HomeStartseiteDruckenImpressumKontaktGästebuch

 

Tausend Kilometer Einsamkeit

Reiseberichte.com

Auf der Carretera austral nach Feuerland

Besucherzaehler

Der Lufthansa-Flug LH526 bringt uns in 12 Stunden von Frankfurt nach Buenos Aires, der argentinischen Metropole, die die 11-Millionen-Grenze mittlerweile überschritten haben dürfte. Da wir der Sonne sozusagen „davonfliegen“, zieht sich die Nacht in die Länge. Somit ist das Erreichen der Neuen Welt heute in einer Zeit möglich, wofür die alten Segelschiffe noch mehrere Wochen benötigten. Ein bißchen Schlaf werden wir wohl finden, so daß wir die Zeitverschiebung ganz gut verkraften dürften. Der nächste Tag dauert dafür einfach nur sechs Stunden länger. Störender ist da schon das unentwegte Kindergeschrei und der Geruch des Erbrochenen. Junge Eltern muten ihren Sprößlingen heute einfach zuviel zu, eine Santiago de Chilebedenkliche Entwicklung zunehmender Rücksichtslosigkeit gegenüber dem eigenen Nachwuchs. Aber Kinder stimmen andererseits auch auf Südamerika ein, sind doch die Einwohner Argentiniens zumeist italienischer oder spanischer Abstammung.

Der Service an Bord wird ebenfalls zusehends schlechter. In dem Bestreben, Einwegverpackungen zu vermeiden und dadurch Kosten zu senken, wird die ausgeschenkte Flüssigkeitsmenge immer weiter reduziert, so daß man, würde man sich nicht selbst vehement um Trinkbares bemühen, glattweg verdursten könnte. Die Maschine ist zudem bis auf den letzten Platz ausgebucht, so daß die Ellbogenfreiheit nicht gerade für Streckübungen ausreicht.

Als beim Blick durchs Bullauge das Sternbild Orion genau den Weg nach Süden weist und die ersten Lichter auftauchen, wird klar, daß wir den Atlantik bereits hinter uns gebracht haben. Genau bei den Guayanas treffen wir auf die südamerikanische Scholle. Beim Landeanflug auf Buenos Aires zeichnet sich ganz deutlich das silbrig schimmernde Band des Río de la Plata ab, den wir in seiner ganzen Breite überfliegen, bis sich unter uns die klaffenden Häuserschluchten auftun, schachbrettartig angelegte Straßenzüge, mit denen die ganze Stadt durchzogen ist. Es ist wahrhaftig eine unendlich ausgedehnte Metropole, die insgesamt 19 Vorstädte einschließt. Allein, von Buenos  Aires bekommen wir nicht viel zu sehen, da es für uns nur ein Transitaufenthalt ist, dazu angetan, für eine Weile den Fuß auf festen Boden zu setzen und das Flugerlebnis nicht allzulang werden zu lassen.

Nach einer halben Stunde Aufenthalt erfolgt ein Aufruf, daß sich der Weiterflug nach Santiago de Chile aufgrund technischer Probleme verzögern wird. Alle Passagiere werden gebeten, ihr Handgepäck aus dem Flugzeug zu räumen. Durch die Scheiben des Transitraums können wir beobachten, wie sämtliche Triebwerke abgedeckt werden. Der Schaden scheint doch gravierender als zunächst angenommen, der Jumbojet muß auf dem Boden bleiben: Die Passagiere werden auf mehrere Maschinen der chilenischen Fluggesellschaft LAN umverteilt, die uns nun in die chilenische Hauptstadt bringt. Der Service an Bord kann sich jedoch mit dem der Lufthansa nicht vergleichen. Das Essen würde man bei uns nicht einmal einem Hund vorsetzen: das Hähnchenfleisch mit einem seltsamen Beigeschmack, die Butter zerlassen, selbst das Bezier ist in der Wärme geschmolzen. Dafür hat die Stewardess einen Teint wie Elfenbein, man muß sie unentwegt ansehen. Tango Argentino!

Nun beginnt der Flug über die Anden, und wir haben bestes Flugwetter. Unter uns liegt zunächst noch flache Pampa, von schnurgeraden Straßen durchfurcht. Die Bewölkung ist recht aufgelockert, nimmt aber, je mehr wir uns dem Gebirge nähern, immer mehr zu, jedoch ohne daß sich die Wolkendecke schließt. Blendend-weiße Cumuluswolken türmen sich zunehmend zu amboßförmigen Cumulonimben auf, je näher wir an die Anden herankommen, und unterwegs gewittert es bereits. Nun sieht man ganz deutlich, daß dieses Gebirge ein Kettengebirge ist, ohne markante Erhebungen, und nicht wie die Alpen ein Faltengebirge. Türkisgrüne Seen schimmern unter uns, und als wir die Stadt Mendoza überfliegen, tauchen sie über den Wolken auf, die ersten Andengipfel, bizarre Sechstausender, von ewigem Schnee und Eis gekrönt. Es finden sich Gipfel darunter, die unsere Flughöhe übertreffen, einsame majestätische Berggestalten. Und immer wieder schlängelt sich zwischendurch ein Fluß durch diese karge, zerklüftete Karstlandschaft, dieses baumlose braune Nichts. Dazu erklingen aus den Kopfhörern auf Zupfinstrumenten und Gitarren vorgetragene indianische Weisen, und unter dem Zwang der Endorphine, bei einem Glas chilenischen Rotweins, steigern sich unsere Gefühle ins Euphorische. Die Steilkurve, als wir in die Platzrunde einschwenken, erscheint jetzt steiler noch als sonst, und wie ein Spuk, ein kurzer Traum, ist der ganze Zauber wieder vorbei.

Chile besitzt jenseits der Anden, auf der pazifischen Seite, nur einen schmalen Küstensaum, und die Hauptstadt, Santiago de Chile, liegt ungefähr auf gleicher Höhe wie Buenos Aires. Bei unserer Ankunft am späten Nachmittag, infolge der Verspätung, herrscht strahlend-schöner Sonnenschein. Die Stadt liegt eingebettet zwischen hohen Gebirgsketten und nimmt darin die gesamte Hochebene ein. Sie ist schachbrettartig angelegt, ein Beispiel mehr für die damals von König Philipp angeordnete koloniale Bauweise. Riesenhafte Wolkenkratzer dominieren das Stadtbild jedoch nicht.

Die beste Aussicht hat man vom Cerro San Cristóbal, dessen höchsten Punkt eine Statue der Jungfrau Maria einnimmt. Den nicht weniger als 40 Erdbeben seit ihrer Gründung sind fast alle Kolonialbauten zum Opfer gefallen, so daß die Stadt sich heute meist im neoklassischen Stil präsentiert, wie er für den Beginn des 20. Jahrhunderts typisch ist. Der zentrale Platz Santiagos ist auch heute noch die Plaza de Armas mit der alles beherrschenden Kathedrale. Hier findet meist ein bunter Indiomarkt statt. Auch die Moneda, auf deutsch Münze, ist eines der repräsentativeren Bauwerke. Der Platz davor gleicht einer Flaniermeile. Zum Fotografieren ist es heute allerdings schon zu spät, da durch die langen Schatten aufgrund der exakten Nord-Südausrichtung der Straßen die Frontseiten der Gebäude nicht mehr hinreichend beleuchtet werden.

Die Stadt selbst ist sehr sauber, und das Land als solches ist in Südamerika die Nummer Eins, wenn sich die Frage stellt, wo das Leben am besten ist. Allerdings wandern immer mehr Menschen aus Peru und Bolivien ein, so daß es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich das Ganze ausgleicht. Die Sicherheit in der Hauptstadt ist vor allem nachts vergleichsweise höher als in den anderen lateinamerikanischen Staaten, dennoch wird ausdrücklich empfohlen, Wertsachen nicht erkennbar am Körper zu tragen. Auf dem Land bzw. in der Provinz sei das Leben noch in Ordnung, versichert man uns.

Nachdem das wolkenlose Wetter über Nacht angehalten hat, steht uns ein heißer und aussichtsreicher Fahrtag bevor, auf der Route 5, besser bekannt unter dem Namen Panamericana, die leider autobahnähnlich ausgebaut ist. Die Fahrt führt in nahezu südlicher Richtung über die Städte Rancagua, San Fernando, Talca und Chillán durch das weite und ebene Tal zwischen der Hochandenkette und der sogenannten Küstenkordillere. Es ist  dies das Weinbaugebiet Chiles, aber auch Obst und Getreide gedeihen hier vorzüglich.

Rancagua ist eine Stadt des Rodeos. Hier hat sich der Berufsstand der sogenannten Huasos etabliert, der sich am besten durch den Begriff des Cowboys umschreiben läßt. Allerdings dürfte sich wenig wahre Romantik dahinter verbergen, denn Huasos wurden als Mädchen für alles eingesetzt.

Linker Hand eröffnen sich angesichts der guten Fernsicht immer wieder faszinierende Ausblicke auf einen der zahlreichen noch aktiven Vulkane, die das Land hat. Zunächst taucht bei San Fernando der 4100 m hohe Azufre auf, der aufgrund seiner Höhe im gesamten oberen Drittel schneebedeckt ist, sodann bei Talca der Descabezado Grande mit 3830 m und schließlich bei der gleichnamigen Stadt der nur 3186 m hohe Chillán. Dieses landwirtschaftlich genutzte Längstal verdankt seine Fruchtbarkeit den zahlreichen Andenflüssen, die sämtlich dem Pazifik zuströmen, um schließlich in den kalten Humboldt-Strom zu münden. Der namhafteste unter ihnen ist der Río Maule, berühmt deswegen, weil er der Salto del LajaGrenzfluß war, an dem das Inkareich endete. Südlich davon lag das Gebiet der Mapuche-Indianer. Landschaftlich reizvoll ist dieser Abschnitt nicht, da die Berge zu weit entfernt sind und selbst als Fotomotiv nicht taugen. Wem dieser Teil Chiles einen Erlebniswert bereiten soll, der muß sich schon in die andinen Hochlagen vorwagen, denn schwierig zu bezwingen sind diese Vulkane trotz ihrer Höhe im allgemeinen nicht. Wir haben uns eine Besteigung dieser Berge jedoch nicht zum Ziel gesetzt, da dies einen ungleich höheren Zeitaufwand erfordern würde, als wir ihn erübrigen können.

An diesem Abend schlagen wir auf dem Camping-Platz am Salto del Laja unser Lager auf. Wegen der gerade herrschenden Urlaubssaison ist die Anlage stark überlaufen. Der Salto del Laja ist der höchste Wasserfall des Landes, 35 m hoch. Unbekannt bleibt uns sein Flußlauf. Im Morgenlicht, das in seiner gewohnten Intensität für viel Farbe sorgt, sieht der Salto viel plastischer aus als noch gestern abend im goldenen Abendlicht.

