß eine Frau ohne Mann in der
Gesellschaft nicht anerkannt wird. Das Gesetz wurde nun
dahingehend geändert, daß Gewalt in der Ehe ein Straftatbestand
ist und zur Anzeige gebracht werden kann. Einen Aufschrei gab es,
als Pfarrer Obermeier lautstark verkündete, daß die Frauen
"sich nicht so haben sollten," denn es gebe ja
schließlich einen Grund, wenn ein Mann seine Frau schlage.
Wie überall in
Südamerika mischt sich auch in Bolivien die Kirche mit ihrer
sogenannten Befreiungstheologie arg ins politische und soziale
Geschehen ein, was von der katholischen Kirche durchaus nicht
gutgeheißen wird. So wurden verschiedene lateinamerikanische
Theologen mit Publikationsverboten belegt, damit der Papst
weiterhin die uneingeschränkte Vermehrung predigen kann, was
angesichts der schwerwiegenden Probleme in diesem Land fast einem
Frevel gleichkommt. Wenn man jedoch sieht, welchen Zulauf die
katholische Kirche in Südamerika immer noch hat, bleibt kaum
Hoffnung darauf, daß sich die Verhältnisse hier schnell ändern
oder jemals zum Besseren wandeln könnten.
Noch immer
bewegen wir uns parallel zu Eisenbahn. Nach eintöniger Fahrt tut
sich das Tal des Río San Juan del Oro unter uns auf, über dem
schwere Niederschläge niedergehen, die schwarzen Berge im
Hintergrund bilden dazu eine spektakuläre Kulisse. Über uns
spielen sich die Naturgewalten ab, ein Gewitter steht fast
senkrecht über uns, es donnert und blitzt, aber der Regen hat
uns noch nicht erreicht. Es ist ein wahrhaft gespenstisches
Szenario, wie riesenhafte Kakteen unter blendend-weißen Wolken
einerseits und unter von Blitzen durchzuckten schwarzen Wolken
andererseits sich wie durstige Kehlen gen Himmel recken und in
der Ferne der 6020 m hohe, schneebedeckte Vulkan der Neuen Welt
(Cerro Nuevo Mundo) sich ankündigt. Romantisch windet sich die
ehemalige Bahnstrecke um die Hügel, einmal ganz zu sehen, ein
andermal dem Blick entzogen. Wir nächtigen an diesem Tag in
freier Natur im Tal des Río del Oro, zu Füßen phantastisch
geformter Erosionen, direkt im ausgetrockneten Flußbett. Die
Goldfunde waren rasch erschöpft, aber der Name, den die Spanier
überschwenglich verliehen, ist geblieben.
In der Nacht
brennt das Lagerfeuer rasch nieder, denn geeignetes Brennmaterial
findet man in dieser Höhe kaum. Im Wetterleuchten werden unter
dem Einfluß des Weines alte Lieder gesungen, die wehmütig an
längst vergangene Zeiten erinnern. Beim Genuß des Alkohols
entfacht sich eine Diskussion mit dem Reiseleiter. Dieser
behauptet, daß nachwachsende Rohstoffe wie Tabakblätter und
Holz bei der Verbrennung zu einer Anreicherung des CO2-Gehaltes
der Luft führen, was natürlich blanker Unsinn ist, aber er
beharrt rechthaberisch auf seinen Thesen. Erstmals wird mir klar,
daß er sein Wissen nicht auf einer Höheren Schule erworben
haben kann und von Naturwissenschaften wenig Ahnung hat, dafür
aber eine gute Portion Arroganz, die in persönlichen
Beleidigungen gipfelt. Ich schätze es immer ganz besonders, wenn
mich Laien über das eigene Fachgebiet aufklären oder mir Dinge
erzählen, die eigentlich jedes Schulkind weiß.
Als wir am Morgen
des Gründonnerstags aufbrechen, steht uns erneut ein
anstrengender Tag bevor. In der aufgehenden Sonne, im ersten
Lichtstrahl, nachdem der Morgenstern versunken ist, entfaltet das
von Spalten, Kaminen, Felstürmen und Pilzfelsen übersäte
Steilufer des Goldflusses seine volle Pracht. Zunächst
durchqueren wir ein Gebiet wilder Schluchten und Bergzüge, bis
wir an den Zusammenfluß des Río del Oro mit dem Río Tupiza
kommen, wo gewaltige Basaltmassive die Landschaft geformt haben.
Wir folgen fortan dem Río Tupiza flußaufwärts, einem an
Wildheit einzigartigen Flußlauf. An einem Tunnel, den wir bald
darauf erreichen und der mehrere Felsdurchbrüche aufweist,
lassen sich spektakuläre Photos schießen. Basaltformationen
wechseln mit zu Brecchien verbackenen Konglomeraten ab, die von
der Winderosion nicht weniger wild geformt wurden. Wären da
nicht der grüne Bewuchs und der blaue Himmel, könnten wir uns
auf den Mars oder einen seiner Monde versetzt fühlen.
Hinter der Brücke
über den Río Tupiza erblicken wir links auf einer Anhöhe ein
Bild der "Jungfrau vom Stollen", der Schutzpatronin der
Bergleute, die hier verehrt wird. Im Ort herrscht Markt,
Indio-Markt. Ein mittelgroßer Europäer hat alle Mühe dort,
ohne den Kopf einziehen zu müssen, unter den Zeltüberdachungen
hindurchzugehen, zu niedrig sind die Gestelle errichtet; nur
Indios, die entsprechend klein sind, können ungehindert
durchschlüpfen. Tupiza ist berüchtigt dafür, daß sich hier
von Nordamerika unterstützte Sektenangehörige der Methodisten
und Adventisten bemühen, unter der indianischen Bevölkerung
Opfer zu finden. Angesichts der unbeschreiblichen hygienischen
Verhältnisse ist es kein allzu großes Vergnügen, hier länger
zu verweilen. Wir decken uns mit dem Nötigsten ein, was gerade
für ein Picknick reicht, und fliehen den Ort.
Man hüte sich
davor, das Gebiet des Salzsees von Uyuni aufzusuchen, denn dort
besteht Gefahr einzusinken. Der Boliviano ist es gewohnt, daß
er, wenn Regenfälle die Straße unpassierbar machen, für Wochen
hier festsitzt. Per Anhalter fahren kennt man hierzulande nicht;
wer nicht zahlen kann, fährt nicht mit. In Bolivien gibt es für
ein Fahrzeug es sei denn, man befindet sich im Altiplano
nur zwei Möglichkeiten: entweder es geht bergauf oder es
geht bergab! Dabei passiert es häufig, daß Lkws und Busse
verunglücken, und meistens kommen dabei Menschen ums Leben. Die
Straße ist kaum breit genug für ein Fahrzeug, geschweige denn,
daß zwei Lkw aneinander vorbeikämen. Glitzernder, stark
erodierter, brüchiger Basaltschiefer umgibt uns. Immer wieder
kommen wir an aufgegebenen Gehöften vorbei, und immer wieder
fällt der Blick in die Schlucht, während wir von dichten
Staubwolken eingehüllt werden. Man muß dankbar sein für jedes
Fahrzeug, welches nicht entgegenkommt.
Zwischendurch
wechselt das Landschaftsbild, und es wird eben; ausgedehnte, mit
Grasbüscheln übersäte sandige Böden prägen diese Landschaft;
nur ab und zu sind sanfte Hügel eingebettet. Natürlich besitzt
Bolivien auch viele nichtssagende und hassenswerte Landschaften.
Im Schatten von Dornbuschakazien aus den Schoten dieser
Akazie wird ein Likör gewonnen, der als Aphrodisiakum gilt
nehmen wir unser bescheidenes Picknick ein: Brot, Wasser
und Bananen, während sich über uns labile Luftmassen zu
massiven Gewitterwolken auftürmen.
Wir kommen nun
durch das am gleichnamigen Fluß liegende Städtchen Cotagaita,
das 1576 gegründet wurde. Der nächste Fluß, den wir auf einer
hölzernen, wackligen Brücke überqueren, ist der Río Camaillo
ó Quince. Es ist ungewöhnlich heiß heute und gewittrig im
bolivianischen Hochland, über 30 °C in über 3000 m Höhe. Auf
3200 m Höhe messen wir noch 28 °C, und selbst in 4000 m Höhe
sieht man immer noch Kolbris herumschwirren. Bei guten
Wetterverhältnissen, die an diesem Tag leider nicht herrschen,
bietet sich von der gegenüberliegenden Seite des Tales ein
prächtiger Blick auf den Verlauf der sich hochschlängelnden
Straße mit dem Vulkan Cerro de Nueve Mundo im Hintergrund.
Bei Vidici ist noch eine alte Kapelle aus dem 17.
Jahrhundert erhalten geblieben. Es gibt in dieser Gegend noch
weitere dieser Kapellen, die alle auf die Franziskaner
zurückgehen.
Anschließend
fahren wir durch das enge, aber liebliche Tal des Río San Lucas,
wo wir am Ende, mit viel Staub in der Lunge, zwischen
Wollgräsern unser Lager aufschlagen. Es ist einfach
phantastisch, denn wer hätte gedacht, daß man in einem Fluß in
mehr als 3000 m Höhe noch baden kann. Bald, als die Sonne
versunken ist, zeigen sich die Sterne, und zwar in einer
überwältigenden Pracht, wie ich sie lange nicht mehr gesehen
habe: Orion, Sirius, Jupiter, das Kreuz des Südens, Alpha und
Beta Centauri, die Milchstraße und die Magellansche Wolke sind
ohne weiteres auszumachen; bereits mit einem kleinen Feldstecher
nimmt die Zahl der Sterne ums Tausendfache zu. Mit klassischer
Musik und Gedichten des chilenischen Literaturnobelpreisträgers
Pablo Neruda geht ein erlebnisreicher Tag zu Ende.
Am frühen
Morgen des Karfreitags kommt der Vulkan Matako (5057 m) aus den
Wolken hervor. Mit einiger Phantasie kann man noch die bereits
stark erodierten, bizarr geformten Krater erkennen. Der Vulkan
gilt heute als erloschen, und nach allem, was ich von unten
erkennen kann, dürfte eine Besteigung nicht allzu schwierig
sein. An seinen Hängen die Lupinien stehen dort noch in
voller Blüte wird das Getreide noch mit der Sichel
geerntet.
In Cucho Ingenio,
wo wir auf die Nationalstraße Nr. 1 treffen, füllen wir unsere
Wasserkanister auf. Ab hier ist die Straße verbreitert worden,
manch ausgesetzte Stelle stellt aber noch immer eine
Herausforderung dar. In den Kurven waren früher, wo Fahrzeuge
abgestürzt waren, viele Kreuze aufgestellt. Schade, daß sie weg
sind, denn das Reisen erscheint dadurch weniger abenteuerlich!
An manchen Stellen, wo private Minenbesitzer Erzadern
nachgehen, sind Löcher in den Berg getrieben. Da diese aber
oftmals nicht das Geld haben, um Grubenholz für das Abstützen
der Stollen zu kaufen, kommt es immer wieder zu Grubenunglücken,
wobei es für die Betroffenen meist keine Rettung mehr gibt.
Jetzt und hier,
irgendwo, erreichen wir die 4000er-Grenze. Die Luft ist nun auch
spürbar dünner geworden, aber ich
persönlich vertrage die Höhe gut. Andere schlucken Aspirin, das
einzige, was gegen die Höhe hilft. Die Bachabrama-Gräser, die
hier gedeihen und die sich ganz hart anfühlen, werden
ausschließlich von Lamas gefressen, deren Mägen diese allein
aufschließen können. Und als ein glückverheißendes Zeichen
auf das bevorstehende Osterfest erscheint es uns, als wir heute,
am Tag, an dem der Herr gestorben ist, ein neugeborenes Lama
bewundern können.
Auf dem
Cuzco-Paß, der in 4500 m Höhe liegt, sehen wir bereits den
Cerro Rico vor uns, den Reichen Berg, den Hausberg von Potosí,
der, kegelförmig, dem ebenmäßigen Ideal von einem Vulkan
entspricht. Es ist wirklich mühsam, sich dem Silberberg zu
nähern, Staub und kurvenreiche, bucklige Piste machen die Fahrt
dorthin zu einer einzigen in Staub gehüllten Schaukelei. Die
zahlreichen Steinhaufen, die man allerorts sieht, die sogenannten
Huacas, die von Indios errichtet wurden, um die Erdgeister zu
bannen, sind uralte Relikte heidnischer Symbolik.
Der Cerro Rico ist
durchlöchert wie Schweizer Käse; insgesamt gibt es im Berg
Stollen mit einer Länge von über 800 km. Es grenzt an puren
Zufall, daß in den Bergen ringsum keine Silberfunde gemacht
wurden. Oberhalb der Stadt wirkt alles wie umgepflügt,
Abraumhalde reiht sich an Abraumhalde. Aus diesen Abraumhalden
wird mit modernen Methoden noch heute Silber gewonnen. Das
Wasser, das zum Auswaschen des Silbers verwendet wird, fließt
ungeklärt und mit Quecksilber angereichert in den
De-la-Ribera-Bach, der weiter in den Río Pilcomayo und
schließlich in den Amazonas mündet. Dies erklärt, wie immer
mehr Schwermetalle ins Meer gelangen und über die Nahrungskette
in den menschlichen Organismus.
Die Stadt Potosí
liegt, ein außerordentliches Panorama bildend, idyllisch in
einen Talkessel eingebettet. "Potschsi" heißt in der
Sprache der Inkas "krachen", und daher kommt auch der
Name Potosí, das Grollen der Götter. Die Stadt kann, obwohl sie
einen Flughafen besitzt, nicht mit Linienmaschinen angeflogen
werden. Wie überall im Land stößt man auch hier auf viel
amerikanische Militärpräsenz, und amerikanische Truppen, die
den Flughafen für die Landung von Militärflugzeugen ausbauen
wollten, mußten das Land wieder verlassen. Während
seiner Blütezeit war Potosí die größte Stadt Amerikas,
größer als New York. Sie hat heute noch die Bevölkerungszahl
nicht erreicht, die sie im 17. und 18. Jahrhundert besaß. Nur
etwa 10 % der ehemals 200000 Einwohner waren Spanier, die
übrigen Indio-Sklaven, von denen Zigtausende durch die schwere
Arbeit in den Silberminen oder der Moneda, der Münze, dem Grab
der Indios, ums Leben kamen. Die Moneda hat wegen des Feiertags
heute geschlossen, so daß wir uns diese Besichtigung für morgen
aufsparen.
Potosí hat sich
mit seinen hölzernen und schmiedeeisernen Balkonen und Gesimsen,
den barocken Fassaden, sein koloniales Kolorit noch weitgehend
erhalten. Die Stadt besaß einst über dreißig Kirchen und
Klöster, die fast alle im sogenannten Mestizenbarock erbaut
sind, mit gedrehten, salomonischen Säulen. Die älteste Kirche
der Stadt mit der wohl schönsten Fassade ist San Lorenzo, mit
den Hauptwerken von Gaspar de la Cueva, einem begnadeten
Bildhauer und Sohn der Stadt. Sie war früher dem heiligen
Bartholomäus geweiht, der das grausamste Martyrium erlitten hat,
das man sich vorstellen kann. Er wurde bei lebendigem Leibe
gehäutet. Besonders schön mit Gemälden ausgestattet ist die
Kirche San Martín, von der die berühmte Karfreitagsprozession
ihren Ausgang nimmt.
