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"Wie phantastisch das an graue Vorzeit erinnernde, den Kratersee umgebende steinerne Gewand sich im klaren Morgenrot eines der Schöpfung abgerungenen Tages ausnehmen muß, vermögen nur die zu erahnen, die ehrfurchtsvoll erschaudernd auch die alles verzehrenden Blitze sich vorstellen können, welche zuckend in schwärzlicher Nacht ein lodernd Feuer in einen der Türme warfen und seine Steine zum Bersten brachten."

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Unter den Schwingen des Kondors

Eine Reise ins Andenhochland

(1.4.-28.4.2001) Chamäleon-Reisen

Besucherzaehler

Aufbruch am Januar-Fluß
Unter Katarakten
Am Papageienfluß
Im Land der Gauchos
Nichts als Zuckerrohr
Zwischen Menhiren und Säulenkakteen
Von Inkas umgeben
Die Schöne
Von Gringos und Campesinos
Goldfluß
Der Reiche Berg
Die Weiße Stadt
Dinosaurierspuren
Suche nach Eldorado
Im Mondtal
Das Reich des Kondors
Vom Sohn der Sonne
Schwimmende Inseln
Die vier Weltgegenden
Im Nabel der Welt
Der Weg des Inka
Das Heilige Tal der Inkas
Goldschatz des Inka
Nachruf

 

Aufbruch am Januar-Fluß

    Etwa vierzehn Stunden, einschließlich der kurzen Zwischenstops, dauert der Flug von München nach Río de Janeiro. Wie immer war das Einchecken in München und Frankfurt wieder einmal in letzter Sekunde erfolgt, aber nun sind wir froh, daß wir an Bord sind. Der Service bei der Fluglinie Varig ist längst nicht mehr das, was er einmal war, aber das gilt nicht nur für diese Gesellschaft, sondern allgemein im Luftverkehr. Als ob sie sich gegen den Fluggast verschworen hätten: enge Sitze, so daß selbst ein mittelgroßer Mann kaum seine Füße ausstrecken kann, fast ungenießbares Essen, gerade soviel zu trinken, daß es zum Verdursten zuviel, um seinen Durst zu löschen aber zuwenig ist. Gereizt wie ich bin, wäre es an Bord der Maschine fast zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit einem der Passagiere gekommen, wenn nicht der Stuart dazwischengegangen wäre. Der Anlaß dazu war – worauf ich schon fast allergisch reagiere –, daß mein Vordermann seinen Sitz nicht senkrecht gestellt hatte, als das Essen kam, und ich, nachdem auch mein zweiter Hinweis ungehört blieb, dem allzu fühlbar nachgeholfen habe.
    Als wir in Río ankommen, herrscht strahlend schönes Wetter, Temperaturen zwischen 25 und 30 Grad, ideal zum Baden also. Wie wir von unserem örtlichen Begleiter erfahren, blickt Río auf einen sehr heißen Sommer zurück, zwischen 35 und 40 Grad sollen es täglich gewesen sein. Auch das Hotel, in dem wir schon vor Jahren einmal abgestiegen sind, ist noch das gleiche, es ist direkt an der Copacabana gelegen; aber ansonsten hat sich nichts geändert. Der Strand ist heute stärker bevölkert als damals, und noch immer laufen die Jogger an der Uferpromenade entlang, mitten auf der Straße, die am Sonntag für den öffentlichen Verkehr gesperrt ist.
    Auf der altbekannten Strecke, am Copacabana Palace, dem vornehmsten Hotel der Stadt, und am Meridien vorbei, geht es durch einige der zahlreichen Tunnels zum absoluten Muß Ríos, dem Zuckerhut. Die erste Seilbahn auf den Asucar, wie er in der Landessprache heißt, wurde 1912 von einem deutschen Unternehmen gebaut und war bis 1973 in Betrieb. Spektakulärer sind die Kletterführen, die sich hinaufziehen, denn der Berg ist auf allen Seiten von Steilwänden umgeben. Auch wenn die geringe Bewölkung ansonsten ideale Sichtbedingungen gewährt, ist der Ausblick aufgrund des starken Dunstes wieder einmal nicht optimal. Der Panoramablick, den man auf der Spitze des Zuckerhuts besitzt, ist einfach zu traumhaft, als daß man irgendwelche Einschränkungen zu akzeptieren bereit ist; ich verzichte daher auf ein Photo. Einen gewissen Ersatz für das Entgangene bietet, daß man den Flugzeugen über der Guanabara-Bucht bei ihrem Landeanflug zusehen kann oder beim Start, wenn sie raketengleich im Steilflug über den Zuckerhut hinwegschießen. Daß der Zuckerhut geologisch genau zu den Verwitterungserscheinungen in Angola paßt, liefert, nebenbei bemerkt, einen Beweis für Alfred Wegeners Theorie von der Kontinentaldrift.
    Die neue Kathedrale Ríos wurde von Oskar Niemeyer entworfen, dem großen Architekten Brasilias. Sie gleicht einem Kegelstumpf, dessen Inneres einer Zwölfteilung unterzogen ist, jedes vierte Zwölftel ist mit Glasfenstern ausgelegt. Das Gewölbe zeigt die Form eines regelmäßigen Kreuzes.
    An den Ständen der Stadt wird ein sehr erfrischendes Getränk verkauft, und zwar Guaranasaft, der aus einer Wurzel des Amazonasgebiets gewonnen wird. Es schmeckt ähnlich der Coka-Cola, jedoch nicht ganz so chemisch.
    Obwohl ich die Aussicht vom Corcovado kenne, der mit 704 m höchsten Erhebung in der direkten Umgebung der Stadt, bin ich doch wieder der Versuchung erlegen, sie genießen zu wollen, und es war wieder genauso dunstig wie damals. Durch die zahlreichen Morros, jene abgeschliffenen Granitkegel, die gegen ihre Umgebung überaus hoch sind, darunter der dem Zuckerhut zum Verwechseln ähnliche Zweibrüderberg, fällt ständig irgendwo Schatten ein, egal wie die Sonne steht. Der höchste dieser Morros, der sowohl vom Zuckerhut als auch vom Corcovado aus zu sehen ist, steht nicht direkt bei der Stadt, sondern in einiger Entfernung zu ihr, und das Besondere an ihm ist, daß er rundherum Überhänge besitzt. Man darf nun mit seiner Phantasie nicht nachlassen, braucht sich nur sämtliche Plattenbauten wegdenken, um sich eine Vorstellung davon zu machen, wie diese traumhafte Landschaft in aller Unberührtheit einmal ausgesehen haben mag, ehe die Portugiesen kamen. Dazu muß man sich wirklich klare Sicht wünschen, und ich wüßte nicht, wann es diese gibt oder ob es sie jemals gibt. Und dann wäre die Versuchung groß, alle Morros der Umgebung auf Erstbegehungswegen zu ersteigen. Wie Rutschbahnen, so glatt, sind die schwarzen Felswände zum Teil, und uns bleibt bis heute unbegreiflich, wie man sie, ohne lange nach einer Führe Ausschau zu halten, überhaupt bezwingen kann.
    An den Stränden frönen die Menschen ihren Leidenschaften, als da sind: Drachen- und Gleitschirmfliegen, Wellenreiten, Kokosmilch trinken, in der Brandung stehen oder einfach nur an den kilometerlangen weißen Sandstränden in der Sonne liegen. Schön müßte es sein, zu einer der vorgelagerten Inseln hinüberzusegeln, die nichts anderes sind als ebenfalls Morros, nur eben etwas tiefer liegende, im Meer versunkene; sie alle stehen unter Naturschutz.
    In der Nähe des Sheraton, am Leblon, befinden sich zahlreiche Stundenhotels mit teilweise illustren Namen, z.B. Sinless, d.h. sündenfrei, u.a. Hier treffen sich der Chef mit der Sekretärin, der Ehemann mit seiner Geliebten sowie alle, die ihre Liebe versteckt halten müssen.
    Nach einem erquickenden Schlaf fühlen wir uns am nächsten Morgen topfit, gerade das Rechte, um Río auf den Kopf zu stellen. Doch was tun, wo die Stadt außer seichten Vergnügungen nur wenig Ersprießliches bietet? Gewiß nicht sinnvoll wäre es, sich an der Copacabana die Sonne aufs Haupt scheinen zu lassen oder in der prallen Sonne herumzulaufen, wie es die Brasilianer tun, speziell die weißen. In Río leben nämlich 40 % Weiße, ein verhältnismäßig hoher Anteil im landesweiten Vergleich, und deren besonderes Vergnügen scheint es zu sein, es an Körperbräune ihren an die Sonne gewöhnten farbigen Landsleuten gleichzutun. Ohnehin schlecht gegen die intensive UV-Strahlung gewappnet, sorgen sie mit Fleiß dafür, daß ihre häßlichen Pigmentflecken noch zahlreicher in Erscheinung treten, ihre kalkfarbene Haut noch runzliger wird, zumal sie offenbar neidvoll auf diejenigen blicken, welche die Natur mit einem kakaobraunen Teint ausgezeichnet hat. Wie sehr hat sich doch das Schönheitsideal gewandelt! Überhaupt hat Río sich seine Traditionen bewahrt. Ehrgeizig hecheln schon am frühen Morgen die Schönsten der Schönen, schweißgebadet und halbnackt, die Uferpromenade entlang, um nur ja nicht in den Verdacht zu geraten, es handele sich bei ihnen um Nichtstuer. Man muß sich wirklich fragen, ob der Mensch dazu berufen sei, in seiner ganzen Häßlichkeit sein Ebenbild, den Schöpfer, beleidigen zu wollen, indem er seine sämtlichen körperlichen Mängel in solch schamloser Weise zur Schau stellt und andere dazu zwingt, sich diese anzusehen. Und es sind in der Tat fast nur Hellhäutige, die sich das erlauben. Wenn nicht diese unerträgliche Hitze herrschen würde, könnte man die Zeit sinnvoller durch Wanderungen überbrücken. So versuchen wir uns denn, während die anderen am Strand verbleiben, im Schatten der Häuserschluchten in Richtung Stadtzentrum vorzuarbeiten, lediglich mit einer Flasche Wassers bewaffnet, dessen man bei den ständig steigenden Temperaturen reichlich bedarf. Unser Ziel ist der Zuckerhut mit seinen idyllisch um ihn herum gruppierten Badestränden. Es ist angesichts der getrunkenen Wassermenge zwingend erforderlich, wenngleich fast aussichtslos, öffentliche Bedürfnisanstalten ausfindig zu machen, es gibt sie schlichtweg nicht. Allerorts steigt einem der Geruch von Urin in die Nase, und genau das, diese mangelnde Hygiene, macht die Stadt so unerträglich, aber es hat den Vorteil, daß es noch zusätzlich zur Hitze den Appetit vertreibt.
    Am Ende der Copacabana angelangt, erkunden wir den "Weg der Fischer", an dem die Einheimischen ihrem Angelvergnügen nachgehen. Ich kann aber nicht erkennen, daß irgendeiner einen gewaltigen Fang gemacht hätte. Im Anschluß daran geraten wir unvermutet auf Kasernengelände, wo wir von den Soldaten mit ruhigen, aber bestimmten Worten des Platzes verwiesen werden. Um weiterzukommen, bleibt es uns nicht unbenommen, durch einen der vielen Tunnels zu schreiten, in denen der Fahrzeuglärm das einzige ist, was stört. Am Ende der Röhre erreichen wir in wenigen Minuten, am Yachtclub vorbei, die Talstation der Seilbahn auf den Zuckerhut, wo wir bereits tags zuvor waren. Hier am Platz befindet sich anscheinend eine Militärakademie, wo stolze Uniformen und noch stolzere Gesichter – die einzig stolzen, die ich im ganzen Land gesehen habe –, an eine längst vergangene Tradition anknüpfen. Meines Wissens ist aber Brasilien mit Ausnahme eines Grenzkonflikts mit Paraguay nie in Kriegshandlungen verwickelt gewesen. An dieser Akademie beginnt die Pista Cláudio Courtinho, ein in den Vorberg des Zuckerhuts getriebener Uferweg, der offenbar für die körperliche Ertüchtigung der Offiziersanwärter angelegt wurde und daher der Öffentlichkeit nur begrenzt zur Verfügung steht. Es sind wiederum fast nur hellhäutige Brasilianer, die sich hier mit schweißgebadeten Körpern bei 35 Grad im Schatten abstrampeln. Wie fast alle Angehörigen eines Industrielandes leiden auch die Brasilianer auffallend an Übergewicht, so daß sich bei vielen Männern auf der Brust bereits Ansätze weiblicher Formen entwickeln. (Müssen uns Menschen mit einer solchen Behinderung nicht leid tun?) Am Ende des Weges, wo dieser jäh aufhört, steht man unerwartet vor einem Turm. Die Aussicht auf die vorgelagerten Inseln ist traumhaft und der Spaziergang durch eine urwüchsige Tropenflora nach soviel Stadtluft trotz der drückenden Schwüle erholsam. Von unseren Städten sind wir es gewohnt, daß die Kirchen als Häuser zu Ehren Gottes alles andere überragen. In Río wie auch in den meisten anderen Metropolen Südamerikas verschwinden sie hingegen, wie David hinter Goliath, zwischen sie um ein Vielfaches überragenden Wolkenkratzern.
    Etwas enttäuscht sind wir, daß es uns nicht gelungen ist, in Río eine e-Mail zu verschicken. Das Handy funktioniert hier nicht, und das Internet scheint für die meisten Brasilianer noch immer ein Fremdwort zu sein. Als wir dann endlich ein Café gefunden haben, scheitert unser Einwahlversuch daran, daß wir uns nicht auf portugiesisch verständigen können. Mit Englisch kommt man nämlich hier kaum durch. Schade! denn in einem der mondänen Einkaufszentren der Stadt, wo die "Upper class" verkehrt, haben wir Frauen gesehen, so schön, daß es einem den Schlaf raubt.
    Am Abend verlassen wir Río; unter uns liegt das Lichtermeer der Stadt. Der Himmel ist noch immer wolkenlos, soweit das Auge reicht. Als ich durch das Bullauge nach draußen blicke, sehe ich unvermutet das Kreuz des Südens, und ich werte es als ein gutes Zeichen. Kaum sind vierzig Minuten verstrichen, als sich unter uns die Lichter von São Paolo abzeichnen, unendlich an Zahl. Nach einem kurzen Zwischenstop geht es erneut in den nächtlichen Sternenhimmel nach Foz Iguaçu, wo wir kurz vor Mitternacht ankommen, zum Umfallen müde.

Unter Katarakten

    Als wir am nächsten Morgen aufwachen, erwartet uns nach Auflösung der Frühnebelfelder ein strahlend schöner Tag mit bestem Photowetter. Die Luft ist einzigartig klar, und mit 24 °C herrschen auch für Mitteleuropäer erträgliche Temperaturen. Im kühlen Luftzug unseres offenen Fahrzeugs werden wir an die Katarakte des Iguaçu-Flusses herangebracht, wo dieser auf einer Länge von 4 km über eine Höhe von bis zu 73 Metern herabstürzt. Iguaçu liegt 225 m über dem Meeresspiegel, auf dem 29ten südlichen Breitengrad. Die Temperaturunterschiede können hier extrem sein. So wurden in den Sommermonaten bereits Temperaturen von 49 °C im Schatten gemessen, so daß man auf der Kühlerhaube einer schwarzlackierten Limousine in der Sonne Spiegeleier braten konnte; im Winter hingegen treten regelmäßig Minusgrade auf. Das kälteste Jahr, an das Einheimische sich erinnern können, war 1945, wo elf Grad unter Null erreicht wurden. Wir befinden uns hier in der Vegetationszone des subtropischen Regenwaldes, der am Boden sehr dicht ist. Selbst Araukarien, die normalerweise auf Höhen unter 500 m nicht vorkommen, gehören zum festen Baumbestand; dank einer Elsternart, die für die Verbreitung der Samen sorgt, ist dies möglich. In den Wäldern findet man Jaguar, Ozelot und Nasenbär. Letzterer bringt eine Beißkraft von zwei Tonnen auf für alles, was ihm in den Mund gelegt wird. Daher wird davor gewarnt, diese Tiere, die es hier sehr zahlreich gibt, zu füttern oder zu streicheln.
    Besonders reich an Arten ist die Insektenwelt. Riesige und überaus farbenprächtige, nur hier vorkommende Schmetterlinge erfreuen das Auge des Besuchers. Es ist aber nicht möglich, die zahlreichen Schmetterlingsarten alle zu kennen und die vielfältigen Pflanzen einzuordnen, zu zahlreich sind diese, als daß ein gewöhnlich Sterblicher sie alle identifizieren könnte. Ist es doch im allgemeinen beklagenswert, wenn jemand, nur weil er die Namen nicht kennt, nicht angeben kann, was er gesehen hat und um welche Gattungen es sich handelt, und dies zeigt, wie wenig er sich eigentlich dafür interessiert. Darum sollte sich, wer eine Reise tut, schon vor Antritt derselben mit den geographischen, zoologischen und botanischen Gegebenheiten vertraut machen, er sollte die Namen und den Verlauf der Flüsse kennen, besondere geologische Sehenswürdigkeiten nach den Gesteinen, die dort vorkommen, beurteilen können und um ihre Entstehung wissen. Kulturen, die ausgestorben sind, sollten zeitlich eingeordnet werden können, sonst verhält es sich wie bei jemandem, der zwar nicht blind und taub ist, aber dennoch nicht sieht und nicht hört und wie ein Tor allezeit auf Erden wandelt.
    Obwohl mir die argentinische Seite der Wasserfälle nicht neu ist, ziehe ich es vor, sie ein zweites Mal zu besichtigen, anstatt auf dem Campingplatz auszuharren und auf die anderen zu warten. Die Besichtigung beschließt man üblicherweise mit einer Fahrt zum Dreiländereck Argentinien - Brasilien - Paraguay. Dieses liegt genau an der Stelle, wo der Río Iguaçu in den Paraná mündet. Letzterer entsteht am Zusammenfluß von Río Grande und Río Paranaibo und ist nach dem Amazonas der wasserreichste aller Ströme Südamerikas. Nach dem Zusammenfluß mit dem Río Uruguay heißt er Río de la Plata, der wiederum kein eigentlicher Strom ist, sondern ein Mündungstrichter bzw. eine Meeresbucht; an ihr liegt Montevideo und auf der gegenüberliegenden Seite Buenos Aires. An der Mündung des Río Paraguay in den Río Paraná liegen die beiden Städte Resistencia und Corrientes. Der Río Paraguay aber entspringt im Pantanal und nimmt bei Asunción den Río Pilcomayo auf, der Grenzfluß ist zwischen Argentinien und Paraguay. Als weiteren wasserreichen Strom nimmt der Río Uruguay kurz vor seiner Mündung in den Río de la Plata noch den Río Negro auf.

Am Papageienfluß

    An einem Mittwochmorgen verlassen wir Foz do Iguaçu und überqueren auf der "Freundschaftsbrücke" den Paraná, den Papageienfluß, bei Ciudad del Este, der Stadt des Ostens, nach Hongkong und Miami der drittgrößte Warenumschlagplatz der Welt. Bislang ist es der paraguayanischen Regierung nicht gelungen, den illegalen Drogenhandel, die Waffen- und Autoschiebereien, die Geldwäsche und die von hier ausgehenden terroristischen Aktivitäten islamischer Gruppen zu unterbinden. 80 % der Waren gehen, ohne daß Zoll entrichtet wird, über die Grenze. Die Beamten, die hier ihren Dienst tun, sind mehrheitlich korrupt, bei ihrem niedrigen Gehalt für viele durchaus verständlich.
    Über eine Brücke, von der aus sich bereits ein Blick auf die Silhouette von Asunción auftut, überqueren wir die gewaltigen Wassermassen des Río Paraguay. Hier ist es schlagartig aus mit den Lateritböden, denn ab dort betreten wir graue Chacoerde. Der Chaco ist kaum besiedelt, obwohl er die ertragreichsten Böden der Erde hat, die aber schwer zu bewirtschaften sind, das Grundwasser ist nämlich zu salzhaltig. Der Ombú- oder Teufelsbaum (phytolacca dioica), der hier gedeiht, gehört zur Familie der Kermesbeerengewächse. Kein Tier würde sich auch nur in seinen Schatten begeben, zumal er voller Giftstoffe ist.
    Unser heutiger Camping-Platz liegt im Botanischen Garten von Asunción, einem Mückenparadies, einer schwül-heißen Hölle, in der man in der Nacht nur schwer Schlaf findet. Seit drei Tagen konnte ich mich nun schon nicht mehr rasieren, und die sanitären Verhältnisse scheinen dies auch heute nicht zuzulassen. Besonders beschämend finde ich das Verhalten einer kleinen Gruppe junger Deutscher, die ihren Übernachtungsplatz als Müllhaufen hinterlassen. Als sie dann noch denken, sie müßten sich vor ihrer nächtlichen Abreise mit dröhnender Musik aus dem Kofferradio verabschieden, gehe ich kurz entschlossen hin und drehe ihnen das Radio aus. Dies führt anfangs zwar zu lebhaften Protesten, aber am Ende kann ich mich durchsetzen. – Nachts werden wir durch das Gebrüll der Löwen, die in den benachbarten Käfigen eingesperrt sind, immer wieder aus dem Schlaf gerissen. Es klingt – wenn man gerade aus einem Albtraum erwacht –, als würden ihnen in der Arena Christen zum Fraß vorgeworfen.
    Paraguay ist das Land der Guaraní-Indianer. Besonders verdient gemacht um ihre Missionierung und ihren Schutz haben sich die Jesuiten, jener Orden, den Ignatius von Loyola gegründet hat. Jesuiten müssen neben ihrem Theologiestudium noch einen weiteren Studiengang absolvieren. Als Patres haben sie ihre Schutzbefohlenen vor dem Zugriff der Sklavenjäger bewahrt, aber auch vor den Spaniern, und sie konnten ihnen erstaunliche Kunstfertigkeiten abgewinnen, vor allem auf den Bereichen der Bildhauerei, der Schnitzkunst und der Musik. Da der Orden keine Steuern zahlen mußte, wurde er immer reicher, was schließlich den Neid weltlicher Herren erweckte und in der Vertreibung der Jesuiten aus Paraguay gipfelte. Falsch ist die Ansicht, die Jesuiten hätten die Inquisition in Südamerika ausgeübt, was richtigerweise den Dominikanern, den "Hunden Gottes," zugeschrieben werden muß. Franzosen wurden als Hugenotten, Holländer als Calvinisten und Briten als Anglikaner von der Inquisition verfolgt und mit dem Bann belegt und konnten sich daher nicht festsetzen. Auch die weitere Geschichte Paraguays trieft von Blut. Der blutigste Krieg, der überhaupt jemals geführt wurde, war der sogenannte Chaco-Krieg, ein Grenzstreit, der buchstäblich bis auf den letzten Mann ausgetragen wurde. Nach seinem Ende gab es in Paraguay nahezu keine Männer mehr. Nicht umsonst werden die jungen Männer dort früher als anderswo zum Militärdienst herangezogen. Der Geburtsschein wird in der Regel erst lange nach der Geburt ausgestellt, wobei man meist einige Jahre zugibt, damit die Bürschchen früher eingezogen werden können.
    In Paraguay tragen schon die Schulkinder Uniformen. Dies wird damit begründet, daß soziale Unterschiede nicht bereits im Kindesalter sichtbar werden und die Chancengleichheit zumindest äußerlich gewahrt bleibt. Das Schulsystem Lateinamerikas ist so aufgebaut, daß das Klassensystem erhalten bleibt, d.h. wer arm geboren ist, der wird auch arm sterben. Das oberste Lehrziel ist der Patriotismus und der Nationalismus. Viele Schulabgänger treten bereits mit einem beachtlichen Schuldenberg ins Berufsleben ein. Den Politikern sind die Defizite des hiesigen Schulsystems bekannt, aber an die Sache herangehen und dieses ändern will auch keiner, vielleicht weil viele denken, daß, wenn möglichst viele ein niedriges Bildungsniveau besitzen, diese auch leichter zu manipulieren seien und man seinen korrupten Geschäften desto besser nachgehen könne. Nichts hat sich, seit ich das letzte Mal hier war, geändert, es ist immer noch das gleiche Bild. – Ab jetzt beginnt für mich der eigentlich neue Teil der Reise.
    Gleich an der Grenze überqueren wir den Río Pilcomayo, der in Bolivien entspringt. Die Grenzabfertigung zieht sich in die Länge, für viele ein Grund, um mit den Indios um Waren zu feilschen. Da denke ich mir: Früher haben die Weißen sich für Glasperlen und andere wertlose Gegenstände zu Spottpreisen gewaltige Gebiete Landes erworben, heute hingegen sind sie es, die indianische Ringe und sonstigen Kitsch für kostbare Dollars erstehen. So ändern sich die Zeiten, und beinahe alles kehrt sich um. Noch vor nicht allzulanger Zeit herrschte an den Grenzabfertigungsstellen zu Argentinien die reinste Willkür. Ein Beamter beispielsweise, der für zehn Tage in den Osterurlaub ging, legte die Formalitäten für die Zeit seiner Abwesenheit komplett lahm.