Unsere heutige Etappe führt durch das Land der Mapuche-Indianer. Diese konnten von den spanischen Invasoren nie ganz ausgerottet werden. Sie, die Spanier, welche die Inkas und Guaraní-Indianer unterwarfen, bissen sich an den Mapuche die Zähne aus. Damit war die Eroberung Chiles nur mehr eine Frage der Zeit. Der erste Europäer nämlich, der von Norden her nach Chile eindrang, war Diego de Almagro. Seine Suche nach Gold blieb jedoch erfolglos, seine Expedition scheiterte, er selbst mußte sich unter großen Verlusten wieder nach Norden zurückziehen. Der nächste Konquistador, der kam, war Pedro de Valdivia. Gegen den erbitterten Widerstand der Mapuche gelang es ihm, den Ruf eines Gründers Chiles zu erlangen.

Es leben heute noch ca. 600.000 reinrassige Mapuche in Chile. Sie sind kleinwüchsig und stämmig, haben hohe Wangenknochen und eine dunkle Hautfarbe. Ihre Herkunft ist nicht vollständig geklärt, aber man nimmt an, daß sie aus dem Süden Argentiniens eingewandert sind und die dort lebenden Stämme nach Norden abgedrängt haben. Das Reich der Mapuche, die heutige Provinz Araucanía, betreten wir mit Überschreiten des Flusses Bío Bío.

Die Mapuche wehren sich hauptsächlich gegen die rigorose Abholzungspolitik Chiles. Die großen Rodungen der Vergangenheit versucht man durch großangelegte Aufforstungen wiedergutzumachen, teils mit einheimischen Pflanzen, teils mit australischen Eukalyptusbäumen.

Die pyramidenförmigen Araukarien, auch Andentannen genannt, zählen zu den seltsamsten Bäumen Südamerikas. Ihre Rinde ist derart dicht mit stechenden Nadeln besetzt, daß selbst ein Affe nicht daran hochklettern kann. Ihre Samen bilden die Ernährungsgrundlage der Mapuche-Indianer, die Fruchtstämme werden auch gerne von Papageien heimgesucht.

Bald gelangen wir in das Tal des Río Malleco, welches von einem Viadukt überbrückt wird: eines von zahlreichen Beispielen der Baukunst des Gustave Eiffel in Südamerika. Gerade in dem Moment fährt ein Frachtzug über die etwa 100 m hohe Brücke.

Immer wieder tauchen nun in der Ferne vereinzelt Vulkankegel auf. Es soll insgesamt über zweitausend Vulkane in Chile geben, von denen 116 als noch nicht erloschen gelten. Auch der Villarrica geht auf vulkanische Tätigkeit zurück.

Bislang glaubte man, daß die Anden aus einer tektonischen Plattenverschiebung hervorgegangen seien, nach heutigem Stand der Wissenschaft sind sie aber als Folge einer Hebung aufgrund eines Erdbebens entstanden.

Die Vulkankette nimmt und nimmt kein Ende. Plötzlich taucht in der klaren Luft der Lonquimay auf, mit seiner typischen Kegelgestalt. Es ist eigentlich viel zu schade, sich diese Vertreter des größten Naturereignisses unseres Planeten nur aus der Ferne anzusehen.

Im Laufe des Tages kommen wir nach Temuco. Es ist aus einer strategischen Festung gegen die Mapuche hervorgegangen. In der Mapuche-Sprache bezeichnet das Wort Temuco den Namen eines Baums.

Die Landschaft erinnert schon ziemlich stark an ein deutsches Mittelgebirge. Temuco besitzt keine spektakulären Sehenswürdigkeiten, es gibt dort einen Markt, das ist aber auch alles. Die zahlreichen Restaurants wetteifern untereinander um die Gäste, und zwar müssen die Bedienungen sie in anbieterischer Weise für sich gewinnen. Vermutlich bemessen sich ihre Gehälter daran, wie viele davon sie zum Bleiben bewegen können. Das kann Formen annehmen, daß man fast in das eine oder andere Restaurant hineingezogen wird.

Bei Loncoche verlassen wir die Panamericana und biegen ab in Richtung Villarrica, zum gleichnamigen Vulkan und See, dem Lago Villarrica. Die Flora und das Landschaftsbild haben sich bereits stark gewandelt. Mächtige Bäume erinnern an unsere heimischen Eichenbestände, die Landschaft ist hügelig geworden wie in Mitteleuropa. Leider ist der zu Füßen des Villarrica gelegene Touristenort Pucón völlig mit einheimischen Urlaubern überlaufen. Um in Pucon einen Abend zu verbringen, bieten sich eigentlich nur die seichteren Vergnügungen an: Bummeln oder in einer der vielen Kneipen und Restaurants das gute Kunstmann-Bier zu schlürfen, das nach deutscher Brauart hergestellt wird, und das, wenn man zu mehreren ist, in riesigen Bottichen, die etwa dem Doppelten einer bayerischen Maß entsprechen, serviert und daraus in kleinere Gläser umgefüllt wird.

Das Lebensgefühl in dieser Stadt ist ein ganz anderes, als man es in Europa kennt. Die Chilenen sind im Durchschnitt jünger als 25 Jahre; man sieht auf den Straßen überwiegend junge Menschen, und dementsprechend unbeschwert läuft hier das Leben ab. Englisch spricht freilich niemand, ohne Kenntnisse des Spanischen hat man keine Chance, Kontakte zu knüpfen. Hier ist alles geboten, was die sportliche Jugend von einem Aktivurlaub erwartet: Rafting, Kayaking und organisierte Vulkanbesteigungen. Die geführte Tour auf den Villarrica dauert 6-8 Stunden und muß mit Seil und Eispickel durchgeführt werden. Aus dem Krater steigt ständig eine Rauchsäule auf, und der Blick in das glutflüssige Innere zeigt, daß wir es hier mit einem gefährlichen Killervulkan zu tun haben. Da sich der Gipfel in Wolken befindet, brauchen wir die Möglichkeit einer Besteigung heute nicht mehr in Erwägung zu ziehen. Das Wetter weiß eben nicht, was es will: gerade ist eine Warmfront durchgezogen und es sieht nach Regen aus. 

Nachdem sich der Ort am nächsten Morgen wieder im strahlenden Gewande präsentiert, zeigt sich der Vulkan wolkenfrei, so daß wir gerne noch länger verweilen würden. Doch läßt uns dies andererseits darauf hoffen, den Osorno in ebenso majestätischer Aufmachung anzutreffen. Somit setzen wir unsere Fahrt fort, auf der Route 5, mit Ziel Valdivia, das von Pedro de Valdivia 1552 als viertälteste Stadt Chiles gegründet wurde.

Die uns umgebenden Wälder werden nun dichter. Die Straße führt an Wasserläufen vorbei, wo sich ganze Seerosenteiche in voller Blütenpracht zeigen, und nach nicht allzulanger Fahrt erreichen wir gegen Mittag die Stadt, die in der Nähe des Meeres liegt und mit regem Treiben aufwartet.

Valdivia liegt abseits der touristischen Routen. Es bietet nach der Zerstörung durch mehrere Erdbeben nichts Sehenswertes mehr, außer daß die ursprüngliche Stadtanlage beibehalten wurde. Einzig ein Festungsturm, der auf die spanische Eroberung zurückreicht, ist noch von Interesse. Er wurde in dunkler Ziegelbauweise errichtet und ist von Zinnen bekränzt.

Von Valdivia aus können Bootsausflüge zu den drei am Mündungstrichter des Río Valdivia gelegenen spanischen Bollwerken Corral, Niebla und Nucera gemacht werden, was der Stadt den Namen „Gibraltar des Südens“ eingebracht hat.

Chile wurde wie gesagt von Diego de Almagro von Cuzco aus erobert, und als zweiter kam nach dessen Hinrichtung ein weiterer Kampfgefährte Pizarros, Pedro de Valdivia, ebenfalls aus der Extremadura gebürtig. War Almagros Vorstoß noch kaum von Erfolg gekrönt − sein Zug über die Anden artete in eine Katastrophe aus −, so war Valdivia erfolgreicher. Auf dem Marsch entdeckten die Spanier ihre während der ersten Expedition im Schnee zu Eissäulen gefrorenen Gefährten, mit im Ausdruck des Todeskampfs erstarrten Gesichtern, teils noch auf ihren Pferden sitzend und Lanzen tragend. Der Schnee- und Kälteeinbruch muß für das zurückgesandte Expeditionschorps Almagros völlig überraschend gekommen sein. Dieser Anblick verbreitete in Valdivias zweitem Expeditionsheer, das auf dem gleichen Wege gekommen war wie ihre auf diese Weise umgekommenen Gefährten, Entsetzen.

Valdivia sollte kein schönerer Tod beschieden sein. Nach anfänglichen Erfolgen gegen die Mapuche-Indianer −  seinen erbittertsten Gegner fand Valdivia in Häuptling Lautaro −  wurde er, nachdem sein Pferd von einer Lanze getroffen worden war, in der Schlacht von Tucapel gefangengenommen und von den Mapuche-Indianern in drei Tagen Stück um Stück aufgefressen. Der Mapuche-Häuptling Laurato fiel später im Kampf gegen die Spanier, sein Nachfolger Caucopán wurde nach seiner Ergreifung zu Tode gefoltert. Die spanischen Eroberungsfeldzüge nördlich des Bío-Bío-Flusses waren 1562 abgeschlossen, wenngleich der Unabhängigkeitskampf der Araukarier sich noch bis 1882 fortsetzte.

Als Nachtlager haben wir uns diesmal einen Campingplatz in der Region am Llanquihue-See ausgesucht. Das Wasser des Sees ist eisig kalt, aber wir schrecken dennoch nicht vor einem erfrischenden Bad zurück. Gegenüber ragt der Vulkan Osorno in den Himmel, dessen Krater von einer dicken Eisschicht überzogen ist.

Der Osorno ist ein Schicksalsberg. Vielen, selbst erfahrenen Bergsteigern sind die äußerlich nicht sichtbaren Gletscherspalten schon zum Verhängnis geworden. Prominentestes Opfer ist der Münchner Expeditionsleiter Hauser.

Das Gebiet um Osorno wurde Mitte des 19. Jahrhunderts von Deutschen besiedelt, deren handwerkliche Fähigkeiten in dem Land besonders geschätzt waren. Wenn man die schindelgedeckten und verkleideten Häuser sieht, glaubt man sich bisweilen in den deutschen Alpenraum versetzt. Die Art, Gehöfte und Scheunen zu gruppieren, ja selbst die Art der Bepflanzung sind typisch deutsch. In den Cafés werden deutscher Kuchen und Bohnenkaffee gereicht, womit man sich auch in bezug auf das leibliche Wohl ganz wie zu Hause fühlt. Menschen vom deutschen Schlage lassen sich allerdings nur mehr wenige ausfindig machen, daß sie Inzucht betrieben hätten, kann man ihnen gewiß nicht vorwerfen. In den gut hundertfünfzig Jahren werden sich wohl die meisten von ihnen mit Latinos assimiliert haben, und ihre Muttersprache haben sie nahezu alle verlernt. Es gibt ein trauriges Bild von den Deutschen ab; wohin sie auch kommen, ob als Franken nach Frankreich, als Goten nach Italien oder Spanien, als Wolgadeutsche, Siebenbürger Sachsen oder Banater Schwaben nach Rußland, Rumänien oder Ungarn, überall haben sie sofort die fremde Kultur angenommen. Das spricht eher für eine gewisse Anpassungsfähigkeit bis hin zur Unterwürfigkeit, aber für wenig Identität. Und auch heute wieder eignen sie sich fremdes Volksgut an und verwerfen das eigene.