Der für 14 Uhr
angekündigte Umzug verschiebt sich auf 16 Uhr, so daß wir von
der Prozession nur noch mitbekommen, wie sie sich in Bewegung
setzt. Selbst das Militär und die Polizei nehmen daran teil, und
die ganze Stadt hat sich fein herausgeputzt; die Häuserfassaden
sind mit bunten Gardinen, Heiligenbildern und Blumen geschmückt,
und die Farbenpracht der Uniformen zwischen den ebenso bunt
bemalten alten Hausfassaden gleicht einem Meer von Blüten,
eingebettet in ein tiefes bolivianisches Blau eines ungetrübt
wolkenlosen Andenhimmels. Blendend weiß und lichtdurchflutet
wirken die Pflasterstraßen der Stadt, wie versilberte Spiegel,
und immer wieder fällt der Blick auf den allgegenwärtigen Sumaj
Orcko, den Schönen Berg, wie der Cerro Rico in der
Ketschua-Sprache auch genannt wird. Aus dem Silberberg von
Potosí wurde früher soviel Silber herausgeholt, daß die
Karfreitagsprozession auf Silberplatten einherschritt. Wahre
Menschentrauben haben sich im Stadtzentrum gebildet, Touristen
wie Einheimische, und die hingebungsvolle Religiosität der
Menschen, auf die man allerorten trifft, ist wahrhaft
beeindruckend. Kein gläubiger Indio würde achtlos an einer
Kirche vorübergehen, ohne sich dabei zu bekreuzigen. Trotz des
turbulenten Lebens trifft man kaum auf fröhliche Gesichter unter
der mestizischen Bevölkerung. So bedingen tiefe Religiosität
einerseits und bittere Armut andererseits sich gegenseitig.
Nach einem heißen
Tag verlassen wir Potosí längs des mit Quecksilber
geschwängerten Río de la Ribera, wo wir, umrahmt von roten
Felsen, in einem Thermalgebiet radioaktiver Quellen außerhalb
der Stadt unser Nachtquartier schlagen. Am nächsten Vormittag
besichtigen wir die Moneda, weil das gestern nicht möglich war,
und was wir dort sehen, ist recht beeindruckend. Die alte Münze
von Potosí ist ein Gebäude von gewaltigen Ausmaßen mit
insgesamt neun Innenhöfen. Sie gilt als größter Kolonialbau
Südamerikas. Es werden u.a. Gemälde von Melchor Pérez Holdin
gezeigt, aber auch eine überaus reichhaltige Sammlung anonymer
Maler, die vornehmlich nach Vorlagen alter Kupferstiche
gearbeitet haben, ist hier zusammengestellt. Das Gebälk ist aus
dem Holz einheimischer Zedern und Zypressen errichtet, das zu
diesem Zweck über weite Strecken herangebracht werden mußte. In
Potosí werden heute in Aufforstungsversuchen wieder andine
Zedern angepflanzt. Vom Schmelzen des Erzes über das Pressen des
Laminats bis hin zum Prägen und Stanzen der Münzen wird die
gesamte Technik der Münzherstellung gezeigt. Auch eine Sammlung
von Silbergeschirr, silbernen Tabernakeln, von silbergetriebenen
Helmen bis hin zu silbernem Zaumzeug ist hier untergebracht.
Von Potosí
schlagen wir den Weg nach Sucre ein, das in der Cordillera
Central liegt; er führt uns durch eine überaus fruchtbare
Gegend. Bei Betanzos sind durch die Erosion des Porphyrs
wesentlich weichere Formen entstanden, als sie etwa durch die
Erosion des Basalts entstehen. Soweit das Auge reicht, sind die
Felder bewirtschaftet, allerdings werden sie noch von Handarbeit
bestellt. Die Frauen reagieren gereizt, wenn sie bei der Arbeit
photographiert werden, und werfen gleich mit Steinen; auch laufen
sie schreiend hinter einem her, so daß es sich empfiehlt,
tunlichst das Weite zu suchen. Auf der erst seit fünf Jahren gut
ausgebauten Straße fahren wir in großen Serpentinen hinab ins
Tal des Río Minca, der allerdings völlig ausgetrocknet ist.
Hoch über dem Flußbett gedeihen wilde Tomaten, eine neben dem
Kakao ureigene südamerikanische Pflanze. Auch diese wurde, von
Amerika kommend, nach Europa eingeführt. Am Nachmittag erreichen
wir erneut den Río Pilcomayo, über den eine Brücke aus dem
vorletzten Jahrhundert führt, die im gotischen Backsteinstil
errichtet ist. Nochmals zu einer Paßhöhe der bis oben hin
grünen Zentralkordillere ansteigend, gelangen wir schließlich
hinab in das 1200 m tiefer gelegene Sucre, das schon in der
Kolonialzeit bedeutender war als La Paz. 1624 wurde hier, von
Jesuiten geführt, eine der ältesten Universitäten Südamerikas
gegründet.
Sucre ist die
Hauptstadt Boliviens und wird auch die Weiße Stadt genannt. Ihr
ursprünglicher Name Neu-Toledo ist ihr nicht geblieben. Da La
Paz lediglich Regierungssitz ist dieser wurde 1899 von
Sucre nach La Paz verlegt , ist Quito, die Hauptstadt
Ecuadors, die höchstgelegene Hauptstadt Südamerikas. Auch Sucre
konnte sich seinen Kolonialcharakter bewahren. Es besitzt trotz
seiner Hauptstadteigenschaft nicht viel, was es zu besichtigen
gäbe. Da wären einmal das Museum im alten Regierungsgebäude,
in dem die Unabhängigkeitsdeklaration unterzeichnet wurde, und
zum zweiten das Kirchenmuseum mit Werken berühmter einheimischer
Maler und Silberschmiede, darunter die Madonna von Guadeloupe,
die als das Hauptwerk des Malers Berri gilt. Die Gemäldegalerie
im Regierungsgebäude umfaßt Portraits der
Unabhängigkeitshelden und Präsidenten Boliviens sowie eine
Büste von Pizarro. Die Kathedrale wurde ursprünglich im
barocken Stil errichtet, aber auf Anordnung Sucres, des ersten
Präsidenten, im neoklassischen Stil umgebaut. Beachtung ob ihrer
Holzkassettendecke verdient auch die Franziskanerkirche.
Auf dem gleichen
Weg, den wir gekommen sind, gelangen wir zurück nach Potosí.
Unsere Expedition ist nun zum Stillstand gekommen, das Getriebe
ist im Eimer und soll noch heute repariert werden. Es wurde
eigens aus Deutschland eingeflogen. Als kleine Entschädigung
bezahlt uns der Veranstalter für den unfreiwilligen Aufenthalt
zwei erstklassige Hotelübernachtungen in Sucre, der Hauptstadt
Boliviens, die an sich nicht vorgesehen waren. Es ist eine
ausgesprochene Wohltat, wieder einmal in einem
"richtigen" Bett zu schlafen und alle Annehmlichkeiten
einer Großstadt in Anspruch nehmen zu können. Angesichts der
Osterfeiertage haben viele Restaurants geschlossen, so daß wir
an diesem Abend nicht einheimisch, sondern chinesisch essen gehen
müssen.
Am heutigen
Ostersonntag haben viele Kirchen, die sonst tagsüber geschlossen
sind, geöffnet. Als wir die Kathedrale verlassen, wo gerade mit
einem bombastischen Choral der Ostergottesdienst abgehalten wird,
spricht uns auf der Straße ein Mann auf englisch an, ob wir
nicht Lust hätten, an einer Exkursion teilzunehmen. Wir würden
es auf keinen Fall bereuen, meint er, und würden unser Geld
zurückerhalten, wenn wir danach nicht vollauf zufrieden wären.
Der Mann stellt sich mit dem Namen Klaus vor; er sagt, er sei als
Dozent an der Universität beschäftigt und würde nebenbei mit
deutschen Kamera-Teams Filmaufnahmen machen. Als wir auf die
offene Ladefläche eines Kleinlastwagens klettern, finden wir
dort an weiteren Exkursionsteilnehmern eine alleinreisende
Französin vor, die offenbar im Bus von Potosí nach Sucre einen
Israeli kennengelernt und sich ihm angeschlossen hat, sowie
einige nicht näher bestimmbare Latinos. Nachdem wir als letzte
Teilnehmer bezahlt haben, setzt sich uns Gefährt in Bewegung,
zunächst durch die engen Häuserschluchten der Stadt, um dann
über den Dächern in immer luftigere Höhen dem Gebirge
zuzustreben. Mit phantastischen und sonnigen Ausblicken auf die
Häuserfronten und Kirchen der Weißen Stadt nähern wir uns hoch
über Sucre einer Zementfabrik, wo durch die Abtragung eines
Gebirgsstocks die größte Anzahl jemals auf der Welt gefundener
Dinosaurierspuren zum Vorschein gekommen ist. Angeblich sollen es
an die 5000 Fußabdrücke aller möglichen Gattungen dieser
urweltlichen Echsen sein, die bisher freigelegt wurden. Die
zwischen Handgröße und Durchmessern von bis zu 120 cm großen
Fußabdrücke erstrecken sich zum Teil über eine Länge von
schätzungsweise hundert Metern über die gesamte Felswand. Viele
davon werden unaufhaltsam der Zerstörung anheimfallen, weil
gewisse Schichten, die in dem weichen Gestein durch Regenfälle
ausgewaschen wurden, nicht konserviert werden können. Somit
müssen Photographien und Gipsabdrücke angefertigt werden, die
an namhafte Schweizer Wissenschaftler, sogenannte Paläontologen,
zur Auswertung eingeschickt werden. Anschließend sind die
Originale, wie oben erwähnt, dem Verfall preisgegeben, aber so
viele verlorengehen, so viele werden wöchentlich neu entdeckt.
Wie erklärt es sich nun, daß Dinosaurierspuren in dieser Höhe
von fast dreitausend Metern gefunden werden. Nun, ursprünglich
befand sich an der Stelle, wo sich diese fossilienhaltigen
Gesteinsschichten gebildet haben, ein gewaltiges Meer, dessen
Ablagerungen im Zuge der andinen Faltung, als sich die
Nazca-Platte auf die pazifische Platte schob, auf diese Höhe
gehoben wurden, und nur dem Zufall der Zementgewinnung ist es zu
verdanken, daß sie freigelegt wurden. Als während der
Kreidezeit noch zahlreiche Vulkane die Erde bevölkerten, haben
vermehrt Aschenregen an einem einzigen oder vielleicht an zwei
Tagen alles Leben zugedeckt. Somit blieben in dem feuchten
Untergrund und durch den mit der Zeit sich ergebenden Druck der
aufliegenden Gesteinsschichten diese Spuren einer einst
artenreichen Reptilienart bis auf den heutigen Tag erhalten,
zusammen mit den Muscheln des Urmeeres und den damals
existierenden Pflanzen. Es finden sich Spuren des Tyrannosaurus
Rex ebenso wie solche des Allosaurus, des Triceratops und eines
sogenannten Ancyrosaurus, den die Wissenschaft wegen seiner hohen
Fortbewegungsgeschwindigkeit für einen Warmblüter ansieht.
Demnächst soll ein Artikel in Bild der Wissenschaft zu
diesen Funden erscheinen, versichert uns Klaus, und vor uns
breitet er auf dem Boden eine Sammlung aller hier gefundenen
Saurierarten aus, wie sie seine Kinder im Kindergarten zum
Spielen benutzen. Er teilt uns auch mit, daß er es noch nie
erlebt habe, daß es hier an Ostern geregnet habe, und unkt, die
Straße nach La Paz könne möglicherweise auf einer Länge von
120 km unpassierbar sein. Dann säßen wir hier fest. Auch gäbe
es Zeitungsberichte, meint er, wonach erst kürzlich wieder zwei
Landrover im Salzsee von Uyuni, den wir wohlweislich umfahren
haben, versunken seien.
In der Umgebung
von Sucre verlaufen drei bekannte Trails, darunter der
berühmt-berüchtigte Chorro Trail, auf dem es immer wieder
vorkommt, daß Touristen überfallen und ausgeraubt werden.
Dieses Schicksal ereilte auch zwei aus unserer Gruppe, denen man
durch Trickdiebstahl die Geldbörse entwendete. Vorsicht ist
daher geboten, wenn sich jemand als Drogenkontrolleur ausgibt und
man in eine dunkle Seitenstraße komplementiert wird. Die Täter
sind meist in der Übermacht und tauchen im Gedränge schnell
unter. Da wir am Abend frühzeitig auf unserem
Campingplatz eintreffen, verbleibt noch genügend Zeit für ein
Bad in dem etwas oberhalb der Anlage gelegenen natürlichen
Thermalsee, einem mit einer heißen Quelle gefüllten ehemaligen
Krater. Dieser See liegt idyllisch zwischen steilen
Felsabstürzen eingebettet, und das Wasser besitzt
Badewannentemperatur. Es ist ein herrliches Gefühl, in 3500 m
Höhe mitten im Gebirge ein wohltuendes und entspannendes Bad zu
nehmen, inmitten einer urzeitlichen Landschaft roter
Erosionsgesteine, ein Erlebnis, das man um keinen Preis missen
möchte.
Außerhalb der
ausgewiesenen Nationalparkgebiete ist es in den Anden schwierig,
auf freier Wildbahn noch Tiere anzutreffen. Zu den letzteren
zählen die Andengans, der Andenflamingo, die Discachas, eine
Murmeltierart, das Meerschweinchen, das Chinchilla, der Puma, der
Andenhirsch, die Guanakos, die Vicuñas, eine Wildform des Lamas,
der Kolibri, der Bergfink, das Erdhörnchen, das Gürteltier, der
südamerikanische Graufuchs, der Caracara, der Rote Milan, der
Raben- und Truthahngeier und der Kondor, der König der Anden. Es
ist verboten, den Kondor zu fangen. Der Fänger legt sich dazu
unter einen verendeten Esel und springt hervor, sobald der Kondor
sich vollgefressen hat und nicht mehr starten kann. Der gefangene
Kondor wird bei Festen von den Indios auf einen Stier gebunden,
auf den er dann einpickt und schließlich als Sieger aus diesem
Kampf hervorgeht. Nachdem er mit Maisbier getränkt wurde, läßt
man ihn fliegen. Stürzt er ab, wird dies als schlechtes Zeichen
gewertet, entschwindet er in den Lüften, ist es ein gutes.
Zunächst
verläuft die Weiterfahrt durch wilde, von Wildbächen
zerklüftete Schluchten, immer hoch über dem Abhang, auf
staubiger Piste, bis wir das Tal des Río Bermejo erreichen, den
wir, rotbraun dahinfließend, auf einer alten Steinbrücke
überqueren. Bei Sinegiyar werden die Wasserkanister aufgefüllt.
Der Ort wird vom Vulkan El Freile überragt, der über 5000 m
hoch ist und an dessen Flanken der Río Bermejo durch gewaltige
Schluchten, die sich zu typischen Basaltformationen auftürmen,
herabstürzt. Durch die gewaltigen Temperaturunterschiede
zwischen Tag und Nacht schuppt der Basalt kugelförmig ab, und
die gigantischen Felskugeln, die allenthalben herumliegen, sind
beeindruckend ob ihres Durchmessers. Der Río Bermejo bildet hier
einen gewaltigen Canyon. Es heißt auch, der Poopósee
entwässere unterirdisch durch den Río Bermejo. Die
Disoretta-Bäume, die hier in die Erde hineinwachsen, werden von
den Indios als Heizmaterial verwendet, sie sehen aus wie grüne
Moospolster.
Nun führt unsere
Strecke durch ein an Farben gänzlich wundersames Gebiet, das
Quellgebiet des Río Bermejo, wo Erde und Fels rot-gelb,
bisweilen violett eingefärbt sind, eingebettet in grünlich
schimmernde Vegetation, von einem weiß-blauen Himmel
kontrastreich überstrahlt. Tief unter uns liegt ein
abgestürzter Bus. Ein Bremsdefekt genügt bisweilen und es
passiert. Auch hier empfiehlt sich wieder eine ausgedehnte
Wanderung durch die Schluchten.