Im Land der Gauchos

    Die Erschließungsgeschichte der La-Plata-Staaten beginnt mit Amerigo Vespucci, dem Namenspatron Amerikas. Man glaubt, daß er den Río de la Plata als erster entdeckt hat, aber mit Sicherheit weiß man es nicht. Gewiß jedoch ist, daß Juan Diaz de Solis' Expedition an Land ging und alle bis auf einen von den Indianern aufgefressen wurden. Der nächste, der kam, war Pedro de Mendoza, ein Kammerherr Karls V., der von Sevilla aus die erste große Expedition in den Mündungstrichter des Río de la Plata, des Silberflusses, unternahm und 1536 Buenos Aires gründete. Er starb jedoch während der Reise. Andere vollendeten sein Werk und segelten den Paraguay-Fluß hinauf bis zum Zusammenfluß mit dem Río Pilcomayo, wo sie als erste dauerhafte Siedlung auf dem südamerikanischen Kontinent Asunción gründeten. Buenos Aires hingegen wurde nach seinem ersten Gründungsversuch von den Indianern zerstört, später aber wieder aufgebaut. Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang der interessante Bericht des Straubingers Josef Schmidel, der Mendoza begleitet hatte und somit zum ersten Chronisten Argentiniens wurde.
    Kurz hinter der Grenze ist ein Schild aufgestellt mit der Aufschrift: Die Malvineninseln sind argentinisch! Ob das stimmt, mag der Leser selbst beurteilen. Der erste nämlich, der 1592 auf die Falkland-Inseln kam, war ein britischer Pirat namens John Davis, der die Inseln aber nicht betrat. Aus dieser Zeit hat sich folgende nette Anekdote bewahrt: Erst nachdem ein Matrose die unter Seeräubern berüchtigte Drake-Straße durchquert hatte, war er zum Tragen eines Ohrrings berechtigt, und dieser berechtigte wiederum dazu, beim Wasserlassen die Hose herunterzulassen. 1690 landete dann der Engländer John Strong auf den Inseln, aber auch er erklärte sie nicht zum Besitz der britischen Krone. 1764 gründen die Franzosen eine erste Kolonie auf Ostfalkland, worauf nur zwei Jahre später unabhängig davon die Engländer die Kolonie Port Egmont in Westfalkland errichten. Gemäß dem Vertrag von Tordesilla hat Frankreich die Oberhoheit Spaniens über alle Gebiete des Südatlantiks anerkannt und seinen Besitzanspruch an der neu gegründeten Kolonie an Spanien abgetreten, nicht so England. Nachdem 1770 die Spanier ihren käuflich erworbenen Besitz übernehmen wollen und die Engländer aus Port Egmont vertreiben, droht England mit Krieg. Die Spanier geben daraufhin Port Egmont zurück, ohne ihren Anspruch auf die restlichen Gebiete aufzugeben. Seitdem sind die Malvinas Zankapfel zwischen Briten und Argentiniern, denn die Argentinier betrachten sich nun einmal als Rechtsnachfolger der Spanier, zumal auch Spanien Argentinien als souveränes Land anerkannt hat. Über diesen Besitzstreit entbrannte schließlich der Falklandkrieg.
    Der Name Argentinien leitet sich vom lateinischen Wort für Silber, argentum, ab. Es gibt jedoch kein Silber in Argentinien. Der Name geht zurück auf die Silberfunde, die während der Expedition des Sebastian Caboto gemacht wurden, einem italienischen Seefahrer in spanischen Diensten, der 1526 die Mündung des Río de la Plata erreichte und den Paraná bis Rosario weitersegelte. Diese Expedition ist allerdings gescheitert; alle Schiffe bis auf das von Diego García sind gesunken. Der Río de la Plata hieß ursprünglich Mar de Solís, benannt nach dem spanischen Seefahrer Juan Díaz de Solís, der 1516 die Flußmündung entdeckt und für Spanien beansprucht hatte. Magellan gab der am Mündungstrichter des Río de la Plata gelegenen Stadt Montevideo ihren Namen.
    Argentinien gliedert sich politisch in 22 Provinzen. Statistisch gesehen leben derzeit knapp 13 Menschen auf einem Quadratkilometer, im Großraum von Buenos Aires sind es 13-14 Millionen. 90 % der Bevölkerung sind Weiße, meist italienischer oder spanischer Abkunft. Da Kreolen als Menschen zweiter Klasse galten, die von politischen Ämtern ausgeschlossen waren, schickten früher viele Spanier ihre schwangeren Frauen zum Gebären nach Spanien, damit ihre Kinder volle politische Rechte besaßen. Indianer gibt es in Argentinien kaum noch, da sie 1879 bis auf den letzten Mann ausgerottet worden sind, man veranstaltete sogar Treibjagden auf sie. Che, ein indianisches Wort, was soviel heißt wie Volk, ist alles, was von den Ureinwohnern noch übriggeblieben ist.
    Die Indianer sind vor ca. 30000 Jahren, aus der Mongolei kommend, über die Beringstraße nach Amerika eingewandert. Diese Datierung ist aber vermutlich nicht haltbar und muß auf ca. 50000 v. Chr. vorverlegt werden. Durch spätere Einwanderer wurden die früheren nach Süden abgedrängt. Die Besiedelung endete jäh, als der Meeresspiegel wieder anstieg. Vor 10000 Jahren etwa wurde die Magellan-Straße geflutet. In Südamerika spalteten sich die eingewanderten Indios auf in solche, die die Andenkette besiedelten, und andere, welche im Urwald lebten. Dementsprechend unterschiedlich ist auch die kulturelle Entwicklung, die beide Gruppen nahmen, verlaufen. Im nordöstlichen Brasilien, in Minas Gerais, gibt es Fundstätten, die auf 14150 v. Chr. datieren. Insbesondere im Andenhochland bildeten sich Hochkulturen aus, deren Hinterlassenschaft wir noch heute bestaunen.
    Um das Alter dieser indianischen Kulturen zu bestimmen, sind verschiedene Methoden in Gebrauch. So sind etwa im Zuge der Isotopenforschung auch für die Archäologie bessere Datierungsmethoden, quasi als Nebenprodukte, abgefallen. Die Aufnahme von C14 durch einen lebenden Organismus hört auf, sobald dieser abstirbt. Die Meßgenauigkeit des Verfahrens ist ausreichend bis etwa 40000 v. Chr. Für die Datierung von Keramiken verwendet man heutzutage überwiegend das Thermolumineszenz-Verfahren, aus dem man durch Aufheizen der Probe und anschließender Spektralanalyse gesicherte Angaben erhält. –
    Argentinien ist ein waldarmes Land, lediglich hier im Chaco gibt es noch einige Quebracho-Wälder (quebracho colorado). Quebracho-Holz ist sehr hart und gegen Termitenbefall resistent. Leider führt die Einfuhr fremder Baumarten nach Südamerika wie etwa der dreißig von insgesamt 230 in Australien vorkommenden Eukalyptusarten, die hier gut gedeihen, zu einer Verfälschung des Vegetationsbildes. Die endemischen Flaschenbäume können bis zu 200 Liter Wasser speichern. Der Flaschenbaum besitzt eine äußerst stachelige Rinde, ein ideales Nagelbett also für einen angehenden Fakir! Er schützt sich dadurch gegen alle Tiere, die von ihm fressen wollen. Seine Krone ist von den Nestern der Korbmachervögel bevölkert.
    Noch liegen viele sogenannte Estanzias am Weg. Eine Estanzia ist ein reiner Viehzuchtbetrieb, eine Hazienda ist entweder ein Milchbetrieb oder ein reiner Ackerbaubetrieb. Argentiniens Farmen haben Flächenausdehnungen von der Größe des Saarlandes. Zweitgrößter Grundbesitzer im Land ist die Familie des italienischen Strickwarenmagnaten Carlo Benetton, die 850000 Hektar auf sich vereint. Ein wichtiger Wirtschaftsfaktor in Argentinien ist die Baumwolle; sie gedeiht nur im sogenannten Baumwollgürtel. Die ersten Funde von Baumwolle stammen aus Mexiko und datieren in das Jahr 5800 v. Chr., das Verdienst ihrer Verbreitung in Europa gebührt den Arabern.
    Am lehmig-braunen Río Bermejo, dem zweiten großen Chaco-Fluß nach dem Río Pilcomayo, stehen die lilafarbenen Wasserhyazinthen gerade in voller Blüte. Beiderseits der Straße wächst argentinischer Papyrus, eine endemische Art. Auch die Canauba-Palmen gedeihen hier zahlreich. An der Straße sehen wir drei Jabirus, Verwandte des Silberstorchs, und einen Adler. Die an ihrem gelben Halsband erkennbare Schneckenweihe (polyborus plancus) – man nennt sie hierzulande Caracara –, hat einen stark gebogenen Schnabel. Auch Stauße bekommen wir zu Gesicht. Der südamerikanische Nandu unterscheidet sich vom afrikanischen Strauß insoweit, als er kleiner ist, auch sind Männchen und Weibchen gleichgefiedert. Hier verlassen wir die Provinz Formosa und betreten die Provinz Chaco. Es beginnt zu regnen. Im Chaco prallen häufig antarktische Luftmassen, die ungehindert über die Pampa hinwegfegen, mit warmen Luftströmungen aufeinander, was zu sehr ergiebigen Niederschlägen führen kann.
    Unser heutiges Tagesziel ist Avia Teray. Nach Übernachtung an einer Tankstelle steht uns ein weiterer Fahrtag durch die monotone, von heftigen Regengüssen gebeutelte Landschaft des Chaco bevor. Das Wetter ist so wie die Landschaft, trübselig und von undurchdringlichen Nimbostratuswolken verhangen. Alles steht unter Wasser, und dort, wo Vegetation fehlt und der nackte Chacoboden hervortritt, graben sich die Reifen tief in die aufgeweichten Schlammassen. Unser allradgetriebenes Fahrzeug zeigt bisweilen bereits deutliche Anzeichen eines Getriebeschadens. Hoffentlich wird uns das in dem unerschlossenen Gelände, durch welches wir noch kommen werden, nicht zum Verhängnis, und wir stehen womöglich ohne Ersatzteile da.
    Wir verlassen nun die Provinz Chaco und reisen nach Santiago del Estero ein. Längs der Straße sitzen immer wieder Rabengeier, so genannt nach dem sie kennzeichnenden schwarzen Kopf. Auch sind immer häufiger Feigenkakteen in die Landschaft eingestreut. Die Früchte der Feigenkakteen nennt man hierzulande Tunas, sie sind eßbar. –
    Niemals würde in Argentinien jemand auf die Idee kommen, daß ihn der Staat durchfüttern würde. Den Begriff des Sozialstaates kennt man in Lateinamerika nicht. Ein Lehrer verdient in der Provinz Santiago del Estero weniger als 234 US$ im Monat, wobei es an der Regel ist, die Gehälter mit mehrwöchiger Verspätung auszubezahlen. Der Peso ist im Verhältnis 1:1 an den Dollar gekoppelt. Ein Handwerker verdient zwischen 600 und 800 Pesos, ein Polizist 400-500 Pesos. Verkäufer leben von Provisionen und bekommen in der Regel überhaupt kein Gehalt. Der Staat nimmt den Menschen nichts, aber dafür gibt er ihnen auch nichts. Die Familie ist in Lateinamerika noch intakt, sie ist das einzige soziale Netz, das es gibt. Junge Ehepaare leben in der Regel bei den Eltern, Altersheime kennt man nicht. Fast alle leben jedoch in Wohneigentum.
    Bei Quimili nehmen wir nicht den direkten Weg nach Santiago del Estero, da uns die Straße zu schlecht ist, sondern biegen Richtung Süden ab. Es muß hier gewaltig geregnet haben in den vergangenen Tagen, da richtige Seen entstanden sind, wo sich die Kuhreiher und Kormorane wohlfühlen, die diese Feuchtgebiete zahlreich bevölkern. Bei Cnia. Dora erreichen wir die Straße Nr. 34, die nach Rosario hinabführt. Über den Río Dulce gelangen wir schließlich nach Santiago del Estero.
    Die Stadt wurde 1553 durch Capitan Francisco de Aguirre gegründet und ist somit die älteste argentinische Ansiedlung. Im Sommer kann es hier unerträglich heiß werden, bis zu 50 Grad. Aus der Kolonialzeit hat sich kaum noch etwas erhalten. Überhaupt macht die Stadt einen heruntergekommenen und verwahrlosten Eindruck. Die Dominikanerkirche ist das einzige, was es zu besichtigen gibt. Sie ist im Innern schlicht, weist nur wenige Stukkaturen auf und macht äußerlich den Eindruck einer Wehrkirche. Die Orientierung in der Stadt fällt schwer, da die Straßen schachbrettartig angelegt sind und ein Haus dem andern gleicht. Die Bewohner machen ebenfalls nicht den Eindruck, als ob sie überwiegend italienischer Abstammung seien, mit Sicherheit ist viel Indianerblut eingeflossen. Mit großer Freundlichkeit begegnen die Einheimischen demjenigen, der ihrer Kultur Interesse entgegenbringt, und so geschah es mir, als ich unter dem Standbild des Stadtgründers und Konquistadors Aguirre, in kontemplative Betrachtung versunken, von einem Mann hellauf begeistert nach der Uhrzeit gefragt werde.
    Unser Camping-Platz am Fluß liegt im Schatten von "langnadeligen" Casuarinen, und der Río Dulce führt ungewöhnlich viel Wasser um diese Zeit, wahrscheinlich infolge der heftigen Niederschläge der vergangenen Tage. Auf der ihn überspannenden Brücke stehen am Abend die Fischer, arme und brave Leute, und werfen ihre Ruten aus. Große und prächtige Exemplare von Fischen sehen wir sie allerdings nicht herausziehen. – Nachdem wir in der Nacht die südamerikanische Fröhlichkeit aus den dröhnenden Lautsprechern der benachbarten Disco erfahren durften, fühlen wir uns am nächsten Morgen wie gerädert.

Nichts als Zuckerrohr

    Über Río Hondo verläuft unsere heutige Tagesroute, ein kurzes Stück nur, nach San Miguel de Tucumán, einem Zentrum der Zuckerrohrwirtschaft. Das Zuckerrohr wurde von Bischof Colombres eingeführt, in dessen Haus ein kleines Museum über die Zuckerrohrverarbeitung eingerichtet ist. Das Zuckerrohr gehört zur Familie der Süßgräser, der Poaceen. Saccharum robustum kommt noch heute in seiner Wildform in Neuguinea vor. Die Dächer der Eingeborenenhütten werden dort mit den Stengeln des Zuckerrohrs gedeckt. Alexander der Große lernte die Pflanze auf seinen Feldzügen kennen, die Araber brachten sie nach Europa. Ihr Verbreitungsgebiet stimmt in etwa mit dem der Palmen überein. Sie erreicht fünf bis neun Meter Höhe und wird bis zu zwanzig Jahre alt, die Blätter können zwei Meter lang werden. Es gibt zwölf verschiedene Unterarten des Zuckerrohrs, dessen herbe Stengel immer noch von Hand geschlagen werden. –
    Niemals in der Geschichte hat ein spanischer Herrscher seine Kolonien selbst besucht. Den Kolonien war es zunächst untersagt, Eisen zu produzieren, und auch der Handel und Anbau von Oliven war auf das Mutterland beschränkt. Später, als es im Ausland produzieren ließ, wurde Spanien durch den Reichtum seiner Kolonien arm. Der Handelsweg der Spanier war abstrus: von Sevilla, am Guadalquivir gelegen, gelangten die Waren nach Nombre de Dios, einem Räubernest, das später von Drake niedergebrannt wurde, sodann auf dem Königsweg nach Peru und von dort über Tucumán nach Buenos Aires, mit dem Erfolg, daß die Waren unwahrscheinlich teuer wurden, was in den Kolonien zu Unzufriedenheit führte.
    Die wohl schillerndste Figur der jüngeren argentinischen Geschichte ist zweifellos Juan Domingo Perón, der mit dem faschistischen Europa sympathisierende Diktator und Kinderschänder. Seine spätere Gemahlin Eva Duarte, vom Volk vergöttert und liebevoll Ewita genannt, wurde von Perón schamlos für seine politischen Zwecke ausgebeutet. Nachdem sich die beiden auf einem Ball kennengelernt hatten, ging Eva Duarte anschließend nicht in ihre Wohnung, sondern sie ging in die ihres späteren Gemahls, wo sie seine 13jährige Geliebte aus dem Hause ohrfeigte und an ihrer Statt auf ihn wartete. Dies brachte ihr in den vornehmen Kreisen von Buenos Aires den Ruf einer Prostituierten ein. Das Ende der Perón-Herrschaft endete damit, daß der Diktator von seinen ehemaligen Armeekollegen buchstäblich aus der Casa rosada hinausgebombt wurde. Perón ging danach zu seinem Freund Franco ins Exil. Seine zweite Frau, eine ehemalige Tingeltangeltänzerin, von Perón zur Vizepräsidentin ernannt, war nur mehr eine hilflose Marionette. Die Präsidentschaft ging nach der gewonnenen Wahl und nach dem Tode Peróns an sie über. Peróns wohl berühmtester Ausspruch war, er werde ganz Argentinien ausrotten, zuerst die Aufständischen, dann die Zaghaften, am Ende die Furchtsamen. Wegen der Kritik an seiner Regierung ließ Perón zahlreiche Regimegegner inhaftieren. Viele der Gefolterten wurden bei lebendigem Leib über dem Südatlantik aus dem Flugzeug gekippt.
    Am Ende seines Monologs meint unser Reiseleiter zynisch, er wisse gar nicht, warum wir Deutschen so stolz auf unseren Alexander von Humboldt seien. Der Universalgelehrte Alexander von Humboldt habe schließlich nur auf französisch publiziert und erst auf dem Sterbebett eine Übersetzung ins Deutsche genehmigt, denn er wollte in die französische Akademie der Wissenschaften aufgenommen werden, was ihm letztendlich auch gelang. –
    Im Gebiet von Río Hondo gibt es Thermalquellen, deren es im gesamten Andenbereich zahlreiche gibt. Über den zum See aufgestauten Río Dulce, der hier für die Stromerzeugung genutzt wird, gelangen wir in die Provinz Tucumán, die kleinste Provinz Argentiniens. Vor der Stadt, nach der die Provinz benannt ist, tauchen die ersten Berge auf. Unsere Durchquerung des Chaco haben wir damit glücklich hinter uns gebracht. Das Flußbett des Río Soli, welchen wir überqueren, ist mit reichlich Wasser gefüllt, da es in den Bergen wohl ordentlich geregnet haben muß.
    Tucumán führt den Beinamen "Garten der Republik", es hat seinen Namen nach dem indianischen Häuptling Tucumán. Die Stadt wurde 1565 von Diego de Villarroel gegründet. In Tucumán wurde am 9. Juli 1816 die Unabhängigkeitsakte unterzeichnet. Am Platz der Unabhängigkeit befinden sich mehrere alte Bauten, die architektonisch besonders interessant sind. Gegenüber der Kathedrale steht ein in der Art des Kolonialstiles errichtetes Gebäude, das mehrere Stile in sich vereint. Auch die vergitterten Fenster erinnern unmittelbar an die Kolonialzeit, ebenso die Balkone. Den gesamten Giebelfirst zieren die von der Gotik her bekannten fratzenhaften Figuren, wie sie nicht nur an den Kathedralen, sondern auch an Profanbauten angebracht waren. Zwei Putten über dem Giebelfenster, die ein Wappen in Händen halten, erinnern an den Barock. Links davon befindet sich ein Gebäude im Stil des Rokkoko, das einen sehr schönen Innenhof besitzt. Wiederum links von diesem steht ein Haus im neoklassizistischen Stil, und schließlich folgt zu dessen Linker ein weiteres, wie es für die faschistische Epoche Italiens zu Zeiten Mussolinis typisch ist. An der nächstgelegenen Straßenkreuzung steht die neoklassizistische Franziskanerkirche. Es folgt der vom Architekten Domingo Selva errichtete Präsidentenpalast. In der Congreso Tucumán befindet sich die Casa Avellaneda (Haus Nr. 56), die auf das Jahr 1836 datiert ist und in der Nicholas Avellaneda geboren wurde, der von 1874-1880 Präsident Argentiniens war und die Ausrottung der Chaco-Indianer angeordnet hat. Heute ist darin ein kleines Museum untergebracht. Etwas weiter, in der Casa Historica, die tatsächlich noch aus der Kolonialzeit stammt, tagte der Kongreß der Unabhängigkeitserklärung. Das nach außen relativ schmucklose Gebäude birgt in seinem Innern insgesamt drei Innenhöfe. Auf der gegenüberliegenden Seite, wo der Eingang zu den Pferdestallungen war, hängen an den Innenwänden Reliefs von Schlachtenszenen. Unweit von hier steht in der Straße des 9. Juli die Dominikanerkirche, die dem heiligen Thomas von Aquin geweiht ist und heute zur Universidad del Norte gehört. Ein typisches Beispiel für die Tucumánische Architektur des 19. Jahrhunderts ist die Casa de los Padilla, die ebenfalls einen sehr schönen Innenhof besitzt. Die Kathedrale heißt auch Kathedrale der eintausend Säulen. Unweit dieser findet sich schließlich die Mercedarierkirche, die Kirche des Gnadenordens.
    Hier in den Bergen um San Miguel de Tucumán haben sich in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Guerilleros verschanzt. Die Guerillagruppe der Montaneros, die in diesem Gebiet agierte, wollte seinerzeit mit Waffengewalt versuchen, das System zu verändern. Einer kleinen Zahl von Land-oligarchen stand eine Masse von verschuldeten Landarbeitern gegenüber, an die feudalen Verhältnisse der Kolonialzeit anknüpfend. Doch nicht nur die Militärs haben gemordet, vergewaltigt und gefoltert, sondern auch die extrem rechten und linken Gruppierungen der Guerilla. Der politische Dialog wurde anstatt durch Diskussionen mit der Waffe geführt. Mit dem verlorenen Malvinen-Krieg endete auch die Herrschaft des Militärs.

Zwischen Menhiren und Säulenkakteen

    Als wir am Morgen des Palmsonntags aufbrechen, eröffnet sich uns ein erster Blick auf die freier werdende Bergkette der Anden, die hier zwischen 4000 und 5000 m hoch sind. Wie eine Wand, so steil, ragen sie auf, und gespenstisch lichten sich davor die Nebel, während dahinter der blaue Himmel durchschimmert. Nun beginnt unsere eigentliche Andenüberquerung, es erscheinen die ersten schneebedeckten Berggipfel der Sierra Aconquija. Während an den Ostabhängen der Anden genügend Feuchtigkeit aufsteigt und abregnet, was dort ein üppiges Pflanzenwachstum hervorruft, sind die innerandinen Täler wesentlich trockener. Die Westseite der Anden hingegen ist völlig trocken. Hier liegen die niederschlagsärmsten Wüsten der Erde, etwa die Atacamawüste, wo es seit Menschengedenken, seit Beginn der Wetteraufzeichnungen, nicht geregnet hat.
    Links und rechts der Straße sehen wir bereits die ersten Inkalilien mit ihren weißen Blütenblättern, die zur Familie der Amaryllidaceen gehören. Die umgebende Natur ist ein Paradies für Epiphyten. Dies sind Pflanzen, die einen Baum nicht parasitär im Sinne eines Wirts benutzen, sondern sich seiner lediglich bedienen, um an ihm emporzuklettern und dadurch dem Licht näherzurücken. Üppig und urweltartig grün ist der Bewuchs, als wir uns auf einer Schotterstraße, die durch die Regenfälle der vergangenen Tage aufgeweicht ist, unter Schütteln und Schaukeln über Schlaglöcher hinweg auf schmaler werdender Straße in immer größere Höhen hinaufwinden, den Wildbach stets zu unserer Linken. Für Pkw mit niedrigem Radstand ist die Straße schier unpassierbar. Aufgrund von Murenabgängen sind Bulldozer am Werk, die Straße freizuschaufeln. Ein Fahrzeug vor uns gerät direkt in einen Steinschlag, die Heckscheibe wird zertrümmert. Leute versuchen das Fahrzeug anzuschieben. Die Wurzeln der Bäume sind nicht tiefreichend, aber weitverzweigt, ideal also, um von Schlamm- und Geröllmassen mitgerissen zu werden. Vor einem Hangrutsch geraten wir ins Stocken, nichts geht mehr. Noch immer lösen sich tonnenschwere Gesteinsbrocken, so groß wie ein kleines Fahrzeug, donnern unter Getöse und Krachen auf die Straße und blockieren den Weg. Was die Planierraupen bereits freigeräumt haben, wird erneut von Gesteinsmaterial zugedeckt. Stunden des Bangens und Wartens vergehen. Teilweise wirken die Minen ratlos und sorgenvoll, wir können aufgrund der Größe unseres Fahrzeugs weder wenden noch weiterfahren. Die Pkw haben es da leichter, sie können umkehren. Selbst der Reiseleiter, der sonst immer markige Worte in den Mund genommen hat, ist verstummt. Mich persönlich reut es jetzt, daß wir keine Vorräte und nichts zum Trinken eingekauft haben, Essen wäre jetzt eine angenehme Überbrückung. Einige, zu denen auch ich zähle, reißen makabre Witze. Als der Weg freigeschaufelt ist – drei Stunden hat es gedauert – ist uns zur Wahl gestellt, die steinschlaggefährdete Schneise entweder zu Fuß zu umgehen oder im Fahrzeug sitzenzubleiben. Die weitaus meisten folgen meinem Beispiel und waten zu Fuß durch die Schlammassen, stets in sicherem Abstand zur Gefahrenzone. Mit total verdreckten Stiefeln – manche tragen nur loses Schuhwerk – gelingt uns ein Hinüberkommen. Auch das Fahrzeug kann unbeschadet queren. Die anschließende Fahrt auf schmaler, jedoch teilweise befestigter Straße verläuft wirklich abenteuerlich. Ein Fußbreit daneben und wir lägen alle in der Schlucht. Dichte Wolken stauen die Feuchtigkeit, und obwohl wir schon über 1000 m an Höhe gewonnen haben, ist es ordentlich schwül. Tausendfältig verschiedene Pflanzen machen der sprichwörtlichen Grünen Hölle alle Ehre. Und schon stehen wir vor dem nächsten Erdrutsch. Dieser währt jedoch nicht lange.
    Schließlich, nachdem wir das Schlimmste hinter uns haben, kommen wir ins Gebiet der Menhire, die etwa ins 8. Jahrhundert n. Chr. datieren. Diese geheimnisumwitterten Monolithen können bis zu 3,50 m hoch sein. Einige der Menhire weisen eingemeißelte Gesichter auf. Es handelt sich bei dieser Megalithkultur um ein unbekanntes Volk, welches hier in prähistorischer Zeit ein astronomisches Zentrum errichtet hat, das vor allem der Beobachtung der Planetenbewegung diente. Über die wahre Bedeutung weiß man jedoch nichts Genaues, man ist auf reine Spekulation angewiesen.
    Mittlerweile haben wir die Baumgrenze erreicht, wo der Regenwald durch eine Grasbüschellandschaft abgelöst wird. Agaven und Säulenkakteen (Trichocereus) sind das Charakteristische dieser Landschaft. Die gelbblütigen Berberitzen bzw. Beisselbeeren stehen gerade in voller Blüte, auch die Yuccapalmen blühen. Am Stausee von El Mollar besitzen viele Stadtbewohner Wochenendhäuschen, in die sie entfliehen, wenn in Tucumán unerträgliche Temperaturen herrschen. Die Straße passiert in etwa 2500 m Höhe eine archäologische Stätte, die allerdings noch nicht ausgegraben ist, die aber als das Wohngebiet derer gilt, welche die Menhire aufgestellt haben. In geographischen Breiten wie dieser ist selbst in diesen Höhen noch Ackerbau möglich, die Nähe zum Äquator gleicht die Höhe aus. Hier reift der Mais bis auf 3800 m, die Kartoffel gedeiht noch in über 4000 m Höhe. Die Gegend, die jetzt kommt, heißt Abra del Infiernillo, die Paßhöhe liegt auf 3042 m über dem Meeresspiegel. Das Gestein steht dort in Sedimenten an; auch Tuffgestein, unter Druck geratene Vulkanasche, trifft man häufig an, da mit der Gebirgsbildung der Anden ein gewaltiger Vulkanismus einherging.
    Bald machen wir Bekanntschaft mit den ersten Lamas und Alpakas, die beide mit dem Kamel verwandt, jedoch kleinwüchsiger sind. Diese Tiere scheinen es zu lieben, wenn man ihnen einen Nasenkuß gibt. Die bunten Fäden, welche sie durch die Ohren gezogen haben, dienen dem Besitzer als Erkennungszeichen. Es gibt zwei Wildformen, das Vicuña und das Guanako. Es ist strengstens verboten, Vicuñas abzuschießen, denn beinahe wäre diese Art ausgerottet worden. Nach Überschreitung des Tafi del Valle zeichnet sich vor unseren Augen bereits das Tal des Río Santa María ab, das um diese Jahreszeit allerdings ziemlich trocknen ist. Dort bekommen wir den ersten Kondor zu Gesicht. Trotz seiner 3,50 m Flügelspannweite ist nicht er der Vogel mit den breitesten Schwingen, sondern das ist der Albatros mit vier Metern.