Osorno liegt in der Provinz Lagos, der vielen Seen wegen so genannt, die diese Region ausweist. Gegründet wurde die Stadt im Jahre 1558 von dem spanischen Konquistador García Hurtado de Mendoza.

Unser Campingplatz in Frutillar liegt in einer ländlichen Gegend, und wie bei uns haben die Reichen und Begüterten ihre Villen und Gutshäuser auf dem Hochufer des Sees gebaut. Eine staubige Straße führt hinauf zu den abgeholzten Hügeln über dem Llanquihue-See. Viele der ehemals deutschen Estancia-Besitzer haben sich auf Viehzucht oder Pferdehaltung verlegt, auch Lamas werden von manchen gehalten. Wäre da nicht die fremdartige Flora, die ähnlich der heimischen ist, aber dennoch verschieden, könnte man sich komplett wie zu Hause fühlen.

Wen es abends nicht in das von deutschen Immigranten geprägte Städtchen zieht, der kann in der untergehenden Sonne, um einen Hauch von Freiheit zu atmen, eine Wanderung am Steilufer des Sees unternehmen, wobei er immer wieder aufs neue reizvolle Anwesen findet, mit großen Grundstücken rundherum.

Schon seit einer Stunde habe ich mich aufgemacht, um in der abendlichen Stimmung noch einen Ausblick auf den Vulkan zu erhaschen, darauf hoffend, daß durch die Gunst der Stunde, und sei es auch nur für einen Augenblick, die Wolkenfetzen aufreißen und mir ein gnadenreicher Anblick wenigstens eines der beiden Bergriesen vergönnt ist, denn, so denke ich mir: Kommt der Vulkan nicht zu mir, so komme ich eben zu ihm. Und wie es der Zufall will: Hinter einem Verkehrsschild „Achtung! Stiere“ wage ich meinen Augen nicht zu trauen. Als wäre soeben ein Vorhang aufgezogen worden, ragt plötzlich der Vulkan Calbuco in den blaß-blauen Himmel, noch unausgeschlafen und von Nebelfetzen flankiert, jedoch deutlich erkennbar, mit gratigen Firnfeldern, die von ihm herabzuströmen scheinen. Die sich zu seinen Füßen ausbreitende Landschaft könnte sich ebensogut irgendwo in der Schweiz befinden: die Kühe, die Weiden, die alles überragenden Baumriesen und das satte Grün erwecken heimische Gefühle.

Als der Mond sich mit silbernem Licht auf den See legt und das fremdartige Quaken der Frösche in dem moorig-schwarzen Wasser tief unter mir sich immer mehr steigert, wird mir unheimlich zumute, das näherkommende Bellen der Hunde treibt mich zurück ins Camp. Und als ich dieses erreiche, steht hoch über mir das Kreuz des Südens, umrahmt von Schäfchenwolken, d.h. daß es morgen regnen wird.

Das Gebiet um den Lago Llanquihue wird von mindestens drei großen Vulkanen dominiert, deren prominentester der 2652 m hohe Osorno ist. Er gilt wegen seiner Ebenmäßigkeit als das Idealbild eines Vulkans schlechthin und ist der ganze Stolz der Chilenen. Wenn er an wolkenlosen Tagen sein Antlitz zeigt, mit weißgekrönter Spitze, im lichten Blau des Andenhimmels auf der anderen Seite des Sees aufragt, ist dies bereits ein bewegender Anblick, doch wird man seiner ganzen Majestät erst dann teilhaftig, wenn man sich zu seinen Füßen begibt, am besten an die Gestade des Allerheiligensees, des Lago de los Santos. In diesem urwüchsigen Tal, das von den tosend grünen Wassern des Petrohué-Flusses ausgefurcht wird, bietet sich die beste Gelegenheit, sich an ihn heranzutasten. Bei den reizvollen Petrohué-Wasserfällen können zur rechten Zeit am rechten Ort spektakuläre Bilder gelingen. Über zahlreiche jüngere Lavaströme hinweg, zu feinem Staub zerfallener Asche, muß man stapfen, um sich diesem allseits von hohen Wänden umgebenen See zu nähern. Charles Darwin hat den letzten Ausbruch des Osorno in Worten festgehalten, seitdem schlummert der überzuckerte Riese.

Regenwaldgleich ziehen sich die mächtigen Baumriesen der gemäßigten Zonen die schwarzen Hänge hinauf, und wer könnte da der Herausforderung widerstehen, den Gipfel im Sturm zu erobern. Doch über der schwül-heißen grünen Hölle will die Wolkendecke nicht weichen, die den Berg gefangenhält. Nur zusammen mit erfahrenen Bergführern darf der Vulkan überhaupt in Angriff genommen werden, der zahlreichen tückischen Gletscherspalten wegen. Eine Genehmigung für eine Besteigung, die angeseiltes Gehen mit Eispickel und Steigeisen erfordert, wird für den heutigen Tag ohnehin nicht mehr erteilt, zu unsichtig und unstet sind die Witterungsverhältnisse.

Die mächtigen Alerce-Wälder, der Andenhirsch, die schneebedeckten Vulkane, sie prägen das großartige Bild dieser Landschaft, und es bedarf einigen Glücks in diesem regenreichen Gebiet, wolkenlosen, die Sinne berauschenden Himmel vorzufinden. Auch uns ist nur ein kurzer paradiesischer Moment vergönnt, und wir müssen zunehmend den Augenblick genießen, um von den Launen des Wetters nicht in tiefe Depressionen gestürzt zu werden.

Am See von Petrohué machen wir Bekanntschaft mit einer Fliegenart großer schwarzer und stechender Fleischfliegen, die uns in unzähligen Geschwadern förmlich überfallen und derer man sich nicht erwehren kann; denn wie bei einer Hydra kommen desto mehr nach, je mehr man ihrer erschlägt. Diese unerträgliche Plage treibt uns schnell wieder ins Fahrzeug zurück, so daß wir froh sind, daß wir den Ort hinter uns gebracht haben. Es grenzt schon an ein Martyrium, wenn man sich immer wieder auf die sonnengerötete Haut schlagen muß, um sich der Plage zu entledigen, man kommt sich vor wie ein sich geißelnder, mittelalterlicher Flagellant.

Über Puerto Varas gelangen wir am nächsten Tag weiter auf der Panamericana an den Fährhafen Chacao, wo wir in einer halben Stunde auf die Insel Chiloé übersetzen, die bereits 1567 von Martín Ruiz de Gamboa für Spanien in Besitz genommen wurde. Letzterer gründete noch im selben Jahr die Hauptstadt Castro, die später zum Schlupfwinkel holländischer Piraten mutierte. Wegen des hier herrschenden großen Tidenhubs von 7 m haben die ersten Siedler, Stauer, Bootsführer und Schiffszimmerleute, ihre Behausungen, die sogenannten Palafitos, auf Stelzen errichtet. Das erst viel später gegründete Ancud, wo wir heute übernachten, war erste Anlaufstelle für Schiffe, die Kap Hoorn umrundeten. An den beiden Bastionen von San Antonio scheiterte 1820 der in chilenischen Diensten stehende britische Vizeadmiral Lord Cochrane.

In dem örtlichen Museum, das noch im Aufbau begriffen ist, werden steinerne Abbilder der mythologischen Gestalten der Huilliches, der chilotischen Urbevölkerung, ausgestellt. Mit dieser Mythologie halten die hier lebenden Mapuche-Stämme die Erinnerung an die Seebeben wach, die verwüstenden Hurrikane und sintflutartigen Flutwellen, die in der Erdkruste durch das Versinken des chilenischen Längstals während der eiszeitlichen Kollision zwischen der ozeanischen Nazca-Platte und der Kontinentalplatte auftraten. Das chilenische Längstal ist ein Grabenbruchsystem und erstreckt sich südlich des Río Aconcagua.

Melipulli, „Ort mit den vier Hügeln“, nannten die Mapuche die Siedlung Puerto Montt an der geschützten Bucht, an der sich 1852, als der preußische Abenteurer Bernhard Philippi in diese Gegend kam, erst 30 Häuser befanden. Damals war die Umgebung mit ihren fischreichen Gewässern noch von dichten Urwäldern bestanden, die im Laufe von nur drei Generationen zu dem wurden, was sie heute sind.

Es gehört nahezu zum Pflichtprogramm eines jeden Reisenden, der bis hierher vordringt, sich von den winkenden Köchinnen in eines der zahlreichen Fischrestaurants ziehen zu lassen, um dort die kulinarischen Köstlichkeiten des Meeres zu genießen, zu denen der ausgezeichnete chilenische Weißwein am besten mundet. Wer lieber nostalgischen Träumen nachhängt, der ersten Besiedlungszeit, der möge sich in den Club Aleman begeben, um in stilvoller Einrichtung eines der deutschen Biere oder echten Wiener Bohnenkaffee zu genießen, den es in Chile nicht so oft gibt. Für uns ist Puerto Montt zugleich das Sprungbrett zur Carretera austral, denn der Fährhafen ist Einschiffungsort zur noch weitgehend unerschlossenen Küste, die sich südlich davon erstreckt.

Als es Abend geworden, legt unsere Fähre in Puerto Montt ab. Da nicht ausreichend Sitzplätze in den Aufenthaltsräumen zur Verfügung stehen, muß ein Teil von uns im Fahrzeug sitzenbleiben. An tiefen Schlaf ist dabei nicht zu denken, auch ein Bordrestaurant gibt es nicht, also muß jeder verzehren, was er sich selbst mitgebracht hat. Außer uns ist da noch ein ganzer Bus mit Trekking-Touristen an Bord, die fast die ganze Nacht in Ausgelassenheit zubringen. Es sind Australier und Holländer, die überwiegend alleine reisen, aber auch andere Angelsachsen sind mit von der Partie. Das Interesse der Geschlechter aneinander scheint jedoch nicht besonders groß zu sein, denn trotz der aufreizenden Tänze und unter dem Einfluß des Alkohols kommt es zu keinerlei Austausch von Zärtlichkeiten unter den jungen Leuten. Zu britisch, zu puritanisch, diese Gesellschaft!

Als es in der Nacht aufklart, suchen wir den südlichen Sternenhimmel gezielt nach Sternbildern ab, doch können wir außer dem Kreuz des Südens keine weiteren Konstellationen ausmachen, was nicht zuletzt am Vollmond liegt, der den ganzen Himmel überstrahlt.