In Ventilla, an
einem Straßenknotenpunkt gelegen, haben sich vor Jahren
regelrechte Straßenschlachten zweier verschiedener Dörfer
abgespielt, die noch dazu verschiedenen Ethnien angehörten. Es
gab damals mehr als ein Dutzend Tote. Inzwischen haben sich die
Verhältnisse wieder beruhigt. Die Indios, die in dieser Höhe
leben, sind nämlich äußerst aggressiv und werfen sogleich mit
Steinen, wenn sie photographiert werden. Unser Reiseleiter hat
eine etwas merkwürdige Begründung dafür, warum sie so
aggressiv sind, und zwar wegen der Kälte, meint er, was einfach
lächerlich ist. Der wahre Grund dürfte in der ständigen
intensiven Sonneneinstrahlung liegen, die die Hormonproduktion
ankurbelt, welche auch für das Aggressionsverhalten
verantwortlich ist. Ich habe dies an mir selbst feststellen
können, denn ich reagiere mittlerweile auf alles mit
Gereiztheit.
An den verfallenen
und sehr mühsam zu bestellenden Feldbauterrassen kann man
erkennen, daß zur Zeit des Inka erheblich mehr
landwirtschaftliche Fläche genutzt wurde, als es heute der Fall
ist. Die zahlreichen Steinmäuerchen, die man in dieser Gegend
findet, dienen dem Zweck, ein Abtragen der Erdkrume durch
Verwehung zu verhindern. Die ohne Verbundmörtel errichteten
Steinmauern sind kleine Kunstwerke. Auf fast 4500 Metern
über dem Meeresspiegel erreichen wir die Paßhöhe, wo sich ein
grandioser Rundblick eröffnet. Die Eindrücke können durch kein
Photo wiedergegeben werden, denn in der unendlichen Weite, die
von nur wenigen markanten Gipfeln gekrönt wird, verlieren sich
die Formen. Wäre nicht an der Luft zu merken, wo wir uns
befinden, so könnte man sich ebensogut in eine tiefliegende
aride Zone versetzt fühlen. Einsam ist es hier! und nur
gelegentlich versüßen ziehende Lama- und Alpakaherden die
Monotonie.
Unser Reiseleiter
liest uns gerade aus einem Artikel vor, den er angeblich selbst
verfaßt hat, und zwar zur Verschuldungssituation Lateinamerikas.
Doch außer einer zahlenmäßig richtigen Wiedergabe der Fakten
finde ich bei ihm nicht eine überzeugende Begründung für die
wahren Ursachen und nicht einen konstruktiven Vorschlag, wie man
die Situation verbessern könnte. Er nennt größenwahnsinnige
Projekte und unfähige Regierungen als einzige Ursachen, eine
ziemlich dürftige Erklärung! Warum gab es in Europa zur selben
Zeit nicht auch vergleichsweise unfähige Regierungen, frage ich
mich, dies kann mir kein überzeugender Beweis sein.
Größenwahnsinnige Projekte werden stets nur von den jeweiligen,
die an der Regierung sind, ausgedacht, sind also nur eine
Sekundärfolge, so daß die wahren Ursachen nur darin gesehen
werden können, daß diese südamerikanischen Länder sich
fähige Regierungen überhaupt nicht wählen können, selbst wenn
sie es wollten, weil sie nämlich fähige Politiker einfach nicht
haben. Damit kommen wir der richtigen Erklärung schon einen
Schritt näher. Die Spanier und Portugiesen, die einst die
Geschicke Südamerikas zuzeiten des Kolonialismus lenkten, waren
sie etwa weniger fähig als ihre Landsleute in der Heimat? Kam
nicht erst durch die eingangs genannte, fast völlige Vermischung
reichlich indianisches Blut in die Adern der spanischstämmigen
Bevölkerung mit dem obenerwähnten Nachteil fast völligen
Fehlens von abstraktem Denkvermögen, was eingeschränkt auch von
den Mestizen noch behauptet werden kann? Bedauerlicherweise
läßt sich keine andere schlüssige Erklärung finden, und
theoretisch bleibt sie, solange nicht ehrlich mit dem Problem
umgegangen wird, sondern man nach allerlei Ausflüchten sucht,
wie die Vorwürfe wegzudiskutieren seien. Die wahren Ursachen
sind stets im Erbgut des Menschen zu suchen, und das zugrunde
liegende Gesetz der genetischen Vermischung besagt, daß im
Mittel aus besseren und schlechteren Genen allenfalls
mittelmäßige Gene entstehen. Aus Intelligenz, Tüchtigkeit und
Aufrichtigkeit, den Tugenden der Guten, entstehen somit Dummheit,
Faulheit und Korruption, die Tugenden der Schlechten, und auch
die öffentliche Meinung zu diesem Thema erscheint zu wenig
tiefschürfend, zu oberflächlich, zu bequem und tendenziös, als
daß es noch eine andere Einsicht geben könnte als die, daß
sich solche Entwicklungen eben nicht aufhalten lassen.
Bei Challapata
wurde ein künstlicher Stausee angelegt, wo sich normalerweise
Flamingos aufhalten. Die rötliche Farbe im Gefieder des
Flamingos rührt daher, daß diese Vögel sich von Krustentieren
ernähren. Bleibt diese Nahrung aus, verblaßt auch das Gefieder
sehr schnell. In Challapata zweigt die Straße zum Uyuni-See ab,
auf der man, so man ihr weiter folgt, nach Chile gelangt. Damit
haben wir den Altiplano erreicht. Der Altiplano ist von einer
unendlichen Weite, eingebettet zwischen die zwei Kordilleren. Auf
ihm sehen wir in der Ferne den Poopó-See, an dessen östlichem
Ufer sich unser weiterer Weg immer längs der Eisenbahn hinzieht.
Der Poopó-See geht nahtlos in den Oruro-See über. Linkerhand
waten wieder einige Flamingos durch die Untiefen des Sees, im
Verein mit Cayenne-Kiebitzen (Belonopterus cayennensis). Da es
stark geregnet hat, sind große Teile des vulkanischen Bodens mit
weißen Salzen überzogen.
Oruro ist eine
Stadt des Bergbaus, wo Zinn abgebaut wird. Die Minen wurden von
Juan del Valle entdeckt, der Ñuflo de Chávez auf seinem Marsch
von Paraguay nach Altoperu begleitete, auf der Suche nach
Eldorado. Simón I. Patiño aus Cochabamba wurde der reichste
Zinnbaron der Welt. Augusto Céspedes schrieb über dieses
Teufelsmetall seinen berühmten Roman "Metal del
diablo". Berühmt, aber nicht ungefährlich, ist auch der
Karneval von Oruro, in dem die Teufelstänzer auftreten und wo
auch zahlreiche Indios sich bodenlos betrinken und dann völlig
unberechenbar sind. Geradezu lebensgefährlich ist es, einen
betrunkenen Indio zu photographieren. Die präkolumbianischen
Vorstellungen leben noch immer im Fest der Pachamama, der Großen
Erdmutter, im Karneval fort. Oruro ist eine schreckliche, total
verkommene Stadt, in der die Kanalisation oberirdisch fließt und
die man schleunigst fliehen sollte.
In Carracollo,
unserem geplanten Übernachtungsort, können wir nicht bleiben,
weil sich dort eine Menge von sogenannten Cocaleros, d.h.
Koka-Bauern, für den Zug auf La Paz versammelt hat und wir als
Gringos angesichts der gespannten Situation nur Aufsehen erregen
würden. Also fahren wir ein Stück weiter bis Patacamaya. Gegen
Abend taucht dann in der Abendsonne der Hausberg von La Paz, der
schneebedeckte Illimani, auf. Damit betreten wir die Kernlande
des Inka.
Als wir am
Morgen des 18. April bei wolkenlosem Himmel und strahlendem
Sonnenschein aufbrechen, fällt unser Blick auf den in der
klarsten Luft aus dem Altiplano aufragenden, schneebedeckten
höchsten Berg Boliviens, den Vulkan Sajama. Auch der Illimani,
der rechter Hand näherrückt, verbirgt sich heute nicht hinter
Wolken. Nun kommt auch die Königskordillere in Sicht,
atemberaubend, schneebedeckt: der Illampu im Norden, der Illimani
im Süden, dazwischen von Nord nach Süd Ancohuma, Vinohuara, die
Condoriri-Gruppe, Huayna Potosí und Mururata. Zahlreiche
Legenden ranken sich um diese Berggestalten.
Über El Alto, der
Vorstadt von La Paz, die geprägt ist von Rost, Altöl und Ruß,
nähern wir uns dem Zentrum. Auch hier wieder kann man erkennen,
welch ein Schädling doch der Mensch ist und wie sehr es gilt,
ihn zu bekämpfen. El Alto ist die am schnellsten wachsende Stadt
Südamerikas, hier liegt auch der Flughafen von La Paz, wo
etliche ausrangierte Maschinen herumstehen. Die Stadt selbst
liegt in einem Talkessel, der eher einem Hexenkessel gleicht. Die
Abgasbelastung ist dort so stark, daß die Schuhputzer auf den
Straßen vermummt herumlaufen. Die besseren Wohngegenden liegen,
anders als anderswo, in den tieferen Lagen. Wir verkehren nun auf
der einzigen Autobahn Boliviens, die nur 16 km zählt und von der
aus man, den Smog nicht eingerechnet, einen großartigen Blick
auf die Stadt hat. Unser Hotel liegt direkt im Zentrum.
"Meiden Sie in La Paz größere Menschenansammlungen,"
rät man uns, "denn es gilt fast als sicher, daß die
Polizei mit Tränengas anrücken wird." Auch wenn die
Vororte von La Paz unschön sind, so ist es doch die einzigartige
Lage der Stadt, die, von hohen Bergen umrahmt, alles andere
aufwiegt. Wenn sich im Hintergrund die Schneehänge des Illimani
im wolkenlosen Blau des Himmels abzeichnen, wenn unter uns
bizarre, vielfarbige Erosionsformen, von zahlreichen Tunnels
durchbrochen, von den Straßen wie von den Schienen einer
Modelleisenbahn umkreist werden, dann fliegt die Seele eines
jeden auf, und du spürst den Hauch des Ur-Einen, das sich zu
einem Fortissimo der Superlative steigert. Dennoch gibt es in der
Stadt, in der es nachts bitterkalt werden kann, nicht einmal eine
Heizung, und wer friert, der muß sich warm anziehen.
Deutsche gelten
viel in dieser Stadt, denn sie schaffen Arbeitsplätze, sind
pünktlich, fleißig und ordentlich, und unser Paradebeispiel ist
der unserem Franz-Josef Strauß wie aus dem Gesicht geschnittene
Politiker und Großindustrielle Banzer, der Bier nach deutschem
Reinheitsgebot braut. Viele Entwicklungsprojekte Boliviens
einschließlich der Lösung von Umweltproblemen werden von
deutschen Firmen abgewickelt.
In der Stadt
dürfen nur Kleinbusse verkehren, und mit einem solchen Gefährt
fahren wir gleich nach unserer Ankunft in die Gluthölle des
Mondtales, einer Bilderbuchlandschaft bizarrer Felsformationen,
die in der Tat den Eindruck vermitteln, man sei auf dem Mond
gelandet. Nur schade, daß niemand dieses Stück bezaubernder
Natur vor dem Zugriff des Menschen geschützt hat, wie die
zahlreichen, aus den Drogenerlösen erbauten Luxusvillen in der
unmittelbaren Nachbarschaft beweisen. Anschließend fahren wir zu
einem hochgelegenen Aussichtspunkt, wo sich ein überwältigender
Blick auf die Stadt auftut, der nahezu einem 360-Grad-Panorama
gleichkommt. Während im Tal moderne Wolkenkratzer mit kolonialen
Bauten wetteifern, ziehen sich die Häuser der einfachen Leute
schachtelartig die Hänge bis unterhalb der Gipfel hinauf.
La Paz wurde von
Alonso de Mendoza gegründet. Unter den Resten an Vergangenem
haben vor allem das Parlamentsgebäude, der Gouverneurspalast und
die Kathedrale San Francisco die Zeiten überdauert, aber auch
schmucke Häuserzeilen mit reizvollen Innenhöfen und
Außenbalkonen sind geblieben. Die Plaza, der historische
Hauptplatz, wird von Tauben bevölkert, und wenn alle auf einmal
auffliegen, verdüstert sich die Sonne, so zahlreich sind sie.
Die Kathedrale ist auch auf die Gefahr hin, daß ich mich
wiederhole aufs üppigste mit Blattgoldverzierungen
ausgestattet. Wer sich dafür nicht interessiert, kann über die
weitläufigen Märkte schweifen, wo er Gold- und
Silberschmiedearbeiten oder auch nur indianische Schmuckstücke
in reicher Auswahl angeboten bekommt. Erwähnenswert ist die auf
indianische Bräuche zurückgehende Verwendung von Lamaföten als
Amulette oder Glücksbringer, in denen sich der Glaube an die
Muttergottheit, die Pachamama, widerspiegelt. Aus beinahe jedem
zweiten Laden erklingt die Musik der Hochlandindianer, deren
charakteristisches Instrument die Flöte ist.
Kaum eine Stunde
vergeht, daß nicht ein ebenso musikalischer wie farbenfroher
Demonstrationszug unter unserem Hotelfenster vorbeizieht. Es
gärt im Lande. Einerseits fehlt es den kleinen Leuten an Land
für die Errichtung ihrer Behausungen, häufig wird
öffentlicher Grund einfach in Besitz genommen ,
andererseits verbietet der Staat den Bauern den Anbau
traditioneller Produkte. Deswegen sind die Cocaleros nun auf dem
Vormarsch in Richtung Stadt, und wir können von Glück sagen,
daß wir bislang den Straßenblockaden, die oft das ganze Land
lahmlegen, entgangen sind. Aber am 1. Mai, wenn wir Bolivien
bereits verlassen haben, soll es ernst werden mit der
Durchsetzung der Forderungen.
Unsere lokale
Reiseleiterin klärt uns über die vielen nützlichen
Eigenschaften der Koka-Pflanze auf, die nicht nur ein
ausgezeichneter Spender von Vitaminen und Mineralstoffen sein
soll, sondern auch vor Parodontose schützt. Der Kokagenuß, also
das Kauen der Kokablätter, ist auf Höhen über 2000 m in
Bolivien und Peru legal. Um die Wirkung der Kokapflanze zu
entfalten diese besteht aus einem lähmenden Gefühl im
Mundbereich braucht man einen Katalysator, der zusammen
mit den Kokablättern gekaut werden muß. Ihr Anbau habe aber
nichts mit der Herstellung des Kokains zu tun, erklärt sie, und
so gesehen sind es fast immer die Koka-Bauern, deren Erlöse
ohnehin gering sind, die die einzig Leidtragenden seien.
Schließlich sei die Pflanze kein Kokain, meint sie, und
überhaupt sei letzteres von einem Deutschen erfunden worden, was
wie ein Vorwurf klingt. Sie beklagt, daß die Bauern, die durch
den Druck der USA ihre Existenz verlören, nicht einfach auf
andere Produkte umsteigen könnten, da es deren bereits
hinreichend gebe, und ohne die Erlöse aus dem Drogenhandel
könne das Land nicht existieren. Nur solange der Drogenhandel
illegal sei, ließen sich damit Milliarden verdienen. Auch die
Untergrundbewegungen arbeiteten mit dem Drogenkartell zusammen.