Von Inkas umgeben

    In Quilmes lebte ein Indianervolk – 25000 Menschen stark –, welches hier schon im Jahre 1000 n. Chr. ansässig war, in einer stadtähnlichen Anlage mit Mauern und Festungswerken. Den Inkas gelang es nie, die Stadt zu erobern. Selbst die Spanier brauchten viel Zeit, um Quilmes einzunehmen.
    Quilmes ist für uns der erste Höhepunkt auf dieser Reise, Río und die Iguaçu-Fälle nicht eingerechnet. Man hat sich die archäologische Stätte etwa wie folgt vorzustellen: Strategisch überaus günstig gelegen, schmiegt sich die Stadt harmonisch an einen Bergrücken, der von zwei Seitengipfeln flankiert wird. In einem Halbrund fügt sie sich zwischen die zwei Festungshügel ein, mit dem Rücken an die Felswände gelehnt, terrassenartig untergliedert nach Art eines Amphitheaters, dessen Sitzreihen den Terrassen entsprechen, und wie zu mehreren Stockwerken übereinandergesetzt. Beide Kuppen sind mit Wehranlagen überzogen, der Fortaleza del Norte und der Fortaleza del Sud. Auch auf dem zentralen Bergkegel hat man Festungsanlagen gefunden. Die Stadt gleicht somit einem uneinnehmbaren natürlichen Bollwerk. Die äußere Befestigung ist an die 4 ½ km lang. Eine unterirdische Wasserleitung führte einstmals aus den nahegelegenen Bergen frisches Quellwasser heran, so daß die Inkas, die nicht verstehen konnten, daß Wasser nicht von der Stelle geschöpft wird, wo die Ansiedlung liegt, sich wunderten, wie die Eingeschlossen so lange durchhalten konnten, und die Belagerung schließlich aufhoben. Ringsum war Quilmes von feindlichem Inka-Gebiet umgeben, aber seine Eroberung blieb den Spaniern vorbehalten, die die letzten hier noch ansässigen Familien verschleppten.
    In meinem Tatendurst stürme ich in der kurzen Zeit, die wir uns für die Besichtigung vorgenommen haben, hinauf auf die Fortaleza del Norte, wo sich mit steigender Höhe ein immer grandioserer Blick auf das unter uns liegende Ruinengelände eröffnet, eine Sicht wie aus der Vogelperspektive. Das Wettergeschehen hat sich zu einer märchenhaften Szenerie gewandelt, bizarre Erosionsformen, die in allen Farben leuchten, und die phantastische Welt der Riesenkakteen, die selbst vor dem Ruinengelände nicht halt machen, tun sich unter uns auf. Das glitzernde Gestein besteht aus Hornblende, Mauern und Gebäude sind aus ebendiesem Naturstein gebaut, durch Mörtel miteinander verbunden, und man darf nun seiner Phantasie freien Lauf lassen, um sich vorzustellen, wie diese majestätische Anlage einmal ausgesehen hat, bevor die Spanier sie eroberten. Es ist ein wahrhaft erhabenes Gefühl, dieses zu erleben, und allein dafür hätte die weite Reise sich schon ausgezahlt. Ach! bliebe uns doch nur etwas mehr Zeit zum Verweilen, zum Nachdenken und zur Besinnung. Doch wir hasten weiter, einem vagen Ziel entgegen, als läge die Welt schon morgen begraben.
    Zu Füßen der Anlage befindet sich ein kleines Museum, das ganz im Stil der dekorativen Elemente von Quilmes errichtet ist. In ihm sind die Stücke der Ausgrabung und die in der näheren Umgebung gemachten Funde ausgestellt, hauptsächlich Keramiken. Es gibt zweierlei Arten von Keramik, bemalte und geritzte, und viele Exponate sind innen poliert und von einer Ebenmäßigkeit, als wären sie mit der Töpferscheibe geformt. Aber die Indios kannten das Rad nicht und auch nicht die Scheibe und alles, was sich dreht. Als auffälliges Muster, mit dem auch die Vasen verziert sind, tritt immer wieder die Spirale in Erscheinung, die entweder als Schlangensymbol oder als Wellenmuster gedeutet wird, aber dies ist rein spekulativ, denn ihre wahre Bedeutung kennen wir nicht und werden sie vielleicht niemals ergründen. Vieles hat auch ein geometrisches Muster, und man unterscheidet rotgebrannte und schwarzgebrannte Keramik. Der Erhaltungszustand ist meist ausgesprochen gut, zumal es sich mehrheitlich um Grabbeigaben handelt. In den größeren Gräbern beerdigte man die Toten aufrecht sitzend. Zur Bearbeitung des harten Materials war überwiegend Werkzeug aus Obsidian in Gebrauch.

Die Schöne

    Kurz vor Cafayate erreichen wir die Provinz Salta. Sie grenzt an fünf argentinische Provinzen und an drei Länder. Sie erstreckt sich auch ins Tiefland hinab, wo noch wie einst Tiefland-Indianer leben: die Matakos, Chorotes, Chiriguanos. Die Indios wagen es aber nicht, sich bei Volkszählungen als Indios auszugeben, weil sie Repressalien fürchten, und lassen sich daher in den Registern als Mischlinge führen. Die Gegend rund um Cafayate ist Weinbaugebiet, wo auf den vulkanischen Böden des Calchaquí-Tales vor allem der Torrontés, ein ausgezeichneter Weißwein, gedeiht. Jedoch werden hier auch Rotweine gekeltert. Der Name Cafayate stammt aus der Sprache der Calchaquí-Indianer und heißt "Ort, an dem es alles gibt." Die Stadt wurde 1840 gegründet. Die Kirche ist fünfschiffig und wurde im neo-gotischen Stil errichtet. Der Ort macht insgesamt einen gepflegteren Eindruck, verglichen mit dem, was wir bisher gesehen haben. Auf der Plaza kann man die verschiedenen Weine kaufen, auch die Weinprobe ist gestattet.
    Man spürt nun den deutlichen Temperaturunterschied zum Tiefland. Es kann zwar am Tage relativ heiß werden, aber nachts kühlt es empfindlich ab. In der Nacht zeigt sich der südliche Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht. Über uns leuchtet in funkelndem Rot der Überriese Antares im Sternbild des Skorpions, und der Orion steht auf dem Kopf. Vor Sonnenaufgang ist die Venus gut zu sehen, und es ist völlig wolkenlos am Morgen. Links von uns befindet sich der schneebedeckte Vulkan Cachi, der um die 6720 m hoch ist. Bei Los Modenos, den Sanddünen, wo wir in der morgendlichen Kühle bei glasklarer Luft eine prächtige Fernsicht auf den Vulkan haben, machen wir halt. Später überqueren wir den Río Calchaquí. Ein anderer Fluß, der sogenannte Muschelfluß oder Río Conchos, dessen Tal sich zu einer grandiosen Schlucht verengt, mit von der Winderosion phantastisch geschliffenen Gebilden im weichen Tuff- und Porphyrgestein, ist nun einige Zeit unser Begleiter. Bizarr geformte, rot gezackte Felstürme tun sich vor uns auf, die unter dem tiefblauen Himmel zu einer kontrastreichen Komposition eines plakativen Farbenspiels geraten. Los Castillos, die Festungen, sind wildzerklüftete Naturburgen, die zu dieser frühen Stunde noch tief im Schatten liegen. Es ist eine Landschaft wie auf dem Mars, wo ständig starke Stürme toben, die dem Fels den typischen Windschliff verleihen, eine Welt, wasserlos, entrückt, scharfkantig und unnahbar. Viele Felsen sind durchlöchert, würden eine ideale Kulisse zu einem Monumentalfilm abgeben, wo Sklaven zum Bau von etwas ganz Großem gepeitscht werden. Ehrfurchtsvoll, in Kapuzen gehüllten betenden Mönchen gleich, schreiten wir schweigend hinab zum Cerro El Zorrito, und wir gelangen dorthin von El Obelisco, dem Obelisken, einer freistehenden Felsnase, einzigartig unter den übrigen Gebilden. Wahrlich, man müßte viel mehr Zeit erübrigen können für einen ausgedehnten Streifzug zu einer Erkundung all dessen, was es da zu sehen gibt, alle Felsen ersteigen und immer neue Ausblicke erhaschen, denn jene Felsgebilde zeigen von jeder Seite ein anderes Gesicht. Es muß hier, wenn man die richtige Tageszeit wählt, Orte geben mit ungeahnten Fotomotiven. Es ist eine wahrhaft wundersame Welt, diese Muschelschlucht, und nur das Paradies mag schöner sein, Helios über uns und Hades unter uns, eine Welt, die sich aus nur drei Farben zusammensetzt: dem roten Untergrund aus Gneis, dem dort, wo er gedeiht, wo Wasser fließt, in den Flußbetten, sattgrünen Bewuchs und dem tiefblau sich wölbenden, zumeist wolkenlosen Himmel. Kann es je einen stärkeren Kontrast geben? Nur das Gekreische der Papageien – man nennt sie hierzulande Smaragd-Sittiche – unterbricht die Lautlosigkeit. Welch ein Gegensatz zu den trüben, nassen Niederungen des Tieflands! An der Stelle Tres Cruces schweift der Blick weit hinab in das Tal des Río Concho, wo um diese Jahreszeit die Aloen schon verblüht sind. Sind es doch stets die Gegensätze, die der Mensch sucht! Wer am Meer lebt, bevorzugt das Gebirge, und wer im Gebirge wohnt, sehnt sich nach dem Meer. Mir fällt zu dieser Landschaft nichts anderes ein als die Grabinschrift Ewitas, die im Lied von Madonna ihren wohl schönsten Ausdruck gefunden hat: "Don‘t cry for me, Argentina."
    Am unteren Ende der Quebrada de las Conchas liegt der kleine Ort Alemania, wo allerdings nie, wie manche meinen, Wein angebaut worden ist, wohl aber einige Hippies wohnen, die vom Kunsthandwerk leben. Dieses Alemania liegt in einem Trockenflußtal. An der Straße blühen Blumen mit gelben, glockenförmigen Blüten: es ist die sogenannte Cantuta; sie ist die Nationalblume Perus, allerdings in ihrer rotblühenden Form. Die Vegetation wird dichter, je weiter wir die Schlucht herabkommen. Am Straßenrand spielt ein Indio auf einer Charango, einem Saiteninstrument, dessen Klangkörper aus dem Panzer des Gürteltiers, einer geschützten Art, hergestellt wird. – Der Stausee von Cabra Corral, an dem wir bald vorbeikommen, dient vornehmlich der künstlichen Bewässerung. Auf den La-Cornisa-Bergen, die um die 3000 m hoch sind, liegt noch Schnee, was darauf hindeutet, daß es in diesem Sommer stark geregnet hat. Die Provinz Salta trägt auch den Beinamen La Linda, die Schöne; ihre Fahne ist rot-schwarz. Bis wir die gleichnamige Stadt erreichen, verläuft die Fahrt durch uninteressantes Kulturland. Wir befinden uns hier in einer Region, in der Tabak angebaut wird, den man erst nach Kolumbus in Europa eingeführt hat. Er wird von unten nach oben geerntet, und die unteren Blätter der Tabakpflanze sind zugleich die wertvolleren.
    Die Stadt Salta, durch die der Río Arenales fließt, wurde 1582 von Hernando de Lerma gegründet. Ihre Anlage, in etwa 1000 m Höhe gelegen, entspricht genau der Festlegung Philipps II.: um einen Hauptplatz konzentrieren sich die Straßen, schachbrettartig angeordnet, getreu dem hippodamischen Prinzip, nach dem in der Antike die Städte Milet und Priene angelegt waren. Der Cabildo, das alte Rathaus, stammt aus dem 17. Jahrhundert. Von kunstgeschichtlichem Interesse in Salta sind die im neoklassischen Stil erbaute, prächtig ausgestattete Kathedrale sowie die ebenfalls im neoklassischen Stil gehaltene, bedeutend bescheidenere Franziskanerkirche, die mit 54 m Höhe den höchsten Kirchturm Südamerikas besitzt. Bedingt durch die Armut, sind die hiesigen Menschen gläubiger als bei uns, und die Reichtümer, welche die Kirchen Südamerikas angehäuft haben, sind ein Hohn auf die Besitzlosen. Man kann sich lebhaft vorstellen, in welchem Überfluß die Geistlichen gelebt haben müssen, wenn schon ihre Gotteshäuser derart prunkvoll ausgestattet waren. Und wo wir gerade dabei sind: heute mittag haben wir endlich das langersehnte argentinische Rindersteak in gewohnter Qualität gegessen, zart und innen blutig, und das Ganze zu einem vertretbaren Preis von 10 US$ inklusive Getränk. bekanntlich sind die Argentinier eine Fleischfressernation, denn jeder erwachsene Argentinier verzehrt im Schnitt etwa 1 kg Fleisch pro Tag (kaum zu glauben, aber so wird es berichtet). Die für die Zubereitung des gegrillten Fleisches, welches man Asado nennt, erforderliche Holzkohle wird in den Kohlemeilern des Chaco gewonnen.
    Vor dem Archäologischen Museum der Stadt steht ein Reiterstandbild von Güemes, einem Gaucho-Führer, der mit seinen Infernales den Royalisten schwer zu schaffen machte. Manchmal, wenn die Leute in Argentinien einen Reiter sehen, glauben sie, daß es sich dabei um einen Gaucho handele. Gauchos gibt es jedoch schon seit Ende des vorletzten Jahrhunderts nicht mehr, sondern es handelt sich um sogenannte Peóns, zu deutsch Viehtreiber. Gauchos waren wilde Gesellen, die aus Verbindungen zwischen weißen Vätern und indianischen Müttern hervorgingen und die aus beiden Gesellschaften ausgestoßen waren, weil ihre Eltern einen Tabubruch begingen. Die in der argentinischen Literatur beschriebene Gaucho-Romantik hat es nie wirklich gegeben, denn die, die diese Bezeichnung dereinst führten, waren in der Regel rauhe Gesellen, die Dörfer überfielen, Vieh raubten, die Weißen ermordeten und ihre Frauen vergewaltigten. – Im Museum finden sich Fundstücke präkolumbianischer Epochen. Die Gefäße sind entweder antropomorph oder zoomorph ausgeführt, schwarzgebrannte Keramiken mit Ritzdekor weisen vielfach Schlangenmotive auf. Auch Muscheln oder Korallen wurden bearbeitet, als Währung galten Türkise und Salz. Der Lapislazuli wurde auf der chilenischen Seite der Anden gefunden. – Die Nahrungsbeschaffung war im Hochlandbereich wesentlich einfacher als im Tiefland, als Speisen dienten Hirse, Mais, Kartoffeln und Chilischoten. Auch den Mais, der bislang in Europa nicht bekannt war, verdanken wir der Entdeckung Amerikas, und die Kartoffel hat ihren Ursprung auf der Insel Chiloé. Die Aschote-Nuß hingegen dient zum Einfärben der Haut.
    Auf den Cerro San Bernardo führt eine Seilbahn hinauf. Mit dieser erreicht man in etwa zehn Minuten den Gipfel des Hausberges von Salta. Die beste Aussicht auf die majestätische Bergwelt dürfte man wohl am Vormittag haben, da dann zum einen kein Gegenlicht herrscht und sich zum zweiten am Nachmittag meist Quellwolken bilden, die die Berge ganz oder teilweise einhüllen. – Salta ist überdies bekannt für seinen berühmten "Zug in den Wolken", dieser sollte Salta mit Antofagasta verbinden; 1929 war das erste Teilstück fertig. Der Adhäsionsantrieb läßt auf einer Strecke von 1000 m nur eine Steigung von 25 m zu (2,5%). Der Zug braucht für diese 900 km lange Strecke, die auf Höhen von 4500 m führt, drei Tage, und er verkehrt nur sehr selten.
    Wegen seiner Erdgas- und Erdölvorkommen zählt Salta zu den reicheren Provinzen Argentiniens. Das Land kann seinen Bedarf an Erdöl und Erdgas selbst decken. – Agrarisch befinden wir uns mit dieser Region in einem Coka-Anbaugebiet. Während der Anbau von Cokablättern und der Handel damit in Argentinien unter Strafe gestellt ist, ist ihr Genuß in Bolivien erlaubt. Allerdings versucht dort die Regierung, den Anbau durch gewaltsame Maßnahmen einzudämmen. Auch den Inkas war es nicht erlaubt, Coka zu kauen; lediglich die "Spitzel" des Herrschers durften dies tun. In Cuzco waren zur Zeit der Inkaherrschaft geschlossene Türen verboten, so daß die Wächter an allen Türen lauschen konnten, ob nicht drinnen etwas gegen den Herrscher gesagt würde. Ein schlimmeres Bespitzelungssystem konnte man sich selbst zu Nazi- oder SED-Zeiten kaum vorstellen.