Nach etwa elfstündiger Fahrt bei kaum bewegter See legt unser Schiff im Morgengrauen in Chaitén an, dessen Hausberg, der majestätische Vulkan Corcovado, sich in Wolken hüllt. Das Gebiet ringsum ist eines der regenreichsten Niederschlagsgebiete der Erde, es kann hier an bis zu 360 Tagen im Jahr regnen. Hier beginnt die Carretera austral, beginnen 1000 km Einsamkeit. Diese bis auf die ersten 8 km ungeteerte Straße ließ Pinochet anlegen, und sie diente ur-sprünglich dem Militär als Verbindungsstraße mit Patagonien, welches in Chaitén beginnt. Längs dieser zu Berühmtheit gelangten Trasse ziehen sich zum Teil noch völlig unerschlossene Wälder hin, die noch nie ein Mensch betreten hat. Von den zahlreichen Gletschern plätschern ebenso zahlreiche Wasserfälle herab. In den Wäldern gibt es noch die vor dem Aussterben bewahrten Alercien, Südbuchen und riesige Farnblätter.

Die Berge hüllen sich den ganzen Tag in undurchdringliche Nebel, es gießt wie aus Eimern, und der Boden ist morastig. Man ahnt die Entrücktheit dieser Natur. Bis Coihaique wird uns nun die Carretera austral begleiten, und es gibt auf diesem Abschnitt nichts, was einem das Leben angenehmer macht, keine Orte, keine Geschäfte, keine Unterkünfte, man ist mit sich und der Natur allein.

Bei den Thermen von Amarillo, die dem Vulkan Michinmahuida ihr Dasein verdanken, nutzen wir eine 2stündige Rast zu einem entspannenden Bad in dem fast 40 Grad warmen Wasser. Allein der Vulkan, er zeigt sich nicht. Im heißen Naß sitzend, tröpfelt von oben der kalte Regen auf uns herab.

Abseits des Weges liegt das Wrack eines alten Flugzeugs, das hier zu einer Notlandung gezwungen war.

An fremden und seltsamen Pflanzen ist die Natur überreich, und aus der Ursprünglichkeit erwachsen dem Menschen neue Kräfte. Plötzlich wird es heller und es zeigt sich die Sonne, die dampfenden Nebel, sie lichten sich, die Geräusche von Wind und Wasser, es sind die einzigen hörbaren Laute.

Der gehetzte Mensch der Großstadt sehnt sich bisweilen nach der Einsamkeit der Wildnis. Wenn er sich dann aber in ihr befindet, muß er feststellen, daß sie doch nicht sein Lebensraum ist, weil sie zu unerschlossen ist. Dies ist ihm zumindest dort, wo Flora vorhanden ist, ein Hemmnis, denn Unwegsamkeit, undurchdringliches Gestrüpp, ein tiefer Bach, morastiger Boden oder unbegehbare Wälder schränken seine Bewegungsfreiheit erheblich ein. Somit wird die Freiheit zur Fessel, so wie hier auf der Carretera austral, wo einzig eine schmale Schotterstraße den Hin- und Rückweg darstellt. Was nicht an dieser liegt, bleibt unerreicht.

Am türkisgrünen Yelcho-See schlagen wir unser Lager auf. Hier ist ein Anglerparadies, und die schwersten Lachse, die jemals gefangen wurden, hat man aus diesem See gezogen. Freilich läßt die Landschaft trotz ihrer Üppigkeit und ihres Artenreichtums aus der Ferne nicht erkennen, daß wir uns in Chile befinden, zu ähnlich sind diese Fluren den unsrigen; und Yelcho-Seewenn es nicht gelingt, etwas Typisches auf den Film zu bannen, wird der unbefangene Betrachter denken, er befinde sich irgendwo in den Alpen. Auch die Gletscher der Umgebung sind mächtiger noch in den heimischen Bergen zu finden, als daß diese uns aus der Bahn werfen könnten. Das Licht allerdings ist noch um einiges klarer als irgendwo sonst in Europa, zumal sich auch das Ozonloch bis nach Patagonien erstreckt. Vorsicht im Umgang mit der Sonne ist also dringend geboten, zu intensiv ist diese für die empfindliche und nicht vorgebräunte Haut.

Der am Lago Yelcho beginnende Abschnitt der Carretera austral führt durch unbewohnte Abschnitte, bergauf, bergab, vorbei an smaragdgrünen Seen, tosenden Wildwassern, und immer wieder wartet die Natur mit einer Überraschung auf, in Form bis zum Regenwald herabreichender Gletscher. Ein regelrechter Panoramablick tut sich am Zusammenfluß des Río Frío mit dem Río Palena auf, dem wir fürs erste folgen. Tief eingebettet liegt der Lago Risopatrón unter uns. Hier gedeihen Fuchsien, riesige Farne, weißer und blauer Fingerhut und immer wieder Bambus. Die Nalca-Blätter erreichen unter dem Einfluß der äußerst ergiebigen Niederschläge Durchmesser, so groß wie Sonnenschirme. Ihr  Stengel wird ähnlich wie unser Rhabarber zu einem Kompott verarbeitet.

Die Carretera befindet sich gerade im Zustand des Ausbaus. Viele der ehemaligen Holzbrücken werden durch Betonbrücken ersetzt, die ursprünglich einspurige Trasse wird Zug um Zug zu einer zweispurigen Teerstraße verbreitert. Zahlreiche Felssprengungen haben der einstigen Urwaldromantik ein Ende bereitet.

Bald erreichen wir den deutschen Vorposten Puyuhuapi, wo sich der deutsche Emigrant Hopperdietzel niedergelassen hat. Der Puyuhuapi-Kanal ist in Wirklichkeit ein langgezogener Fjord, hinter der Insel auf der gegenüberliegenden Seite beginnt der Pazifik. Als sich nach der letzten Eiszeit die Gletscher zurückzogen und der Meeresspiegel anstieg, füllten sich die vom Eis tief ausgeschürften Täler mit Wasser und ließen die Fjorde entstehen.

Dann schlängelt sich die Straße in zahlreichen Serpentinen eine Paßhöhe hinauf. Zu dem auf deren Südseite liegenden Wasserfall Salto del Cóndor führt ein angelegter Pfad durch den Regenwald. Hier kann man die ganze Kraft einer sich unbändig gebärdenden, wilden Natur bestaunen. Blühende Epiphyten wachsen die Bäume hinauf, im Wetteifer mit dichten Moospolstern. Schlingpflanzen und Farne wuchern aus dunklen Moortümpeln, und immer wieder wird unseren Weg von glasklaren Bächen durchschnitten. Nirgendwo ist das Wechselspiel von Geburt und Tod so eng miteinander verflochten wie hier, wo der Kampf ums Licht die vorherrschende Regung ist. Nur selten erhascht man einen Blick auf die schneebedeckten Gipfel, und zuweilen schimmert es bläulich aus den Gletscherzungen hervor. Noch harren zahlreiche Gipfel in den unzugänglichen Regionen, die am einfachsten per Hubschrauber zu erreichen sind, ihrer Erstbegehung.

Jenseits des Passes folgen wir dem Durchbruchstal des Río Cisnes, hinab zum türkis schimmernden Lago Las Torres. Hier begegnen wir zwei Deutschen, die im Trabbi durch Südamerika reisen. Ein anderer Deutscher, dem wir begegnen, erzählt uns, daß El Niño dieses Jahr die südlicheren Striche heimgesucht habe; daher würden die Fischer Chiles sich freuen, während die in Peru leer ausgingen. Ob diese These richtig ist und die heftigen Niederschläge mit El Niño zu tun haben, muß angesichts der weltweiten Veränderungen bezweifelt werden, weil nahezu keine Gegend auf der Erde von heftiger werdenden Unwettern ausgespart bleibt.

Am Lago Las Torres ereilt uns das Schicksal eines dramatischen Schlechtwettereinbruchs. Die Nacht bereitet einem Weiterkommen vorerst ein Ende, so daß wir am Ufer des Sees nächtigen müssen. Es regnet derart in Strömen, daß ein Verlassen des Fahrzeugs nur unter Inkaufnahme einer gründlichen Durchnässung möglich ist. Zudem sinkt man im aufgeweichten Boden so stark ein, daß selbst das strapazierfähigste Schuhwerk irgendwann durchnäßt ist. Da hilft nur eins: sich schlotternd am Rande der Straße schlafen zu legen und den vorbeifahrenden Fahrzeugen kein Gehör zu schenken. In der Nacht fegt uns der böige Wind, der sich draußen auf dem See zu regelrechten Windhosen ausweitet und das Wasser in die Höhe peitscht, förmlich die Plane vom Zelt. Dann reißen kurzfristig die Wolkenfelder auf und setzen am kältestarrenden Himmel die Sterne in Gang – sofern man sich der Illusion hingibt, daß die Wolken festgehalten werden.

Am nächsten Morgen ist die Schneegrenze in fast greifbare Nähe gerückt, doch hat der See seine Wärme noch nicht abgegeben, so daß man in ihm baden kann. Nach einem im Stehen eingenommenen Frühstück setzen wir unsere gespenstische Fahrt fort, bei unsichtigem, tristem Wetter, wolkenverhangenem Himmel, der nur gelegentlich den Blick auf eine der majestätischen Berggestalten um uns herum freigibt, vorbei an schäumenden Wasserfällen. Steile schwarze Felswände, vor denen selbst die Vegetation nicht haltmacht, ragen beiderseits der Straße auf, und parallel zu dieser fließt der grüne Simpson-Fluß, der uns bis Puerto Aysén begleitet.

In dieser Gegend haben sich viele Briten angesiedelt, die seit jeher an rauhes Klima gewöhnt sind, und sie harrten hier aus, einer mageren Milchwirtschaft trotzend.

Die Spuren der Brandrodung, die in den 40er Jahren den Waldbeständen in den Tälern ein Ende bereitet hat, sind immer noch nicht beseitigt, der Raubbau an der Natur hat unübersehbare Folgen hinterlassen. Baumstamm liegt neben Baumstamm, so wie sie fielen, schwarz, versteinert, ohne schützendes Moos. Ihr wertloses Holz kann bestenfalls als Brennmaterial dienen.

Telegraphenleitungen und Weidezäune aus Stacheldraht begleiten uns, geben der Natur ein gänzlich entstelltes Aussehen. Schön ist diese Hinterlassenschaft nicht, und was, frage ich mich, hat eigentlich der Mensch hier verloren? In seiner unersättlichen Gier raubt er alles, rottet alles aus, vernichtet Art um Art, bis er schließlich selbst ein immer erbärmlicheres Dasein fristet.

Der Ort Coihaique, den wir bald erreichen, beeindruckt durch einen Kletterfelsen von gewaltigen Ausmaßen, der sich zyklopenartig über der Stadt erhebt. Zwei der benachbarten Berge tragen die zutreffenden Namen Kastor und Pollux. Die Leute von Coihaique nennen diese Steinformationen spaßeshalber die „Chinesische Mauer“.

In Coihaique verabschieden wir uns von der Carretera austral und brechen auf in Richtung argentinischer Grenze, durch eine majestätische, baumloser werdende Landschaft. In der weiten Pampa gedeihen noch Schafgarbe und Kamille, die heute hier vorzufindenden Pinienwälder lieben indes die Trockenheit.