Wie dem auch sei, die USA würden ihre Finanzhilfe für das Land
einstellen, wenn die Regierung ihren Forderungen nicht nachkäme,
und dies wäre gleichwohl sein Ruin. Auch würden die
meisten Internet-Cafés des Landes, die wie Pilze aus dem Boden
schießen, mit Raubkopien arbeiten, erklärt sie weiter. Die
Anwälte von Bill Gates seien drauf und dran, diese Kopien
ausfindig zu machen, so daß den Internet-Cafés die Schließung
drohe, was dem Land zusätzliche Arbeitsplätze entreißen werde.
Nachts erst regt
sich Leben in der Stadt, und die Straßen füllen sich mit
Menschen. Musik dröhnt aus allen Lautsprechern. Dieses Treiben
setzt sich die halbe Nacht hindurch fort.
Von La Paz aus
bietet es sich geradezu an, einen Ausflug in die nahegelegenen
Berge zu unternehmen. Wir suchen uns dazu den 5350 m hohen
Chilaje aus, der über den höchstgelegenen Skilift der Welt
verfügt. In windungsreichen Kehren geht es zunächst aus dem
Kessel von La Paz heraus, in schwindelerregende Höhen hinauf, wo
sich, zunächst noch wolkenlos, der Illimani über das Plateau
erhebt und den Blick freigibt. Auch der Huayna Potosí rückt
näher, zum Greifen nah. Wie herrlich müßte es jetzt sein, Seil
und Eispickel dabei zu haben und sich über den Gletscher
hinaufzumühen.
Die Andenkette ist
der längste Gebirgszug und eines der jüngsten Gebirge der Erde
und anders als die Alpen auch von anderer Beschaffenheit.
Während nämlich in den Alpen mehrheitlich Einzelgipfel
charakteristisch sind, sind in den Anden unnivellierte
Kettenzüge ohne markante und ausgeprägte Erhebungen die Regel.
Die Anden weisen also keine majestätischen Berggestalten auf,
ausgenommen freistehende Vulkankegel. Das Wort Anden bedeutet
wörtlich Stufen- oder Treppengebirge und geht zurück auf den
Feldterrassenbau der Inkas bzw. die Inka-Reichsstraßen. Steile
Abschnitte wurden nämlich durch Stufen überwunden, da das Rad
unbekannt war.
Die Anden sind vor
ca. 65-70 Millionen Jahren entstanden, als Folge eines
geologischen Auffahrunfalles. Beim Aufeinanderprallen der
südamerikanischen Kontinentalscholle auf die pazifische Scholle
entstand im Bereich der heutigen Anden ein gewaltiger
Vulkanismus. Wie Geologen versichern, hat sich die
südamerikanische Scholle bereits um 800 km auf die Nazca- oder
pazifische Scholle aufgeschoben, was immer wieder zu verheerenden
Erdbeben führt. Der Prozeß der Andenhebung ist noch nicht
abgeschlossen, wird aber durch die Erosion wieder ausgeglichen.
Der Altiplano war nämlich ursprünglich ein tief profiliertes
Tal, das sich mit ebendiesem Erosionsmaterial aufgefüllt hat.
Zwischen Bolivien und Peru teilt sich der Andenkern in die
Schwarze und Weiße Kordillere. Zwischen diesen beiden
Kordilleren liegt der Altiplano. Die pazifische Seite ist
niederschlagsarm, an der Ostseite schwappt die vom
Amazonastiefland heraufkommende Feuchtigkeit in die innerandinen
Täler über und kann dort zu hohen Niederschlägen führen. Der
in der Patagonischen Kordillere gelegene Aconcagua erreicht 6959
m Höhe und ist damit der höchste Berg beider Amerika. Ihm folgt
mit 6893 Metern der Ojos del Salado, als zweithöchster Berg des
Landes. Das Paine-Massiv hingegen hat nichts mit den Anden zu
tun. Auch der Mount Fitz Roy (3405 m) und der Cerro Torre (3192
m), der Cerro San Valentin (4059 m) und der Cerro San Lorenzo
(3700 m) gehören nicht zu den Anden, sondern sind Teil des
Patagonischen Andenvorlandes.
Hinter der
nächsten Biegung wartet erneut eine Überraschung auf. Im klaren
Licht erscheinen viele der mit Wasser gefüllten Kare in
geheimnisvollen Farben, die Beigaben von Mineralien tun ein
ihriges, um diese Wunderwelt in den schrillsten Tönen erscheinen
zu lassen. Tiefer als violett und stechender als grün leuchten
die kleinen Seen, während langsam aufziehende Wolken dem
Farbenspiel unwiderruflich ein Ende setzen. In den schattigen
Kammlagen erreichen wir eine von einem Schweizer bewirtschaftete
Almhütte, wo sogleich ein deftiges Essen auf denjenigen wartet,
die sich im Anschluß daran nicht als Gipfelstürmer betätigen
will. Fuß um Fuß voransetzend, gelangen wir, die wir es nicht
lassen können, über Schutt und Schnee, ich insbesondere mit
ungenügendem Schuhwerk ausgerüstet, auf den Vorgipfel, den ich
nur als zweiter erreiche. Allein der Weg zum Hauptgipfel, der
sich über einen schlanken Grat hinaufschwingt, bleibt mir
versagt, denn meine Schuhe würden sich während des Hinaufgehens
aufweichen, und zwanzig Meter mehr oder weniger können das
Gefühl, den Berg bestiegen zu haben, nicht nehmen. Von dort
droben bietet sich ein majestätischer Blick auf die
Königskordillere mit ihren schneebedeckten Sechstausendern, auf
die Stadt La Paz bzw. was davon zu sehen ist denn die
Stadt liegt, wie wir oben gesagt haben, in einem Kessel, wo sie
sich unseren Blicken entzieht und auf der anderen Seite
auf den Titicacasee, den höchstgelegenen See Südamerikas. Nicht
mehr als eine Andeutung, zieht er sich wie ein blaues Band am
Ende einer grenzenlos öden Fläche hin. Am Horizont haben sich
die Wolken zu einer Decke vereinigt, und wir tun gut daran, den
Ort zügig zu verlassen und uns dem Sonnenschein der Stadt zu
überantworten, wo buntes Treiben herrscht und gemächliche
Geschäftigkeit.
Abends geben wir
uns ganz den Vergnügungen einer Folkloreveranstaltung hin.
Zunächst spielt ein virtuoser Solist klassische Musik auf der
Charanga, dem traditionellen Saiteninstrument, dessen
Klangkörper, wie oben gesagt worden ist, aus dem Panzer des
Gürteltiers hergestellt ist. Dann führen verschiedene Musik-
und Tanzgruppen traditionelle Stücke und Tänze auf, die sich
bis ins Ekstatische steigern. Besonders die Stücke auf den
sogenannten Windinstrumenten, der Panflöte oder Sambara, klingen
an dämonische Kriegstänze an. Auch farbenfrohe Kostümtänze
aus dem Karneval und die Queca sowie der Teufelstanz sind
Zeugnisse der hohen Kunst der bolivianischen Trachtengruppen.
Unter dem Wappen von Kastilien und Léon, im Schein von
Kerzenlicht und zu dem ausgezeichneten Bouquet des
Kohlberg-Rotweins geraten solche Abende zu einem turbulenten
Spektakel. Lediglich die moderne Lautsprecher- und
Verstärkertechnik tut auch hier einigen Abbruch, und das
Getrommele nimmt schnell Disco-Charakter an.
Wir verlassen La
Paz über El Alto, mit freier Sicht auf die schneebedeckten
Sechstausender der Königskordillere. Auf einer Anhöhe mit
weitem Blick über das Hochland halten wir an und lassen das Auge
hinüberschweifen auf die sich hinter Wolken verbergenden Gipfel
auf der einen und den Titicacasee auf der andern Seite. Einst
waren die Ufer des Titicacasees stark bewaldet, aber die Wälder
wurden von den Spaniern gerodet, weil man Material für den
Schiffsbau brauchte. Der Titicacasee hat eine Fläche von 8300
km², ist allerdings nicht der größte See Südamerikas, sondern
rangiert nach dem Maracaibo-See an zweiter Stelle.
Tiahuanaco,
einstmals Hafenstadt, als die Ufer des Titicacasees noch bis hier
heranreichten, ist eigentlich noch nicht richtig ausgegraben.
Dennoch läßt sich anhand dessen, was bisher der Öffentlichkeit
zugänglich ist, einiges erahnen. Kernstück der Anlage ist das
Akapana, eine Stufenpyramide, die in mehreren Terrassen angelegt
ist, deren jede von einem wassergefüllten Kanal umgeben war. Das
Wasser floß einst von der obersten Stufe herab, aber was es zu
bedeuten hatte, ist bis heute unklar. Beachtenswert ist, daß
jede "Etage" hinsichtlich ihrer Mauerfügung anders
ausgelegt ist, Zwischenräume zwischen größeren Steinen wurden
mit kleineren ausgefüllt. Beinahe jedes menschliche
Vorstellungsvermögen übersteigend ist die wechselseitige
Fügung der Steine aneinander, die als absolut lückenlos
anzusehen ist, so daß sich die Frage stellt, mit welchen
Werkzeugen die tonnenschweren Steinblöcke "zersägt"
wurden, ehe man sie nahtlos aufeinandersetzte. Selbst heutige
Steinmetze wissen darauf keine Antwort. Lediglich bezüglich des
Schliffs scheinen sie sich einig zu sein. Man schmirgelte die
Blöcke so lange mit Wasser und Sand, bis eine Art Politur
zustande kam. Zwiespältige Erklärungen lieferten sich die
Archäologen allemal. So widersprachen Stübe und Uhle ihrem
Kollegen Posnansky in beinahe allen Punkten, in denen dieser eine
Erklärung anbot. Dennoch ist sich die Fachwelt heute darüber
einig, daß seine Sicht der Dinge in vielen Punkten der Wahrheit
am nächsten kommt. Einen etwas abseits liegenden Granitblock,
der wohl als Opferstein gedient haben mag bzw. wie ein
miniaturisiertes Modell der Gesamtanlage aussieht, schätzen wir
auf gut 400 Tonnen. Da die Leute von Tiahuanaco das Rad nicht
kannten, bleibt offen, wie diese Giganten transportiert wurden.
Da man annimmt, daß der Wasserspiegel des Titicacasees zur Zeit
der Hochblüte der Tiahuanaco-Kultur bis an die Tempelanlage
heranging, liegt nahe, daß die Steine auf Schilfbooten
transportiert und anschließend mit Seilen über den Boden
geschleift wurden, ehe man sie aufstellte. Unklar bleibt auch,
über welche Entfernung diese transportiert wurden, denn die
nächsten Steinbrüche sind weit entfernt. Im benachbarten
Templete semi-subterraneo, dem sogenannten halbunterirdischen
Tempel, dessen Mitte eine Stele ziert, die einen bärtigen Mann
darstellt, sind ringsum Steine mit Gesichtern in die Wände
eingelassen, die teilweise sehr gut erhalten sind, womit wir bei
der nächsten Frage wären: Woher kannten die Indios, denen
selbst kein Bart wächst, Männer, die einen solchen trugen?
Dieser Umstand rief Erich von Däniken auf den Plan, dessen
abstruse Theorien aber heute ausgedient haben. Von der Stele mit
dem Bärtigen hat man einen Blick durch das Tor der Kalasasaya
auf einen Monolithen, der wahrscheinlich eine männliche Gottheit
darstellt, die hinsichtlich ihrer künstlerischen Gestaltung als
meisterhaft bezeichnet werden kann und den Namen ihres Entdeckers
Ponce trägt. Die Außenwände der Kalasasaya, und dies läßt
sich mit dem Auge prüfen, sind von einer Unebenheit, die im
Prozentbereich ihrer Abmessungen liegt, und man wundert sich, mit
welcher Genauigkeit hier das Lot gebraucht wurde. Zur
Sommersonnenwende scheint die Sonne genau in Richtung der
Verbindungslinie beider erwähnten Stelen, und es verwundert noch
mehr, daß die Leute von Tiahuanaco ein unglaubliches
astronomisches Wissen besessen haben müssen. Auch das Sonnentor
am Eingang zum Putuni, dem Palast der Sarkophage, ist mit
merkwürdigen Mustern ausgeschmückt, bei denen die Zahl zwölf
eine besondere Rolle spielt, was die Frage aufwirft, ob der
Mondkalender bekannt war. Im erst kürzlich eingerichteten Museum
von Tiahuanaco sind die Funde, die auf dem Gelände gemacht
wurden, ausgestellt, vor allem Keramiken mit den raffiniertesten
Tiermotiven, Waffen und Gerätschaften sowie Schmuck in
Blattgoldausführung. Alles was die Spanier dereinst an Gold
vorfanden, wurde längstens geplündert, und die Chronisten
berichten von riesigen Schätzen. Selbst die Technik des Anlegens
von Gewächshäusern war den Leuten von Tiahuanaco vertraut, bei
ihnen waren es die sogenannten Sukakollus, für die ein
ausgeklügeltes Bewässerungssystem erdacht wurde, womit sich
konstante Temperaturen erzielen ließen. Die Inkas haben
Tiahuanaco gekannt und auch besucht, und vieles aus ihrer Kultur
ist daraus entnommen. Wieso und warum die Kultur von Tiahuanaco
plötzlich verschwunden ist, vermag niemand zu sagen. Wir wissen
im wesentlichen nur soviel, daß es sich nicht um eine Stadt,
sondern um ein religiöses Zentrum gehandelt hat.
Nach der
Besichtigung von Tiahuanaco verlassen wir Altoperu, sprich
Bolivien, und kommen nach dem eigentlichen Peru. Bei der Einreise
wird die Uhr nochmals um eine Stunde zurückgestellt, so daß der
Zeitunterschied zu Europa 7 Stunden beträgt. Um über die Grenze
zu gelangen, muß man quer über einen Markt fahren. Bei der
Einreise finden verschärfte Personenkontrollen statt.
Überhebliches Lächeln wirkt sich dabei eher nachteilig auf die
Zügigkeit der Abfertigung aus.
Bald bekommen wir
die ertrunkenen Schilfgürtel zu Gesicht, die die lieblichen Ufer
des Sees ausmachen. Nach Schilfbooten wird man auf der
bolivianischen Seite vergeblich Ausschau halten, diese gibt es
schon längst nicht mehr, sie wurden alle durch moderne
Glasfaserboote ersetzt. Der Titicacasee sieht aus wie die
Gestade eines Meeres. Er liegt in einer weiten Ebene, aber auch
einige Berge ragen in der Ferne auf. Mit seinen aquamarinblauen
Wassern, den grünen Schilfgürteln und den rötlichen Felsufern
übertrifft er an Farbigkeit alles, was es im Lande an Seen gibt.
Er hat das ganze Jahr über eine relativ konstante
Wassertemperatur von 12 °C, und diese variiert auch über die
gesamte Tiefe des Sees nur gering. Rund um ihn herrscht ein
eigenes, milderes Mikroklima, so daß unter idealen Bedingungen
Landwirtschaft getrieben werden kann, vor allem wird Quinoa
angebaut. Quinoa, die Andenhirse, gedeiht prächtig in diesen
Höhen, denn sie gedeiht nur unter bestimmten Bedingungen. Der
Anbau von Hirse wurde von den Spaniern abgelehnt, weil er nicht
den europäischen Lebensgewohnheiten entsprach.