Von Gringos und Campesinos

    Unser Reiseleiter ist ein gewaltiger Hüne, einer jener Recken aus dem Hohen Norden, die Erinnerungen an den Raubzug der Wikinger wachrufen. Seine lange blondgelockte Mähne, sein kurzgeschnittener Bart, das selbstbewußte Auftreten und sein Ohrring deuten an, daß er nicht frei von Eitelkeit ist. Von Geburt Österreicher, gibt er als Heimat den Sauwald an, irgendwo zwischen Mühl- und Innviertel gelegen, und mit einem Ausdruck von Stolz weist er auf die rauhen Sitten hin, die dort herrschen. Er habe aber noch keinen gefressen, und niemand brauche sich vor ihm zu fürchten, wirft er mit kehlig-heiserer Stimme zu unserer Beruhigung ein. Auch scheint es sein besonderes Anliegen zu sein, die Andersartigkeit eines jeden in der Gruppe zu dulden, worauf er gleich in seiner Antrittsrede hinweist. Seine kleine Gruppe von Gefolgsleuten beherrscht er durch einen autoritären Führungsstil, der ihm wohl von Geburt oder durch ein hartes Leben zu eigen ist, welches er in dieser Form seit zwanzig Jahren führt. Wehe, wenn es jemand wagen sollte, seinen Ausführungen nicht zu folgen oder sich gar selbständig zu machen! Die ganze Gruppe hätte dann darunter zu leiden. Seine Vorträge hält er weitgehend frei, und sein Wissen ist beeindruckend. Ich denke mir, was ein Mensch von seiner Begabung ausgefressen haben muß, um sich einer solchen Lebensweise zu unterziehen, denn er führt ein selbstzerstörerisches Leben, das schon am Morgen von der Flasche geprägt ist, von immerwährendem Zigarettenkonsum. Ein Glück für uns, daß Körperpflege und Reinlichkeit zu seinen Tugenden zählen. Der Mann ist gerade einmal so alt wie ich, aber ungleich stärker vom Verschleiß gezeichnet. Zuhause hat er ein Weib und einen Sohn, die er aber, ständig auf Wanderschaft – wie es für alle Angehörigen der germanischen Völkerschaften typisch ist –, nur selten sieht. Alles in allem ein rauher Krieger, der einen verzweifelten Einzelkampf führt, und, einem Kreuzritter gleich, nicht ohne äußeres Zeichen von Frömmigkeit und Mildtätigkeit gegenüber den Armen! Anstatt eines ordentlichen Frühstücks begnügt er sich meistens mit einer Tasse Kaffee, und dazu raucht er seine obligatorische Zigarette auf nüchternen Magen. Mit einem ohnehin starken Hang zum Trinker ist ihm, um von seinem Suchverhalten abzulenken, auch ein Glas Mate-Tee eine willkommene Abwechslung.
    Nach einer Stunde Fahrtzeit verlassen wir die Provinz Salta und kommen in die Provinz Jujuy. Mehr als 60% der Einwohner sind Mestizen. – Es war des Inkas Gewohnheit, Menschen umzusiedeln. So wurden Indios vom Titicacasee nach hierher verpflanzt. Die Bevölkerung weist auch einen deutlich stärkeren indianischen Einschlag auf. Die Indios werden heute Indigeñas oder Campesinos genannt, der Terminus Indio wurde in Bolivien abgeschafft. Wer sie "Indios" nennt, macht sich verdächtig. Das Wort Gringo, "Ausländer", ist allerdings kein Schimpfwort, das Wort Yankee-Gringo allerdings sehr wohl. Durch derartige Maßnahmen versucht die einheimische Bevölkerung anscheinend, sich selbst aufzuwerten, wobei man ihr die Abstammung vom "Indio" ja unstreitig ansieht.
    Vor Jujuy wird die mautpflichtige Straße zur Autobahn ausgebaut. Das Straßennetz Argentiniens ist fast ganz in privater Hand. San Salvador de Jujuy, am Río Grande und Río Chico gelegen, wurde 1565 erstmals gegründet, 1575 wiederholt und 1593 durch Don Francisco de Anaganioris zum drittenmal, diesmal auf Dauer, ohne daß es von den Indianern wieder zerstört worden wäre. Auch hier wird noch das Quechua, die indianische Sprache, gesprochen. Auf dem Hauptplatz, der Plaza Belgrano, steht das Standbild dieses Unabhängigkeitskämpfers und Generals. Auf ihn, einen Mann, der alle Schlachten, die er schlug, bis auf die Schlacht von Tucumán verloren hat, gehen die Flagge und das Wappen Argentiniens zurück. Nur noch der Cabildo mit seinen Kolonnaden stammt aus der Kolonialzeit. Auch ein Brunnen mit einer Statue des Erzengels Michael steht dort. Die Kathedrale ist, wie so oft, im neoklassischen Stil erbaut. Das Regierungsgebäude erinnert an das Château d‘Osuy in der Nähe von Paris. Justitia mit der Waage und dem Schwert und Merkur der Götterbote zieren als Plastiken die Frontseite des Gebäudes. In der Kathedrale ist die geschnitzte Kanzel, auf welcher Jakob auf der Himmelsleiter dargestellt ist, bemerkenswert. Vor der Stadt liegen die Elendsviertel, die sogenannten Baniis, die früher zumeist auf öffentlichem Boden errichtet waren und daher einfach mit Bulldozern weggeschoben wurden. Heute nimmt man davon Abstand; man versucht eher, diese in normale Wohnviertel umzuwandeln.
    Durch das zunächst weitläufige, dann rasch enger werdende Tal des Río Grande, der um diese Jahreszeit kein Wasser führt, fahren wir stetig bergan in die Quebrada de Humahuaca. Wo anfangs noch üppiges Grün vorherrschend war, verliert sich die Vegetation allmählich in der Baumlosigkeit, und nur noch Büsche gedeihen dort und Gräser. Auch die alte Eisenbahnlinie nach La Paz wurde aufgelassen, auf der bolivianischen Seite verkehrt sie allerdings noch. Noch ist die Straße nicht asphaltiert. Immer wieder sieht man Murenabgänge, d.h. daß es im Sommer gewaltig geregnet haben muß. Wir kommen nun wieder in das Gebiet der Säulenkakteen, die sich gegenwärtig zu Füßen einer Erosionsformation hinziehen. Cardones (Trichocereus pasacana), wie sie auch genannt werden, werden bis zu 8 m hoch. Sie gehören zur Familie der Sukkulenten und können in extrem wasserarmen Gebieten überleben. Wenn ein Kaktus abstirbt, verholzt er.
    Das weiße Argentinien liegt nun endgültig hinter uns, wir befinden uns im Gebiet der Quiu-Indianer, deren Lebensgewohnheiten deutlich anders sind als die der weißen Argentinier. Sie leben noch in Häusern aus Lehmziegeln ohne jede Beheizung. Bettgestelle sind ihnen unbekannt, man schläft auf dem Boden, nur von einer Lamadecke gewärmt. Die Häuser haben meist nur einen einzigen Raum, die Feuerstelle ist außerhalb des Hauses. Lasten werden im andinen Bereich zumeist auf dem Kopf getragen. Die Felder werden teilweise noch mit Harkpflügen und Ochsen bestellt. Traditionelles Nahrungsmittel ist der Mais, das indianische Maismehl heißt Chicha. Da Wasser in dieser Höhe bereits bei 85 °C siedet, muß man stundenlang kochen, bis die Gerichte gar sind. Fleisch wird in dünne Streifen geschnitten und luftgetrocknet, ähnlich dem Biltong in Afrika. Das in Streifen geschnittene Fleisch wird an Leinen zum Trocknen aufgehängt. Der erste Schluck, der getrunken wird, wird auf den Boden gekippt, da die Erde als Pachamama, als Große Mutter, angesehen wird. Auch Pachacámac, der Erderschaffer, will versöhnt werden. Niemand würde einen Spaten anfassen, um ein Haus zu bauen, wenn nicht vorher ein Opfer dargebracht wurde. Sind die geopferten Speisen verfault, ist dies ein gutes Zeichen, ist dies jedoch nicht der Fall, so wurde das Opfer nicht angenommen. Auch Haustiere werden gehalten. Bereits vor Ankunft der Spanier kannten die Indios den sogenannten spanischen Nackthund, der eine höhere Körpertemperatur hat als unsere Hunde. Dazu gesellen sich Truthahn und Meerschweinchen, die vor der Entdeckung Amerikas in Europa unbekannt waren.
    Als auch der Pflanzenwuchs aufhört, treten farbige, mineralhaltige Einschlüsse hervor. Graublaue Stellen sind kupferhaltig, weiße deuten auf Gips oder Kaolin hin, schwarz-rote auf eisenhaltige Verbindungen und gelbe auf Schwefel. Erneut tauchen neben der Straße alluviale Erosionsformen auf, Bilder wie aus dem Märchen. Vom Friedhof von Maimara hat man einen wunderschönen Blick auf den Berg der sieben Farben, den Cerro de Sette Colores.
    Die Pucara von Tilcara – beides sind Wörter aus dem Quechua –, eine alte inkaische Festung, hebt sich kaum gegen den Hintergrund ab. Außerdem sind nur mehr die Grundmauern erhalten. Von hier aus ist es nicht mehr weit bis zum Wendekreis des Steinbocks. Wir fahren heute bis Huacalera, das genau am Wendekreis liegt, und nächtigen direkt an der Straße bei einer Indio-Familie. Am Monument des Wendekreises gedeiht immer noch Pampa-Gras. Nachts kann es sehr kalt und sehr windig werden. Etwa eine halbe Stunde nach Sonnenaufgang legt sich der Wind meist.
    Noch immer im Tal des Río Grande, verläuft unsere Fahrt am nächsten Morgen weiterhin bergan, während sogleich im morgendlichen Sonnenlicht der rote Untergrund des Gesteins linker Hand in einem überwältigenden Karminrot erstrahlt: eine Symphonie der Farben im zerrissenen Fels.
    In Humahuaca findet sich ein nach meinem Dafürhalten nicht sonderlich spektakuläres Mahnmal für die Helden der Unabhängigkeitsbewegung, das sogenannte Indio-Denkmal. "Rom kommt von Romulus, Bolivien kommt von Bolivar", beginnt unser Reiseleiter in seiner betont markigen Ausdrucksweise seine Einführung in die Befreiungskämpfe Lateinamerikas. "Ich werde nicht eher ruhen, bis ganz Amerika von den Spaniern befreit ist," soll Bolivar anläßlich eines Besuchs auf dem Gianicolo in Rom gesagt haben. Von ihm stammt auch der berühmte Ausspruch: "Ich habe versucht, den Ozean zu pflügen." Bolivar starb 1831 völlig vereinsamt an der Tuberkulose. Alle großen Befreier Südamerikas waren Freimaurer und durften somit nicht kirchlich beigesetzt werden.
    Die Straße steigt nun stark an. Ein letzter Blick zurück auf die Quebrada de Humahuaca macht deutlich, welche Höhe wir bereits erreicht haben, nämlich mehr als 3000 m. Die Welt sieht hier fast mittelgebirgsähnlich aus, nirgendwo finden sich markante Erhebungen, die Vegetation ist auf ein Minimum reduziert, Sträucher und Kakteen dominieren, und der nackte Boden tritt offen zutage. Es ist schier unglaublich, wie diese Kakteen noch aus den steilsten Felswänden sprießen. Selbst der Himmel hat mittlerweile sein Aussehen verändert, über uns wölbt sich ein Firmament eisiger Cirren.
    Aus berufenem Munde werden wieder erschütternde Wahrheiten enthüllt: Lateinamerika sei von Korruption durchsetzt. Ein Betrugsskandal in Höhe von 15 Millionen US$ war es, welcher zuletzt aufgedeckt wurde. Allein die Präsidenten haben sich während ihrer Amtszeiten um hunderte Millionen Dollar bereichert. Man munkelt sogar, daß Fujimori 250 Millionen Dollar in 46 Koffern außer Landes gebracht haben soll, zumal man keine Auslandskonten von ihm gefunden hat. Da die Staatsdiener nicht angemessen entlohnt werden, sind sie gezwungen, sich darüber hinaus ein entsprechendes Zusatzeinkommen zu verschaffen. Der Staat weiß dies und toleriert es. Ein Führerscheinentzug etwa ist mit langem Schlangestehen verbunden. Gegen ein entsprechendes "Angebot" können selbst Strafzettel umgangen werden. Wer in Südamerika leben will, muß Kontakte pflegen. Nur durch Beziehungen kommt man weiter. Diese beschränken sich allerdings auf die oberen Schichten. Behördengänge werden vom sogenannten "Patron" erledigt, da seine Arbeiter als kleine Leute nichts erreichen würden.
    Wir gelangen nun wieder in ein Gebiet mit sehr buntem Untergrund. Unser Weg schlängelt sich parallel zur Eisenbahnlinie durch eine Schlucht, und wieder harren unser spektakuläre Felsbänderungen. Auch wurden durch Windverfrachtung Sanddünen an den Abhängen abgelagert, wo sie sich gelb bis rötlich gegen das Gestein abzeichnen. Besonderes Augenmerk verdient ein phantasievolles Gebilde, das die Gestalt ineinander verschlungener Robbenkörper hat. Als wir die Abhänge des Nevado de Chañi passiert haben, tauchen nach längerer Zeit wieder schneebedeckte Berge auf, die bis zu 5800 m hoch aufragen. Noch in 4000 m Meereshöhe kann man hier Tiefseeablagerungen finden, die im Zuge der andinen Faltung auf dieses Niveau angehoben wurden. In der Nähe von Tres Cruces, an dem wir gerade vorüberfahren, liegt eine Grenzkontrollstelle. In unmittelbarer Nachbarschaft befindet sich eine Mine, wo unter amerikanischer Leitung Zink und Blei gefördert werden. In 3800 m Höhe erreichen wir die erste Boumilla, dies sind Hochtäler, die mit Erosionsmaterial angefüllt sind. Hier begegnet uns erstmals auch eine größere Herde von Lamas und Alpakas. Letztere sind eine Mischung des Lamas mit dem Schaf und können sich nicht weitervermehren.
    Auf staubiger Piste nähern wir uns unaufhaltsam der bolivianischen Grenze. In Abra Pampa gibt es noch einen alten Bahnhof der bolivianischen Eisenbahn zu sehen. Auf der Weiterfahrt begegnet uns ein Zug, der Erz verfrachtet, was geradezu einer Seltenheit gleichkommt. Gegen Mittag erreichen wir La Quiaca, die nördlichste Stadt Argentiniens und ein lichtdurchfluteter Ort, in dem fast ausschließlich Indios leben. Ich habe in dieser Höhenlage nicht mit solchen Temperaturen gerechnet und bin für 25 °C viel zu warm angezogen. Die Temperaturen im Hochland können zwischen +30 °C am Tag und -15 °C in der Nacht schwanken. Die Grenzabfertigung in Villazón verläuft recht zügig; innerhalb einer Stunde ist alles geschehen, allerdings werden hinter der Grenze die Straßen bedeutend schlechter.
    Einiges zur Landeskunde: Bolivien ist präsidiale Republik, Präsident ist der ehemalige Diktator Hugo Banzer Suárez, Nachfahre deutscher Einwanderer. Es gibt in Bolivien auch eine Partei der Analphabeten, denn seit der Freitagsrevolution sind auch diese wahlberechtigt. Bolivien ist ringsum von Staaten eingeschlossen, es hat im sogenannten Salpeterkrieg mit Chile seinen Zugang zum Meer verloren. Chile ist bislang nicht bereit, die besetzten Gebiete zurückzugeben, da dort die größten Kupfervorkommen beider Staaten liegen. Der Nevado de Sajama ist mit seinen 6520 Metern der höchste Berg des Landes, die Landesflagge ist rot-gelb-grün. Der Zeitunterschied zu Deutschland beträgt in Bolivien sieben Stunden.
    Nach Schätzungen leben heute knapp 8 Millionen Einwohner in Bolivien, davon sind 41% jünger als 15 Jahre. Da sich die Bevölkerung auf die großen Städte verteilt, bleibt für das Hinterland nicht mehr viel übrig. 80% der Bevölkerung leben im Hochland, 65% sind ketschuasprachige Indios, 30% Mestizen, 1% Mulatten und 4% Weiße. Spanisch sprechen nur etwa 50% der Bevölkerung. Bolivien zählt mit Haiti zu den ärmsten Ländern Lateinamerikas. Mehr als 60 % der bolivianischen Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze, und das Land steht vor einem Bürgerkrieg. Sehr viele Menschen wandern aus den Dörfern ab in die Slumviertel der Großstädte, wo sie dann das Lumpenproletariat stellen.
    Die Häuser der Armen sind mit Icho-Gras gedeckt – so nennt man das Büschelgras des Hochlandes – und haben keinen Schornstein, die luftgetrockneten Adobe-Ziegel dienen als Bausubstanz. Als Brennmaterial wird Lama-Dung verwendet, der Rauch zieht durch das Grasdach ab, was das Innere zugleich von Insekten reinigt. In ihren Behausungen leben die Menschen ohne Heizung, denn daran besteht kein Interesse.
    Es ist völlig unmöglich für einen Weißen, die Mentalität eines Indios verstehen zu wollen. Abstrakt zu denken ist dem Indio nahezu unmöglich, er besitzt völlig andere Denkmuster. Auch arbeitet der Indio nur soviel, wie er zum Leben unbedingt braucht. Junge Paare führen zunächst Ehe auf Probe. Das Kennenlernen sieht folgendermaßen aus: Interessiert sich ein junges Mädchen für einen Burschen, nimmt sie einen Spiegel und blendet ihn damit. Interessiert er sich dann für sie, bewirft er sie mit Steinen, jedoch nicht, um sie zu verletzen. Danach zerrt er sie ins Gebüsch, keine besonders romantische Vorstellung! – Die Indiofrauen tragen als Kopfbedeckung Melonen, und ihre Röcke bestehen aus bis zu sieben Einzelteilen. Kinder werden bis zum Alter von zwei Jahren gestillt.
    In dieser Gesellschaft hat der Mann das Sagen. Die Frau akzeptiert, daß ihr Mann betrunken nach Hause kommt, sie schlägt, eine andere Frau hat, und es ist schwer, einen Grund hierfür zu finden außer dem, der in der gesellschaftlichen Tradition begründet liegt. Ein anderer möglicher Grund ist, daß eine Frau ohne Mann in der Gesellschaft nicht anerkannt wird. Das Gesetz wurde nun dahingehend geändert, daß Gewalt in der Ehe ein Straftatbestand ist und zur Anzeige gebracht werden kann. Einen Aufschrei gab es, als Pfarrer Obermeier lautstark verkündete, daß die Frauen "sich nicht so haben sollten," denn es gebe ja schließlich einen Grund, wenn ein Mann seine Frau schlage.
    Wie überall in Südamerika mischt sich auch in Bolivien die Kirche mit ihrer sogenannten Befreiungstheologie arg ins politische und soziale Geschehen ein, was von der katholischen Kirche durchaus nicht gutgeheißen wird. So wurden verschiedene lateinamerikanische Theologen mit Publikationsverboten belegt, damit der Papst weiterhin die uneingeschränkte Vermehrung predigen kann, was angesichts der schwerwiegenden Probleme in diesem Land fast einem Frevel gleichkommt. Wenn man jedoch sieht, welchen Zulauf die katholische Kirche in Südamerika immer noch hat, bleibt kaum Hoffnung darauf, daß sich die Verhältnisse hier schnell ändern oder jemals zum Besseren wandeln könnten.

Goldfluß

    Noch immer bewegen wir uns parallel zu Eisenbahn. Nach eintöniger Fahrt tut sich das Tal des Río San Juan del Oro unter uns auf, über dem schwere Niederschläge niedergehen, die schwarzen Berge im Hintergrund bilden dazu eine spektakuläre Kulisse. Über uns spielen sich die Naturgewalten ab, ein Gewitter steht fast senkrecht über uns, es donnert und blitzt, aber der Regen hat uns noch nicht erreicht. Es ist ein wahrhaft gespenstisches Szenario, wie riesenhafte Kakteen unter blendend-weißen Wolken einerseits und unter von Blitzen durchzuckten schwarzen Wolken andererseits sich wie durstige Kehlen gen Himmel recken und in der Ferne der 6020 m hohe, schneebedeckte Vulkan der Neuen Welt (Cerro Nuevo Mundo) sich ankündigt. Romantisch windet sich die ehemalige Bahnstrecke um die Hügel, einmal ganz zu sehen, ein andermal dem Blick entzogen. Wir nächtigen an diesem Tag in freier Natur im Tal des Río del Oro, zu Füßen phantastisch geformter Erosionen, direkt im ausgetrockneten Flußbett. Die Goldfunde waren rasch erschöpft, aber der Name, den die Spanier überschwenglich verliehen, ist geblieben.
    In der Nacht brennt das Lagerfeuer rasch nieder, denn geeignetes Brennmaterial findet man in dieser Höhe kaum. Im Wetterleuchten werden unter dem Einfluß des Weines alte Lieder gesungen, die wehmütig an längst vergangene Zeiten erinnern. Beim Genuß des Alkohols entfacht sich eine Diskussion mit dem Reiseleiter. Dieser behauptet, daß nachwachsende Rohstoffe wie Tabakblätter und Holz bei der Verbrennung zu einer Anreicherung des CO2-Gehaltes der Luft führen, was natürlich blanker Unsinn ist, aber er beharrt rechthaberisch auf seinen Thesen. Erstmals wird mir klar, daß er sein Wissen nicht auf einer Höheren Schule erworben haben kann und von Naturwissenschaften wenig Ahnung hat, dafür aber eine gute Portion Arroganz, die in persönlichen Beleidigungen gipfelt. Ich schätze es immer ganz besonders, wenn mich Laien über das eigene Fachgebiet aufklären oder mir Dinge erzählen, die eigentlich jedes Schulkind weiß.
    Als wir am Morgen des Gründonnerstags aufbrechen, steht uns erneut ein anstrengender Tag bevor. In der aufgehenden Sonne, im ersten Lichtstrahl, nachdem der Morgenstern versunken ist, entfaltet das von Spalten, Kaminen, Felstürmen und Pilzfelsen übersäte Steilufer des Goldflusses seine volle Pracht. Zunächst durchqueren wir ein Gebiet wilder Schluchten und Bergzüge, bis wir an den Zusammenfluß des Río del Oro mit dem Río Tupiza kommen, wo gewaltige Basaltmassive die Landschaft geformt haben. Wir folgen fortan dem Río Tupiza flußaufwärts, einem an Wildheit einzigartigen Flußlauf. An einem Tunnel, den wir bald darauf erreichen und der mehrere Felsdurchbrüche aufweist, lassen sich spektakuläre Photos schießen. Basaltformationen wechseln mit zu Brecchien verbackenen Konglomeraten ab, die von der Winderosion nicht weniger wild geformt wurden. Wären da nicht der grüne Bewuchs und der blaue Himmel, könnten wir uns auf den Mars oder einen seiner Monde versetzt fühlen.
    Hinter der Brücke über den Río Tupiza erblicken wir links auf einer Anhöhe ein Bild der "Jungfrau vom Stollen", der Schutzpatronin der Bergleute, die hier verehrt wird. Im Ort herrscht Markt, Indio-Markt. Ein mittelgroßer Europäer hat alle Mühe dort, ohne den Kopf einziehen zu müssen, unter den Zeltüberdachungen hindurchzugehen, zu niedrig sind die Gestelle errichtet; nur Indios, die entsprechend klein sind, können ungehindert durchschlüpfen. Tupiza ist berüchtigt dafür, daß sich hier von Nordamerika unterstützte Sektenangehörige der Methodisten und Adventisten bemühen, unter der indianischen Bevölkerung Opfer zu finden. Angesichts der unbeschreiblichen hygienischen Verhältnisse ist es kein allzu großes Vergnügen, hier länger zu verweilen. Wir decken uns mit dem Nötigsten ein, was gerade für ein Picknick reicht, und fliehen den Ort.
    Man hüte sich davor, das Gebiet des Salzsees von Uyuni aufzusuchen, denn dort besteht Gefahr einzusinken. Der Boliviano ist es gewohnt, daß er, wenn Regenfälle die Straße unpassierbar machen, für Wochen hier festsitzt. Per Anhalter fahren kennt man hierzulande nicht; wer nicht zahlen kann, fährt nicht mit. In Bolivien gibt es für ein Fahrzeug – es sei denn, man befindet sich im Altiplano – nur zwei Möglichkeiten: entweder es geht bergauf oder es geht bergab! Dabei passiert es häufig, daß Lkws und Busse verunglücken, und meistens kommen dabei Menschen ums Leben. Die Straße ist kaum breit genug für ein Fahrzeug, geschweige denn, daß zwei Lkw aneinander vorbeikämen. Glitzernder, stark erodierter, brüchiger Basaltschiefer umgibt uns. Immer wieder kommen wir an aufgegebenen Gehöften vorbei, und immer wieder fällt der Blick in die Schlucht, während wir von dichten Staubwolken eingehüllt werden. Man muß dankbar sein für jedes Fahrzeug, welches nicht entgegenkommt.
    Zwischendurch wechselt das Landschaftsbild, und es wird eben; ausgedehnte, mit Grasbüscheln übersäte sandige Böden prägen diese Landschaft; nur ab und zu sind sanfte Hügel eingebettet. Natürlich besitzt Bolivien auch viele nichtssagende und hassenswerte Landschaften. Im Schatten von Dornbuschakazien – aus den Schoten dieser Akazie wird ein Likör gewonnen, der als Aphrodisiakum gilt – nehmen wir unser bescheidenes Picknick ein: Brot, Wasser und Bananen, während sich über uns labile Luftmassen zu massiven Gewitterwolken auftürmen.
    Wir kommen nun durch das am gleichnamigen Fluß liegende Städtchen Cotagaita, das 1576 gegründet wurde. Der nächste Fluß, den wir auf einer hölzernen, wackligen Brücke überqueren, ist der Río Camaillo ó Quince. Es ist ungewöhnlich heiß heute und gewittrig im bolivianischen Hochland, über 30 °C in über 3000 m Höhe. Auf 3200 m Höhe messen wir noch 28 °C, und selbst in 4000 m Höhe sieht man immer noch Kolbris herumschwirren. Bei guten Wetterverhältnissen, die an diesem Tag leider nicht herrschen, bietet sich von der gegenüberliegenden Seite des Tales ein prächtiger Blick auf den Verlauf der sich hochschlängelnden Straße mit dem Vulkan Cerro de Nueve Mundo im Hintergrund. – Bei Vidici ist noch eine alte Kapelle aus dem 17. Jahrhundert erhalten geblieben. Es gibt in dieser Gegend noch weitere dieser Kapellen, die alle auf die Franziskaner zurückgehen.
    Anschließend fahren wir durch das enge, aber liebliche Tal des Río San Lucas, wo wir am Ende, mit viel Staub in der Lunge, zwischen Wollgräsern unser Lager aufschlagen. Es ist einfach phantastisch, denn wer hätte gedacht, daß man in einem Fluß in mehr als 3000 m Höhe noch baden kann. Bald, als die Sonne versunken ist, zeigen sich die Sterne, und zwar in einer überwältigenden Pracht, wie ich sie lange nicht mehr gesehen habe: Orion, Sirius, Jupiter, das Kreuz des Südens, Alpha und Beta Centauri, die Milchstraße und die Magellansche Wolke sind ohne weiteres auszumachen; bereits mit einem kleinen Feldstecher nimmt die Zahl der Sterne ums Tausendfache zu. Mit klassischer Musik und Gedichten des chilenischen Literaturnobelpreisträgers Pablo Neruda geht ein erlebnisreicher Tag zu Ende.

Der Reiche Berg

    Am frühen Morgen des Karfreitags kommt der Vulkan Matako (5057 m) aus den Wolken hervor. Mit einiger Phantasie kann man noch die bereits stark erodierten, bizarr geformten Krater erkennen. Der Vulkan gilt heute als erloschen, und nach allem, was ich von unten erkennen kann, dürfte eine Besteigung nicht allzu schwierig sein. An seinen Hängen – die Lupinien stehen dort noch in voller Blüte – wird das Getreide noch mit der Sichel geerntet.
    In Cucho Ingenio, wo wir auf die Nationalstraße Nr. 1 treffen, füllen wir unsere Wasserkanister auf. Ab hier ist die Straße verbreitert worden, manch ausgesetzte Stelle stellt aber noch immer eine Herausforderung dar. In den Kurven waren früher, wo Fahrzeuge abgestürzt waren, viele Kreuze aufgestellt. Schade, daß sie weg sind, denn das Reisen erscheint dadurch weniger abenteuerlich! – An manchen Stellen, wo private Minenbesitzer Erzadern nachgehen, sind Löcher in den Berg getrieben. Da diese aber oftmals nicht das Geld haben, um Grubenholz für das Abstützen der Stollen zu kaufen, kommt es immer wieder zu Grubenunglücken, wobei es für die Betroffenen meist keine Rettung mehr gibt.
    Jetzt und hier, irgendwo, erreichen wir die 4000er-Grenze. Die Luft ist nun auch spürbar dünner geworden, aber ich     persönlich vertrage die Höhe gut. Andere schlucken Aspirin, das einzige, was gegen die Höhe hilft. Die Bachabrama-Gräser, die hier gedeihen und die sich ganz hart anfühlen, werden ausschließlich von Lamas gefressen, deren Mägen diese allein aufschließen können. Und als ein glückverheißendes Zeichen auf das bevorstehende Osterfest erscheint es uns, als wir heute, am Tag, an dem der Herr gestorben ist, ein neugeborenes Lama bewundern können.
    Auf dem Cuzco-Paß, der in 4500 m Höhe liegt, sehen wir bereits den Cerro Rico vor uns, den Reichen Berg, den Hausberg von Potosí, der, kegelförmig, dem ebenmäßigen Ideal von einem Vulkan entspricht. Es ist wirklich mühsam, sich dem Silberberg zu nähern, Staub und kurvenreiche, bucklige Piste machen die Fahrt dorthin zu einer einzigen in Staub gehüllten Schaukelei. Die zahlreichen Steinhaufen, die man allerorts sieht, die sogenannten Huacas, die von Indios errichtet wurden, um die Erdgeister zu bannen, sind uralte Relikte heidnischer Symbolik.
    Der Cerro Rico ist durchlöchert wie Schweizer Käse; insgesamt gibt es im Berg Stollen mit einer Länge von über 800 km. Es grenzt an puren Zufall, daß in den Bergen ringsum keine Silberfunde gemacht wurden. Oberhalb der Stadt wirkt alles wie umgepflügt, Abraumhalde reiht sich an Abraumhalde. Aus diesen Abraumhalden wird mit modernen Methoden noch heute Silber gewonnen. Das Wasser, das zum Auswaschen des Silbers verwendet wird, fließt ungeklärt und mit Quecksilber angereichert in den De-la-Ribera-Bach, der weiter in den Río Pilcomayo und schließlich in den Amazonas mündet. Dies erklärt, wie immer mehr Schwermetalle ins Meer gelangen und über die Nahrungskette in den menschlichen Organismus.
    Die Stadt Potosí liegt, ein außerordentliches Panorama bildend, idyllisch in einen Talkessel eingebettet. "Potschsi" heißt in der Sprache der Inkas "krachen", und daher kommt auch der Name Potosí, das Grollen der Götter. Die Stadt kann, obwohl sie einen Flughafen besitzt, nicht mit Linienmaschinen angeflogen werden. Wie überall im Land stößt man auch hier auf viel amerikanische Militärpräsenz, und amerikanische Truppen, die den Flughafen für die Landung von Militärflugzeugen ausbauen wollten, mußten das Land wieder verlassen. – Während seiner Blütezeit war Potosí die größte Stadt Amerikas, größer als New York. Sie hat heute noch die Bevölkerungszahl nicht erreicht, die sie im 17. und 18. Jahrhundert besaß. Nur etwa 10 % der ehemals 200000 Einwohner waren Spanier, die übrigen Indio-Sklaven, von denen Zigtausende durch die schwere Arbeit in den Silberminen oder der Moneda, der Münze, dem Grab der Indios, ums Leben kamen. Die Moneda hat wegen des Feiertags heute geschlossen, so daß wir uns diese Besichtigung für morgen aufsparen.
    Potosí hat sich mit seinen hölzernen und schmiedeeisernen Balkonen und Gesimsen, den barocken Fassaden, sein koloniales Kolorit noch weitgehend erhalten. Die Stadt besaß einst über dreißig Kirchen und Klöster, die fast alle im sogenannten Mestizenbarock erbaut sind, mit gedrehten, salomonischen Säulen. Die älteste Kirche der Stadt mit der wohl schönsten Fassade ist San Lorenzo, mit den Hauptwerken von Gaspar de la Cueva, einem begnadeten Bildhauer und Sohn der Stadt. Sie war früher dem heiligen Bartholomäus geweiht, der das grausamste Martyrium erlitten hat, das man sich vorstellen kann. Er wurde bei lebendigem Leibe gehäutet. Besonders schön mit Gemälden ausgestattet ist die Kirche San Martín, von der die berühmte Karfreitagsprozession ihren Ausgang nimmt.
    Der für 14 Uhr angekündigte Umzug verschiebt sich auf 16 Uhr, so daß wir von der Prozession nur noch mitbekommen, wie sie sich in Bewegung setzt. Selbst das Militär und die Polizei nehmen daran teil, und die ganze Stadt hat sich fein herausgeputzt; die Häuserfassaden sind mit bunten Gardinen, Heiligenbildern und Blumen geschmückt, und die Farbenpracht der Uniformen zwischen den ebenso bunt bemalten alten Hausfassaden gleicht einem Meer von Blüten, eingebettet in ein tiefes bolivianisches Blau eines ungetrübt wolkenlosen Andenhimmels. Blendend weiß und lichtdurchflutet wirken die Pflasterstraßen der Stadt, wie versilberte Spiegel, und immer wieder fällt der Blick auf den allgegenwärtigen Sumaj Orcko, den Schönen Berg, wie der Cerro Rico in der Ketschua-Sprache auch genannt wird. Aus dem Silberberg von Potosí wurde früher soviel Silber herausgeholt, daß die Karfreitagsprozession auf Silberplatten einherschritt. Wahre Menschentrauben haben sich im Stadtzentrum gebildet, Touristen wie Einheimische, und die hingebungsvolle Religiosität der Menschen, auf die man allerorten trifft, ist wahrhaft beeindruckend. Kein gläubiger Indio würde achtlos an einer Kirche vorübergehen, ohne sich dabei zu bekreuzigen. Trotz des turbulenten Lebens trifft man kaum auf fröhliche Gesichter unter der mestizischen Bevölkerung. So bedingen tiefe Religiosität einerseits und bittere Armut andererseits sich gegenseitig.
    Nach einem heißen Tag verlassen wir Potosí längs des mit Quecksilber geschwängerten Río de la Ribera, wo wir, umrahmt von roten Felsen, in einem Thermalgebiet radioaktiver Quellen außerhalb der Stadt unser Nachtquartier schlagen. Am nächsten Vormittag besichtigen wir die Moneda, weil das gestern nicht möglich war, und was wir dort sehen, ist recht beeindruckend. Die alte Münze von Potosí ist ein Gebäude von gewaltigen Ausmaßen mit insgesamt neun Innenhöfen. Sie gilt als größter Kolonialbau Südamerikas. Es werden u.a. Gemälde von Melchor Pérez Holdin gezeigt, aber auch eine überaus reichhaltige Sammlung anonymer Maler, die vornehmlich nach Vorlagen alter Kupferstiche gearbeitet haben, ist hier zusammengestellt. Das Gebälk ist aus dem Holz einheimischer Zedern und Zypressen errichtet, das zu diesem Zweck über weite Strecken herangebracht werden mußte. In Potosí werden heute in Aufforstungsversuchen wieder andine Zedern angepflanzt. Vom Schmelzen des Erzes über das Pressen des Laminats bis hin zum Prägen und Stanzen der Münzen wird die gesamte Technik der Münzherstellung gezeigt. Auch eine Sammlung von Silbergeschirr, silbernen Tabernakeln, von silbergetriebenen Helmen bis hin zu silbernem Zaumzeug ist hier untergebracht.