Über gerodete Fluren nähern wir uns der Grenze bei Balmaceda am Paß Huemules. Bei der Grenzabfertigung wird streng darauf geachtet, daß keine verderblichen Lebensmittel eingeführt werden. Die Provinz Chubut, in die wir nun einreisen, ist die drittgrößte Argentiniens. Magellangänse, Chile-Enten und Flamingos bestimmen ab jetzt die Fauna. Nach einer Stunde Fahrtzeit findet sich kein Baum mehr, soweit das Auge reicht. Dagegen sind die Lüfte bevölkert von Chimangos, einer Raubvogelart. In dem tierarmen Patagonien trifft man allenthalben auf Füchse, Kaninchen, Guanakos und Nandus. Das scheue und schwer zu entdeckende Gürteltier wird immer seltener, und es hebt sich nur schwer von seiner Umgebung ab, da es farblich exakt dem Untergrund angepaßt ist. Auch Stinktiere soll es hier geben.

Patagonien umfaßt den Teil Argentiniens südlich des Río Colorado. Die Landschaft ist recht eintönig, das Land ziemlich arid, da es im Regenschatten des Gebirges liegt. Aufgrund des ständig wehenden Windes gedeihen hier nur Büschelgras und Sauerampfer. Der Name Patagonien, d.h. „Land der Großfüßer“, wurde von Ferdinand Magellan vergeben, weil die dort lebenden Tehuelche-Indianer Fußabdrücke hinterließen, die von den Spaniern als groß empfunden wurden.

Bisweilen ändert die patagonische Steppe ihr Antlitz in eine Wüste, wenn sich die niederen Grasbüschel in der Ferne verlieren. War es anfangs der Regen, der uns überreichlich beschert wurde, ist es nunmehr der lungenfüllende Staub, gegen den wir anzukämpfen haben.

Die Flüsse Patagoniens, sie entspringen allesamt den Gletschern der Anden und haben wie die Seen eine milchig-weiße Farbe. Der Lago Blanco, der Weiße See, liefert hierfür ein erstes Beispiel.

Obwohl noch Wolken am Himmel sind, ist das Wetter nun überwiegend sonnig geworden, und das Himmelsblau ist von einer ausgesuchten Klarheit, wie man sie nur auf der südlichen Hemisphäre kennt.

Vorbei an der Estancia Huemules und am Lago Blanco, führt die Fahrt zunächst ostwärts, bis wir auf die in Nord-Südrichtung verlaufende Route 40 stoßen, der wir südwärts bis Perito Moreno folgen. Der Ort ist aber nicht zu verwechseln mit dem Gletscher Perito Moreno, der einige hundert Kilometer südwestlicher liegt.

Durch die Weiten der patagonischen Steppe führt die Fahrt, endlos monoton, bis wir schließlich wieder in die Nähe der Andenkette kommen. Die Auswirkungen des im Jahre 1991 ausgebrochenen Hudson-Vulkans (1905 m) waren bis in diese Gegend zu spüren, was viele der hier lebenden Großgrundbesitzer dazu zwang, ihre Estancias aufzugeben. Denn die Menschen auf den Estancias leben hauptsächlich von der Schafzucht.

Bekanntlich grast das patagonische Schaf auf Weiden, die ganz anders sind als andere Weiden, und deshalb ist argentinisches Lammfleisch mit keinem anderen der Welt zu vergleichen. Dementsprechend dominiert in der argentinischen Küche eindeutig das Cordero, und wer in Patagonien war und kein Cordero gegessen hat, war eigentlich nicht in Argentinien. Obwohl das Land die „Fleischfresser“-Nation Nummer eins ist, kann sich heute kaum eine argentinische Familie öfter als einmal im Monat Fleisch leisten.

Als Getränk wird dazu hauptsächlich Mate-Tee gereicht, das Nationalgetränk Argentiniens. Er wird von einem sogenannten „Zeremonienmeister“ zubereitet und aus der Kalebasse getrunken. Zur Verbreitung der Mate-Kultur haben unter anderem die Jesuiten beigetragen.

Von Perito Moreno setzen wir die Fahrt auf der Route 40 fort, durch die Provinz Santa Cruz, durch die endlosen Weiten der patagonischen Steppe, bis in das Gebiet von Tres Lagos.

Am Río Pinturas hat man in der Höhle von Las Manos die ältesten Felsmalereien Südamerikas gefunden, die in die Zeit bis 9500 v. Chr. datieren. Das Valle Pinturas, das „bemalte Tal“, zeichnet sich aufgrund der unterschiedlichen Farbgebung seines Gesteins an landschaftlicher Schönheit aus. Die Winderosion hat hier spektakuläre Formen hervorgebracht. Das ganze Gebiet ist vulkanischen Ursprungs, und ein in der Ferne herausragender Tafelberg, ein erloschener Vulkan, bleibt auf lange Sicht unser einziger Begleiter.

Zu Füßen des 3706 m hohen Monte San Lorenzo liegt der berühmte Nationalpark Perito Moreno, abseits unserer Route; um aber dahin zu gelangen, bräuchte man eine bessere Ausrüstung, als wir sie mitführen. Dorthin kommen auch wirklich nur bewundernswerte Idealisten. Wir indes haben nur ein Ziel: auf dem Landweg Feuerland zu erreichen, und wir schrecken dazu auch vor überlangen Tagesetappen nicht zurück.

Unterwegs stoßen wir auf ein liegengebliebenes Fahrzeug, welches einer Gruppe israelischer Touristen gehört, denen der Treibstoff ausgegangen ist. Wäre es nach mir gegangen, so hätte ich ihnen in dieser Situation nicht geholfen, nicht etwa, weil ich ihre Siedlungspolitik mißbillige, sondern weil Liegenbleiben infolge Treibstoffmangels in dieser unwirtlichen Gegend ein unverzeihlicher Fehler ist, der gebührend honoriert werden sollte.

Im Gebiet von Perito Moreno entspringt der Río Chico, dessen Verlauf wir ein gutes Stück folgen. Er mündet bei der großen Sandbank von Puerto San Julián in den Atlantik. Hier ankerte Ferdinand Magellan drei Monate lang, um zu überwintern. Dabei kam es zu einer Meuterei unter seinen spanischen Kapitänen, die sich dem Oberkommando eines Portugiesen nicht unterwerfen wollten. Magellan setzte die Verschwörer ohne Wasser und Nahrungsmittel kurzerhand aus.

Immer wieder kommen wir nun an aufgegebenen Estancias vorbei, deren Besitzer dem bequemeren Leben in den Großstädten den Vorzug vor dem beschwerlicheren in der Landwirtschaft einräumten. Als es Abend wird, taucht überraschend hinter einer Kuppe der gewaltige Lago Cardiel auf, der erste von drei Seen, denen das Gebiet von Tres Lagos seinen Namen verdankt. Die beiden anderen sind der Lago San Martín und der Lago Viedma. Die smaragdgrünen Wasser des Lago Cardiel und seine Lage, eingebettet in eine grenzenlose Einöde, können wahres Entzücken hervorrufen.

Die Landschaften Patagoniens sind vielfältiger, als man gemeinhin glaubt, wenngleich monotone Landstriche überwiegen. Doch auch Flußläufe, Canyons und vereinzelte isolierte Berge bieten willkommene Abwechslung. Außer an den Flußläufen, im Bereich der Estancias, findet sich kein natürlich wachsender Baum, zu windig, zu  trocken, zu kalt und staubig ist die Erde, um deren Existenz je zuzulassen. In überschwenglichen und ausdrucksstarken Worten schilderte Charles Darwin Patagonien und seine Bewohner, die natürlich nicht anders sein können als die sie umgebende Natur: karg und verschlossen. Wir an unser mitteleuropäisches Klima Gewohnten können es kaum aushalten in dem ständigen Wind, der andauernden Kälte, so daß sich die berechtigte Frage stellt, wie die Immigranten sich hier wohlfühlen konnten.

In der Ferne gehen ergiebige Regenschauer nieder, obwohl zumeist die Sonne durch die Wolkendecke dringt und sich zwischendurch immer wieder zartblauer Himmel zeigt. Da sich eine bedrohliche Wolkenfront über uns aufbaut, beschließen wir weiterzufahren und trockenere Gefilde aufzusuchen. Auch treibt der patagonische Wind die Wolken in Fetzen über uns hinweg, so daß wir unser Essen wohl kaum im Freien einnehmen könnten, ohne Gefahr zu laufen, daß uns die Wurst vom Brot gefegt wird.

Die Wolkenbilder Patagoniens sind lebhafter als irgendwo sonst. Meist wirkt der Himmel chaotisch, ein Gemisch aus quellweiß-geballten Cumuluswolken, die sich mit Staub vermengen und über denen sich eisige Cirren in nie gesehener Form ausbreiten. Über dem patagonischen Eisschild bilden sich häufig auch Lenticularis-Wolken aus, deren Ränder in allen Regenbogenfarben schillern.

Das harte Ichu-Gras, welches man im Altoplano so häufig findet, ist eines der zahlreichsten Gräser der Region, doch auch das rötliche Fuchsschwanzgras ist kaum zu übersehen. Die hellen Magellanstengel gedeihen hier in unüberschaubarer Fülle. Eingestreut wie in ein Feld finden wir immer wieder Teppiche von Kamille, Margueriten und Hungerblumen, und ganz besonders sticht ein orangefarbenes Narzissengewächs ins Auge. Mastreita, d.h. Sternchen, ist der Name für eine andere hier vorkommende Blume. Inmitten der Moose, Ligaretta Magelanica, stoßen wir auf den ausgebleichten Panzer eines Gürteltiers.

Nachts lockert es auf und es zeigt sich das Kreuz des Südens. Nach dieser Wildübernachtung in der Eiseskälte der patagonischen Steppe erleben wir den morgenden Tag im strahlenden Sonnenschein. Auch der stürmische Wind hat fühlbar nachgelassen, so daß wir unseren Weg Richtung El Calafate fortsetzen können.

Nach kurzer Fahrt mit imposanten Tiefblicken zeigt sich der dritte große See von Tres Lagos, der Lago Viedma, mit einer spektakulären Szenerie im Hintergrund, die vom Mount Fitzroy (3406 m) überragt wird, der – nach Robert FitzRoy, dem Kapitän der Beagle, benannt – früher nach den Ureinwohnern Chaltén hieß.

Der Mount Fitzroy ist einer der am schwierigsten zu ersteigenden Berge der Welt. Selbst Bergsteigergrößen wie Reinhold Meßner, der zwar viel über ihn geschrieben, ihn aber nicht bezwungen hat, haben sich an ihm die Zähne ausgebissen. Die besondere Schwierigkeit dieses Berges sind die vereisten, fast senkrechten Felswände und das unberechenbare, sich schnell ändernde Wetter, woran schon zahlreiche Bergsteiger gescheitert sind. Die meisten Touristen, die hierher kommen, begnügen sich mit seinem Anblick und unternehmen bestenfalls eine Trekking-Tour zu seinen Füßen. Seine Berühmtheit verdankt der Berg den beiden Felsnadeln, die ihm sein charakteristisches Aussehen verleihen, das seinesgleichen sucht. Man nannte letztere sehr anschaulich „Fangzähne der patagonischen Anden“. Das macht den Chaltén zugleich zu einer der majestätischsten Berggestalten der Welt, was um so verwunderlicher ist, als es in den Anden nur wenige Gipfel gibt, die sich dessen rühmen können.