Während rechter
Hand wie ein Silberstreif der kleine Titicacasee, der Lago Chico,
auftaucht, steuern wir fast direkt auf die Halbinsel Copacabana
zu. Dort befindet sich ein Marienheiligtum. Man spricht hier mit
den Heiligen und droht ihnen sogar mit der Faust. Die Kirchen von
Laca, Guaci und Tiahuanaco stammen allesamt aus dem Baumaterial
der archäologischen Stätte. Der Stadt Copacabana vorgelagert
sind die Sonnen- und die Mondinsel. Inka heißt Sohn der Sonne,
und auf der Sonneninsel im Titicacasee wurde der erste Inka
geboren. Zuerst waren es acht legendäre Inkas, dann gab es drei
verbürgte. Diese waren der Inka Yupanqui mit dem Beinamen
Pachacútec, was soviel heißt wie Verwandler der Erde, Topa
Inca, der Eroberer der Küstenregion, und Huayna Capac, der das
Reich nach Norden bis Kolumbien ausdehnte. Zwischen den beiden
Söhnen Huayna Capacs, Atahualpa und Huáscar, entspann sich ein
Bruderkrieg, der damit endete, daß Atahualpa seinen Bruder und
Rivalen umbringen ließ.
Wie also kam es,
daß der Schweinehirte und Analphabet Pizarro sich siegessicher
auf einen Kampf einlassen konnte? Truchillo in der Estremadura,
ein steiniges, unwirtliches Land, das Menschen hervorbrachte, die
etwas auszuhalten imstande waren, war nicht nur die Heimat
Pizarros, sondern auch gleich fünfundfünfzig weiterer
Conquistadores, die uns alle namentlich bekannt sind. Pizarro
folgte 1502 dem Lockruf des Goldes und begleitete Vasgues Bilboa
auf dessen Zug nach Panama. Er erreichte schließlich die Küsten
Ecuadors oder Perus, von dessen sagenhaften Goldschätzen er
gehört hatte. Das Heer der Inkas trat Pizarro erstmals bei
Cajamarca entgegen. Der Augustiner Fray Celso Gargia war
Augenzeuge und Chronist des Feldzugs. Als der Inkaherrscher die
ihm übergebene Bibel zu Boden fallen ließ, war dies das Zeichen
zum Angriff. Nach wenigen Stunden waren die Inkakrieger teils
niedergemetzelt, teils in die Flucht getrieben, der Herrscher
gefangengenommen. Atahualpa versprach, die Räume seines
Gefängnisses mit Gold zu füllen, wenn Pizarro ihm die Freiheit
beließe. Dieser sicherte sie ihm zunächst zu, konnte jedoch
später sein Wort nicht halten, wenn er nicht Selbstmord begehen
wollte. An der Kirche von Cajamarca hatte Pizarro bereits eine
Urkunde anbringen lassen, wonach Atahualpa freigelassen würde.
Dessenungeachtet wurde er am 29. August 1533 auf dem Richtplatz
von Cajamarca, nachdem er zuvor noch das heilige Sakrament der
Taufe empfangen hatte, hingerichtet, am selben Tage, an dem auch
Johannes der Täufer enthauptet worden war. Das Urteil wurde mit
der Garotte vollstreckt. Atahualpa ist somit als Christ
gestorben, und mit ihm erhängte sich seine gesamte Dienerschaft.
Ähnlich wurde später auch Tupac Amaru, Mancos Sohn, vor der
Kathedrale in Cuzco hingerichtet, er wurde enthauptet und
gevierteilt. In Anlehnung an Tupac Amaru nannten sich später die
Guerillas in Uruguay Tupamaros.
Peru war einst ein
Land wilder Zustände. So befindet sich etwa bei Puno ein
Gefängnis mit Hochsicherheitstrakt, in dem Mitglieder der
terroristischen Vereinigungen Sendero Luminoso und Tupac Amaru
einsitzen, unter oftmals unbeschreiblichen Haftbedingungen. Der
ehemalige Philosophieprofessor Abimael Guzmann, der Gründer des
Leuchtenden Pfades, befindet sich 12 m unter dem Meeresspiegel in
Verwahrung, eingekerkert in Callao, ebenfalls einem
Hochsicherheitstrakt.
Auf der Insel
Taquile stricken nicht die Frauen, sondern die Männer, was
beweist, daß sie so furchtbare Machos nicht sein können. Zepita
hat eine Kirche, die eigentlich viel zu groß ist für die
Ortschaft, mit einer sehr schönen Fassade im Mestizenbarock. In
Julí, dem Rom der Anden, gibt es noch vier große Kirchen: San
Juan de Letran, La Asunción, San Pedro Mártir, Santa Cruz und
das Haus des Stadtvogts. Gegen Abend kommen wir nach Acora. Dort
erwarten uns senkrecht aufgestellte Porphyrplatten, eine
geomorphologische Sensation. Bizarr geformte Überhänge bilden
phantastische Formen aus, die wie das Rückgrat eines
Dinosauriers aussehen. Reizvolle Kletterfelsen gibt es zahlreich
an den Gestaden des Titicacasees, der, ähnlich dem Baikalsee,
jede Menge Zuflüsse hat, aber nur einen einzigen Abfluß, den
Río Desagnadero. Eine besondere Unsitte ist es, daß die
Wahlpropaganda hierzulande einfach auf die Felsen geschmiert
wird, was so manches Fotomotiv zerstört. Auch vor Puno gibt es
wieder spektakuläre Felsformationen, und ich bedaure, daß wir
nicht bereits vor 4000 Jahren hier sein konnten.
Der Titicacasee
besitzt eine sehenswerte Besonderheit, die sogenannten
Schwimmenden Inseln, neunundvierzig an der Zahl, die vom Volk der
Uru bewohnt werden. Diese hatten sich, um sich vor den Inkas in
Sicherheit zu bringen, auf im Boden verankerte Inseln aus Schilf
und Stein zurückgezogen. Man besteige also im Ort Puno ein
Schiff und fahre hinaus auf den See, durch weite Schilffelder,
die genügend Fahrrinnen freilassen, dann weiter über grüne
Algenteppiche, von denen ich nicht zu sagen vermag, ob sie
natürlicher Herkunft sind oder von der Einleitung ungeklärten
Wassers herrühren. Auf jeden Fall beherbergen diese schwimmenden
Teppiche aus Schilf ganze Siedlungen, in denen es nicht nur Wohn-
und Wirtschaftshütten gibt, sondern auch Schulen und Kirchen.
Der traditionelle Wachtturm darf natürlich nicht fehlen sowie
die Anlegestelle für die ebenfalls aus Schilf hergestellten
Boote. Die mit Köpfen verzierten Schiffsschnäbel, deren Mäuler
weit offenstehen, so daß man die langen Zähne nur allzu
deutlich sehen kann, erinnern an die bekannten Wikingerschiffe
mit Drachenköpfen am Bug, aber es läßt sich leider nicht
sagen, ob diese eine Erfindung der Jetztzeit sind oder ob es sie
früher schon gab. Die Totora-Boote, wie sie auch genannt werden,
werden es auch gewesen sein, in größerer Ausführung freilich,
die die tonnenschweren Steinblöcke nach Tiahuanaco transportiert
haben. Im Rahmen der sogenannten Kota-Mama-Expedition, die im
Titicacasee beginnt und deren Ziel die Erreichung des Atlantiks
ist, wurde ein solches Schiff nachgebaut. Was damit bewiesen
werden soll, ist mir allerdings unklar. Leider hat in die
typischen Wassersiedlungen der Uru auch die Moderne schon Einzug
gehalten, denn zunehmend lösen häßliche, oft nicht einmal
täuschend echt übermalte Wellblechdächer die traditionellen
Schilfdächer ab, und die Motorboote, die hier anlegen, stören
zusätzlich die Idylle. Auch hat der Tourismus den Leuten ein
nicht geringes Zubrot beschert, was wohl der Grund sein wird,
warum diese Siedlungsform nicht schon längst aufgegeben wurde.
Wie ehedem liegen Schweine auf den kaum zwei Fuß breiten,
abseits der größeren gelegenen Inselchen, wo sie kaum
hinreichend Auslauf haben. Als wir erfahren, daß sie nachts aus
ihrem Gefängnis befreit und an Land gebracht werden, sind wir
beruhigt. Auf keinen Fall sollte ein Besucher, der den
Titicacasee bereist, es verabsäumen, hier vorbeizuschauen; er
wird mit unvergeßlichen Eindrücken belohnt.
Unweit von Puno,
in Sillustani, finden sich Grabtürme aus vorinkaischer Zeit, die
auf etwa 1000 n. Chr. datieren, die sogenannten Chullpas. Bis zu
zwölf Meter hoch ragen zahlreiche über die Halbinsel verteilte
Türme auf, deren äußeres Mauerwerk aus fugenrein behauenen
Quadern errichtet ist und die nach unten konisch zulaufen. Im
Innern bestehen die Türme, die auf drei Etagen Grabkammern
enthalten, aus Naturstein. Sämtliche Eingänge sind nach Osten
ausgerichtet, also zum Sonnenaufgang hin, was auf die
astronomische Bedeutung der Anlage hinweist und auf die Verehrung
der Sonne als Naturgottheit. Die Toten wurden in mumifizierter
Form beigesetzt. Neben hochherrschaftlichen Gräbern gibt es auch
zahlreiche Gräber einfacher Leute, die an Ausstattung weniger
reich und zumeist nur aus Natursteinen errichtet sind. Auch
Opferaltäre mit Blutrinnen sind anzutreffen, und aus der Schau
der Eingeweide wurde wohl ein günstiger oder ungünstiger
Ausgang schicksalhafter Ereignisse vorhergesagt. Die ganze Anlage
von Sillustani liegt hoch über steilen Abhängen des
vulkanischen Umayo-Sees, dessen tafelbergähnliche Insel Erich
von Däniken als Landebahn für UFOs ausgemacht hat. Weitab
dieser Spekulation bleibt auch ohne an den Haaren herbeigezogenen
Annahmen noch hinreichend viel Faszination um das Spektakuläre
dieser Anlage übrig, die sich an Majestät ohne weiteres mit
Stonehenge messen kann und die der das Dunkle in der
präkolumbianischen Phase sich stets aufs neue ausmalenden
Phantasie unerschöpfliche Nahrung bietet. Wie phantastisch das
an graue Vorzeit erinnernde, den Kratersee umgebende steinerne
Gewand sich im klaren Morgenrot eines der Schöpfung abgerungenen
Tages ausnehmen muß, vermögen nur die zu erahnen, die,
ehrfurchtsvoll erschaudernd, auch die alles verzehrenden Blitze
sich vorstellen können, welche zuckend in schwärzlicher Nacht
ein lodernd Feuer in einen der Türme warfen und seine Steine zum
Bersten brachten.
Die ersten
Inkavölker kamen relativ spät, nämlich erst im 13.
Jahrhundert, aus dem Tieflandbereich ins Hochland herauf, wo sie
aufgrund ihrer besseren geistigen Voraussetzungen die dort
lebenden Aymara-Völker unterwarfen. Nur der Herrscher wurde Inka
genannt, und nur mit der leiblichen Schwester durfte der
Nachfolger gezeugt werden, was vermutlich von der Vorstellung
geprägt war, daß sich die geistigen und körperlichen
Herrschermerkmale dadurch am besten erhalten ließen. Das Volk
hieß Quechua, es hat das System der Terrassenbebauung
eingeführt. Wenn ein Inka starb, wurde auch seine Frau
eingemauert. Das Reich der Inkas war eine Kastengesellschaft, der
Sohn mußte den Beruf des Vaters ausüben. Schon an der Kleidung
erkannte man die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste.
Privatbesitz gab es nicht im inkaischen Imperium, es gab
lediglich die Verfehlung: du sollst nicht stehlen. Gold und
andere Edelmetalle durften vom einfachen Volk nicht besessen
werden. Mais, Türkis und Salz zählten als Währungen, ansonsten
herrschte Naturalienhandel. Das Reich wurde zentralistisch von
Cuzco aus verwaltet, was letztlich auch die Eroberung leicht
möglich machte. Die Ankunft der Spanier fand zudem zu einem für
sie günstigen Zeitpunkt statt.
Auch wenn die
Kultur der Inkas als nicht besonders alt anzusehen sein mag, gibt
es doch noch wesentlich ältere Kulturen im Bereich des heutigen
Peru, z.B. die Paracas-Kultur. Die ältesten Mumien der Welt
wurden in Südamerika gefunden, und nicht in Ägypten. Paracas
wurde von der Nazca-Kultur abgelöst. Über die Entstehung der
Scharbilder von Nazca gibt es übrigens sechsunddreißig
verschiedene Theorien, die alle nicht zu widerlegen sind. Huari
in der Nähe von Ayacucho ist eine Zweigstelle der
Tiahuanaco-Kultur. Die Mochica-Kultur am Río Moche schuf die
hervorragendsten Keramiken, die die Menschen der damaligen Zeit
sehr realistisch darstellten, auch Menschen negriden Typs und
Buddhas, die es eigentlich in Südamerika nicht geben dürfte,
sind darunter. Die Chimú-Völker waren Meister der
Metallverarbeitung, des Verlötens von Metallen. Von der
Virú-Kultur leitet sich wahrscheinlich der Name Peru ab.
Eine weitere
interessante Frage ist, ob die kulturelle Entwicklung Amerikas
autonom, also unabhängig von jener in Europa, verlaufen sei.
Hierzu vertritt unser Reiseleiter die Auffassung, mit der er
übrigens nicht alleine dasteht, daß es lange vor Christoph
Kolumbus transatlantische und transpazifische Fahrten gegeben
habe, da gewisse kulturelle Entwicklungen in allen größeren
Kulturräumen zeitgleich stattgefunden hätten. Er führt zur
Untermauerung dieser These als Beispiele den Kalender, die
Gestirnsbeobachtung, die Keramik, den Übergang zur
Seßhaftigkeit sowie die Steinbauweise und die Entstehung
bestimmter Kasten an. Auch sprachliche Parallelen gibt es. Es
finden sich zudem eine Menge von Inschriften in Amerika, die auf
frühe transatlantische und transpazifische Fahrten hindeuten,
z.B. die Bat Creek Stone Inscription in Tennessee. Die sogenannte
Paraíba-Inschrift wurde als Fälschung abgetan. Cyrus H. Gordon
fand aber im Text ein Kryptogramm, womit die Authentizität
bewiesen ist. Demnach war der Verfasser der Inschrift Jude. Auch
im Gilgamesch-Epos, dem Vorgänger-Buch der Bibel, sowie in den
Psalmen fänden sich angeblich Hinweise. An ägyptischen
Pharaonenmumien wurde Kokain im Haar gefunden. Das Zeichen für
den US-Dollar ist ein uraltes phönizisches Handelszeichen. Baal,
der phönizische Gott und der Mam der Mayas wurden beide als alte
Männer dargestellt. Die Trachten der Karen in Thailand stimmen
mit den Maya-Trachten identisch überein. Es gibt ferner im
Süden der iberischen Halbinsel zwei Altäre aus Brasilholz, die
viel früher datiert sind als die Fahrt des Kolumbus, was
letztlich einen Beweis dafür liefert, daß Amerika bereits vor
1492 entdeckt worden sein muß. Als Kolumbus nach Amerika
segelte, fuhr er gewiß nicht ins Blaue, sondern er hatte
Kartenmaterial des Nürnbergers Martin Behaim bei sich. Seine
Reise dauerte bis auf den Tag genau die vorausberechnete Zeit,
wenngleich man erst 1513 Gewißheit erlangte, daß Amerika nicht
Indien war, sondern daß es noch einen zweiten großen Ozean gab,
das Mare do Sul, welches als erster Bilboa entdeckt hat.