Die Weiße Stadt

    Von Potosí schlagen wir den Weg nach Sucre ein, das in der Cordillera Central liegt; er führt uns durch eine überaus fruchtbare Gegend. Bei Betanzos sind durch die Erosion des Porphyrs wesentlich weichere Formen entstanden, als sie etwa durch die Erosion des Basalts entstehen. Soweit das Auge reicht, sind die Felder bewirtschaftet, allerdings werden sie noch von Handarbeit bestellt. Die Frauen reagieren gereizt, wenn sie bei der Arbeit photographiert werden, und werfen gleich mit Steinen; auch laufen sie schreiend hinter einem her, so daß es sich empfiehlt, tunlichst das Weite zu suchen. Auf der erst seit fünf Jahren gut ausgebauten Straße fahren wir in großen Serpentinen hinab ins Tal des Río Minca, der allerdings völlig ausgetrocknet ist. Hoch über dem Flußbett gedeihen wilde Tomaten, eine neben dem Kakao ureigene südamerikanische Pflanze. Auch diese wurde, von Amerika kommend, nach Europa eingeführt. Am Nachmittag erreichen wir erneut den Río Pilcomayo, über den eine Brücke aus dem vorletzten Jahrhundert führt, die im gotischen Backsteinstil errichtet ist. Nochmals zu einer Paßhöhe der bis oben hin grünen Zentralkordillere ansteigend, gelangen wir schließlich hinab in das 1200 m tiefer gelegene Sucre, das schon in der Kolonialzeit bedeutender war als La Paz. 1624 wurde hier, von Jesuiten geführt, eine der ältesten Universitäten Südamerikas gegründet.
    Sucre ist die Hauptstadt Boliviens und wird auch die Weiße Stadt genannt. Ihr ursprünglicher Name Neu-Toledo ist ihr nicht geblieben. Da La Paz lediglich Regierungssitz ist – dieser wurde 1899 von Sucre nach La Paz verlegt –, ist Quito, die Hauptstadt Ecuadors, die höchstgelegene Hauptstadt Südamerikas. Auch Sucre konnte sich seinen Kolonialcharakter bewahren. Es besitzt trotz seiner Hauptstadteigenschaft nicht viel, was es zu besichtigen gäbe. Da wären einmal das Museum im alten Regierungsgebäude, in dem die Unabhängigkeitsdeklaration unterzeichnet wurde, und zum zweiten das Kirchenmuseum mit Werken berühmter einheimischer Maler und Silberschmiede, darunter die Madonna von Guadeloupe, die als das Hauptwerk des Malers Berri gilt. Die Gemäldegalerie im Regierungsgebäude umfaßt Portraits der Unabhängigkeitshelden und Präsidenten Boliviens sowie eine Büste von Pizarro. Die Kathedrale wurde ursprünglich im barocken Stil errichtet, aber auf Anordnung Sucres, des ersten Präsidenten, im neoklassischen Stil umgebaut. Beachtung ob ihrer Holzkassettendecke verdient auch die Franziskanerkirche.
    Auf dem gleichen Weg, den wir gekommen sind, gelangen wir zurück nach Potosí. Unsere Expedition ist nun zum Stillstand gekommen, das Getriebe ist im Eimer und soll noch heute repariert werden. Es wurde eigens aus Deutschland eingeflogen. Als kleine Entschädigung bezahlt uns der Veranstalter für den unfreiwilligen Aufenthalt zwei erstklassige Hotelübernachtungen in Sucre, der Hauptstadt Boliviens, die an sich nicht vorgesehen waren. Es ist eine ausgesprochene Wohltat, wieder einmal in einem "richtigen" Bett zu schlafen und alle Annehmlichkeiten einer Großstadt in Anspruch nehmen zu können. Angesichts der Osterfeiertage haben viele Restaurants geschlossen, so daß wir an diesem Abend nicht einheimisch, sondern chinesisch essen gehen müssen.

Dinosaurierspuren

    Am heutigen Ostersonntag haben viele Kirchen, die sonst tagsüber geschlossen sind, geöffnet. Als wir die Kathedrale verlassen, wo gerade mit einem bombastischen Choral der Ostergottesdienst abgehalten wird, spricht uns auf der Straße ein Mann auf englisch an, ob wir nicht Lust hätten, an einer Exkursion teilzunehmen. Wir würden es auf keinen Fall bereuen, meint er, und würden unser Geld zurückerhalten, wenn wir danach nicht vollauf zufrieden wären. Der Mann stellt sich mit dem Namen Klaus vor; er sagt, er sei als Dozent an der Universität beschäftigt und würde nebenbei mit deutschen Kamera-Teams Filmaufnahmen machen. Als wir auf die offene Ladefläche eines Kleinlastwagens klettern, finden wir dort an weiteren Exkursionsteilnehmern eine alleinreisende Französin vor, die offenbar im Bus von Potosí nach Sucre einen Israeli kennengelernt und sich ihm angeschlossen hat, sowie einige nicht näher bestimmbare Latinos. Nachdem wir als letzte Teilnehmer bezahlt haben, setzt sich uns Gefährt in Bewegung, zunächst durch die engen Häuserschluchten der Stadt, um dann über den Dächern in immer luftigere Höhen dem Gebirge zuzustreben. Mit phantastischen und sonnigen Ausblicken auf die Häuserfronten und Kirchen der Weißen Stadt nähern wir uns hoch über Sucre einer Zementfabrik, wo durch die Abtragung eines Gebirgsstocks die größte Anzahl jemals auf der Welt gefundener Dinosaurierspuren zum Vorschein gekommen ist. Angeblich sollen es an die 5000 Fußabdrücke aller möglichen Gattungen dieser urweltlichen Echsen sein, die bisher freigelegt wurden. Die zwischen Handgröße und Durchmessern von bis zu 120 cm großen Fußabdrücke erstrecken sich zum Teil über eine Länge von schätzungsweise hundert Metern über die gesamte Felswand. Viele davon werden unaufhaltsam der Zerstörung anheimfallen, weil gewisse Schichten, die in dem weichen Gestein durch Regenfälle ausgewaschen wurden, nicht konserviert werden können. Somit müssen Photographien und Gipsabdrücke angefertigt werden, die an namhafte Schweizer Wissenschaftler, sogenannte Paläontologen, zur Auswertung eingeschickt werden. Anschließend sind die Originale, wie oben erwähnt, dem Verfall preisgegeben, aber so viele verlorengehen, so viele werden wöchentlich neu entdeckt. Wie erklärt es sich nun, daß Dinosaurierspuren in dieser Höhe von fast dreitausend Metern gefunden werden. Nun, ursprünglich befand sich an der Stelle, wo sich diese fossilienhaltigen Gesteinsschichten gebildet haben, ein gewaltiges Meer, dessen Ablagerungen im Zuge der andinen Faltung, als sich die Nazca-Platte auf die pazifische Platte schob, auf diese Höhe gehoben wurden, und nur dem Zufall der Zementgewinnung ist es zu verdanken, daß sie freigelegt wurden. Als während der Kreidezeit noch zahlreiche Vulkane die Erde bevölkerten, haben vermehrt Aschenregen an einem einzigen oder vielleicht an zwei Tagen alles Leben zugedeckt. Somit blieben in dem feuchten Untergrund und durch den mit der Zeit sich ergebenden Druck der aufliegenden Gesteinsschichten diese Spuren einer einst artenreichen Reptilienart bis auf den heutigen Tag erhalten, zusammen mit den Muscheln des Urmeeres und den damals existierenden Pflanzen. Es finden sich Spuren des Tyrannosaurus Rex ebenso wie solche des Allosaurus, des Triceratops und eines sogenannten Ancyrosaurus, den die Wissenschaft wegen seiner hohen Fortbewegungsgeschwindigkeit für einen Warmblüter ansieht. Demnächst soll ein Artikel in Bild der Wissenschaft zu diesen Funden erscheinen, versichert uns Klaus, und vor uns breitet er auf dem Boden eine Sammlung aller hier gefundenen Saurierarten aus, wie sie seine Kinder im Kindergarten zum Spielen benutzen. Er teilt uns auch mit, daß er es noch nie erlebt habe, daß es hier an Ostern geregnet habe, und unkt, die Straße nach La Paz könne möglicherweise auf einer Länge von 120 km unpassierbar sein. Dann säßen wir hier fest. Auch gäbe es Zeitungsberichte, meint er, wonach erst kürzlich wieder zwei Landrover im Salzsee von Uyuni, den wir wohlweislich umfahren haben, versunken seien.

Suche nach Eldorado

    In der Umgebung von Sucre verlaufen drei bekannte Trails, darunter der berühmt-berüchtigte Chorro Trail, auf dem es immer wieder vorkommt, daß Touristen überfallen und ausgeraubt werden. Dieses Schicksal ereilte auch zwei aus unserer Gruppe, denen man durch Trickdiebstahl die Geldbörse entwendete. Vorsicht ist daher geboten, wenn sich jemand als Drogenkontrolleur ausgibt und man in eine dunkle Seitenstraße komplementiert wird. Die Täter sind meist in der Übermacht und tauchen im Gedränge schnell unter. – Da wir am Abend frühzeitig auf unserem Campingplatz eintreffen, verbleibt noch genügend Zeit für ein Bad in dem etwas oberhalb der Anlage gelegenen natürlichen Thermalsee, einem mit einer heißen Quelle gefüllten ehemaligen Krater. Dieser See liegt idyllisch zwischen steilen Felsabstürzen eingebettet, und das Wasser besitzt Badewannentemperatur. Es ist ein herrliches Gefühl, in 3500 m Höhe mitten im Gebirge ein wohltuendes und entspannendes Bad zu nehmen, inmitten einer urzeitlichen Landschaft roter Erosionsgesteine, ein Erlebnis, das man um keinen Preis missen möchte.
    Außerhalb der ausgewiesenen Nationalparkgebiete ist es in den Anden schwierig, auf freier Wildbahn noch Tiere anzutreffen. Zu den letzteren zählen die Andengans, der Andenflamingo, die Discachas, eine Murmeltierart, das Meerschweinchen, das Chinchilla, der Puma, der Andenhirsch, die Guanakos, die Vicuñas, eine Wildform des Lamas, der Kolibri, der Bergfink, das Erdhörnchen, das Gürteltier, der südamerikanische Graufuchs, der Caracara, der Rote Milan, der Raben- und Truthahngeier und der Kondor, der König der Anden. Es ist verboten, den Kondor zu fangen. Der Fänger legt sich dazu unter einen verendeten Esel und springt hervor, sobald der Kondor sich vollgefressen hat und nicht mehr starten kann. Der gefangene Kondor wird bei Festen von den Indios auf einen Stier gebunden, auf den er dann einpickt und schließlich als Sieger aus diesem Kampf hervorgeht. Nachdem er mit Maisbier getränkt wurde, läßt man ihn fliegen. Stürzt er ab, wird dies als schlechtes Zeichen gewertet, entschwindet er in den Lüften, ist es ein gutes.
    Zunächst verläuft die Weiterfahrt durch wilde, von Wildbächen zerklüftete Schluchten, immer hoch über dem Abhang, auf staubiger Piste, bis wir das Tal des Río Bermejo erreichen, den wir, rotbraun dahinfließend, auf einer alten Steinbrücke überqueren. Bei Sinegiyar werden die Wasserkanister aufgefüllt. Der Ort wird vom Vulkan El Freile überragt, der über 5000 m hoch ist und an dessen Flanken der Río Bermejo durch gewaltige Schluchten, die sich zu typischen Basaltformationen auftürmen, herabstürzt. Durch die gewaltigen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht schuppt der Basalt kugelförmig ab, und die gigantischen Felskugeln, die allenthalben herumliegen, sind beeindruckend ob ihres Durchmessers. Der Río Bermejo bildet hier einen gewaltigen Canyon. Es heißt auch, der Poopósee entwässere unterirdisch durch den Río Bermejo. Die Disoretta-Bäume, die hier in die Erde hineinwachsen, werden von den Indios als Heizmaterial verwendet, sie sehen aus wie grüne Moospolster.
    Nun führt unsere Strecke durch ein an Farben gänzlich wundersames Gebiet, das Quellgebiet des Río Bermejo, wo Erde und Fels rot-gelb, bisweilen violett eingefärbt sind, eingebettet in grünlich schimmernde Vegetation, von einem weiß-blauen Himmel kontrastreich überstrahlt. Tief unter uns liegt ein abgestürzter Bus. Ein Bremsdefekt genügt bisweilen und es passiert. Auch hier empfiehlt sich wieder eine ausgedehnte Wanderung durch die Schluchten.
    In Ventilla, an einem Straßenknotenpunkt gelegen, haben sich vor Jahren regelrechte Straßenschlachten zweier verschiedener Dörfer abgespielt, die noch dazu verschiedenen Ethnien angehörten. Es gab damals mehr als ein Dutzend Tote. Inzwischen haben sich die Verhältnisse wieder beruhigt. Die Indios, die in dieser Höhe leben, sind nämlich äußerst aggressiv und werfen sogleich mit Steinen, wenn sie photographiert werden. Unser Reiseleiter hat eine etwas merkwürdige Begründung dafür, warum sie so aggressiv sind, und zwar wegen der Kälte, meint er, was einfach lächerlich ist. Der wahre Grund dürfte in der ständigen intensiven Sonneneinstrahlung liegen, die die Hormonproduktion ankurbelt, welche auch für das Aggressionsverhalten verantwortlich ist. Ich habe dies an mir selbst feststellen können, denn ich reagiere mittlerweile auf alles mit Gereiztheit.
    An den verfallenen und sehr mühsam zu bestellenden Feldbauterrassen kann man erkennen, daß zur Zeit des Inka erheblich mehr landwirtschaftliche Fläche genutzt wurde, als es heute der Fall ist. Die zahlreichen Steinmäuerchen, die man in dieser Gegend findet, dienen dem Zweck, ein Abtragen der Erdkrume durch Verwehung zu verhindern. Die ohne Verbundmörtel errichteten Steinmauern sind kleine Kunstwerke. – Auf fast 4500 Metern über dem Meeresspiegel erreichen wir die Paßhöhe, wo sich ein grandioser Rundblick eröffnet. Die Eindrücke können durch kein Photo wiedergegeben werden, denn in der unendlichen Weite, die von nur wenigen markanten Gipfeln gekrönt wird, verlieren sich die Formen. Wäre nicht an der Luft zu merken, wo wir uns befinden, so könnte man sich ebensogut in eine tiefliegende aride Zone versetzt fühlen. Einsam ist es hier! und nur gelegentlich versüßen ziehende Lama- und Alpakaherden die Monotonie.
    Unser Reiseleiter liest uns gerade aus einem Artikel vor, den er angeblich selbst verfaßt hat, und zwar zur Verschuldungssituation Lateinamerikas. Doch außer einer zahlenmäßig richtigen Wiedergabe der Fakten finde ich bei ihm nicht eine überzeugende Begründung für die wahren Ursachen und nicht einen konstruktiven Vorschlag, wie man die Situation verbessern könnte. Er nennt größenwahnsinnige Projekte und unfähige Regierungen als einzige Ursachen, eine ziemlich dürftige Erklärung! Warum gab es in Europa zur selben Zeit nicht auch vergleichsweise unfähige Regierungen, frage ich mich, dies kann mir kein überzeugender Beweis sein. Größenwahnsinnige Projekte werden stets nur von den jeweiligen, die an der Regierung sind, ausgedacht, sind also nur eine Sekundärfolge, so daß die wahren Ursachen nur darin gesehen werden können, daß diese südamerikanischen Länder sich fähige Regierungen überhaupt nicht wählen können, selbst wenn sie es wollten, weil sie nämlich fähige Politiker einfach nicht haben. Damit kommen wir der richtigen Erklärung schon einen Schritt näher. Die Spanier und Portugiesen, die einst die Geschicke Südamerikas zuzeiten des Kolonialismus lenkten, waren sie etwa weniger fähig als ihre Landsleute in der Heimat? Kam nicht erst durch die eingangs genannte, fast völlige Vermischung reichlich indianisches Blut in die Adern der spanischstämmigen Bevölkerung mit dem obenerwähnten Nachteil fast völligen Fehlens von abstraktem Denkvermögen, was eingeschränkt auch von den Mestizen noch behauptet werden kann? Bedauerlicherweise läßt sich keine andere schlüssige Erklärung finden, und theoretisch bleibt sie, solange nicht ehrlich mit dem Problem umgegangen wird, sondern man nach allerlei Ausflüchten sucht, wie die Vorwürfe wegzudiskutieren seien. Die wahren Ursachen sind stets im Erbgut des Menschen zu suchen, und das zugrunde liegende Gesetz der genetischen Vermischung besagt, daß im Mittel aus besseren und schlechteren Genen allenfalls mittelmäßige Gene entstehen. Aus Intelligenz, Tüchtigkeit und Aufrichtigkeit, den Tugenden der Guten, entstehen somit Dummheit, Faulheit und Korruption, die Tugenden der Schlechten, und auch die öffentliche Meinung zu diesem Thema erscheint zu wenig tiefschürfend, zu oberflächlich, zu bequem und tendenziös, als daß es noch eine andere Einsicht geben könnte als die, daß sich solche Entwicklungen eben nicht aufhalten lassen.
    Bei Challapata wurde ein künstlicher Stausee angelegt, wo sich normalerweise Flamingos aufhalten. Die rötliche Farbe im Gefieder des Flamingos rührt daher, daß diese Vögel sich von Krustentieren ernähren. Bleibt diese Nahrung aus, verblaßt auch das Gefieder sehr schnell. In Challapata zweigt die Straße zum Uyuni-See ab, auf der man, so man ihr weiter folgt, nach Chile gelangt. Damit haben wir den Altiplano erreicht. Der Altiplano ist von einer unendlichen Weite, eingebettet zwischen die zwei Kordilleren. Auf ihm sehen wir in der Ferne den Poopó-See, an dessen östlichem Ufer sich unser weiterer Weg immer längs der Eisenbahn hinzieht. Der Poopó-See geht nahtlos in den Oruro-See über. Linkerhand waten wieder einige Flamingos durch die Untiefen des Sees, im Verein mit Cayenne-Kiebitzen (Belonopterus cayennensis). Da es stark geregnet hat, sind große Teile des vulkanischen Bodens mit weißen Salzen überzogen.
    Oruro ist eine Stadt des Bergbaus, wo Zinn abgebaut wird. Die Minen wurden von Juan del Valle entdeckt, der Ñuflo de Chávez auf seinem Marsch von Paraguay nach Altoperu begleitete, auf der Suche nach Eldorado. Simón I. Patiño aus Cochabamba wurde der reichste Zinnbaron der Welt. Augusto Céspedes schrieb über dieses Teufelsmetall seinen berühmten Roman "Metal del diablo". Berühmt, aber nicht ungefährlich, ist auch der Karneval von Oruro, in dem die Teufelstänzer auftreten und wo auch zahlreiche Indios sich bodenlos betrinken und dann völlig unberechenbar sind. Geradezu lebensgefährlich ist es, einen betrunkenen Indio zu photographieren. Die präkolumbianischen Vorstellungen leben noch immer im Fest der Pachamama, der Großen Erdmutter, im Karneval fort. Oruro ist eine schreckliche, total verkommene Stadt, in der die Kanalisation oberirdisch fließt und die man schleunigst fliehen sollte.
    In Carracollo, unserem geplanten Übernachtungsort, können wir nicht bleiben, weil sich dort eine Menge von sogenannten Cocaleros, d.h. Koka-Bauern, für den Zug auf La Paz versammelt hat und wir als Gringos angesichts der gespannten Situation nur Aufsehen erregen würden. Also fahren wir ein Stück weiter bis Patacamaya. Gegen Abend taucht dann in der Abendsonne der Hausberg von La Paz, der schneebedeckte Illimani, auf. Damit betreten wir die Kernlande des Inka.

Im Mondtal

    Als wir am Morgen des 18. April bei wolkenlosem Himmel und strahlendem Sonnenschein aufbrechen, fällt unser Blick auf den in der klarsten Luft aus dem Altiplano aufragenden, schneebedeckten höchsten Berg Boliviens, den Vulkan Sajama. Auch der Illimani, der rechter Hand näherrückt, verbirgt sich heute nicht hinter Wolken. Nun kommt auch die Königskordillere in Sicht, atemberaubend, schneebedeckt: der Illampu im Norden, der Illimani im Süden, dazwischen von Nord nach Süd Ancohuma, Vinohuara, die Condoriri-Gruppe, Huayna Potosí und Mururata. Zahlreiche Legenden ranken sich um diese Berggestalten.
    Über El Alto, der Vorstadt von La Paz, die geprägt ist von Rost, Altöl und Ruß, nähern wir uns dem Zentrum. Auch hier wieder kann man erkennen, welch ein Schädling doch der Mensch ist und wie sehr es gilt, ihn zu bekämpfen. El Alto ist die am schnellsten wachsende Stadt Südamerikas, hier liegt auch der Flughafen von La Paz, wo etliche ausrangierte Maschinen herumstehen. Die Stadt selbst liegt in einem Talkessel, der eher einem Hexenkessel gleicht. Die Abgasbelastung ist dort so stark, daß die Schuhputzer auf den Straßen vermummt herumlaufen. Die besseren Wohngegenden liegen, anders als anderswo, in den tieferen Lagen. Wir verkehren nun auf der einzigen Autobahn Boliviens, die nur 16 km zählt und von der aus man, den Smog nicht eingerechnet, einen großartigen Blick auf die Stadt hat. Unser Hotel liegt direkt im Zentrum. "Meiden Sie in La Paz größere Menschenansammlungen," rät man uns, "denn es gilt fast als sicher, daß die Polizei mit Tränengas anrücken wird." Auch wenn die Vororte von La Paz unschön sind, so ist es doch die einzigartige Lage der Stadt, die, von hohen Bergen umrahmt, alles andere aufwiegt. Wenn sich im Hintergrund die Schneehänge des Illimani im wolkenlosen Blau des Himmels abzeichnen, wenn unter uns bizarre, vielfarbige Erosionsformen, von zahlreichen Tunnels durchbrochen, von den Straßen wie von den Schienen einer Modelleisenbahn umkreist werden, dann fliegt die Seele eines jeden auf, und du spürst den Hauch des Ur-Einen, das sich zu einem Fortissimo der Superlative steigert. Dennoch gibt es in der Stadt, in der es nachts bitterkalt werden kann, nicht einmal eine Heizung, und wer friert, der muß sich warm anziehen.
    Deutsche gelten viel in dieser Stadt, denn sie schaffen Arbeitsplätze, sind pünktlich, fleißig und ordentlich, und unser Paradebeispiel ist der unserem Franz-Josef Strauß wie aus dem Gesicht geschnittene Politiker und Großindustrielle Banzer, der Bier nach deutschem Reinheitsgebot braut. Viele Entwicklungsprojekte Boliviens einschließlich der Lösung von Umweltproblemen werden von deutschen Firmen abgewickelt. –
    In der Stadt dürfen nur Kleinbusse verkehren, und mit einem solchen Gefährt fahren wir gleich nach unserer Ankunft in die Gluthölle des Mondtales, einer Bilderbuchlandschaft bizarrer Felsformationen, die in der Tat den Eindruck vermitteln, man sei auf dem Mond gelandet. Nur schade, daß niemand dieses Stück bezaubernder Natur vor dem Zugriff des Menschen geschützt hat, wie die zahlreichen, aus den Drogenerlösen erbauten Luxusvillen in der unmittelbaren Nachbarschaft beweisen. Anschließend fahren wir zu einem hochgelegenen Aussichtspunkt, wo sich ein überwältigender Blick auf die Stadt auftut, der nahezu einem 360-Grad-Panorama gleichkommt. Während im Tal moderne Wolkenkratzer mit kolonialen Bauten wetteifern, ziehen sich die Häuser der einfachen Leute schachtelartig die Hänge bis unterhalb der Gipfel hinauf.
    La Paz wurde von Alonso de Mendoza gegründet. Unter den Resten an Vergangenem haben vor allem das Parlamentsgebäude, der Gouverneurspalast und die Kathedrale San Francisco die Zeiten überdauert, aber auch schmucke Häuserzeilen mit reizvollen Innenhöfen und Außenbalkonen sind geblieben. Die Plaza, der historische Hauptplatz, wird von Tauben bevölkert, und wenn alle auf einmal auffliegen, verdüstert sich die Sonne, so zahlreich sind sie. Die Kathedrale ist – auch auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole – aufs üppigste mit Blattgoldverzierungen ausgestattet. Wer sich dafür nicht interessiert, kann über die weitläufigen Märkte schweifen, wo er Gold- und Silberschmiedearbeiten oder auch nur indianische Schmuckstücke in reicher Auswahl angeboten bekommt. Erwähnenswert ist die auf indianische Bräuche zurückgehende Verwendung von Lamaföten als Amulette oder Glücksbringer, in denen sich der Glaube an die Muttergottheit, die Pachamama, widerspiegelt. Aus beinahe jedem zweiten Laden erklingt die Musik der Hochlandindianer, deren charakteristisches Instrument die Flöte ist.
    Kaum eine Stunde vergeht, daß nicht ein ebenso musikalischer wie farbenfroher Demonstrationszug unter unserem Hotelfenster vorbeizieht. Es gärt im Lande. Einerseits fehlt es den kleinen Leuten an Land für die Errichtung ihrer Behausungen, – häufig wird öffentlicher Grund einfach in Besitz genommen –, andererseits verbietet der Staat den Bauern den Anbau traditioneller Produkte. Deswegen sind die Cocaleros nun auf dem Vormarsch in Richtung Stadt, und wir können von Glück sagen, daß wir bislang den Straßenblockaden, die oft das ganze Land lahmlegen, entgangen sind. Aber am 1. Mai, wenn wir Bolivien bereits verlassen haben, soll es ernst werden mit der Durchsetzung der Forderungen.
    Unsere lokale Reiseleiterin klärt uns über die vielen nützlichen Eigenschaften der Koka-Pflanze auf, die nicht nur ein ausgezeichneter Spender von Vitaminen und Mineralstoffen sein soll, sondern auch vor Parodontose schützt. Der Kokagenuß, also das Kauen der Kokablätter, ist auf Höhen über 2000 m in Bolivien und Peru legal. Um die Wirkung der Kokapflanze zu entfalten – diese besteht aus einem lähmenden Gefühl im Mundbereich – braucht man einen Katalysator, der zusammen mit den Kokablättern gekaut werden muß. Ihr Anbau habe aber nichts mit der Herstellung des Kokains zu tun, erklärt sie, und so gesehen sind es fast immer die Koka-Bauern, deren Erlöse ohnehin gering sind, die die einzig Leidtragenden seien. Schließlich sei die Pflanze kein Kokain, meint sie, und überhaupt sei letzteres von einem Deutschen erfunden worden, was wie ein Vorwurf klingt. Sie beklagt, daß die Bauern, die durch den Druck der USA ihre Existenz verlören, nicht einfach auf andere Produkte umsteigen könnten, da es deren bereits hinreichend gebe, und ohne die Erlöse aus dem Drogenhandel könne das Land nicht existieren. Nur solange der Drogenhandel illegal sei, ließen sich damit Milliarden verdienen. Auch die Untergrundbewegungen arbeiteten mit dem Drogenkartell zusammen. Wie dem auch sei, die USA würden ihre Finanzhilfe für das Land einstellen, wenn die Regierung ihren Forderungen nicht nachkäme, und dies wäre gleichwohl sein Ruin. – Auch würden die meisten Internet-Cafés des Landes, die wie Pilze aus dem Boden schießen, mit Raubkopien arbeiten, erklärt sie weiter. Die Anwälte von Bill Gates seien drauf und dran, diese Kopien ausfindig zu machen, so daß den Internet-Cafés die Schließung drohe, was dem Land zusätzliche Arbeitsplätze entreißen werde.
    Nachts erst regt sich Leben in der Stadt, und die Straßen füllen sich mit Menschen. Musik dröhnt aus allen Lautsprechern. Dieses Treiben setzt sich die halbe Nacht hindurch fort.