Im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile befindet sich das größte zusammenhängende Gletschergebiet der Erde außerhalb der Polarbereiche. In dieser Gegend haben die beiden deutschen Pionierflieger Gunther Plüschow, der hier am Lago Argentino abgestürzt ist, und Ernst Treblow, sein Bordmechaniker, traurige Berühmtheit erlangt. Plüschow hatte sich mit seiner stoffbespannten Nur bereits als Flieger von Tsingtau einen Namen gemacht. In den Folgejahren kam er als Militärflieger nach Feuerland, wo ihm in einer mit BMW-Motoren ausgestatteten D24 als erstem die Überfliegung des Paine-Massivs gelang, ein Erlebnis, welches er mit euphorischen Worten in seinem Buch „Silberkondor über Feuerland“ schilderte. Nachdem er in Punta Arenas gestartet war, mußte er infolge Treibstoffmangels und weil sich Eis am Propeller gebildet hatte, in Ushuaia notlanden.

Vom Lago Viedma setzen wir unsere Fahrt im Flußbett des Río Leona, der in diesen See mündet, in Richtung Lago Argentino fort. Ein patagonischer Fuchs, vereinzelte Guanakos und einige Wildpferde sind neben dem sich im Winde wiegenden Ichu-Gras und den blau blühenden Disteln die einzigen Zeugen für Leben in dieser Öde. Die Calafate-Beere oder Berberitze ist eines der wenigen Gewächse, die dem Menschen natürliche Nahrung boten. „Wer einmal von ihr gekostet hat, kehrt immer wieder hierher zurück“, sagt ein altes Sprichwort.

Eines der wenigen Raubtiere Patagoniens, dessen Lebensraum bedroht ist, ist der Puma, der verfolgt und bejagt wird, weil er die Schafe auf den Estancias reißt. Es ist grotesk, daß Lebensformen, denen dieser Lebensraum eigentlich gehört, sterben müssen, damit andere, eingeführte und fremde Tierarten sich ausbreiten können.

Auch die Geologie drückt durch bunte Bänderung im Gestein der Landschaft ihren unverkennbaren Stempel auf. Aufgrund des spärlichen Bewuchses ist auch die Bodenkrume äußerst dünn.

Die türkis fließenden Wasser des Rio Santa Cruz, der sich in zahlreichen Windungen, silbern glitzernd, dahinschlängelt, ohne daß irgendeine Vegetation seine Ufer säumt, entwässern den Lago Argentino in den Atlantik.

El Calafate ist Sprungbrett für individuelle Trekkingtouren oder andere organisierte Ausflüge in die Gletscherwelt von Los Glaciares, dem wohl bekanntesten Nationalpark Argentiniens, der an landschaftlicher Schönheit den Höhepunkt unserer bisherigen Reise darstellt. Der wohl berühmteste Gletscher des Nationalparks aber ist der Perito Moreno. Er ist nicht der längste, vielleicht aber der spektakulärste Gletscher, der sich in den Lago Argentino ergießt. Er wurde erst 1888 Perito Morenovon dem Glaziologen Louis Agassiz entdeckt, dem es auch zu danken ist, daß die Glaziologie als eigenständige Disziplin von der Geologie abgetrennt wurde. Nach ihm ist der 3180 m hohe Cerro Agassiz benannt, einer der höchsten Berge des patagonischen Inlandeises.

Der Perito Moreno ist ein sogenannter warmer und damit schnellfließender Gletscher, der sich bis zu 1,50 m täglich in den See hinausschiebt. Es gibt kein Durchkommen zwischen diesen wie Zacken eines Rechens dicht an dicht gepackten Kegeln von Eiszapfen, den furchteinflößenden Gletscherspalten, unter denen sich unterirdische Eishöhlen auftun, wo nur Barsche und Forellen sich heimisch fühlen.

In besonders strengen Wintern, wenn der Gletscher bis zur gegenüberliegenden Landzunge vorrückt wie zuletzt 1988, kann es vorkommen, daß ein Seitenarm, der Brazo Rico, vollkommen abgeschnürt wird, so daß es zu einer Zweiteilung und Aufstauung des Sees kommt, wobei der Wasserspiegel im oberen um bis zu 20 m höher liegen kann als im unteren Teil des Sees. Dann passiert, was sich seit Menschengedenken immer wieder auf dieselbe Weise ereignet: Sobald die nächste Sommersonne ihre ersten wärmenden Strahlen auf die gewaltigen Eismassen herabschickt, setzt der Schmelzprozeß ein, die Eisbarriere fällt und die aufgestauten Wassermassen ergießen sich einem Sturzbach gleich in den unteren See. Zeugen dieses spektakulären Naturereignisses sind die zahlreichen abgestorbenen Baumstümpfe, die nicht wegen eines Zuwenigs, sondern wegen eines Zuviels an Wasser in den Fluten ertranken. Es sind die gleichen Urgewalten, die sich alljährlich auch an den Polen vollziehen, wenn Eisflächen, die dreimal so groß sein können wie die Insel Mallorca, sich aus dem Schelfeis lösen. Mit zunehmender Erderwärmung werden sich immer größere Eisschollen abspalten, die sich dann bis in den Südatlantik oder Südpazifik vorschieben.

Am Brazo Rico stürzte am 28. Januar 1931 der Marineflieger Gunther Plüschow zusammen mit seinem Bordmechaniker Ernst Treblow ab. Treblow, der den Sturz aus 50 m Höhe überlebt hatte, wurde zwar von Schafhirten gerettet, starb aber schließlich infolge des Kälteschocks beim Eintauchen ins eiskalte Wasser. Als Ausdruck der deutsch-argentinischen Freundschaft hat man den beiden hier ein Denkmal errichtet.

Da die meisten Gletscher, die vom patagonischen Eisschild in den Lago Argentino münden, im hinteren, weitgehend unzugänglichen Teil des Sees gelegen sind, muß man sich an diese  Stellen auf dem Wasser herantasten. Es ist schon ein großartiges Erlebnis, wenn man sich dem Gletscher mit dem Boot nähert und das Kalben vom Wasser aus beobachten kann. Gespannt starren wir auf die 60 m hoch aufragenden Eiswände, an die sich unser Katamaran nicht zu dicht heranwagen darf, denn wenn ein größeres Stück abbricht, könnten die ausgelösten Flutwellen ins Boot schwappen und dieses womöglich zum Kentern bringen. Die Stellen nämlich, an denen die Eislawinen sich hangrutschartig ablösen und alles unter sich begraben, sind Ausgangspunkt von Kugelwellensystemen, die sich weit in den See hinaus ausbreiten und die Boote, die draußen in Lauerstellung liegen, ins Schaukeln versetzen können.

Sicherer ist es, das Kalben des Gletschers vom Land aus zu beobachten. Ein angelegter Rundweg führt am anderen Ufer entlang und gestattet den Anblick aus unterschiedlichsten Perspektiven. Mit ein wenig Geduld kommt man in den Genuß, das Kalben aus nächster Nähe verfolgen zu können. Es kündigt sich an, indem sich zunächst kleinere Brocken ablösen, ehe dann immer größere und gewaltigere Blöcke abbersten, bis die Eismassen schließlich unter entsetzlichem Getöse an der Vorderkante des Gletschers gänzlich abgehen. Die geborstenen Eiswände tauchen dann, als würden sie nach Luft ringen, nach kurzem Eintauchen wieder auf und treiben als Eisberge davon, teils weit auf den See hinaus, bis sie irgendwann vollständig abgeschmolzen sind. Dies ist der ewige Kreislauf zwischen Wasser und Eis, der sich im Wechselspiel mit der Natur seit Urzeiten in stets gleichbleibendem Rhythmus vollzieht, eine Abfolge von Tod und Wiedergeburt der Elemente.

Die zahlreichen Ausflugsboote, zumeist Katamarane, fegen mit enormen Geschwindigkeiten über die Wasserfläche. Am unruhigsten ist auf solchen Schnellbooten der Aufenthalt nahe am Bug, und das ständige Stampfen des Schiffs kann bei manchem Übelkeit auslösen. Während über uns die Wolkenfetzen über den Himmel jagen und der Wind das Wasser peitscht, ziehen schneebedeckte Berge an uns vorüber, und zerklüftete Felswände in der Nähe rauben uns vorübergehend die Sicht, so als wollten sie uns erdrücken. Auch gekalbte Eisberge sehen wir bläulich in der gleißend hellen Gischt vorbeitreiben, und immer wieder mischt sich das dröhnende Geräusch der Motoren darunter, wenn das stampfende Schiff sich an den meterhohen Wellen bricht. Der Lago Argentino ist der größte See Argentiniens, an seiner breitesten Stelle 20 km breit, an der schmalsten nur 800 m, und er bedeckt die riesige Fläche von 135.000 km2. Alle Gletscher, die in den See münden, sind nach bekannten Forschern benannt, etwa der Spegazzini oder der Agassiz, die zu den spektakulärsten Gletschern überhaupt zählen, von denen man je gehört oder gesehen hat.

Nach mehrstündiger Fahrt sehen wir in der Ferne die ersten flachen Gletscherzungen auftauchen, die uns die gigantischen Eismassen des Upsala-Gletschers ankündigen. An der Stelle, wo dieser in den See mündet, ist zugleich dessen tiefste Stelle, die hier ganze 700 m hinabreicht. Außer zu beiden Seiten schwimmt alles Eis auf dem See, was ihm letztendlich auch zu seinem Ruhm verholfen hat. Die Fahrt zum Upsala-Gletscher, dem größten in Süßwasser kalbenden Gletscher der Erde, ist ein recht abenteuerliches Unterfangen, nicht nur wegen der gewaltigen Ausmaße dieses Eisfeldes, sondern auch, weil die Böen an jener Stelle des Sees besonders rauh sind, die Wellen aufgrund der peitschenden Fallwinde sich hier höher auftürmen als weiter draußen. An Deck der Schiffe kann es daher recht unangenehm werden, vor allem aufgrund des Spritzwassers, das ungeeignet gegen den Regen Geschützte auf einen Schlag bis auf die Haut durchnässen kann.

Es muß auch noch auf eine andere Gefahr hingewiesen werden, die von Touristen aus Mitteleuropa leicht übersehen wird, die Intensität der Sonne. Seitdem bekannt ist, daß sich das Ozonloch auch bis weit in den Süden Chiles und Argentiniens ausgedehnt hat, kann nicht oft genug betont werden, daß man sich zum Schutz gegen die Sonneneinstrahlung unbedingt eincremen muß, am besten mit dem höchsten Lichtschutzfaktor, den es gibt. Sonst kann es sein, daß die Halskrause bald unangenehm brennt.

Im Brazo Spegazzini reichen die Berge mit ihrem Steilabfall bis fast an den See heran, und es ist ein überaus eindrucksvolles Bild, welches für immer im Gedächtnis haften bleibt, die blendend-weißen Eismassen zu erleben, mit der grünen Flora im Hintergrund. Wären da nicht die Ausflugsboote, die stets in respektvollem Abstand zu den Eisbrüchen bleiben, und wäre man hier mit der Natur und sich allein, und nicht der hektischen Fotografiersucht der Passagiere ausgesetzt, könnte man zu völliger Selbstvergessenheit hinschwinden.