Heute ist Peru
präsidiale Republik. 52% der Bevölkerung leben in der
Küstenregion, fast 7% der Peruaner in größeren Städten. Die
Aymara-Bevölkerung ist in der Gegend um den Titicacasee
angesiedelt, nur 60% sprechen und verstehen Spanisch. Auch in
Peru gibt es keine Meldegesetze, und es herrscht eine gewaltige
Landflucht. Durch die Agrarreform von 1969 wurden die
Großgrundbesitzer enteignet und deren Land an die abhängigen
Farmarbeiter verteilt. Der Staat hat es allerdings verabsäumt,
auch entsprechende Kredite auszubezahlen, womit letztere nicht
einmal das Geld hatten, um das entsprechende Saatgut zu kaufen,
und es zu einem gewaltigen Einbruch in der Landwirtschaft kam.
Die Flagge Perus ist rot-weiß-rot, wie übrigens auch die
Flagge von Asunción der österreichischen aufs Haar gleicht.
"Wissen Sie, warum die österreichische Fahne rot-weiß-rot
ist?" unterbricht unser Reiseleiter seine Ausführungen.
"Das geht auf die Kreuzfahrerzeit zurück," fährt er
fort, "als in der Schlacht um Akkon der weiße Waffenrock
eines Kreuzritters über und über rot gefärbt war vom Blut der
Feinde. Lediglich an der Stelle, wo er seinen Gürtel trug, blieb
jener weiß." Sein Gewand sei als Banner hergenommen worden,
meint er, und das beruhe auf einer wahren Begebenheit.
Die drei
geographischen Hauptzonen Perus sind das wüstenhafte
Küstengebiet, das Gebirgsland der Anden und der Bereich der
Selva an den Abhängen zum Amazonasgebiet. Zwischen West- und
Ostkordillere befindet sich das Altiplano, auf dem der
Titicacasee liegt und durch das auch unsere heutige Tagesetappe
nach Cuzco verläuft. Obwohl das Meer noch 300 km entfernt ist,
trifft man bereits hier auf Seemöwen. Juliaca, durch das wir
bald am Morgen kommen, ist ein furchtbares Räubernest, wo selbst
aus fahrenden Autos Gepäck gestohlen wird, so daß wir durch
diesen Ort zügig hindurchfahren, quer über einen Markt, der
auch vor den Eisenbahnschienen nicht haltmacht. Für die 360 km
lange Bahntrasse von Puno nach Cuzco benötigt der Zug 11
Stunden. Im Ort herrschen wieder unbeschreibliche hygienische
Zustände, die Stadt gleicht einer Müllhalde, auf der schmutzige
Menschen mehr dahinvegetieren als leben. Der Río Juliaca ist
einer der Zuflüsse des Titicacasees, und bis vor vier Jahren
mußte man über ihn die Furt wählen, da die Brücke nicht
instand gesetzt war bzw. sich im Zustand der Ausbesserung befand.
Somit nähern wir uns unserem nächsten Ziel, das ist Pukará.
Pukará heißt auf
Ketschua Festung, und im gleichnamigen Ort befinden sich noch
Grundmauern einer alten inkaischen Befestigung, die angelegt
worden war, um das umgebende Gebiet unter Kontrolle zu halten.
Zum Fest des heiligen Antonius finden hier Stierkämpfe statt,
wobei betrunkene Indios gegen den Stier antreten. Dabei kommt es
häufig zu Todesfällen. Ist der Stier nicht aggressiv genug,
ritzt man ihm die Flanken und träufelt Chilischoten in die
Wunde, woraufhin das Tier dann furchtbar aggressiv wird. Auch
Ritualmorde kommen hier noch häufig vor, und zwar werden meist
junge Menschen der Pachamama geopfert, zumeist Mädchen im Alter
von siebzehn Jahren, aber auch Jungen sind darunter. Den
Betroffenen werden die Halsschlagadern geöffnet, bis sie keinen
Tropfen Blut mehr im Körper haben, und das alles nur, damit die
Ernte im nächsten Jahr gut wird. Denn nach wie vor ist die
Aymara-Kultur lebendig. Man glaubt, daß jeder Mensch zwei Seelen
habe, die nicht getrennt werden dürfen, und diese Vorstellung
geht auf die Inkas zurück. Die Aymara-Sprache wurde sogar, weil
sie sehr logisch aufgebaut ist, als Basis-Sprache für Computer
weiterentwickelt. Bei der Aymara-Bestattung wird der Tote nicht
voll in die Erde gebettet, sondern es wird ihm ein oberirdisches
Fenster nach draußen gelassen, meistens von einem Häuschen
bedeckt.
Voraus wird nun
die Sicht auf den Nam Pikuani frei. Dann kommen wir an Ayaviri
vorbei, das immer ganz schlimm von der Sendero Luminoso betroffen
war. Das oberste System des Sendero Luminoso war es, den alten
Inkastaat wiederzubeleben, allerdings mit äußerst marxistischen
Methoden. Brillenträgern etwa wurde der Kopf abgeschlagen, da
die Brille das Zeichen des Intellektuellen ist.
Das nahe Santa
Rosa wird überragt vom Nevado de Sunipani. Ab jetzt steigt die
Straße an bis zum 4338 m hohen LaRaya-Paß. Hinter der Paßhöhe
beginnen die Quellflüsse des Río Urubamba. In der Nähe von
Sicuani befand sich in inkaischer Zeit der berühmte
Viracocha-Tempel, der Tempel der Schöpfergottheit. Viracocha
wurde meist mit Jesu gleichgestellt. Neben dem Tempel stehen
große Nahrungsspeicher, denn bei Feierlichkeiten mußten die
Menschen vom Tempel versorgt werden. Von letzterem sind aber kaum
noch Reste vorhanden. Bei Sicuani überqueren wir auch den Río
Vilcanota, der weiter flußabwärts zum Río Urubamba wird.
Auch in Peru hat
es im vergangenen Sommer viele Murenabgänge gegeben, was man aus
der großen Zahl von Baustellen ersehen kann, die erkennen
lassen, wo überall Straßen ausgebessert worden sind. Es ist
beeindruckend, wie zahlreich sich zu beiden Seiten des Flußtales
die Terrassen bis fast zu den Berggipfeln hinaufziehen. Durch ein
an grünen, zum Teil terrassierten Hängen reiches Flußtal setzt
sich unsere Route fort, auf erst im Ausbau befindlichen, meist
ungeteerten Straßen, wo der Stechginster noch am Blühen ist.
Nach einer Brücke über den Río Vilcanota kommen wir nach
Urcos, wo die ledigen Mädchen flache Hüte tragen, die
verheirateten Frauen hochkrempige. Ansonsten ist dies ein
primitives Nest, das man schnell wieder fliehen möchte. In der
Lagune von Urcos, einem alten Kratersee, den bis heute niemand
ausgelotet hat und der nach Aussage der Einwohner grundlos sein
soll, ist angeblich die goldene Kette von Cuzco versenkt worden.
Diese Kette, welche die Spanier gesehen haben, wurde bislang
nicht aufgefunden. Sie soll nach anderen im Titicacasee versenkt
worden sein. Jacques Cousteau versuchte mit seinem U-Boot, den
Inkaschatz zu finden, vergeblich! Was er fand, war eine
unbekannte Froschart.
In Höhe der
vorinkaischen Ruinenstätte Pikillaqta, die der Huari-Kultur
zuzuordnen ist, verlassen wir das Tal des Río Vilcanota, der in
Richtung Pisac weiterfließt, und folgen dem Flußtal des
Huatanay. Vor uns sehen wir die Reste einer alten inkaischen
Mauer, durch die die alte Inka-Reichsstraße hindurchführte. Als
die Sonne ihre letzten Strahlen über das Gebirge schickt,
erreichen wir Cuzco, das in den letzten Jahren gewaltig
angewachsen ist. Die Zuwanderer Cuzcos wurden schon von den Inkas
in Richtung der vier Weltgegenden angesiedelt, so daß sich aus
der Vogelperspektive die Form eines Pumas ergab. Die vier Füße
des Pumas haben Ihre Entsprechung den vier Flüssen Perus, die
allesamt nach Nordwesten fließen: Apurímac, Urubamba, Ucayali
und Marañón.
Cuzco heißt
"der Nabel der Welt". Es liegt in einem Talkessel, das
Stadtzentrum in einer Höhe von 3400 m. Nachdem wir gestern abend
noch einen flüchtigen Spaziergang durch die Stadt wagten und von
dem nächtlichen Treiben, das sich dort abspielte, ganz angetan
waren, machen wir uns heute morgen auf zu einer eingehenderen
Besichtigung der Sehenswürdigkeiten. Unser erster Besuch gilt
dem Sonnentempel Qoricancha, dem einst größten Heiligtum im
Inka-Staat, welches Francisco Pizarro dem Dominikaner Valverde
zur Errichtung des Klosters Santo Domingo schenkte. Die
Grundmauern, durch die bekannte Fugentreue aller inkaischen
Bauten sich auszeichnend, sind nochmals eine Steigerung alles und
jeden, was wir an Mauerwerk bislang gesehen haben oder noch sehen
werden. Es scheint, als wären die Blöcke submillimetergenau mit
dem Laserstrahl herausgeschnitten und mit elektrischen
Schleifsteinen poliert worden, derart glatt und übergangslos
sind diese Granitblöcke geformt und aufeinandergesetzt,
hochgehoben von einer unbekannten Kraft, geradezu, als hätten
die Inkas das Problem der Gravitation gelöst gehabt und ein
Wissen besessen, das uns Heutigen wieder abhanden gekommen ist.
Und stets neigen sich diese Palastmauern überhängend nach
außen, sich nach dem Boden hin verjüngend, von durchbrochenen
und blinden Fenstern durchsetzt. Mit dieser Art zu bauen haben
sich die Inkas unvergänglichen Ruhm erworben und der Nachwelt
ein unnachahmliches Zeugnis bis in alle Ewigkeit überliefert.
Wäre nicht seinerzeit Cuzco von einem Erdbeben heimgesucht
worden, wir wüßten wohl nie, was sich unter den Klostermauern
verbarg, hätte nicht der Spaten danach gesucht. Somit hat es
sich also mehr als einmal bewahrheitet: die spanische Barbarei
hat unschätzbare Kulturgüter zu vernichten getrachtet
und beinahe wäre ihr das auch gelungen , um ihre bigott
schwülstigen und überladenen Kirchenbauten daraufzusetzen; und
wahrlich, jeder einzelne von einem Inka behauene und geglättete
Stein ist tausendmal schöner als all der pompöse und
überschwengliche Zierat. Warum mußten diese Fehlgeleiteten in
ihrer religiösen Engstirnigkeit eine unvergleichliche und
großartige Kultur vernichten? Die Antwort kann nicht nur in der
Gier nach Gold und Edelsteinen liegen, nein, es sollte die
Erinnerung ausgelöscht werden an vergangene Pracht und
Herrlichkeit, es war das erklärte Ziel, mit Stumpf und Stiel
auszurotten, was nachmalig zu einer Bedrohung hätte werden
können. War dem Indio erst seine Identität geraubt, war er zum
Nichts gestempelt; so war er willfährig und gefügig in den
Augen der neuen Machthaber. Auch wenn diese mit Recht sich
angewidert fühlten von den grausamen Menschenopfern, hätten sie
sich nicht mit dem Töten der Menschen begnügen können, um
wenigstens die Bauwerke zu erhalten? Nein, die Menschen konnten
sie nicht vollends ausrotten, da sie ihre Arbeitskraft
benötigten, Werkzeuge also, um der heiligen katholischen Kirche
zu dienen. Und wirklich, diesen Diensten sind wahre Wunderwerke
entsprossen, denn wo man auch hinblickt in Cuzco, an jeder
Fassade, die unter Anleitung der Jesuiten hochgezogen wurde,
finden sich zwei Welten miteinander verschmolzen, die des
heidnischen Glaubens und die der neuen Religion. Und unter den
vielen hundert Bildern der Cuszener Schule sind immer wieder
heidnische Symbole zu finden wie etwa die Sonne
eingeflossen ist , deren Urheber einheimische Künstler
waren. So schreiten wir heute ehrfurchtsvoll durch den Sonnen-
und Mondtempel, oder besser gesagt, was davon übriggeblieben
ist, und wir kommen aus dem Staunen nicht heraus, denn der Fragen
werden eher mehr statt weniger. Durch die sogenannte Inka-Gasse,
wo Kolonialbauten über inkaischen Mauerresten errichtet wurden,
gelangen wir zur Kathedrale, die sich noch immer im Zustand der
Restaurierung befindet und von der niemand weiß, welchem
Heiligen sie geweiht ist. Es erübrigt sich, es anzusprechen, mit
welcher Pracht und welchem Pomp in dieser und der Lateralkirche
La Sagrada Familia Aufwand getrieben wurde, um sie mit Gold und
Silber auszuschmücken. Das Gold, das hier verwendet wurde, riß
man von den Mauern des Sonnentempels, doch hätte es genügt,
eine und nur eine Kirche zu bauen. Doch damit nicht genug, es
bedurfte fünfzehn katholischer Kirchen, um das Neue Cuzco
auszuschmücken, denn Seiner Herrlichkeit wäre eine Kirche nicht
genug gewesen. Man stelle sich nur einmal vor: selbst die
Sakristei ist derart überschwenglich mit Gemälden ausgestattet,
daß man erbost ist und erstaunt zugleich, mit welchen Mitteln
jedem Erzbischof, den diese Stadt aufnahm, ein Denkmal seiner
selbst gesetzt wurde.
Genug nun des
Stilgemischs aus Barock und Renaissance, denn es treibt uns
hinaus in klarere Höhen über der Stadt, wo die Inkafestung
Sacsayhuaman den Menschen erschreckt, der solches
sieht: Klötze von der Größe eines Einfamilienhauses, die aus
entfernten Steinbrüchen herangerollt wurden, sind
millimetergenau und ohne Bindemittel ineinandergepaßt,
Steinbastion an Steinbastion reiht sich hier
aneinander, und in drei Mauerringen wirken selbst die Reste
dieser atemberaubenden Festung noch großartiger als die
großartigste abendländische Burg. Denn wahrlich, niemals habe
ich in Europa eine Burg oder Festung gesehen, die aus mehr
Steinmaterial erbaut gewesen wäre als diese hier. Mir erscheint
bis heute unbegreiflich, wie die Spanier dieses Mahnmal, das an
das Unvergängliche heranrührt, überhaupt einnehmen konnten,
denn ihre Kanonen machten mehr durch Lärm Eindruck denn durch
Sprengwirkung. Allein es geschah. Sacsayhuaman ist ein Ort
großartiger Aussicht, hinab auf die
Plaza de Armas, den schönsten Platz Südamerikas, bis
hinüber zum Flughafen, wo fern der Statue des Segnenden Christus
im cuszenischen Blau der schneebedeckte Nudo Ausangate sich mit
noch größerer Herrlichkeit zum Himmel erstreckt.
Hinter der
Inkafestung befindet sich eine Art Amphitheater, das Tausenden
Menschen Platz bot. Man weiß allerdings nicht, da es keine
schriftlichen Aufzeichnungen hierzu gibt, was sich darin
abgespielt hat. Höher die Berge hinauf, gelangen wir zum
unheilvollen Kenkofelsen, über den nur wenig zu entschlüsseln
ist, von dem man aber mit Sicherheit zu sagen weiß, daß er, an
Blutrinnen erkennbar, Tier- und Menschenopfer gesehen hat. Wann
immer der Inka voraussah, daß große Dürre bevorstand, glaubte
er sich die Regen spendenden Götter nur durch sühnendes
Menschenblut geneigt machen zu können.