Das Reich des Kondors

    Von La Paz aus bietet es sich geradezu an, einen Ausflug in die nahegelegenen Berge zu unternehmen. Wir suchen uns dazu den 5350 m hohen Chilaje aus, der über den höchstgelegenen Skilift der Welt verfügt. In windungsreichen Kehren geht es zunächst aus dem Kessel von La Paz heraus, in schwindelerregende Höhen hinauf, wo sich, zunächst noch wolkenlos, der Illimani über das Plateau erhebt und den Blick freigibt. Auch der Huayna Potosí rückt näher, zum Greifen nah. Wie herrlich müßte es jetzt sein, Seil und Eispickel dabei zu haben und sich über den Gletscher hinaufzumühen.
    Die Andenkette ist der längste Gebirgszug und eines der jüngsten Gebirge der Erde und anders als die Alpen auch von anderer Beschaffenheit. Während nämlich in den Alpen mehrheitlich Einzelgipfel charakteristisch sind, sind in den Anden unnivellierte Kettenzüge ohne markante und ausgeprägte Erhebungen die Regel. Die Anden weisen also keine majestätischen Berggestalten auf, ausgenommen freistehende Vulkankegel. Das Wort Anden bedeutet wörtlich Stufen- oder Treppengebirge und geht zurück auf den Feldterrassenbau der Inkas bzw. die Inka-Reichsstraßen. Steile Abschnitte wurden nämlich durch Stufen überwunden, da das Rad unbekannt war.
    Die Anden sind vor ca. 65-70 Millionen Jahren entstanden, als Folge eines geologischen Auffahrunfalles. Beim Aufeinanderprallen der südamerikanischen Kontinentalscholle auf die pazifische Scholle entstand im Bereich der heutigen Anden ein gewaltiger Vulkanismus. Wie Geologen versichern, hat sich die südamerikanische Scholle bereits um 800 km auf die Nazca- oder pazifische Scholle aufgeschoben, was immer wieder zu verheerenden Erdbeben führt. Der Prozeß der Andenhebung ist noch nicht abgeschlossen, wird aber durch die Erosion wieder ausgeglichen. Der Altiplano war nämlich ursprünglich ein tief profiliertes Tal, das sich mit ebendiesem Erosionsmaterial aufgefüllt hat. Zwischen Bolivien und Peru teilt sich der Andenkern in die Schwarze und Weiße Kordillere. Zwischen diesen beiden Kordilleren liegt der Altiplano. Die pazifische Seite ist niederschlagsarm, an der Ostseite schwappt die vom Amazonastiefland heraufkommende Feuchtigkeit in die innerandinen Täler über und kann dort zu hohen Niederschlägen führen. Der in der Patagonischen Kordillere gelegene Aconcagua erreicht 6959 m Höhe und ist damit der höchste Berg beider Amerika. Ihm folgt mit 6893 Metern der Ojos del Salado, als zweithöchster Berg des Landes. Das Paine-Massiv hingegen hat nichts mit den Anden zu tun. Auch der Mount Fitz Roy (3405 m) und der Cerro Torre (3192 m), der Cerro San Valentin (4059 m) und der Cerro San Lorenzo (3700 m) gehören nicht zu den Anden, sondern sind Teil des Patagonischen Andenvorlandes.
    Hinter der nächsten Biegung wartet erneut eine Überraschung auf. Im klaren Licht erscheinen viele der mit Wasser gefüllten Kare in geheimnisvollen Farben, die Beigaben von Mineralien tun ein ihriges, um diese Wunderwelt in den schrillsten Tönen erscheinen zu lassen. Tiefer als violett und stechender als grün leuchten die kleinen Seen, während langsam aufziehende Wolken dem Farbenspiel unwiderruflich ein Ende setzen. In den schattigen Kammlagen erreichen wir eine von einem Schweizer bewirtschaftete Almhütte, wo sogleich ein deftiges Essen auf denjenigen wartet, die sich im Anschluß daran nicht als Gipfelstürmer betätigen will. Fuß um Fuß voransetzend, gelangen wir, die wir es nicht lassen können, über Schutt und Schnee, ich insbesondere mit ungenügendem Schuhwerk ausgerüstet, auf den Vorgipfel, den ich nur als zweiter erreiche. Allein der Weg zum Hauptgipfel, der sich über einen schlanken Grat hinaufschwingt, bleibt mir versagt, denn meine Schuhe würden sich während des Hinaufgehens aufweichen, und zwanzig Meter mehr oder weniger können das Gefühl, den Berg bestiegen zu haben, nicht nehmen. Von dort droben bietet sich ein majestätischer Blick auf die Königskordillere mit ihren schneebedeckten Sechstausendern, auf die Stadt La Paz bzw. was davon zu sehen ist – denn die Stadt liegt, wie wir oben gesagt haben, in einem Kessel, wo sie sich unseren Blicken entzieht – und auf der anderen Seite auf den Titicacasee, den höchstgelegenen See Südamerikas. Nicht mehr als eine Andeutung, zieht er sich wie ein blaues Band am Ende einer grenzenlos öden Fläche hin. Am Horizont haben sich die Wolken zu einer Decke vereinigt, und wir tun gut daran, den Ort zügig zu verlassen und uns dem Sonnenschein der Stadt zu überantworten, wo buntes Treiben herrscht und gemächliche Geschäftigkeit.
    Abends geben wir uns ganz den Vergnügungen einer Folkloreveranstaltung hin. Zunächst spielt ein virtuoser Solist klassische Musik auf der Charanga, dem traditionellen Saiteninstrument, dessen Klangkörper, wie oben gesagt worden ist, aus dem Panzer des Gürteltiers hergestellt ist. Dann führen verschiedene Musik- und Tanzgruppen traditionelle Stücke und Tänze auf, die sich bis ins Ekstatische steigern. Besonders die Stücke auf den sogenannten Windinstrumenten, der Panflöte oder Sambara, klingen an dämonische Kriegstänze an. Auch farbenfrohe Kostümtänze aus dem Karneval und die Queca sowie der Teufelstanz sind Zeugnisse der hohen Kunst der bolivianischen Trachtengruppen. Unter dem Wappen von Kastilien und Léon, im Schein von Kerzenlicht und zu dem ausgezeichneten Bouquet des Kohlberg-Rotweins geraten solche Abende zu einem turbulenten Spektakel. Lediglich die moderne Lautsprecher- und Verstärkertechnik tut auch hier einigen Abbruch, und das Getrommele nimmt schnell Disco-Charakter an.
    Wir verlassen La Paz über El Alto, mit freier Sicht auf die schneebedeckten Sechstausender der Königskordillere. Auf einer Anhöhe mit weitem Blick über das Hochland halten wir an und lassen das Auge hinüberschweifen auf die sich hinter Wolken verbergenden Gipfel auf der einen und den Titicacasee auf der andern Seite. Einst waren die Ufer des Titicacasees stark bewaldet, aber die Wälder wurden von den Spaniern gerodet, weil man Material für den Schiffsbau brauchte. Der Titicacasee hat eine Fläche von 8300 km², ist allerdings nicht der größte See Südamerikas, sondern rangiert nach dem Maracaibo-See an zweiter Stelle.

Vom Sohn der Sonne

    Tiahuanaco, einstmals Hafenstadt, als die Ufer des Titicacasees noch bis hier heranreichten, ist eigentlich noch nicht richtig ausgegraben. Dennoch läßt sich anhand dessen, was bisher der Öffentlichkeit zugänglich ist, einiges erahnen. Kernstück der Anlage ist das Akapana, eine Stufenpyramide, die in mehreren Terrassen angelegt ist, deren jede von einem wassergefüllten Kanal umgeben war. Das Wasser floß einst von der obersten Stufe herab, aber was es zu bedeuten hatte, ist bis heute unklar. Beachtenswert ist, daß jede "Etage" hinsichtlich ihrer Mauerfügung anders ausgelegt ist, Zwischenräume zwischen größeren Steinen wurden mit kleineren ausgefüllt. Beinahe jedes menschliche Vorstellungsvermögen übersteigend ist die wechselseitige Fügung der Steine aneinander, die als absolut lückenlos anzusehen ist, so daß sich die Frage stellt, mit welchen Werkzeugen die tonnenschweren Steinblöcke "zersägt" wurden, ehe man sie nahtlos aufeinandersetzte. Selbst heutige Steinmetze wissen darauf keine Antwort. Lediglich bezüglich des Schliffs scheinen sie sich einig zu sein. Man schmirgelte die Blöcke so lange mit Wasser und Sand, bis eine Art Politur zustande kam. Zwiespältige Erklärungen lieferten sich die Archäologen allemal. So widersprachen Stübe und Uhle ihrem Kollegen Posnansky in beinahe allen Punkten, in denen dieser eine Erklärung anbot. Dennoch ist sich die Fachwelt heute darüber einig, daß seine Sicht der Dinge in vielen Punkten der Wahrheit am nächsten kommt. Einen etwas abseits liegenden Granitblock, der wohl als Opferstein gedient haben mag bzw. wie ein miniaturisiertes Modell der Gesamtanlage aussieht, schätzen wir auf gut 400 Tonnen. Da die Leute von Tiahuanaco das Rad nicht kannten, bleibt offen, wie diese Giganten transportiert wurden. Da man annimmt, daß der Wasserspiegel des Titicacasees zur Zeit der Hochblüte der Tiahuanaco-Kultur bis an die Tempelanlage heranging, liegt nahe, daß die Steine auf Schilfbooten transportiert und anschließend mit Seilen über den Boden geschleift wurden, ehe man sie aufstellte. Unklar bleibt auch, über welche Entfernung diese transportiert wurden, denn die nächsten Steinbrüche sind weit entfernt. Im benachbarten Templete semi-subterraneo, dem sogenannten halbunterirdischen Tempel, dessen Mitte eine Stele ziert, die einen bärtigen Mann darstellt, sind ringsum Steine mit Gesichtern in die Wände eingelassen, die teilweise sehr gut erhalten sind, womit wir bei der nächsten Frage wären: Woher kannten die Indios, denen selbst kein Bart wächst, Männer, die einen solchen trugen? Dieser Umstand rief Erich von Däniken auf den Plan, dessen abstruse Theorien aber heute ausgedient haben. Von der Stele mit dem Bärtigen hat man einen Blick durch das Tor der Kalasasaya auf einen Monolithen, der wahrscheinlich eine männliche Gottheit darstellt, die hinsichtlich ihrer künstlerischen Gestaltung als meisterhaft bezeichnet werden kann und den Namen ihres Entdeckers Ponce trägt. Die Außenwände der Kalasasaya, und dies läßt sich mit dem Auge prüfen, sind von einer Unebenheit, die im Prozentbereich ihrer Abmessungen liegt, und man wundert sich, mit welcher Genauigkeit hier das Lot gebraucht wurde. Zur Sommersonnenwende scheint die Sonne genau in Richtung der Verbindungslinie beider erwähnten Stelen, und es verwundert noch mehr, daß die Leute von Tiahuanaco ein unglaubliches astronomisches Wissen besessen haben müssen. Auch das Sonnentor am Eingang zum Putuni, dem Palast der Sarkophage, ist mit merkwürdigen Mustern ausgeschmückt, bei denen die Zahl zwölf eine besondere Rolle spielt, was die Frage aufwirft, ob der Mondkalender bekannt war. Im erst kürzlich eingerichteten Museum von Tiahuanaco sind die Funde, die auf dem Gelände gemacht wurden, ausgestellt, vor allem Keramiken mit den raffiniertesten Tiermotiven, Waffen und Gerätschaften sowie Schmuck in Blattgoldausführung. Alles was die Spanier dereinst an Gold vorfanden, wurde längstens geplündert, und die Chronisten berichten von riesigen Schätzen. Selbst die Technik des Anlegens von Gewächshäusern war den Leuten von Tiahuanaco vertraut, bei ihnen waren es die sogenannten Sukakollus, für die ein ausgeklügeltes Bewässerungssystem erdacht wurde, womit sich konstante Temperaturen erzielen ließen. Die Inkas haben Tiahuanaco gekannt und auch besucht, und vieles aus ihrer Kultur ist daraus entnommen. Wieso und warum die Kultur von Tiahuanaco plötzlich verschwunden ist, vermag niemand zu sagen. Wir wissen im wesentlichen nur soviel, daß es sich nicht um eine Stadt, sondern um ein religiöses Zentrum gehandelt hat.
    Nach der Besichtigung von Tiahuanaco verlassen wir Altoperu, sprich Bolivien, und kommen nach dem eigentlichen Peru. Bei der Einreise wird die Uhr nochmals um eine Stunde zurückgestellt, so daß der Zeitunterschied zu Europa 7 Stunden beträgt. Um über die Grenze zu gelangen, muß man quer über einen Markt fahren. Bei der Einreise finden verschärfte Personenkontrollen statt. Überhebliches Lächeln wirkt sich dabei eher nachteilig auf die Zügigkeit der Abfertigung aus.
    Bald bekommen wir die ertrunkenen Schilfgürtel zu Gesicht, die die lieblichen Ufer des Sees ausmachen. Nach Schilfbooten wird man auf der bolivianischen Seite vergeblich Ausschau halten, diese gibt es schon längst nicht mehr, sie wurden alle durch moderne Glasfaserboote ersetzt. – Der Titicacasee sieht aus wie die Gestade eines Meeres. Er liegt in einer weiten Ebene, aber auch einige Berge ragen in der Ferne auf. Mit seinen aquamarinblauen Wassern, den grünen Schilfgürteln und den rötlichen Felsufern übertrifft er an Farbigkeit alles, was es im Lande an Seen gibt. Er hat das ganze Jahr über eine relativ konstante Wassertemperatur von 12 °C, und diese variiert auch über die gesamte Tiefe des Sees nur gering. Rund um ihn herrscht ein eigenes, milderes Mikroklima, so daß unter idealen Bedingungen Landwirtschaft getrieben werden kann, vor allem wird Quinoa angebaut. Quinoa, die Andenhirse, gedeiht prächtig in diesen Höhen, denn sie gedeiht nur unter bestimmten Bedingungen. Der Anbau von Hirse wurde von den Spaniern abgelehnt, weil er nicht den europäischen Lebensgewohnheiten entsprach.
    Während rechter Hand wie ein Silberstreif der kleine Titicacasee, der Lago Chico, auftaucht, steuern wir fast direkt auf die Halbinsel Copacabana zu. Dort befindet sich ein Marienheiligtum. Man spricht hier mit den Heiligen und droht ihnen sogar mit der Faust. Die Kirchen von Laca, Guaci und Tiahuanaco stammen allesamt aus dem Baumaterial der archäologischen Stätte. Der Stadt Copacabana vorgelagert sind die Sonnen- und die Mondinsel. Inka heißt Sohn der Sonne, und auf der Sonneninsel im Titicacasee wurde der erste Inka geboren. Zuerst waren es acht legendäre Inkas, dann gab es drei verbürgte. Diese waren der Inka Yupanqui mit dem Beinamen Pachacútec, was soviel heißt wie Verwandler der Erde, Topa Inca, der Eroberer der Küstenregion, und Huayna Capac, der das Reich nach Norden bis Kolumbien ausdehnte. Zwischen den beiden Söhnen Huayna Capacs, Atahualpa und Huáscar, entspann sich ein Bruderkrieg, der damit endete, daß Atahualpa seinen Bruder und Rivalen umbringen ließ.
    Wie also kam es, daß der Schweinehirte und Analphabet Pizarro sich siegessicher auf einen Kampf einlassen konnte? Truchillo in der Estremadura, ein steiniges, unwirtliches Land, das Menschen hervorbrachte, die etwas auszuhalten imstande waren, war nicht nur die Heimat Pizarros, sondern auch gleich fünfundfünfzig weiterer Conquistadores, die uns alle namentlich bekannt sind. Pizarro folgte 1502 dem Lockruf des Goldes und begleitete Vasgues Bilboa auf dessen Zug nach Panama. Er erreichte schließlich die Küsten Ecuadors oder Perus, von dessen sagenhaften Goldschätzen er gehört hatte. Das Heer der Inkas trat Pizarro erstmals bei Cajamarca entgegen. Der Augustiner Fray Celso Gargia war Augenzeuge und Chronist des Feldzugs. Als der Inkaherrscher die ihm übergebene Bibel zu Boden fallen ließ, war dies das Zeichen zum Angriff. Nach wenigen Stunden waren die Inkakrieger teils niedergemetzelt, teils in die Flucht getrieben, der Herrscher gefangengenommen. Atahualpa versprach, die Räume seines Gefängnisses mit Gold zu füllen, wenn Pizarro ihm die Freiheit beließe. Dieser sicherte sie ihm zunächst zu, konnte jedoch später sein Wort nicht halten, wenn er nicht Selbstmord begehen wollte. An der Kirche von Cajamarca hatte Pizarro bereits eine Urkunde anbringen lassen, wonach Atahualpa freigelassen würde. Dessenungeachtet wurde er am 29. August 1533 auf dem Richtplatz von Cajamarca, nachdem er zuvor noch das heilige Sakrament der Taufe empfangen hatte, hingerichtet, am selben Tage, an dem auch Johannes der Täufer enthauptet worden war. Das Urteil wurde mit der Garotte vollstreckt. Atahualpa ist somit als Christ gestorben, und mit ihm erhängte sich seine gesamte Dienerschaft. Ähnlich wurde später auch Tupac Amaru, Mancos Sohn, vor der Kathedrale in Cuzco hingerichtet, er wurde enthauptet und gevierteilt. In Anlehnung an Tupac Amaru nannten sich später die Guerillas in Uruguay Tupamaros.
    Peru war einst ein Land wilder Zustände. So befindet sich etwa bei Puno ein Gefängnis mit Hochsicherheitstrakt, in dem Mitglieder der terroristischen Vereinigungen Sendero Luminoso und Tupac Amaru einsitzen, unter oftmals unbeschreiblichen Haftbedingungen. Der ehemalige Philosophieprofessor Abimael Guzmann, der Gründer des Leuchtenden Pfades, befindet sich 12 m unter dem Meeresspiegel in Verwahrung, eingekerkert in Callao, ebenfalls einem Hochsicherheitstrakt.
    Auf der Insel Taquile stricken nicht die Frauen, sondern die Männer, was beweist, daß sie so furchtbare Machos nicht sein können. Zepita hat eine Kirche, die eigentlich viel zu groß ist für die Ortschaft, mit einer sehr schönen Fassade im Mestizenbarock. In Julí, dem Rom der Anden, gibt es noch vier große Kirchen: San Juan de Letran, La Asunción, San Pedro Mártir, Santa Cruz und das Haus des Stadtvogts. Gegen Abend kommen wir nach Acora. Dort erwarten uns senkrecht aufgestellte Porphyrplatten, eine geomorphologische Sensation. Bizarr geformte Überhänge bilden phantastische Formen aus, die wie das Rückgrat eines Dinosauriers aussehen. Reizvolle Kletterfelsen gibt es zahlreich an den Gestaden des Titicacasees, der, ähnlich dem Baikalsee, jede Menge Zuflüsse hat, aber nur einen einzigen Abfluß, den Río Desagnadero. Eine besondere Unsitte ist es, daß die Wahlpropaganda hierzulande einfach auf die Felsen geschmiert wird, was so manches Fotomotiv zerstört. Auch vor Puno gibt es wieder spektakuläre Felsformationen, und ich bedaure, daß wir nicht bereits vor 4000 Jahren hier sein konnten.

Schwimmende Inseln

    Der Titicacasee besitzt eine sehenswerte Besonderheit, die sogenannten Schwimmenden Inseln, neunundvierzig an der Zahl, die vom Volk der Uru bewohnt werden. Diese hatten sich, um sich vor den Inkas in Sicherheit zu bringen, auf im Boden verankerte Inseln aus Schilf und Stein zurückgezogen. Man besteige also im Ort Puno ein Schiff und fahre hinaus auf den See, durch weite Schilffelder, die genügend Fahrrinnen freilassen, dann weiter über grüne Algenteppiche, von denen ich nicht zu sagen vermag, ob sie natürlicher Herkunft sind oder von der Einleitung ungeklärten Wassers herrühren. Auf jeden Fall beherbergen diese schwimmenden Teppiche aus Schilf ganze Siedlungen, in denen es nicht nur Wohn- und Wirtschaftshütten gibt, sondern auch Schulen und Kirchen. Der traditionelle Wachtturm darf natürlich nicht fehlen sowie die Anlegestelle für die ebenfalls aus Schilf hergestellten Boote. Die mit Köpfen verzierten Schiffsschnäbel, deren Mäuler weit offenstehen, so daß man die langen Zähne nur allzu deutlich sehen kann, erinnern an die bekannten Wikingerschiffe mit Drachenköpfen am Bug, aber es läßt sich leider nicht sagen, ob diese eine Erfindung der Jetztzeit sind oder ob es sie früher schon gab. Die Totora-Boote, wie sie auch genannt werden, werden es auch gewesen sein, in größerer Ausführung freilich, die die tonnenschweren Steinblöcke nach Tiahuanaco transportiert haben. Im Rahmen der sogenannten Kota-Mama-Expedition, die im Titicacasee beginnt und deren Ziel die Erreichung des Atlantiks ist, wurde ein solches Schiff nachgebaut. Was damit bewiesen werden soll, ist mir allerdings unklar. Leider hat in die typischen Wassersiedlungen der Uru auch die Moderne schon Einzug gehalten, denn zunehmend lösen häßliche, oft nicht einmal täuschend echt übermalte Wellblechdächer die traditionellen Schilfdächer ab, und die Motorboote, die hier anlegen, stören zusätzlich die Idylle. Auch hat der Tourismus den Leuten ein nicht geringes Zubrot beschert, was wohl der Grund sein wird, warum diese Siedlungsform nicht schon längst aufgegeben wurde. – Wie ehedem liegen Schweine auf den kaum zwei Fuß breiten, abseits der größeren gelegenen Inselchen, wo sie kaum hinreichend Auslauf haben. Als wir erfahren, daß sie nachts aus ihrem Gefängnis befreit und an Land gebracht werden, sind wir beruhigt. Auf keinen Fall sollte ein Besucher, der den Titicacasee bereist, es verabsäumen, hier vorbeizuschauen; er wird mit unvergeßlichen Eindrücken belohnt.
    Unweit von Puno, in Sillustani, finden sich Grabtürme aus vorinkaischer Zeit, die auf etwa 1000 n. Chr. datieren, die sogenannten Chullpas. Bis zu zwölf Meter hoch ragen zahlreiche über die Halbinsel verteilte Türme auf, deren äußeres Mauerwerk aus fugenrein behauenen Quadern errichtet ist und die nach unten konisch zulaufen. Im Innern bestehen die Türme, die auf drei Etagen Grabkammern enthalten, aus Naturstein. Sämtliche Eingänge sind nach Osten ausgerichtet, also zum Sonnenaufgang hin, was auf die astronomische Bedeutung der Anlage hinweist und auf die Verehrung der Sonne als Naturgottheit. Die Toten wurden in mumifizierter Form beigesetzt. Neben hochherrschaftlichen Gräbern gibt es auch zahlreiche Gräber einfacher Leute, die an Ausstattung weniger reich und zumeist nur aus Natursteinen errichtet sind. Auch Opferaltäre mit Blutrinnen sind anzutreffen, und aus der Schau der Eingeweide wurde wohl ein günstiger oder ungünstiger Ausgang schicksalhafter Ereignisse vorhergesagt. Die ganze Anlage von Sillustani liegt hoch über steilen Abhängen des vulkanischen Umayo-Sees, dessen tafelbergähnliche Insel Erich von Däniken als Landebahn für UFOs ausgemacht hat. Weitab dieser Spekulation bleibt auch ohne an den Haaren herbeigezogenen Annahmen noch hinreichend viel Faszination um das Spektakuläre dieser Anlage übrig, die sich an Majestät ohne weiteres mit Stonehenge messen kann und die der das Dunkle in der präkolumbianischen Phase sich stets aufs neue ausmalenden Phantasie unerschöpfliche Nahrung bietet. Wie phantastisch das an graue Vorzeit erinnernde, den Kratersee umgebende steinerne Gewand sich im klaren Morgenrot eines der Schöpfung abgerungenen Tages ausnehmen muß, vermögen nur die zu erahnen, die, ehrfurchtsvoll erschaudernd, auch die alles verzehrenden Blitze sich vorstellen können, welche zuckend in schwärzlicher Nacht ein lodernd Feuer in einen der Türme warfen und seine Steine zum Bersten brachten.