In der Onelli-Bucht gehen wir an Land, um auf einem Spaziergang der Natur noch ein Stück näherzurücken. An dem Punkt wurde eine Schiffsanlegestelle eingerichtet, weil man zu den beiden kalbenden Gletschern nicht anders gelangen kann als durch einen kurzen Fußmarsch. Dieser führt durch lichten Urwald zum Fuß des Agassiz- und Bolado-Gletschers, deren Kälber auf dem kurzen Gletscherfluß in den See hinaustreiben. Die auf dem Fluß schwimmenden Eisklumpen liefern einen reizvollen Kontrast zu der unberührten Natur ringsum. Das Abweichen vom Weg und das Betreten des Naturschutzgebiets auf eigene Faust sind untersagt.

Eine Bootsfahrt auf dem Lago Argentino in den Parque Nacional Los Glaciares zählt sicherlich zu den größten Erlebnissen, die im südlichen Argentinien auf den Touristen warten. Die Reise im Glasboot durch die aufgewühlten Fluten des milchig-grünen Sees mit seinen weißen Schaumkronen, inmitten bläulich schimmernder Eisberge, das weiche Abendlicht mit seinen langgezogenen Schatten, die alle Umrisse der violetten, hohen Felswände ringsum bizarr hervortreten lassen, sind ein Naturerlebnis ersten Ranges, das man um keinen Preis missen möchte. Als sich hinter uns im augenschmerzenden Gegenlicht eine schwarze Wolke vor die Sonne schiebt, kehrt Zufriedenheit in allen Herzen ein, denn wer das Wetter hier kennt, weiß jede Stunde Sonnenschein zu schätzen.

Auf der Rückfahrt vom Perito Moreno herrschen nahezu ideale Lichtverhältnisse, wodurch die Farben dieser Landschaft erst vollends zur Geltung kommen. Wenngleich Patagonien sehr viel niedriger liegt als der Altiplano, erinnert dennoch vieles an das Hochland von Bolivien. Insbesondere gleicht der Lago Argentino hinsichtlich seiner Farbgebung und was die Blautöne seines Wassers angeht, dem Titicacasee aufs Haar. Durch die Gletscherzuflüsse hat das Wasser im Normalfall die charakteristisch grüne Farbe unserer heimischen Gebirgsflüsse, die je nach Lichteinfall zwischen einem tiefen Blau und einer türkis-hellen Einfärbung schwanken kann. Seichtere Stellen wirken manchmal etwas unschön braun. Die Anden dagegen leuchten bei klarer Sicht aus der Ferne violett bis lilafarben, aus der Nähe hingegen sehen sie ockerfarben bis hellbraun aus. Die Gräser schließlich verlieren das ganze Jahr über nie ihre charakteristisch gelbe Farbe, während die übrige Vegetation durch hellgrünes Laub, dunkelgrüne Sträucher und rostrote Gräser ein harmonisches Ganzes bildet, so daß die Landschaft aussieht wie ein bunter Blumenteppich, und wo Fels zutage tritt, mischen sich in diese Palette noch Grau- oder Rottöne. Mit dem leuchtenden Blau des Himmels, dem Weiß der Wolken und dem Schwarz der Schatten liegt das ganze breite Spektrum südlicher Farben vor uns.

Vom Nationalpark Los Glaciares führt keine direkte Verbindung in den Torres-del-Paine-Nationalpark. Man ist daher gezwungen, den Umweg über La Esperanza zu machen und bei Cerro Castillo die Grenze zu Chile zu überschreiten. Als die Straße hoch über dem Lago Argentino eine Paßhöhe erreicht, sehen wir bei einem letzten Blick zurück noch einmal den Mount Fitz Roy, den höchsten Gipfel, majestätisch in den Andenhimmel ragen. Gut erkennbar zieht sich der Río Santa Cruz in zahlreichen Windungen durch ein breit ausgewaschenes Tal. Danach entziehen sich die Berge von Tres Lagos für immer unseren Augen, und wir befinden uns wieder in den eintönigen und monotonen Weiten der patagonischen Steppe, die langweiliger nicht sein könnte.

Schnurgerade zieht sich die Straße zwischen den Weidezäunen umzäunter Estancias hin. Kaum ein Lüftchen regt sich, und es ist angenehm warm. Da tauchen plötzlich in der Ferne die Torres del Paine auf, deren Name allein schon ein Prickeln hervorruft. Sie sind bereits aus großer Entfernung erkennbar, und wir nähern uns ihnen von argentinischer Seite Cuernos des Paineaus. Ihr Massiv ragt mitten aus der patagonischen Steppenlandschaft heraus. Ein weiteres Massiv nennt sich der Schlafende Indio.

Die Straße in den Nationalpark wird gerade geteert, somit werden wohl bald noch mehr Touristen kommen, um auch die letzten Oasen der Natur mit ihren unreinen Händen zu berühren.

In wohl jedem, der Chile bereist, werden die größten Erwartungen geweckt, wenn vom Paine-Nationalpark die Rede ist, und freudige Erregung kommt auf, wenn man sich den Torres zum ersten Mal nähert.

„Sei versichert, daß es ganz anders sein wird, als du es dir in deinen kühnsten Träumen ausgemalt hast“, meint meine Begleiterin. „Schätze dich glücklich, daß du zu den wenigen zählst, denen es vergönnt ist, daß sie die Torres und Cuernos überhaupt zu sehen bekommen, denn es ist durchaus keine Seltenheit, daß es eine Woche lang ununterbrochen regnet, und es ist auch schon vorgekommen, daß selbst ambitionierte Bergsteiger nach einer Woche Ausharrens unverrichteterdinge wieder abziehen mußten.“

Das Paine-Massiv ist eine der spektakulärsten Berggruppen der Welt, und sein Grundstock wurde vor rund 135 Millionen Jahren, im Erdzeitalter des Pleistozäns, durch eine unterirdische Magmakammer gelegt. Durch die eiszeitliche Erosion der Gletscher während der Kaltzeiten wurde der unter dem Sedimentgestein befindliche harte Granit freigelegt, und daher sieht man auf den Hörnern Kappen aus dunklerem Sedimentgestein aufsitzen.

Das Paine-Massiv liegt am östlichen Abhang der Kordillere in der Region Magallanes. Die Cuernos, die Hörner, tragen im Unterschied zu den Torres ein schwarzes Dach. Das Haupthorn, das Cuerno principal, ist 2600 m hoch, das nördliche Horn 2260 m. Die mit 3050 m höchste Erhebung des Paine-Massivs jedoch ist der Paine Grande. Die drei granitenen Felszinnen, der Torre Agostini, der Torre Central und der Torre Norte, stellen für Bergsteiger die weltweit größte Herausforderung dar, hauptsächlich wegen des Steinschlags und der latenten, ständig wechselnden Wetterbedingungen. Als erster wurde 1963 der Torre Central bestiegen.

Was den Paine-Nationalpark vor allem auszeichnet, sind die zahlreichen, in allen Blautönen schimmernden Seen, allen voran der Sarmiento-See, die Laguna Azul, die Laguna Amarga, der Pehoé-See und der Lago Grey, in den der Grey-Gletscher kalbt. Seine Fauna, deren bestimmende Art die Herden von Guanakos sind, lebt von den schwarzen Tijara-Enten mit ihren schwarzen Schnäbeln sowie den nur hier vorkommenden Schwarzhalsschwänen und Weißhalsibissen.

In jener subantarktischen Gegend stoßen wir vermehrt auch auf Südbuchenarten, die klein und verkrüppelt sind. Die ersten Siedler, die ins Land kamen, gaben den Bäumen, die sie hier vorfanden, Namen aus der Heimat, gerade wie sie sie eben von zu Hause kannten, so auch der Südbuche (Notophages). Diese wirft, um Wasser zu sparen, im Herbst ihre Blätter ab, nachdem sich zuvor das Laub blutrot gefärbt hat. Riesige Südbuchenwälder bilden das Einzugsgebiet des Paine-Nationalparks, doch sind die meisten der Bäume abgestorben.

Der Wind bläst um so stärker, je weiter wir nach Süden vordringen, und der Staub schneidet einem die Luft ab. An der Grenze erfahren wir, daß gestern in der Gegend Windgeschwindigkeiten von bis zu 160 km/h gemessen wurden.

Außer dem Gürteltier kommt hier noch das Steißschopfhuhn vor, allerdings auch dieses äußerst selten. Am Ende der letzten Eiszeit jedoch lebten im nördlichen Amerika noch Säbelzahntiger und eine besondere Art von Riesenfaultier, das sogenannte Milodon, dessen Knochenreste sowie ein Stück Haut ein gewisser Kapitän Eberhard in einer Höhle bei Puerto Natales gefunden hat. Als sich vor 10.000 Jahren die Gletscher zurückzogen, entstand an der Stelle, wo sich heute die Höhle befindet, in dem weichen Sedimentgestein durch Auswaschungen eines Gletschersees die Milodon-Höhle, wo man weitere Versteinerungen, darunter auch menschliche Überreste, gefunden hat. Der See wich, die Höhle ist geblieben. Wir haben hier das anschauliche Bild vor Augen, wie ausgehungerte Säbelzahntiger dem Riesenfaultier auflauern, das selbst ein reiner Pflanzenfresser war und sich von den Blättern der Bäume ernährte, zu welchem Zweck es sich in voller Höhe aufrichten mußte. Eine Nachbildung dieses Kolosses sieht man heute im Museum von Punta Arenas. Die Höhle selbst gleicht mehr einer Grotte, was sie genaugenommen auch ist, aber sie enthält weder Stalaktiten noch Stalagmiten, da es sich augenscheinlich nicht um Kalkgestein handelt, das hier zu Sedimenten verkittet ist. Mit ein wenig Fantasie mag man sich den permanenten Lebenskampf in dieser rauhen Umgebung anschaulich vorzustellen, man sieht den Schnee sich rot färben vom Blut dieser mittlerweile ausgestorbenen großen Säugetierart, die in den Fängen des Säbelzahntigers ihren letzten Atemzug aushauchte. Jede einzelne Kralle des Tiers war so groß wie eine Kinderhand.

Ganz in der Nähe der Milodon-Höhle, beim sogenannten Teufelsstuhl, der Silla del Diablo, einem weithin sichtbaren Felsen aus Sedimentgestein, der tatsächlich in seinem oberen Teil aussieht wie ein Stuhl mit ebener Sitzfläche, wählen wir auch unsere heutige Wildübernachtung. Der oben plane Felsblock böte einen idealen Ring für den Schwertkampf zweier Helden, denn der Gipfelaufbau fällt allseits steil ab, so daß es einer klettertechnischen Ausrüstung bedürfte, ihn zu besteigen. Die Ursprünglichkeit dieser Formation tritt um so mehr zutage, als Sedimentgestein in der Regel wenig einladend aussieht. Doch hier, wie schon beim Paine-Massiv, liegen die Verhältnisse anders.