Ein weiteres
Quellheiligtum, dessen Wasser noch heute frisch und trinkbar
sind, ist Tambomachay, in noch größeren Höhen gelegen und
noch weiteren Ausblick gewährend. Auch hier hüllt sich die
Archäologie weitgehend in Schweigen, und man ist hinsichtlich
Erklärungen auf pure Mutmaßungen angewiesen. Auf dem Weg
dorthin kommen wir noch an einer, jedoch kleineren Inkafestung
vorbei, die den Namen Pukapukara trägt.
Als wir zurück in
Sacsayhuaman sind, werden wir Zeugen eines Dokumentarfilms über
den Kampf zwischen Indianern und Spaniern, der hier gerade mit
viel Aufwand gedreht wird. Die Kostüme der Indios wie auch die
Rüstungen und sonstigen Requisiten sind täuschend echt, und wir
bitten die Filmleute, das alles photographieren zu dürfen, was
man uns letztlich auch gestattet. Ständig auf der Suche nach
geeigneten Motiven, verkleide ich mich für ein Photo kurzerhand
als Konquistador.
Als wir zur Zeit
der größten Mittagshitze in die Stadt zurückkommen, verspüren
wir alle ein Gefühl des Hungers. In der sogenannten
Chicceroneria ist die Spezialität des Hauses gebratene
Schweinehaut, die allerdings nicht jedermanns Geschmack ist, doch
die Einheimischen lieben dieses Gericht heiß und innig.
Schließlich erliegen wir dem Verlangen nach dem als äußerst
schmackhaft angepriesenen Fleisch des Meerschweinchens, welches
mit Kopf und Gliedmaßen serviert wird. Das Fleisch und seine
Kruste stammen aber entweder von einem alten Tier oder ich bin zu
voreingenommen, um die Schmackhaftigkeit dieses Fleisches
bestätigen zu können. Es schmeckt wie eine Mischung aus Huhn
und Kaninchen, und wenn die Haut derart zäh ist wie diese, muß
man anstatt zu Messer und Gabel zu den bewährten Händen
greifen. Ein Meerschweinchen vermag darüber hinaus für einen
Indio eine angemessene Portion sein, für einen Gringo ist sie es
nicht.
Auf der Plaza de
Armas herrscht nachmittags reges Treiben, das Wetter ist
zauberhaft, und Kathedrale wie Jesuitenkirche leuchten in herrlichem
Rot. Wir haben Glück um diese Jahreszeit, denn Touristen sind
nicht viele in der Stadt.
Vom Bahnhof in
Cuzco fährt die Eisenbahn der Peru Rail in drei Stunden und
zwanzig Minuten nach Agua Calientes, wo man mit Zubringerbussen
in zwanzig Minuten nach Machu Picchu hinaufgebracht wird. Da
Cuzco in einem Talkessel liegt, der zu steil ist, als daß ihn
die Eisenbahn ohne Umstände bezwingen könnte, sind etliche
Spitzkehren nötig (ich glaube vier), um die Hochfläche über
Cuzco zu erreichen. Spitzkehre bedeutet nicht etwa, daß der Zug
sie tatsächlich ausfährt, sondern er ändert lediglich seine
Fahrtrichtung und bewältigt quasi im Zickzack, mit Hilfe dieses
einfachen Tricks, eine größere Steigung als unter normalen
Umständen. Der Bahnangestellte, der dazu die Weichen stellt,
fährt mit dem Zug mit und springt an jeder Kehre auf und ab.
Nachdem wir auf diese umständliche Weise eine Paßhöhe von 3600
m erreicht haben, verläuft die weitere Strecke ab dort nur noch
ständig bergab, bis wir auf einer Höhe von 2400 m über
Normalnull angelangt sind. Machu Picchu, das, wie wir oben gesagt
haben, mit Bussen erreicht werden kann wer Zeit und Muße
hat, sollte es sich jedoch nicht nehmen lassen, den Aufstieg zu
Fuß zu bewältigen , liegt nochmals gut 400 m höher.
Durch ein Seitental eines Zuflusses des Río Urubamba führt die
Trasse stets am orographisch linken Ufer durch tiefe Schluchten,
die der Bach durch das alluviale Gestein des Altiplano gefräst
hat, bis wir den eigentlichen Río Urubamba erreichen, dessen
weiterem Verlauf wir nun bis Agua Calientes folgen; sein Name
rührt daher, daß es an diesem Ort warme Quellen zum Teil
kochend-heiße gibt. Fast unbemerkt wechselt nun, je
tiefer wir kommen, die Hochlandflora mit der des
Amazonas-Tieflands ab. Opuntien und der nicht endemische, gerade
in voller Blüte stehende Ginster begleiten uns auf unserer
wildromantischen Fahrt, immer am Ufer des Río Urubamba, eines
Nebenflusses des Río Ucayali, entlang. Das junge alluviale
Gestein ist nun durch gewachsenen, massiven Granit abgelöst
worden, aus dem die Cordillera Vilcanota besteht, jene
Berggruppe, zu der auch Machu Picchu gehört, das hoch über
einer Flußschleife liegt. Der Artenreichtum ist nunmehr auf das
Zehntausendfache angestiegen, und der Zug fährt, von tosenden
Wassern begleitet, die das Herz eines jeden Kayakfahrers höher
schlagen lassen, durch eine überwachsene grüne Pflanzenhölle
am Rande eines undurchdringlichen Dschungels. Es geht durch
Tunnels und unter Felsüberhängen hindurch, und immer tiefer
fährt unser Zug in eine Welt der Schatten und der Nebelschwaden
hinein, aus denen leichter Sprühregen tritt. Selbst die
schwarzen senkrechten Felswände scheinen jetzt von Pflanzen
überwachsen, während am Bahndamm ein Meer von Blumen prangt,
die in den grellsten Farben leuchten. Der zunächst
schlammig-braune Urubamba stürzt nun über Felsblöcke hinunter,
die ihn in eine einzige weiße Gischt verwandeln. Bedrohlich und
düster wirkt diese immergrüne Amazonashölle, während das
rhythmische Geräusch der Lokomotive auf die Seele wirkt, als
ginge die Fahrt ins Ungewisse. Was zunächst noch wolkenverhangen
aussah, wird rasch heller, und die Nebel reißen auf, als wir, in
Busse umgestiegen, uns in vielen Serpentinen hinaufschlängeln zu
der oben thronenden Festung, die erst 1911 entdeckt worden ist,
auf der Suche nach Vilcabamba. 1912 wurde dann von Cuzco aus das
Schienennetz verlegt, und zuerst hat sich ein dampfendes
Stahlroß den Weg vom Hochland herab durch den Regenwald gebahnt,
als die Welt von einer sensationellen Entdeckung erfuhr, einer
auf unzugänglichen bizarren Felsen gelegenen Inkastadt. Es ist
wahrlich der Höhepunkt unserer Reise, als wir fassungslos vor
dem stehen, was wir bisher nur von Postkarten her kannten: eine
vollständig erhaltene
Stadt mit Häusern, Tempeln, Wasserleitungen und
einem Observatorium, Sonnen- und Mondheiligtum zugleich. Jedem,
der dies zum erstenmal sieht, wird der Atem stocken, das ist
gewiß, denn hier ist alles einzigartig: die tiefen Abgründe,
der Blick in das wilde, schauerliche
Tal des Río Urubama, der Blick auf den
ehemaligen Vulkanschlot Huayna Picchu und der Blick auf die zum
Greifen nahen, gezackten und unglaublich hoch wirkenden,
schneebedeckten Kordillerengipfel, die die Hunderte von Metern
hohen, senkrecht abfallenden Wände der Vorberge majestätisch
überragen.
Noch ehe ich mich
der Besichtigung widmen möchte, brenne ich darauf, noch
größere Höhen zu erklimmen als die erreichten und den
Vulkankegel Huayna Picchu zu besteigen, der die Inkastadt um
nochmals mehr als hundert Meter überragt. Zunächst noch in
Wolken getaucht, wird die Sicht auf ihn bald frei, und nun brennt
auch die Sonne gnadenlos herab auf das verbrannte Gestein.
Ströme von Schweiß vergießend, gelange ich in weniger als 40
Minuten auf den Gipfel - von entgegenkommenden Touristen, die ich
so sehr liebe, gehindert -, und am Ende führt eine schmale
Röhre, in welche Stufen eingelassen sind, auf die abschließende
Felsplatte. Da die umgebende Bergwelt noch wolkenverschleiert ist
und ihr Gesicht nicht zeigen will, hat sich der Anstieg allein um
der Aussicht willen nicht gelohnt, so daß ich mich neuen Zielen
zuwende - dem Inka Trail. Was harmlos beginnt, endet jäh. An
einer abgestürzten Holzbrücke muß ich nach einer guten
dreiviertel Stunde wieder umkehren, gerade als der Weg anfing,
interessant zu werden. Manchmal nur eine Fußesbreite, fällt
rechts die Steilwand 500 m tief ab, während über mir eine
ebenso hohe senkrechte Felswand sich erhebt. Kaum gesichert und
das Unglück herausfordernd, zeichnet sich dieser Steig dem
Betrachter von fern wie ein Schnitt in der Wand ab, einmal
aufwärts, einmal abwärts, und ich wäre wahrscheinlich niemals
mehr umgekehrt, wenn nur ein Weiterkommen möglich gewesen wäre.
Seltsame Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne, mit kelchartigen
Blüten, wachsen zuhauf in den Bäumen, so daß man sie fast
greifen möchte. Aber jeder weitere Griff nach diesen
paradiesischen Früchten wäre tödlich, und die Ernüchterung
bringt mich auf den rechten Weg zurück, und der führt zum
Sonnentor, welches, ebenso hoch wie der Huayna Picchu gelegen,
die Schneise, das Einfallstor zur Inkastadt bildet. Es ist nicht
möglich, Machu Picchu in nur vier Stunden auszukundschaften und
alle seine Rätsel auszuloten, man muß ein zweites Mal kommen,
weil einmal nicht genug ist; also heißt es Abschied nehmen.
Ein Indianerjunge,
der oben losläuft, als wir uns gerade in Bewegung setzen,
erreicht uns jedesmal zur rechten Zeit an der Straße, noch ehe
unser Fahrzeug den Kreuzungspunkt passiert, und ich denke mir,
daß er fast heruntergeflogen sein muß, damit ihm so etwas
möglich war. Aber es ist kein Geist, der da am Wegrand steht und
uns zujubelt und winkt, auch sind es nicht mehrere; es ist stets
dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme, die uns zuruft. Die erst in
viel späterer Zeit angelegten Serpentinenwege nämlich werden im
rechten Winkel von einem Treppenaufgang gekreuzt.
So, wie wir
gekommen sind, fahren wir von Agua Calientes auch wieder zurück,
nur dauert es diesmal etwas länger, da wir beständig bergauf,
und nie bergab fahren. Als die Kordillere von den letzten
waagrecht einfallenden Sonnenstrahlen nur mehr gestreift wird und
das Licht bereits gespenstisch lange Schatten auf den Boden
wirft, da wird uns schlagartig klar, welchen Grad an
Vollkommenheit die Schöpfung in diesem Augenblick erreicht hat.
Noch während sich die zackigen Bergspitzen, einem Schattenspiel
gleich, gegen den gelblich-weißen Horizont abzeichnen, tauchen
unter uns die ersten Lichter von Cuzco auf, und einem Lichtermeer
gleich erstrahlt die Stadt bei unserer Ankunft, als habe in dem
Moment die hell erleuchtete Statue des Segnenden Christus mit
ausgebreiteten Armen den Takt dazu gegeben. Jetzt erklingen die
Töne der Panflöte eindringlicher, und das auf ihr gehauchte
Lied "El Condor Pasa" hat nun etwas ganz Gewaltiges an
sich, so als würde es von einem Chor der Auferstehung
angestimmt.
Unser letzter
Besichtigungstag im Hochland von Peru vervollständigt die Liste
der besonderen Sehenswürdigkeiten rund um Cuzco. Im
wildromantischen Tal des Urubamba liegt hoch über dem Fluß eine
weitere Bergfestung bzw. ein Heiligtum der Inkas,
Pisac. Wie stets bei Inkafestungen, sind riesige
Terrassenfelder in die Anlage einbezogen, offenbar, um im Fall
einer Belagerung über genügend Lebensmittelreserven zu
verfügen. An erkennbaren Gebäudekomplexen sind zu nennen: der
Sonnentempel, die Wohnungen der Sonnentempeljungfrauen sowie
einige Wachttürme, um den Inkaweg zu sichern. Auch hier wieder
ist der Weg so angelegt, daß er nach Art einer Absatzes aus der
senkrechten Felswand herausgehauen ist, und überall dort, wo
sich Steigungen ergaben, wurden Treppen angelegt, so daß man
bequem vorankam. Das gesamte Bergmassiv, welches man umwandern
kann, ist wild von Pflanzen überwuchert. Von oben herab bietet
sich eine wunderbare Aussicht ins Urubamba-Tal. Unvermutet, nach
einer Wegbiegung, fällt der Blick hinab auf den Sonnentempel, wo
wiederum fugenrein und ohne Bindemittel, in der Absicht, ein
Monumentalbauwerk zu schaffen, rosafarbene Granitblöcke
aufeinandergetürmt wurden. Die gegenüberliegenden Felswände
sind von unzähligen Höhlen durchlöchert, die als Grabkammern
dienten; in ihnen wurden mumifizierte Leichname entdeckt, die
allerdings meist Grabräubern zum Opfer gefallen sind. Auch die
Spanier scheuten sich nicht, Nekroplen um der Grabbeigaben willen
zu plündern. Die Festungen Pisac am Oberlauf und Machu Picchu am
Unterlauf des Urubamba, der das Heilige Tal der Inkas
durchströmt, waren wohl zugleich als Grenzbefestigungen gedacht,
um eindringende Feinde in die Zange nehmen zu können, denn aus
diesem Tal ist eine Flucht schwerlich möglich.
Überraschend war
für uns die Entdeckung eines Feldes, welches mit Qui-ichu, einer
Hirseart, bestellt war. Die Dolden haben, solange sie noch unreif
sind, eine Farbe wie Zinnober, und wiegen mächtig sich im Wind.
Aus Qui-ichu wird Popcorn gewonnen, welches man überall auf den
Märkten angeboten bekommt.
Als letztem
Ausgrabungsort auf unserer archäologischen Reise fahren wir dann
noch ein Stück des Wegs den Urubamba flußabwärts nach
Ollantaytambo, einer weiteren Inkafestung, die den
zentralen Teil des Heiligen Tales beherrscht. Auf halber Höhe
befindet sich ein unvollendeter Tempel, wo wie gehabt, auch auf
die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole, riesige Porphyritquader
ohne Zwischenraum aneinandergefügt wurden. Warum der Tempel
nicht vollendet wurde, vermag niemand zu sagen, aber vielleicht
war es eine Folge des spanischen Einfalls ins Inkareich. Alles
übrige gleicht wieder dem der bereits beschriebenen Festungen.
Auch hier sind in schwindelnder Höhe auf dem Berg gegenüber
Grabkammern in den Berg gemeißelt, und die Mausoleen
bedeutenderer Menschen unterscheiden sich von den Gräbern
gewöhnlich Sterblicher durch ihre Monumentalität. Vielleicht
sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Ollantaytambo des Lichtes
wegen unbedingt am Morgen besichtigt werden sollte, da am
Nachmittag das Gegenlicht so gut wie keine Aufnahmen ermöglicht.
Nachdem wir dieses
alles besichtigt haben, wählen wir hinauf ins Hochtal, in dem
Cuzco liegt, beim Ort Urubamba, den bereits beschrittenen
Chichao-Weg. Oben angelangt, bietet sich uns ein schöner Blick
auf den Ort, das Tal und die dahinter aufragende schneebedeckte
Cordillera Oriental, hinter der bereits das Amazonas-Tiefland
beginnt. Die Fahrt zurück nach Cuzco erleben wir im weichsten
Abendlicht, wo in fast 4000 m Höhe noch alles grünt und gedeiht
und die Felder wie zu einem Farbenteppich aneinandergefügt sind.