Die vier Weltgegenden

    Die ersten Inkavölker kamen relativ spät, nämlich erst im 13. Jahrhundert, aus dem Tieflandbereich ins Hochland herauf, wo sie aufgrund ihrer besseren geistigen Voraussetzungen die dort lebenden Aymara-Völker unterwarfen. Nur der Herrscher wurde Inka genannt, und nur mit der leiblichen Schwester durfte der Nachfolger gezeugt werden, was vermutlich von der Vorstellung geprägt war, daß sich die geistigen und körperlichen Herrschermerkmale dadurch am besten erhalten ließen. Das Volk hieß Quechua, es hat das System der Terrassenbebauung eingeführt. Wenn ein Inka starb, wurde auch seine Frau eingemauert. Das Reich der Inkas war eine Kastengesellschaft, der Sohn mußte den Beruf des Vaters ausüben. Schon an der Kleidung erkannte man die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kaste. Privatbesitz gab es nicht im inkaischen Imperium, es gab lediglich die Verfehlung: du sollst nicht stehlen. Gold und andere Edelmetalle durften vom einfachen Volk nicht besessen werden. Mais, Türkis und Salz zählten als Währungen, ansonsten herrschte Naturalienhandel. Das Reich wurde zentralistisch von Cuzco aus verwaltet, was letztlich auch die Eroberung leicht möglich machte. Die Ankunft der Spanier fand zudem zu einem für sie günstigen Zeitpunkt statt.
    Auch wenn die Kultur der Inkas als nicht besonders alt anzusehen sein mag, gibt es doch noch wesentlich ältere Kulturen im Bereich des heutigen Peru, z.B. die Paracas-Kultur. Die ältesten Mumien der Welt wurden in Südamerika gefunden, und nicht in Ägypten. Paracas wurde von der Nazca-Kultur abgelöst. Über die Entstehung der Scharbilder von Nazca gibt es übrigens sechsunddreißig verschiedene Theorien, die alle nicht zu widerlegen sind. Huari in der Nähe von Ayacucho ist eine Zweigstelle der Tiahuanaco-Kultur. Die Mochica-Kultur am Río Moche schuf die hervorragendsten Keramiken, die die Menschen der damaligen Zeit sehr realistisch darstellten, auch Menschen negriden Typs und Buddhas, die es eigentlich in Südamerika nicht geben dürfte, sind darunter. Die Chimú-Völker waren Meister der Metallverarbeitung, des Verlötens von Metallen. Von der Virú-Kultur leitet sich wahrscheinlich der Name Peru ab.
    Eine weitere interessante Frage ist, ob die kulturelle Entwicklung Amerikas autonom, also unabhängig von jener in Europa, verlaufen sei. Hierzu vertritt unser Reiseleiter die Auffassung, mit der er übrigens nicht alleine dasteht, daß es lange vor Christoph Kolumbus transatlantische und transpazifische Fahrten gegeben habe, da gewisse kulturelle Entwicklungen in allen größeren Kulturräumen zeitgleich stattgefunden hätten. Er führt zur Untermauerung dieser These als Beispiele den Kalender, die Gestirnsbeobachtung, die Keramik, den Übergang zur Seßhaftigkeit sowie die Steinbauweise und die Entstehung bestimmter Kasten an. Auch sprachliche Parallelen gibt es. Es finden sich zudem eine Menge von Inschriften in Amerika, die auf frühe transatlantische und transpazifische Fahrten hindeuten, z.B. die Bat Creek Stone Inscription in Tennessee. Die sogenannte Paraíba-Inschrift wurde als Fälschung abgetan. Cyrus H. Gordon fand aber im Text ein Kryptogramm, womit die Authentizität bewiesen ist. Demnach war der Verfasser der Inschrift Jude. Auch im Gilgamesch-Epos, dem Vorgänger-Buch der Bibel, sowie in den Psalmen fänden sich angeblich Hinweise. An ägyptischen Pharaonenmumien wurde Kokain im Haar gefunden. Das Zeichen für den US-Dollar ist ein uraltes phönizisches Handelszeichen. Baal, der phönizische Gott und der Mam der Mayas wurden beide als alte Männer dargestellt. Die Trachten der Karen in Thailand stimmen mit den Maya-Trachten identisch überein. Es gibt ferner im Süden der iberischen Halbinsel zwei Altäre aus Brasilholz, die viel früher datiert sind als die Fahrt des Kolumbus, was letztlich einen Beweis dafür liefert, daß Amerika bereits vor 1492 entdeckt worden sein muß. Als Kolumbus nach Amerika segelte, fuhr er gewiß nicht ins Blaue, sondern er hatte Kartenmaterial des Nürnbergers Martin Behaim bei sich. Seine Reise dauerte bis auf den Tag genau die vorausberechnete Zeit, wenngleich man erst 1513 Gewißheit erlangte, daß Amerika nicht Indien war, sondern daß es noch einen zweiten großen Ozean gab, das Mare do Sul, welches als erster Bilboa entdeckt hat.
    Heute ist Peru präsidiale Republik. 52% der Bevölkerung leben in der Küstenregion, fast 7% der Peruaner in größeren Städten. Die Aymara-Bevölkerung ist in der Gegend um den Titicacasee angesiedelt, nur 60% sprechen und verstehen Spanisch. Auch in Peru gibt es keine Meldegesetze, und es herrscht eine gewaltige Landflucht. Durch die Agrarreform von 1969 wurden die Großgrundbesitzer enteignet und deren Land an die abhängigen Farmarbeiter verteilt. Der Staat hat es allerdings verabsäumt, auch entsprechende Kredite auszubezahlen, womit letztere nicht einmal das Geld hatten, um das entsprechende Saatgut zu kaufen, und es zu einem gewaltigen Einbruch in der Landwirtschaft kam. – Die Flagge Perus ist rot-weiß-rot, wie übrigens auch die Flagge von Asunción der österreichischen aufs Haar gleicht. "Wissen Sie, warum die österreichische Fahne rot-weiß-rot ist?" unterbricht unser Reiseleiter seine Ausführungen. "Das geht auf die Kreuzfahrerzeit zurück," fährt er fort, "als in der Schlacht um Akkon der weiße Waffenrock eines Kreuzritters über und über rot gefärbt war vom Blut der Feinde. Lediglich an der Stelle, wo er seinen Gürtel trug, blieb jener weiß." Sein Gewand sei als Banner hergenommen worden, meint er, und das beruhe auf einer wahren Begebenheit.
    Die drei geographischen Hauptzonen Perus sind das wüstenhafte Küstengebiet, das Gebirgsland der Anden und der Bereich der Selva an den Abhängen zum Amazonasgebiet. Zwischen West- und Ostkordillere befindet sich das Altiplano, auf dem der Titicacasee liegt und durch das auch unsere heutige Tagesetappe nach Cuzco verläuft. Obwohl das Meer noch 300 km entfernt ist, trifft man bereits hier auf Seemöwen. Juliaca, durch das wir bald am Morgen kommen, ist ein furchtbares Räubernest, wo selbst aus fahrenden Autos Gepäck gestohlen wird, so daß wir durch diesen Ort zügig hindurchfahren, quer über einen Markt, der auch vor den Eisenbahnschienen nicht haltmacht. Für die 360 km lange Bahntrasse von Puno nach Cuzco benötigt der Zug 11 Stunden. Im Ort herrschen wieder unbeschreibliche hygienische Zustände, die Stadt gleicht einer Müllhalde, auf der schmutzige Menschen mehr dahinvegetieren als leben. Der Río Juliaca ist einer der Zuflüsse des Titicacasees, und bis vor vier Jahren mußte man über ihn die Furt wählen, da die Brücke nicht instand gesetzt war bzw. sich im Zustand der Ausbesserung befand. Somit nähern wir uns unserem nächsten Ziel, das ist Pukará.
    Pukará heißt auf Ketschua Festung, und im gleichnamigen Ort befinden sich noch Grundmauern einer alten inkaischen Befestigung, die angelegt worden war, um das umgebende Gebiet unter Kontrolle zu halten. Zum Fest des heiligen Antonius finden hier Stierkämpfe statt, wobei betrunkene Indios gegen den Stier antreten. Dabei kommt es häufig zu Todesfällen. Ist der Stier nicht aggressiv genug, ritzt man ihm die Flanken und träufelt Chilischoten in die Wunde, woraufhin das Tier dann furchtbar aggressiv wird. Auch Ritualmorde kommen hier noch häufig vor, und zwar werden meist junge Menschen der Pachamama geopfert, zumeist Mädchen im Alter von siebzehn Jahren, aber auch Jungen sind darunter. Den Betroffenen werden die Halsschlagadern geöffnet, bis sie keinen Tropfen Blut mehr im Körper haben, und das alles nur, damit die Ernte im nächsten Jahr gut wird. Denn nach wie vor ist die Aymara-Kultur lebendig. Man glaubt, daß jeder Mensch zwei Seelen habe, die nicht getrennt werden dürfen, und diese Vorstellung geht auf die Inkas zurück. Die Aymara-Sprache wurde sogar, weil sie sehr logisch aufgebaut ist, als Basis-Sprache für Computer weiterentwickelt. Bei der Aymara-Bestattung wird der Tote nicht voll in die Erde gebettet, sondern es wird ihm ein oberirdisches Fenster nach draußen gelassen, meistens von einem Häuschen bedeckt.
    Voraus wird nun die Sicht auf den Nam Pikuani frei. Dann kommen wir an Ayaviri vorbei, das immer ganz schlimm von der Sendero Luminoso betroffen war. Das oberste System des Sendero Luminoso war es, den alten Inkastaat wiederzubeleben, allerdings mit äußerst marxistischen Methoden. Brillenträgern etwa wurde der Kopf abgeschlagen, da die Brille das Zeichen des Intellektuellen ist.
    Das nahe Santa Rosa wird überragt vom Nevado de Sunipani. Ab jetzt steigt die Straße an bis zum 4338 m hohen LaRaya-Paß. Hinter der Paßhöhe beginnen die Quellflüsse des Río Urubamba. In der Nähe von Sicuani befand sich in inkaischer Zeit der berühmte Viracocha-Tempel, der Tempel der Schöpfergottheit. Viracocha wurde meist mit Jesu gleichgestellt. Neben dem Tempel stehen große Nahrungsspeicher, denn bei Feierlichkeiten mußten die Menschen vom Tempel versorgt werden. Von letzterem sind aber kaum noch Reste vorhanden. Bei Sicuani überqueren wir auch den Río Vilcanota, der weiter flußabwärts zum Río Urubamba wird.
    Auch in Peru hat es im vergangenen Sommer viele Murenabgänge gegeben, was man aus der großen Zahl von Baustellen ersehen kann, die erkennen lassen, wo überall Straßen ausgebessert worden sind. Es ist beeindruckend, wie zahlreich sich zu beiden Seiten des Flußtales die Terrassen bis fast zu den Berggipfeln hinaufziehen. Durch ein an grünen, zum Teil terrassierten Hängen reiches Flußtal setzt sich unsere Route fort, auf erst im Ausbau befindlichen, meist ungeteerten Straßen, wo der Stechginster noch am Blühen ist. Nach einer Brücke über den Río Vilcanota kommen wir nach Urcos, wo die ledigen Mädchen flache Hüte tragen, die verheirateten Frauen hochkrempige. Ansonsten ist dies ein primitives Nest, das man schnell wieder fliehen möchte. In der Lagune von Urcos, einem alten Kratersee, den bis heute niemand ausgelotet hat und der nach Aussage der Einwohner grundlos sein soll, ist angeblich die goldene Kette von Cuzco versenkt worden. Diese Kette, welche die Spanier gesehen haben, wurde bislang nicht aufgefunden. Sie soll nach anderen im Titicacasee versenkt worden sein. Jacques Cousteau versuchte mit seinem U-Boot, den Inkaschatz zu finden, vergeblich! Was er fand, war eine unbekannte Froschart.
    In Höhe der vorinkaischen Ruinenstätte Pikillaqta, die der Huari-Kultur zuzuordnen ist, verlassen wir das Tal des Río Vilcanota, der in Richtung Pisac weiterfließt, und folgen dem Flußtal des Huatanay. Vor uns sehen wir die Reste einer alten inkaischen Mauer, durch die die alte Inka-Reichsstraße hindurchführte. Als die Sonne ihre letzten Strahlen über das Gebirge schickt, erreichen wir Cuzco, das in den letzten Jahren gewaltig angewachsen ist. Die Zuwanderer Cuzcos wurden schon von den Inkas in Richtung der vier Weltgegenden angesiedelt, so daß sich aus der Vogelperspektive die Form eines Pumas ergab. Die vier Füße des Pumas haben Ihre Entsprechung den vier Flüssen Perus, die allesamt nach Nordwesten fließen: Apurímac, Urubamba, Ucayali und Marañón.

Im Nabel der Welt

    Cuzco heißt "der Nabel der Welt". Es liegt in einem Talkessel, das Stadtzentrum in einer Höhe von 3400 m. Nachdem wir gestern abend noch einen flüchtigen Spaziergang durch die Stadt wagten und von dem nächtlichen Treiben, das sich dort abspielte, ganz angetan waren, machen wir uns heute morgen auf zu einer eingehenderen Besichtigung der Sehenswürdigkeiten. Unser erster Besuch gilt dem Sonnentempel Qoricancha, dem einst größten Heiligtum im Inka-Staat, welches Francisco Pizarro dem Dominikaner Valverde zur Errichtung des Klosters Santo Domingo schenkte. Die Grundmauern, durch die bekannte Fugentreue aller inkaischen Bauten sich auszeichnend, sind nochmals eine Steigerung alles und jeden, was wir an Mauerwerk bislang gesehen haben oder noch sehen werden. Es scheint, als wären die Blöcke submillimetergenau mit dem Laserstrahl herausgeschnitten und mit elektrischen Schleifsteinen poliert worden, derart glatt und übergangslos sind diese Granitblöcke geformt und aufeinandergesetzt, hochgehoben von einer unbekannten Kraft, geradezu, als hätten die Inkas das Problem der Gravitation gelöst gehabt und ein Wissen besessen, das uns Heutigen wieder abhanden gekommen ist. Und stets neigen sich diese Palastmauern überhängend nach außen, sich nach dem Boden hin verjüngend, von durchbrochenen und blinden Fenstern durchsetzt. Mit dieser Art zu bauen haben sich die Inkas unvergänglichen Ruhm erworben und der Nachwelt ein unnachahmliches Zeugnis bis in alle Ewigkeit überliefert. Wäre nicht seinerzeit Cuzco von einem Erdbeben heimgesucht worden, wir wüßten wohl nie, was sich unter den Klostermauern verbarg, hätte nicht der Spaten danach gesucht. Somit hat es sich also mehr als einmal bewahrheitet: die spanische Barbarei hat unschätzbare Kulturgüter zu vernichten getrachtet – und beinahe wäre ihr das auch gelungen –, um ihre bigott schwülstigen und überladenen Kirchenbauten daraufzusetzen; und wahrlich, jeder einzelne von einem Inka behauene und geglättete Stein ist tausendmal schöner als all der pompöse und überschwengliche Zierat. Warum mußten diese Fehlgeleiteten in ihrer religiösen Engstirnigkeit eine unvergleichliche und großartige Kultur vernichten? Die Antwort kann nicht nur in der Gier nach Gold und Edelsteinen liegen, nein, es sollte die Erinnerung ausgelöscht werden an vergangene Pracht und Herrlichkeit, es war das erklärte Ziel, mit Stumpf und Stiel auszurotten, was nachmalig zu einer Bedrohung hätte werden können. War dem Indio erst seine Identität geraubt, war er zum Nichts gestempelt; so war er willfährig und gefügig in den Augen der neuen Machthaber. Auch wenn diese mit Recht sich angewidert fühlten von den grausamen Menschenopfern, hätten sie sich nicht mit dem Töten der Menschen begnügen können, um wenigstens die Bauwerke zu erhalten? Nein, die Menschen konnten sie nicht vollends ausrotten, da sie ihre Arbeitskraft benötigten, Werkzeuge also, um der heiligen katholischen Kirche zu dienen. Und wirklich, diesen Diensten sind wahre Wunderwerke entsprossen, denn wo man auch hinblickt in Cuzco, an jeder Fassade, die unter Anleitung der Jesuiten hochgezogen wurde, finden sich zwei Welten miteinander verschmolzen, die des heidnischen Glaubens und die der neuen Religion. Und unter den vielen hundert Bildern der Cuszener Schule sind immer wieder heidnische Symbole zu finden – wie etwa die Sonne eingeflossen ist –, deren Urheber einheimische Künstler waren. So schreiten wir heute ehrfurchtsvoll durch den Sonnen- und Mondtempel, oder besser gesagt, was davon übriggeblieben ist, und wir kommen aus dem Staunen nicht heraus, denn der Fragen werden eher mehr statt weniger. Durch die sogenannte Inka-Gasse, wo Kolonialbauten über inkaischen Mauerresten errichtet wurden, gelangen wir zur Kathedrale, die sich noch immer im Zustand der Restaurierung befindet und von der niemand weiß, welchem Heiligen sie geweiht ist. Es erübrigt sich, es anzusprechen, mit welcher Pracht und welchem Pomp in dieser und der Lateralkirche La Sagrada Familia Aufwand getrieben wurde, um sie mit Gold und Silber auszuschmücken. Das Gold, das hier verwendet wurde, riß man von den Mauern des Sonnentempels, doch hätte es genügt, eine und nur eine Kirche zu bauen. Doch damit nicht genug, es bedurfte fünfzehn katholischer Kirchen, um das Neue Cuzco auszuschmücken, denn Seiner Herrlichkeit wäre eine Kirche nicht genug gewesen. Man stelle sich nur einmal vor: selbst die Sakristei ist derart überschwenglich mit Gemälden ausgestattet, daß man erbost ist und erstaunt zugleich, mit welchen Mitteln jedem Erzbischof, den diese Stadt aufnahm, ein Denkmal seiner selbst gesetzt wurde.
    Genug nun des Stilgemischs aus Barock und Renaissance, denn es treibt uns hinaus in klarere Höhen über der Stadt, wo die Inkafestung
Sacsayhuaman den Menschen erschreckt, der solches sieht: Klötze von der Größe eines Einfamilienhauses, die aus entfernten Steinbrüchen herangerollt wurden, sind millimetergenau und ohne Bindemittel ineinandergepaßt, Steinbastion an Steinbastion reiht sich hier aneinander, und in drei Mauerringen wirken selbst die Reste dieser atemberaubenden Festung noch großartiger als die großartigste abendländische Burg. Denn wahrlich, niemals habe ich in Europa eine Burg oder Festung gesehen, die aus mehr Steinmaterial erbaut gewesen wäre als diese hier. Mir erscheint bis heute unbegreiflich, wie die Spanier dieses Mahnmal, das an das Unvergängliche heranrührt, überhaupt einnehmen konnten, denn ihre Kanonen machten mehr durch Lärm Eindruck denn durch Sprengwirkung. Allein es geschah. Sacsayhuaman ist ein Ort großartiger Aussicht, hinab auf die Plaza de Armas, den schönsten Platz Südamerikas, bis hinüber zum Flughafen, wo fern der Statue des Segnenden Christus im cuszenischen Blau der schneebedeckte Nudo Ausangate sich mit noch größerer Herrlichkeit zum Himmel erstreckt.
    Hinter der Inkafestung befindet sich eine Art Amphitheater, das Tausenden Menschen Platz bot. Man weiß allerdings nicht, da es keine schriftlichen Aufzeichnungen hierzu gibt, was sich darin abgespielt hat. Höher die Berge hinauf, gelangen wir zum unheilvollen
Kenkofelsen, über den nur wenig zu entschlüsseln ist, von dem man aber mit Sicherheit zu sagen weiß, daß er, an Blutrinnen erkennbar, Tier- und Menschenopfer gesehen hat. Wann immer der Inka voraussah, daß große Dürre bevorstand, glaubte er sich die Regen spendenden Götter nur durch sühnendes Menschenblut geneigt machen zu können.
    Ein weiteres Quellheiligtum, dessen Wasser noch heute frisch und trinkbar sind, ist
Tambomachay, in noch größeren Höhen gelegen und noch weiteren Ausblick gewährend. Auch hier hüllt sich die Archäologie weitgehend in Schweigen, und man ist hinsichtlich Erklärungen auf pure Mutmaßungen angewiesen. Auf dem Weg dorthin kommen wir noch an einer, jedoch kleineren Inkafestung vorbei, die den Namen Pukapukara trägt.
    Als wir zurück in Sacsayhuaman sind, werden wir Zeugen eines Dokumentarfilms über den Kampf zwischen Indianern und Spaniern, der hier gerade mit viel Aufwand gedreht wird. Die Kostüme der Indios wie auch die Rüstungen und sonstigen Requisiten sind täuschend echt, und wir bitten die Filmleute, das alles photographieren zu dürfen, was man uns letztlich auch gestattet. Ständig auf der Suche nach geeigneten Motiven, verkleide ich mich für ein Photo kurzerhand als Konquistador.
    Als wir zur Zeit der größten Mittagshitze in die Stadt zurückkommen, verspüren wir alle ein Gefühl des Hungers. In der sogenannten Chicceroneria ist die Spezialität des Hauses gebratene Schweinehaut, die allerdings nicht jedermanns Geschmack ist, doch die Einheimischen lieben dieses Gericht heiß und innig. Schließlich erliegen wir dem Verlangen nach dem als äußerst schmackhaft angepriesenen Fleisch des Meerschweinchens, welches mit Kopf und Gliedmaßen serviert wird. Das Fleisch und seine Kruste stammen aber entweder von einem alten Tier oder ich bin zu voreingenommen, um die Schmackhaftigkeit dieses Fleisches bestätigen zu können. Es schmeckt wie eine Mischung aus Huhn und Kaninchen, und wenn die Haut derart zäh ist wie diese, muß man anstatt zu Messer und Gabel zu den bewährten Händen greifen. Ein Meerschweinchen vermag darüber hinaus für einen Indio eine angemessene Portion sein, für einen Gringo ist sie es nicht.
    Auf der Plaza de Armas herrscht nachmittags reges Treiben, das Wetter ist zauberhaft, und
Kathedrale wie Jesuitenkirche leuchten in herrlichem Rot. Wir haben Glück um diese Jahreszeit, denn Touristen sind nicht viele in der Stadt.