Wo immer wir halten, sind sofort die einheimischen Kinder bei
uns, uns zu umringen und zu betteln. Die weitere Heimfahrt
verläuft fast parallel zur Bahnlinie, so, wie wir am gestrigen
Tage gefahren sind, und daher gibt es weiter nichts zu erzählen.
Am Abend suchen
wir noch den Antiquitätenhändler auf, den ich am Vortag
ausgemacht habe, und lassen uns verschiedene Exponate zeigen. Ein
Indio zieht mich ins Hinterzimmer und holt unter einem Regal
einen Karton hervor, in dem feinsäuberlich verschiedene
Keramiken verpackt sind. Er packt einige der Vasen aus, woraufhin
mir fast das Herz stehenbleibt, denn keine einzige enthält an
ihrer Unterseite den Stempel, der besagen würde, daß es sich um
eine Imitation handelt. Ich bin von der Echtheit der Stücke
überzeugt, und obwohl ich weiß, daß es in Peru verboten ist,
Antiquitäten außer Landes zu führen, kann ich der Versuchung
nicht widerstehen und erstehe eines der Exponate, freilich nicht
das, das ich gerne gehabt hätte, denn unser Geldbeutel ist für
die wertvolleren Objekte zu schmal und das Risiko, daß es uns
vom Zoll abgenommen wird, zu hoch. Eine schöne Vase der
Tiahuanaco-Kultur werde ich alsbald mein eigen nennen können.
Dabei komme ich mir beinahe vor wie ein Grabräuber, aber ich
sehe natürlich ein, daß man das Land nicht seiner Kunstschätze
berauben darf. Doch ein magischer Zauber hat mich in diesem
Moment in seinen Bann gezogen, eine Versuchung, der zu
widerstehen meine schwachen Kräfte nicht ausreichen.
Da tagsüber
die Thermik über den Abhängen der Anden zu stark ist, können
größere Maschinen nur morgens und abends starten und landen.
Als wir am Donnerstagmorgen in Cuzco auf das Flugfeld rollen,
sind die Anden noch in Wolken gehüllt. Die Maschine benötigt
eine wesentlich längere Startstrecke, bis sie die
Abhebegeschwindigkeit erreicht, und das liegt an der großen
Höhe, auf der Cuzco liegt. Als wir nach langem Anlauf endlich
abheben, sind die Berge über uns fast zum Greifen nahe, und nur
mit Mühe gewinnt die Maschine an Höhe. Schon bald erreichen wir
die ersten Schneeberge, die in der Nähe von Cuzco aus zu sehen
sind. Dann werden die Wolken dichter und hüllen die gesamte
Andenkette in ein undurchsichtiges Weiß. Dies bleibt so, bis wir
Lima erreichen, denn auch diese Stadt, in der Wüste gelegen und
durch den kalten Humboldtstrom den größten Teil des Jahres
eingenebelt, ist heute wolkenverhangen. Noch im Landeanflug
scheinen die Triebwerke unserer Maschine zu vereisen, und der
Pilot dreht, aus welchem Grund auch immer, mehrere
Warteschleifen. Als wir nach glücklicher Landung ins Freie
treten, riechen wir von der See her den unerträglichen
Fischgestank, den kein sich regendes Lüftchen zu vertreiben
vermag. Unser Hotel liegt im Stadtteil Barranco, der neben
Miraflores zu den sichersten in Lima zählt. Gleich zu Beginn
unseres Aufenthalts werden wir darauf hingewiesen, keine
Wertsachen mit uns zu führen und nachts das Stadtzentrum zu
meiden.
Was in Lima wohl
einmalig sein dürfte, ist das sogenannte Goldmuseum. Man könnte
richtiggehend erschrecken, wenn man die abgetrennten
Museumsräume betritt, denn was hier lagert, sind wahre Schätze
an Gold, Berge von Gold, das Gold des Inka, hinter dem die
Spanier her waren und das ihnen entgangen ist, weil es sich
entweder um Grabbeigaben handelte, die in Grüften ruhten, die
nicht geöffnet worden waren, oder weil sie mit diesen Völkern
erst gar nicht in Berührung kamen. In der Tat wurde nahezu das
gesamte Gold des Inkareiches eingeschmolzen und nach Spanien
verschifft, unersetzliche Kunstschätze gingen verloren; das
Gold, mit dem Atahualpa sich loskaufen wollte, wurde von den
Wänden der Tempel gerissen, bis zwei riesige Räume damit
angefüllt waren. Welche Pracht an Kunstgegenständen man hier
sieht! zumeist der religiösen Verehrung dienend, aber auch als
Kriegsschmuck der Männer gedacht, denn bei den Inkas war das
Tragen von Ohrringen und Halsketten Männersache. Jene Männer
durchstachen sich die Ohrmuscheln und steckten Ringe hinein, die
einen Durchmesser hatten, daß die Ohrläppchen bis fast an die
Schulter herabhingen. Auch das, was wir heute Piercing nennen,
war den Inkas durchaus geläufig. Nasentrennwand und Lippen
wurden durchstochen, um goldenen Gesichtsschmuck daran
aufzuhängen. Das Haupt des Herrschers zierte eine Art Krone,
ebenfalls aus purem Gold, und Priester oder Häuptlinge trugen
Handschuhe aus Gold, die bis zu den Ellbogen reichten, mit
goldenen Fingernägeln. Golddurchwirkte Gewänder und
goldbestückte Decken aus Tausenden von Goldplättchen mögen
einst die Begehrlichkeit der Spanier aufs äußerste gereizt
haben. Es gibt nichts, was in diesem Museum nicht aus Gold und
Edelsteinen ist: Lapislazuli holte man aus Chile, Amethyst aus
Brasilien, Bergkristall aus Kolumbien und Perlen aus dem Ozean.
Feinziselierte Goldeinlegearbeiten, Totenmasken aus hauchdünnem
Blattgold und goldene Trinkgefäße sind nur einige Beispiele der
vielen Arten von Schmuck und Gebrauchsgegenständen, welche man
hier bewundern kann. Auch Tongefäße, die man fand,
Schnitzereien und Waffen der Indios aus Stein wurden hier
zusammengetragen, bearbeitet mit Obsidian, dem härtesten aller
Gesteine. Mumien, präpariert wie im alten Ägypten, denen man
Innereien und Muskeln herausschnitt, ehe man sie einbalsamierte,
wurden aufrecht hockend unter Beigabe allen Schmucks bestattet.
Es war den Inkas geläufig, Menschen den Schädel zu öffnen und
das Loch wieder mit einer goldenen Platte zu verschließen. Dies
geschah unter Vollnarkose nach Verabreichung betäubender Säfte
aus bestimmten Pflanzen. Die Art und Weise, wie die Indios es
verstanden, Gold und Platin zu verlöten, ist immer noch
unbekannt. Ich glaube nicht, daß alle Fragen, die sich bis heute
stellen, hinreichend geklärt sind, und je eingehender man sich
mit der Kultur der Inkas beschäftigt, desto mehr Fragen tauchen
auf. Neben diesen Goldfunden birgt das Museo de Oro noch andere
Sammlungen, wie etwa Keramiken, Teppiche sowie eine
Waffensammlung, die nicht nur Waffen, die auf dem
südamerikanischen Kontinent in Gebrauch waren, beinhaltet,
sondern auch solche aus aller Welt.
Im Goldmuseum ist
neben Keramikfunden der Inkas auch eine umfangreiche Sammlung
alter Keramiken anderer Kulturen ausgestellt: der Mochica, Nazca
und Chimú. Alle diese Völker haben Vasen und Gefäße mit
unvergleichlichen Darstellungen ihres reichhaltigen Sexuallebens
geschaffen, das hinter dem, was heute in Pornofilmen gezeigt
wird, nicht zurücksteht. Im Gegensatz zu den Sexualvorstellungen
anderer Völker, wo hauptsächlich die weiblichen
Geschlechtsorgane verehrt wurden, ist es bei diesen Kulturen so
gut wie ausschließlich der Phallus, welcher in den Darstellungen
hervorgehoben wird. Überdimensionale Phallen in Gefäßform, mit
Hoden so groß, daß man einen Tennisball darin unterbringen
könnte, geben allerlei Rätsel auf. Zur geschlechtlichen
Befriedigung wird man diese wohl kaum benutzt haben, zumal
Exemplare von der Größe eines Pferdepenis darunter sind, aber
ausgeschlossen werden kann auch das nicht, zumal man ja den Ton
mit Fett geschmeidig gemacht haben könnte. Die Darstellungen der
Geschlechtshandlungen wirken auf den ersten Blick schockierend,
da sie so gut wie alle sexuellen Verirrungen zeigen: Sex mit
Tieren, Sex zu dritt und zwischen Männern. Eine ausgesprochene
Vorliebe scheinen die Inkas und andere präkolumbianische
Kulturen für orale Spielarten besessen zu haben, Fellatio und
Cunnilingus sind beliebte Varianten, und in den meisten Fällen
sind die dargestellten Penisse überdimensional groß. Wir sehen
Gefäße, bei denen die Harnröhrenöffnung beinahe die einzige
Öffnung darstellt, so daß, falls aus diesen Gefäßen getrunken
oder geraucht worden sein sollte, dies nur durch Saugen an einem
künstlichen Penis möglich gewesen ist. Auch hingebungsvoll
modellierte Vaginas dienen bei manchen Vasen als
Austrittsöffnung. Es gibt dosenartige Gefäße, die sich nur
über eine Steckverbindung aus Penis und Vagina schließen
lassen. Das Angebot an Liebesstellungen reicht von der
sogenannten Missionarstellung über die Rittlings- und
Von-hinten-Stellung bis zur 69er-Position, ja selbst die
Flanquette ist kunstvoll ausgeführt wie im Kamasutra. Man sieht
also, daß den Inkas und deren Vorgängern keine noch so
ausgefallene Spielart und Perversion unbekannt gewesen ist, und
wir haben Besucher gesehen, die durch diese Ausstellung wie durch
einen Sexshop gepilgert sind. Ob diese Praktiken dem einen oder
anderen Anregung verschafft haben oder ihm zur Nachahmung
empfohlen werden können, steht nicht in unserem Ermessen, aber
mit Sicherheit können wir sagen, daß auf die von mir
geschilderten Details von unserer lokalen Reiseleiterin mit
keinem Wort eingegangen wurde, wahrscheinlich weil doch einige
unserer Reisefreunde peinlich berührt worden wären, was wir
hinreichend auch an uns selbst feststellen konnten.
Mit einer
Stadtrundfahrt durch Lima beschließen wir unser
Besichtigungsprogramm. Der einzige Stadtteil, in dem Europäer in
halbwegs vertrauter Umgebung leben können, ist der
"mondäne" Vorort Miraflores mit seinen modernen
Einkaufsstraßen und Hochhausbauten. Am Hochufer der Steilküste
befindet sich der sogenannte "Liebespark", wo die
Statue eines privaten Spenders, die ein Liebespaar zeigt,
inmitten von Grünanlagen steht. Durch das Botschaftsviertel mit
zum Teil recht pittoresken Gebäuden gelangen wir in die
Innenstadt, dem einzig sehenswerten Teil von Lima, wo noch
schöne Fassaden mit geschnitzten Holzbalkonen, die auf engstem
Raum in der Nähe oder um die Plaza gruppiert sind, und reich
geschmückte Kirchenbauten die Kolonialzeit überdauert haben.
Die Kirche San Francesco ist innen im maurischen Stil gehalten,
wobei die Wände abwechselnd rot-weiß bemalt sind. Die
Kathedrale dient heute nur mehr als Museum. Vor dem
Regierungspalast findet täglich um zwölf Uhr die Wachablösung
statt. Durch mehrere am heutigen Tage stattfindende
Demonstrationen gestört, ist die Stadt einigermaßen in Aufruhr.
Die Polizei hat alles hermetisch abgeriegelt. Eine weitere, nicht
zu übersehende Demonstration der Macht stellt das
Reiterstandbild Francisco Pizarros dar, des Eroberers von Peru,
der in stolzer Haltung, hoch zu Roß, mit gezücktem Schwert und
in voller Rüstung zum erzbischöflichen Palast, seinem
ehemaligen Wohnsitz, hinüberzublicken und der glorreichen
Vergangenheit Spaniens nachzuhängen scheint. Der ehemalige
Schweinehirte Pizarro hat es bis zum Vizekönig gebracht, weil er
dem König ergebener war als beispielsweise Hernan Cortez. Warum
nur hat Spanien seine Kolonien nicht behaupten können? Was waren
die Gründe, daß dieses einstige Weltreich zerbrach? Sicher
nicht nur die große Entfernung zum Mutterland. Wohl aber wuchs
eine neue Bevölkerung heran, die sich nur zur Hälfte mit ihrer
weißen Vergangenheit identifizieren konnte, die andere Hälfte
blieb indianisch. So gleicht der Mestize dem Indio wie dem
Weißen, klein von Gestalt und gedrungen, überwiegen je nach
Erbgewicht bei dem einen die indianischen, beim anderen die
europiden Züge. Wirklich schöne Menschen findet man unter den
Mestizen kaum, und falls doch, so sind es die mit den uns
vertrauten Gesichtszügen.
Die Vororte der
Hauptstadt sind verdreckt, die Fassaden heruntergekommen; in den
Straßen dampft es von Urin, öffentliche Bedürfnisanstalten
gibt es kaum. Sämtliche Häuser sind umzäunt, haben vergitterte
Fenster oder sind von hohen Mauern umgeben. Es ist aber nicht
allein die Armut, warum alles verfällt und verkommt, es liegt
auch an der Mentalität der Menschen, gerade soviel zu einer
sauberen Umwelt beizutragen wie unbedingt nötig. Dennoch sind
die Menschen der Hauptstadt noch relativ am saubersten. Was uns
jedoch gar nicht einleuchten will ist, wie diese sich die
Nachfahren der Inkas nennen können, eines geistig wie kulturell
hochstehenden Volkes, das all unsere Bewunderung verdient.
Im
Rückblick auf die vergangenen vier Wochen sehen wir eine Abfolge
von Bildern verschiedenartiger Eindrücke vor uns, mit gemischten
Gefühlen. Am wenigsten sind es die Menschen, die es mir angetan
haben, zu stolz und zurückhaltend einerseits, zu sehr bettelnd
und aufdringlich andererseits, als daß sie mich in ihren Bann
ziehen könnten. Es liegt eine Kluft zwischen ihnen und uns, wie
sie einst zwischen den Spaniern und den Indios gelegen hat, und
der, der weiß, wie man sie überbrückt, möge sich glücklich
schätzen. Insgesamt acht Zwischenfälle und Übergriffe mußten
wir in dieser Zeit über uns ergehen lassen, Raubüberfälle und
Diebstähle, geringfügige Delikte, wie manch einer sagen würde,
bedingt durch die große Armut. In Südamerikas Metropolen ist
ein menschenwürdiges Leben nicht möglich, geschweige denn auf
dem Lande, wo es nahezu an allem fehlt, wo selbst kulinarische
Köstlichkeiten ein fremder Begriff sind. Nur der Kondor, der
hoch in den Lüften über den Anden seine unermüdlichen Kreise
zieht, weiß, wo in einsamen Berggegenden die letzten Inkas ihren
aussichtslosen Kampf auf verlorenem Posten führen.
Copyright © 2002, Manfred Hiebl. Alle Rechte
vorbehalten.