Der Weg des Inka

    Vom Bahnhof in Cuzco fährt die Eisenbahn der Peru Rail in drei Stunden und zwanzig Minuten nach Agua Calientes, wo man mit Zubringerbussen in zwanzig Minuten nach Machu Picchu hinaufgebracht wird. Da Cuzco in einem Talkessel liegt, der zu steil ist, als daß ihn die Eisenbahn ohne Umstände bezwingen könnte, sind etliche Spitzkehren nötig (ich glaube vier), um die Hochfläche über Cuzco zu erreichen. Spitzkehre bedeutet nicht etwa, daß der Zug sie tatsächlich ausfährt, sondern er ändert lediglich seine Fahrtrichtung und bewältigt quasi im Zickzack, mit Hilfe dieses einfachen Tricks, eine größere Steigung als unter normalen Umständen. Der Bahnangestellte, der dazu die Weichen stellt, fährt mit dem Zug mit und springt an jeder Kehre auf und ab. Nachdem wir auf diese umständliche Weise eine Paßhöhe von 3600 m erreicht haben, verläuft die weitere Strecke ab dort nur noch ständig bergab, bis wir auf einer Höhe von 2400 m über Normalnull angelangt sind. Machu Picchu, das, wie wir oben gesagt haben, mit Bussen erreicht werden kann – wer Zeit und Muße hat, sollte es sich jedoch nicht nehmen lassen, den Aufstieg zu Fuß zu bewältigen –, liegt nochmals gut 400 m höher. Durch ein Seitental eines Zuflusses des Río Urubamba führt die Trasse stets am orographisch linken Ufer durch tiefe Schluchten, die der Bach durch das alluviale Gestein des Altiplano gefräst hat, bis wir den eigentlichen Río Urubamba erreichen, dessen weiterem Verlauf wir nun bis Agua Calientes folgen; sein Name rührt daher, daß es an diesem Ort warme Quellen – zum Teil kochend-heiße – gibt. Fast unbemerkt wechselt nun, je tiefer wir kommen, die Hochlandflora mit der des Amazonas-Tieflands ab. Opuntien und der nicht endemische, gerade in voller Blüte stehende Ginster begleiten uns auf unserer wildromantischen Fahrt, immer am Ufer des Río Urubamba, eines Nebenflusses des Río Ucayali, entlang. Das junge alluviale Gestein ist nun durch gewachsenen, massiven Granit abgelöst worden, aus dem die Cordillera Vilcanota besteht, jene Berggruppe, zu der auch Machu Picchu gehört, das hoch über einer Flußschleife liegt. Der Artenreichtum ist nunmehr auf das Zehntausendfache angestiegen, und der Zug fährt, von tosenden Wassern begleitet, die das Herz eines jeden Kayakfahrers höher schlagen lassen, durch eine überwachsene grüne Pflanzenhölle am Rande eines undurchdringlichen Dschungels. Es geht durch Tunnels und unter Felsüberhängen hindurch, und immer tiefer fährt unser Zug in eine Welt der Schatten und der Nebelschwaden hinein, aus denen leichter Sprühregen tritt. Selbst die schwarzen senkrechten Felswände scheinen jetzt von Pflanzen überwachsen, während am Bahndamm ein Meer von Blumen prangt, die in den grellsten Farben leuchten. Der zunächst schlammig-braune Urubamba stürzt nun über Felsblöcke hinunter, die ihn in eine einzige weiße Gischt verwandeln. Bedrohlich und düster wirkt diese immergrüne Amazonashölle, während das rhythmische Geräusch der Lokomotive auf die Seele wirkt, als ginge die Fahrt ins Ungewisse. Was zunächst noch wolkenverhangen aussah, wird rasch heller, und die Nebel reißen auf, als wir, in Busse umgestiegen, uns in vielen Serpentinen hinaufschlängeln zu der oben thronenden Festung, die erst 1911 entdeckt worden ist, auf der Suche nach Vilcabamba. 1912 wurde dann von Cuzco aus das Schienennetz verlegt, und zuerst hat sich ein dampfendes Stahlroß den Weg vom Hochland herab durch den Regenwald gebahnt, als die Welt von einer sensationellen Entdeckung erfuhr, einer auf unzugänglichen bizarren Felsen gelegenen Inkastadt. Es ist wahrlich der Höhepunkt unserer Reise, als wir fassungslos vor dem stehen, was wir bisher nur von Postkarten her kannten: eine vollständig erhaltene Stadt mit Häusern, Tempeln, Wasserleitungen und einem Observatorium, Sonnen- und Mondheiligtum zugleich. Jedem, der dies zum erstenmal sieht, wird der Atem stocken, das ist gewiß, denn hier ist alles einzigartig: die tiefen Abgründe, der Blick in das wilde, schauerliche Tal des Río Urubama, der Blick auf den ehemaligen Vulkanschlot Huayna Picchu und der Blick auf die zum Greifen nahen, gezackten und unglaublich hoch wirkenden, schneebedeckten Kordillerengipfel, die die Hunderte von Metern hohen, senkrecht abfallenden Wände der Vorberge majestätisch überragen.
    Noch ehe ich mich der Besichtigung widmen möchte, brenne ich darauf, noch größere Höhen zu erklimmen als die erreichten und den Vulkankegel Huayna Picchu zu besteigen, der die Inkastadt um nochmals mehr als hundert Meter überragt. Zunächst noch in Wolken getaucht, wird die Sicht auf ihn bald frei, und nun brennt auch die Sonne gnadenlos herab auf das verbrannte Gestein. Ströme von Schweiß vergießend, gelange ich in weniger als 40 Minuten auf den Gipfel - von entgegenkommenden Touristen, die ich so sehr liebe, gehindert -, und am Ende führt eine schmale Röhre, in welche Stufen eingelassen sind, auf die abschließende Felsplatte. Da die umgebende Bergwelt noch wolkenverschleiert ist und ihr Gesicht nicht zeigen will, hat sich der Anstieg allein um der Aussicht willen nicht gelohnt, so daß ich mich neuen Zielen zuwende - dem Inka Trail. Was harmlos beginnt, endet jäh. An einer abgestürzten Holzbrücke muß ich nach einer guten dreiviertel Stunde wieder umkehren, gerade als der Weg anfing, interessant zu werden. Manchmal nur eine Fußesbreite, fällt rechts die Steilwand 500 m tief ab, während über mir eine ebenso hohe senkrechte Felswand sich erhebt. Kaum gesichert und das Unglück herausfordernd, zeichnet sich dieser Steig dem Betrachter von fern wie ein Schnitt in der Wand ab, einmal aufwärts, einmal abwärts, und ich wäre wahrscheinlich niemals mehr umgekehrt, wenn nur ein Weiterkommen möglich gewesen wäre. Seltsame Pflanzen, deren Namen ich nicht kenne, mit kelchartigen Blüten, wachsen zuhauf in den Bäumen, so daß man sie fast greifen möchte. Aber jeder weitere Griff nach diesen paradiesischen Früchten wäre tödlich, und die Ernüchterung bringt mich auf den rechten Weg zurück, und der führt zum Sonnentor, welches, ebenso hoch wie der Huayna Picchu gelegen, die Schneise, das Einfallstor zur Inkastadt bildet. Es ist nicht möglich, Machu Picchu in nur vier Stunden auszukundschaften und alle seine Rätsel auszuloten, man muß ein zweites Mal kommen, weil einmal nicht genug ist; also heißt es Abschied nehmen.
    Ein Indianerjunge, der oben losläuft, als wir uns gerade in Bewegung setzen, erreicht uns jedesmal zur rechten Zeit an der Straße, noch ehe unser Fahrzeug den Kreuzungspunkt passiert, und ich denke mir, daß er fast heruntergeflogen sein muß, damit ihm so etwas möglich war. Aber es ist kein Geist, der da am Wegrand steht und uns zujubelt und winkt, auch sind es nicht mehrere; es ist stets dasselbe Gesicht und dieselbe Stimme, die uns zuruft. Die erst in viel späterer Zeit angelegten Serpentinenwege nämlich werden im rechten Winkel von einem Treppenaufgang gekreuzt.
    So, wie wir gekommen sind, fahren wir von Agua Calientes auch wieder zurück, nur dauert es diesmal etwas länger, da wir beständig bergauf, und nie bergab fahren. Als die Kordillere von den letzten waagrecht einfallenden Sonnenstrahlen nur mehr gestreift wird und das Licht bereits gespenstisch lange Schatten auf den Boden wirft, da wird uns schlagartig klar, welchen Grad an Vollkommenheit die Schöpfung in diesem Augenblick erreicht hat. Noch während sich die zackigen Bergspitzen, einem Schattenspiel gleich, gegen den gelblich-weißen Horizont abzeichnen, tauchen unter uns die ersten Lichter von Cuzco auf, und einem Lichtermeer gleich erstrahlt die Stadt bei unserer Ankunft, als habe in dem Moment die hell erleuchtete Statue des Segnenden Christus mit ausgebreiteten Armen den Takt dazu gegeben. Jetzt erklingen die Töne der Panflöte eindringlicher, und das auf ihr gehauchte Lied "El Condor Pasa" hat nun etwas ganz Gewaltiges an sich, so als würde es von einem Chor der Auferstehung angestimmt.

Das Heilige Tal der Inkas

    Unser letzter Besichtigungstag im Hochland von Peru vervollständigt die Liste der besonderen Sehenswürdigkeiten rund um Cuzco. Im wildromantischen Tal des Urubamba liegt hoch über dem Fluß eine weitere Bergfestung bzw. ein Heiligtum der Inkas, Pisac. Wie stets bei Inkafestungen, sind riesige Terrassenfelder in die Anlage einbezogen, offenbar, um im Fall einer Belagerung über genügend Lebensmittelreserven zu verfügen. An erkennbaren Gebäudekomplexen sind zu nennen: der Sonnentempel, die Wohnungen der Sonnentempeljungfrauen sowie einige Wachttürme, um den Inkaweg zu sichern. Auch hier wieder ist der Weg so angelegt, daß er nach Art einer Absatzes aus der senkrechten Felswand herausgehauen ist, und überall dort, wo sich Steigungen ergaben, wurden Treppen angelegt, so daß man bequem vorankam. Das gesamte Bergmassiv, welches man umwandern kann, ist wild von Pflanzen überwuchert. Von oben herab bietet sich eine wunderbare Aussicht ins Urubamba-Tal. Unvermutet, nach einer Wegbiegung, fällt der Blick hinab auf den Sonnentempel, wo wiederum fugenrein und ohne Bindemittel, in der Absicht, ein Monumentalbauwerk zu schaffen, rosafarbene Granitblöcke aufeinandergetürmt wurden. Die gegenüberliegenden Felswände sind von unzähligen Höhlen durchlöchert, die als Grabkammern dienten; in ihnen wurden mumifizierte Leichname entdeckt, die allerdings meist Grabräubern zum Opfer gefallen sind. Auch die Spanier scheuten sich nicht, Nekroplen um der Grabbeigaben willen zu plündern. Die Festungen Pisac am Oberlauf und Machu Picchu am Unterlauf des Urubamba, der das Heilige Tal der Inkas durchströmt, waren wohl zugleich als Grenzbefestigungen gedacht, um eindringende Feinde in die Zange nehmen zu können, denn aus diesem Tal ist eine Flucht schwerlich möglich.
    Überraschend war für uns die Entdeckung eines Feldes, welches mit Qui-ichu, einer Hirseart, bestellt war. Die Dolden haben, solange sie noch unreif sind, eine Farbe wie Zinnober, und wiegen mächtig sich im Wind. Aus Qui-ichu wird Popcorn gewonnen, welches man überall auf den Märkten angeboten bekommt.
    Als letztem Ausgrabungsort auf unserer archäologischen Reise fahren wir dann noch ein Stück des Wegs den Urubamba flußabwärts nach
Ollantaytambo, einer weiteren Inkafestung, die den zentralen Teil des Heiligen Tales beherrscht. Auf halber Höhe befindet sich ein unvollendeter Tempel, wo wie gehabt, auch auf die Gefahr hin, daß ich mich wiederhole, riesige Porphyritquader ohne Zwischenraum aneinandergefügt wurden. Warum der Tempel nicht vollendet wurde, vermag niemand zu sagen, aber vielleicht war es eine Folge des spanischen Einfalls ins Inkareich. Alles übrige gleicht wieder dem der bereits beschriebenen Festungen. Auch hier sind in schwindelnder Höhe auf dem Berg gegenüber Grabkammern in den Berg gemeißelt, und die Mausoleen bedeutenderer Menschen unterscheiden sich von den Gräbern gewöhnlich Sterblicher durch ihre Monumentalität. Vielleicht sollte nicht unerwähnt bleiben, daß Ollantaytambo des Lichtes wegen unbedingt am Morgen besichtigt werden sollte, da am Nachmittag das Gegenlicht so gut wie keine Aufnahmen ermöglicht.
    Nachdem wir dieses alles besichtigt haben, wählen wir hinauf ins Hochtal, in dem Cuzco liegt, beim Ort Urubamba, den bereits beschrittenen Chichao-Weg. Oben angelangt, bietet sich uns ein schöner Blick auf den Ort, das Tal und die dahinter aufragende schneebedeckte Cordillera Oriental, hinter der bereits das Amazonas-Tiefland beginnt. Die Fahrt zurück nach Cuzco erleben wir im weichsten Abendlicht, wo in fast 4000 m Höhe noch alles grünt und gedeiht und die Felder wie zu einem Farbenteppich aneinandergefügt sind. Wo immer wir halten, sind sofort die einheimischen Kinder bei uns, uns zu umringen und zu betteln. Die weitere Heimfahrt verläuft fast parallel zur Bahnlinie, so, wie wir am gestrigen Tage gefahren sind, und daher gibt es weiter nichts zu erzählen.
    Am Abend suchen wir noch den Antiquitätenhändler auf, den ich am Vortag ausgemacht habe, und lassen uns verschiedene Exponate zeigen. Ein Indio zieht mich ins Hinterzimmer und holt unter einem Regal einen Karton hervor, in dem feinsäuberlich verschiedene Keramiken verpackt sind. Er packt einige der Vasen aus, woraufhin mir fast das Herz stehenbleibt, denn keine einzige enthält an ihrer Unterseite den Stempel, der besagen würde, daß es sich um eine Imitation handelt. Ich bin von der Echtheit der Stücke überzeugt, und obwohl ich weiß, daß es in Peru verboten ist, Antiquitäten außer Landes zu führen, kann ich der Versuchung nicht widerstehen und erstehe eines der Exponate, freilich nicht das, das ich gerne gehabt hätte, denn unser Geldbeutel ist für die wertvolleren Objekte zu schmal und das Risiko, daß es uns vom Zoll abgenommen wird, zu hoch. Eine schöne Vase der Tiahuanaco-Kultur werde ich alsbald mein eigen nennen können. Dabei komme ich mir beinahe vor wie ein Grabräuber, aber ich sehe natürlich ein, daß man das Land nicht seiner Kunstschätze berauben darf. Doch ein magischer Zauber hat mich in diesem Moment in seinen Bann gezogen, eine Versuchung, der zu widerstehen meine schwachen Kräfte nicht ausreichen.

Goldschatz des Inka

    Da tagsüber die Thermik über den Abhängen der Anden zu stark ist, können größere Maschinen nur morgens und abends starten und landen. Als wir am Donnerstagmorgen in Cuzco auf das Flugfeld rollen, sind die Anden noch in Wolken gehüllt. Die Maschine benötigt eine wesentlich längere Startstrecke, bis sie die Abhebegeschwindigkeit erreicht, und das liegt an der großen Höhe, auf der Cuzco liegt. Als wir nach langem Anlauf endlich abheben, sind die Berge über uns fast zum Greifen nahe, und nur mit Mühe gewinnt die Maschine an Höhe. Schon bald erreichen wir die ersten Schneeberge, die in der Nähe von Cuzco aus zu sehen sind. Dann werden die Wolken dichter und hüllen die gesamte Andenkette in ein undurchsichtiges Weiß. Dies bleibt so, bis wir Lima erreichen, denn auch diese Stadt, in der Wüste gelegen und durch den kalten Humboldtstrom den größten Teil des Jahres eingenebelt, ist heute wolkenverhangen. Noch im Landeanflug scheinen die Triebwerke unserer Maschine zu vereisen, und der Pilot dreht, aus welchem Grund auch immer, mehrere Warteschleifen. Als wir nach glücklicher Landung ins Freie treten, riechen wir von der See her den unerträglichen Fischgestank, den kein sich regendes Lüftchen zu vertreiben vermag. Unser Hotel liegt im Stadtteil Barranco, der neben Miraflores zu den sichersten in Lima zählt. Gleich zu Beginn unseres Aufenthalts werden wir darauf hingewiesen, keine Wertsachen mit uns zu führen und nachts das Stadtzentrum zu meiden.
    Was in Lima wohl einmalig sein dürfte, ist das sogenannte Goldmuseum. Man könnte richtiggehend erschrecken, wenn man die abgetrennten Museumsräume betritt, denn was hier lagert, sind wahre Schätze an Gold, Berge von Gold, das Gold des Inka, hinter dem die Spanier her waren und das ihnen entgangen ist, weil es sich entweder um Grabbeigaben handelte, die in Grüften ruhten, die nicht geöffnet worden waren, oder weil sie mit diesen Völkern erst gar nicht in Berührung kamen. In der Tat wurde nahezu das gesamte Gold des Inkareiches eingeschmolzen und nach Spanien verschifft, unersetzliche Kunstschätze gingen verloren; das Gold, mit dem Atahualpa sich loskaufen wollte, wurde von den Wänden der Tempel gerissen, bis zwei riesige Räume damit angefüllt waren. Welche Pracht an Kunstgegenständen man hier sieht! zumeist der religiösen Verehrung dienend, aber auch als Kriegsschmuck der Männer gedacht, denn bei den Inkas war das Tragen von Ohrringen und Halsketten Männersache. Jene Männer durchstachen sich die Ohrmuscheln und steckten Ringe hinein, die einen Durchmesser hatten, daß die Ohrläppchen bis fast an die Schulter herabhingen. Auch das, was wir heute Piercing nennen, war den Inkas durchaus geläufig. Nasentrennwand und Lippen wurden durchstochen, um goldenen Gesichtsschmuck daran aufzuhängen. Das Haupt des Herrschers zierte eine Art Krone, ebenfalls aus purem Gold, und Priester oder Häuptlinge trugen Handschuhe aus Gold, die bis zu den Ellbogen reichten, mit goldenen Fingernägeln. Golddurchwirkte Gewänder und goldbestückte Decken aus Tausenden von Goldplättchen mögen einst die Begehrlichkeit der Spanier aufs äußerste gereizt haben. Es gibt nichts, was in diesem Museum nicht aus Gold und Edelsteinen ist: Lapislazuli holte man aus Chile, Amethyst aus Brasilien, Bergkristall aus Kolumbien und Perlen aus dem Ozean. Feinziselierte Goldeinlegearbeiten, Totenmasken aus hauchdünnem Blattgold und goldene Trinkgefäße sind nur einige Beispiele der vielen Arten von Schmuck und Gebrauchsgegenständen, welche man hier bewundern kann. Auch Tongefäße, die man fand, Schnitzereien und Waffen der Indios aus Stein wurden hier zusammengetragen, bearbeitet mit Obsidian, dem härtesten aller Gesteine. Mumien, präpariert wie im alten Ägypten, denen man Innereien und Muskeln herausschnitt, ehe man sie einbalsamierte, wurden aufrecht hockend unter Beigabe allen Schmucks bestattet. Es war den Inkas geläufig, Menschen den Schädel zu öffnen und das Loch wieder mit einer goldenen Platte zu verschließen. Dies geschah unter Vollnarkose nach Verabreichung betäubender Säfte aus bestimmten Pflanzen. Die Art und Weise, wie die Indios es verstanden, Gold und Platin zu verlöten, ist immer noch unbekannt. Ich glaube nicht, daß alle Fragen, die sich bis heute stellen, hinreichend geklärt sind, und je eingehender man sich mit der Kultur der Inkas beschäftigt, desto mehr Fragen tauchen auf. Neben diesen Goldfunden birgt das Museo de Oro noch andere Sammlungen, wie etwa Keramiken, Teppiche sowie eine Waffensammlung, die nicht nur Waffen, die auf dem südamerikanischen Kontinent in Gebrauch waren, beinhaltet, sondern auch solche aus aller Welt.
    Im Goldmuseum ist neben Keramikfunden der Inkas auch eine umfangreiche Sammlung alter Keramiken anderer Kulturen ausgestellt: der Mochica, Nazca und Chimú. Alle diese Völker haben Vasen und Gefäße mit unvergleichlichen Darstellungen ihres reichhaltigen Sexuallebens geschaffen, das hinter dem, was heute in Pornofilmen gezeigt wird, nicht zurücksteht. Im Gegensatz zu den Sexualvorstellungen anderer Völker, wo hauptsächlich die weiblichen Geschlechtsorgane verehrt wurden, ist es bei diesen Kulturen so gut wie ausschließlich der Phallus, welcher in den Darstellungen hervorgehoben wird. Überdimensionale Phallen in Gefäßform, mit Hoden so groß, daß man einen Tennisball darin unterbringen könnte, geben allerlei Rätsel auf. Zur geschlechtlichen Befriedigung wird man diese wohl kaum benutzt haben, zumal Exemplare von der Größe eines Pferdepenis darunter sind, aber ausgeschlossen werden kann auch das nicht, zumal man ja den Ton mit Fett geschmeidig gemacht haben könnte. Die Darstellungen der Geschlechtshandlungen wirken auf den ersten Blick schockierend, da sie so gut wie alle sexuellen Verirrungen zeigen: Sex mit Tieren, Sex zu dritt und zwischen Männern. Eine ausgesprochene Vorliebe scheinen die Inkas und andere präkolumbianische Kulturen für orale Spielarten besessen zu haben, Fellatio und Cunnilingus sind beliebte Varianten, und in den meisten Fällen sind die dargestellten Penisse überdimensional groß. Wir sehen Gefäße, bei denen die Harnröhrenöffnung beinahe die einzige Öffnung darstellt, so daß, falls aus diesen Gefäßen getrunken oder geraucht worden sein sollte, dies nur durch Saugen an einem künstlichen Penis möglich gewesen ist. Auch hingebungsvoll modellierte Vaginas dienen bei manchen Vasen als Austrittsöffnung. Es gibt dosenartige Gefäße, die sich nur über eine Steckverbindung aus Penis und Vagina schließen lassen. Das Angebot an Liebesstellungen reicht von der sogenannten Missionarstellung über die Rittlings- und Von-hinten-Stellung bis zur 69er-Position, ja selbst die Flanquette ist kunstvoll ausgeführt wie im Kamasutra. Man sieht also, daß den Inkas und deren Vorgängern keine noch so ausgefallene Spielart und Perversion unbekannt gewesen ist, und wir haben Besucher gesehen, die durch diese Ausstellung wie durch einen Sexshop gepilgert sind. Ob diese Praktiken dem einen oder anderen Anregung verschafft haben oder ihm zur Nachahmung empfohlen werden können, steht nicht in unserem Ermessen, aber mit Sicherheit können wir sagen, daß auf die von mir geschilderten Details von unserer lokalen Reiseleiterin mit keinem Wort eingegangen wurde, wahrscheinlich weil doch einige unserer Reisefreunde peinlich berührt worden wären, was wir hinreichend auch an uns selbst feststellen konnten.
    Mit einer Stadtrundfahrt durch Lima beschließen wir unser Besichtigungsprogramm. Der einzige Stadtteil, in dem Europäer in halbwegs vertrauter Umgebung leben können, ist der "mondäne" Vorort Miraflores mit seinen modernen Einkaufsstraßen und Hochhausbauten. Am Hochufer der Steilküste befindet sich der sogenannte "Liebespark", wo die Statue eines privaten Spenders, die ein Liebespaar zeigt, inmitten von Grünanlagen steht. Durch das Botschaftsviertel mit zum Teil recht pittoresken Gebäuden gelangen wir in die Innenstadt, dem einzig sehenswerten Teil von Lima, wo noch schöne Fassaden mit geschnitzten Holzbalkonen, die auf engstem Raum in der Nähe oder um die Plaza gruppiert sind, und reich geschmückte Kirchenbauten die Kolonialzeit überdauert haben. Die Kirche San Francesco ist innen im maurischen Stil gehalten, wobei die Wände abwechselnd rot-weiß bemalt sind. Die Kathedrale dient heute nur mehr als Museum. Vor dem Regierungspalast findet täglich um zwölf Uhr die Wachablösung statt. Durch mehrere am heutigen Tage stattfindende Demonstrationen gestört, ist die Stadt einigermaßen in Aufruhr. Die Polizei hat alles hermetisch abgeriegelt. Eine weitere, nicht zu übersehende Demonstration der Macht stellt das Reiterstandbild Francisco Pizarros dar, des Eroberers von Peru, der in stolzer Haltung, hoch zu Roß, mit gezücktem Schwert und in voller Rüstung zum erzbischöflichen Palast, seinem ehemaligen Wohnsitz, hinüberzublicken und der glorreichen Vergangenheit Spaniens nachzuhängen scheint. Der ehemalige Schweinehirte Pizarro hat es bis zum Vizekönig gebracht, weil er dem König ergebener war als beispielsweise Hernan Cortez. Warum nur hat Spanien seine Kolonien nicht behaupten können? Was waren die Gründe, daß dieses einstige Weltreich zerbrach? Sicher nicht nur die große Entfernung zum Mutterland. Wohl aber wuchs eine neue Bevölkerung heran, die sich nur zur Hälfte mit ihrer weißen Vergangenheit identifizieren konnte, die andere Hälfte blieb indianisch. So gleicht der Mestize dem Indio wie dem Weißen, klein von Gestalt und gedrungen, überwiegen je nach Erbgewicht bei dem einen die indianischen, beim anderen die europiden Züge. Wirklich schöne Menschen findet man unter den Mestizen kaum, und falls doch, so sind es die mit den uns vertrauten Gesichtszügen.
    Die Vororte der Hauptstadt sind verdreckt, die Fassaden heruntergekommen; in den Straßen dampft es von Urin, öffentliche Bedürfnisanstalten gibt es kaum. Sämtliche Häuser sind umzäunt, haben vergitterte Fenster oder sind von hohen Mauern umgeben. Es ist aber nicht allein die Armut, warum alles verfällt und verkommt, es liegt auch an der Mentalität der Menschen, gerade soviel zu einer sauberen Umwelt beizutragen wie unbedingt nötig. Dennoch sind die Menschen der Hauptstadt noch relativ am saubersten. Was uns jedoch gar nicht einleuchten will ist, wie diese sich die Nachfahren der Inkas nennen können, eines geistig wie kulturell hochstehenden Volkes, das all unsere Bewunderung verdient.

Nachruf

    Im Rückblick auf die vergangenen vier Wochen sehen wir eine Abfolge von Bildern verschiedenartiger Eindrücke vor uns, mit gemischten Gefühlen. Am wenigsten sind es die Menschen, die es mir angetan haben, zu stolz und zurückhaltend einerseits, zu sehr bettelnd und aufdringlich andererseits, als daß sie mich in ihren Bann ziehen könnten. Es liegt eine Kluft zwischen ihnen und uns, wie sie einst zwischen den Spaniern und den Indios gelegen hat, und der, der weiß, wie man sie überbrückt, möge sich glücklich schätzen. Insgesamt acht Zwischenfälle und Übergriffe mußten wir in dieser Zeit über uns ergehen lassen, Raubüberfälle und Diebstähle, geringfügige Delikte, wie manch einer sagen würde, bedingt durch die große Armut. In Südamerikas Metropolen ist ein menschenwürdiges Leben nicht möglich, geschweige denn auf dem Lande, wo es nahezu an allem fehlt, wo selbst kulinarische Köstlichkeiten ein fremder Begriff sind. Nur der Kondor, der hoch in den Lüften über den Anden seine unermüdlichen Kreise zieht, weiß, wo in einsamen Berggegenden die letzten Inkas ihren aussichtslosen Kampf auf verlorenem Posten führen.

 


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