Auch die benachbarten Anhöhen sind urwüchsig, aber unschwierig zu besteigen. In den Mulden haben sich dichte, moosbewachsene Südbuchenwälder erhalten, die kein Durchkommen ermöglichen. Vom höchsten zu erreichenden Punkt genießt man einen fabelhaften Rundblick hinab auf den Fjord Ultima Esperanza, auf steile Bergzüge ringsum und ausgedehnte Ebenen, und als die Sonne ihre letzten blendenden Strahlen durch das nebelartige Gewölk schickt, hinter dem sich verschneite Berge verhüllen, leuchtet der ganze Meeresarm wie ein reflektierender silberner Spiegel. Die seltsam verkrüppelten, aufgrund ihrer feingliedrigen Blätter fast durchsichtig wirkenden Bäume, die sich unter dem aus der ständig gleichen Richtung wehenden Wind alle auf die gleiche Seite neigen, bieten in der untergehenden Sonne ein gespenstisches Bild. Hier mögen einst die Tehuelche-Indianer ihren Göttern geopfert haben, entpersonifizierte, sich in den Naturgewalten manifestierende überirdische Mächte, über die wir kaum etwas in Erfahrung bringen können.

In der Nacht zeigt sich der südliche Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht: Orion, das Kreuz des Südens und Eridanus sind auf den ersten Blick zu erkennen. In tiefen Schlaf versunken weckt mich folgender Traum: Auf schnurgerader Straße beobachten wir eine Staubwolke, die höher und höher steigt, dann aber über sich einen Atompilz ausbildet, und wir fühlen deutlich, wie die Hitze immer weiter ansteigt. Als ich fast zu verbrennen drohe, wache ich auf, und schlagartig wird mir klar, daß alles nur ein böser Spuk war.

Der nächste Tag startet mit einem prächtigen Morgenrot, und die umgekippten Steinklötze fangen schon bald das erste Sonnenlicht ein, als unser Werk früh beginnt. Nachdem wir unser Lager am Ultima-Esperanza-Fjord abgebrochen haben, gilt es als nächstes, die Magellanstraße zu überqueren.

Hier, im Grenzgebiet zwischen Argentinien und Chile, sind noch immer zahlreiche Landminen verlegt, und immer wieder kommt es dadurch zu Personenunfällen. Vermutlich deswegen verfolgt mich in der Nacht folgender Traum: Es gab einen Kampf, an dessen Ende sich mein Gegner, in einem Schacht frei in der Luft hängend, an meinem Bein festgeklammert hält. Jederzeit hätte ich ihn mit einem Fußtritt in den Schlund befördern können, und es wäre völlig unnötig gewesen, ihm mein Messer in den Hals zu stoßen. Aber ich tue es, und die Frauen, die das sahen, sagten: „Er war der schönste Mann.“

In Puerto Natales geben unzählige Kormorane sich ein Stelldichein. Hier, im südlichen Chile, ebenso wie im Nachbarland Argentinien, gilt der ganze Stolz der Einheimischen noch immer ihren Gauchos, die früher die Gegend unsicher machten und den Landbesitzern zum Problem wurden. Sie verdingten sich später, nachdem man ihnen ihre unbeschränkte Freiheit genommen hatte, teils als Rinder- und Schafhirten auf den Estancias der Großgrundbesitzer, teils in der Armee, wo sie aufgrund ihrer Tapferkeit geschätzt und gefürchtet waren. Immer wieder treffen wir auf die Nachfahren dieser wilden Gesellen, deren ganzer Stolz die edlen Zuchtpferde sind. Viel mehr als Nostalgie und Sentimentalität ist von dieser Gaucho-Romantik allerdings nicht geblieben.

Seltsam genug mitanzusehen, wenn Kühe hinter Hunden herjagen oder, wenn sich das Spiel umkehrt, jene im Davonlaufen nach diesen ausschlagen. Dennoch bleiben die Hunde in diesem Wechselspiel letztlich immer die Sieger, so sehr haben sie ihr typisches Verhalten eingeübt.  

In Punta Arenas steht auf der Plaza das Magellandenkmal: ein bescheiden gekleideter, barhäuptiger Mann, mit einem Hut in der Hand, blickt zum Himmel empor, so als würde ihm eine Vision vorschweben. Die Stadt besitzt ein interessantes Museum, das von den Salesianern eingerichtet wurde und in welchem eine umfangreiche Sammlung der verschiedenen hier vorkommenden Arten aus Fauna und Flora ausgestellt ist sowie ein Abriß der Erschließungsgeschichte und der früher hier lebenden Ethnien gegeben wird. In Punta Arenas legen auch die großen Kreuzfahrtschiffe an, und von hier aus können Landausflüge zu den Pinguinkolonien bei La Pinguinera unternommen werden.

Erwachsene werden wieder zu Kindern, wenn es irgendwo Pinguine zu beobachten gibt. Doch nicht nur diese sind es, die bei den Leuten Entzücken hervorrufen. Es wimmelt nämlich in dieser Gegend auch von Nandus, so daß es überhaupt nichts Besonderes ist, diese Straußenart hier anzutreffen. Die südamerikanischen Nandus sind mit den afrikanischen Straußen allerdings nicht verwandt. Der Hahn baut das Nest und brütet auch allein. Auch Füchse zeigen sich ungeniert auf dem Gelände der Pinguine, ohne daß diese von ihnen Notiz nehmen würden.

Punta Arenas besitzt als Besonderheit noch einen eindrucksvollen Friedhof, wo ganze Familienclans in richtiggehenden Tempelgräbern bestattet wurden. Bekannteste Persönlichkeit ist die Großgrundbesitzerin Sara Braun, die in ihrem Testament angab, daß ein Tor des Friedhofs, nachdem es sich hinter ihr geschlossen habe, nie wieder geöffnet werden dürfe, und man erfüllte ihr diesen Wunsch.

Obwohl es auch von Punta Arenas aus möglich wäre, die Magellanstraße zu überqueren, bevorzugen wir für die Überfahrt mit der Fähre die schmalste Stelle bei Punta Delgada. Dort nämlich, wo Cabo Deseado liegt, das „ersehnte Kap“, ist die Magellanstraße am engsten. Das Land zu beiden Ufern liegt flach und gelb wie ein Wüstenstrich. Nur einen Steinwurf entfernt liegt auf der gegenüberliegenden Seite Tierra del Fuego, Feuerland, das seinen Namen Kaiser Karl V. verdankt, der aufgrund dessen, was ihm die Überlebenden der ersten Weltumseglung erzählten, spontan entschied, dieses Land so zu benennen. Von der Wortironie ahnte der Wortgeber freilich noch nichts, denn heute werden dort Erdöl und Erdgas gefördert, und das Feuer züngelt aus den Abfackelungsanlagen. Die Eingeborenen hatten damals viele Feuer entzündet, zum Schutz gegen die schneidende Kälte, die dem Besucher dieses Strichs auf dem Erdkreis normalerweise entgegenschlägt. Heute jedoch herrschen Temperaturen von über 20 °C, 1000 km von der Antarktis entfernt: erste Anzeichen einer globalen Erwärmung. Es ist auch seit zwei Tagen völlig windstill, was die Wärme noch spürbarer macht. Die Wolkendecke reißt zeitweilig auf, und das Meer wie der Himmel zeigen sich in einem arktischen Blau.

Die Fähre Valparaiso bringt uns in wenigen Minuten ans andere Ufer, ebenfalls noch chilenisches Gebiet. Irgendwo draußen auf der Straße kreuzen wir genau die Stelle, über welche Magellans Karavelle hinwegsegelte, ein erhebender Augenblick, der Gänsehaut hervorruft. Und wenn einer nur lange genug wartet, sieht er vor seinem geistigen Auge alle vier Karavellen vorbeisegeln, an Bord Männer mit blitzenden Helmen und Harnischen, gespannt Ausschau haltend, und er hört die Böllerschüsse, vor denen selbst das Meer zurückweicht, als sie die Engstelle passieren, hinaus in ein noch gewaltigeres Meer, als sie es je gesehen hatten, den Großen, den Stillen Ozean. Keiner dieser bärtigen Männer weiß in dem Augenblick noch, ob er die Heimat je wiedersehen wird, keiner kann die lauernden Gefahren und die zahlreichen Fährnisse, welche dort auf sie warten, und die unbeschreibliche Ausdehnung des Ozeans richtig bemessen. Als die vier Segel in der aufgehenden Sonne, in den Weiten des Ozeans verschwinden, ist noch keinem von ihnen klar, von welcher Tragweite dieses Ereignis einst sein würde. Später, viel später, kam ein anderer, der kein geringerer war als der Pirat Sir Francis Drake, mit der Golden Hinde, die vollbeladen war mit Schätzen, und umschiffte Kap Hoorn. Bis dahin aber würde die Fahrt del Canos bereits Berühmtheit erlangt und andere zu den gleichen Herausforderungen ermutigt haben, und selbst der Papst in Rom zuckte auf seinem Stuhl zusammen, als er erfuhr: das alte Weltbild des Ptolemäos, es galt nicht mehr.

Niemand würde doch das Verdienst Magellans schmälern oder ihm seine große Leistung absprechen wollen, bleibt er doch unangefochten der erste, dem eine Weltumseglung glückte, wenngleich er selbst dabei den Tod fand und del Cano und seine Gefährten den ihm gebührenden Ruhm einheimsten. Sieht man sich auf der Landkarte den argentinischen Küstenverlauf genauer an, so muß man sich mit Ausnahme einiger weniger Buchten, die sich zumeist mit Flußmündungen decken, eingestehen, daß dieser nahezu geradlinig verläuft und wenig Möglichkeiten bietet, sich nach einer Passage hinüber zum Pazifik umzusehen. So liegen denn südlich des Río Deseado noch der Río Chico bzw. der Río Santa Cruz und der Río Gallegos, wo nach einer solchen Durchfahrt hätte gesucht werden können. Mithin mußte denn Magellan bei Cabo Virgenes fast unweigerlich in die nach ihm benannte Schiffahrtsstraße hineinsegeln, um schließlich am Salzgehalt des Meeres festzustellen, daß es sich dieses Mal um keine Flußmündung handelte, sondern um eine Meerenge, deren genauer Verlauf von ihm auszuloten war. Finden sich doch weiter im Landesinnern Fjorde, Irrwege durch ein Insellabyrinth, in dem man sich leicht hätte verlieren können. Doch in Anbetracht der strengen Auflagen, die Magellan gemacht worden waren, nämlich auf dem Seeweg nach Westen die Gewürzinseln d.h. die Molukken zu erreichen, um das portugiesische Handelsmonopol zu brechen, war ihm von Anbeginn an ein westlicher Kurs aufgezwungen, von dem er, um die Reisedauer nicht über Gebühr in die Länge zu ziehen, auch kaum hätte abweichen können. So lag etwa die Durchfahrt in die nächste Bucht bei Punta Delgada exakt in westlicher Himmelsrichtung, und auch der Weg an Punta San Vicente vorbei war nahezu vorgegeben. An der Insel Isabel wiederum war die Südrichtung zwingend vorgeschrieben, und daß Magellan die Meerenge zwischen der Brunswick-Halbinsel und der Dawson-Insel wählte und nicht in die Bahía Inútil bzw. den Whiteside-Kanal einlief, kann man ihm gar nicht verdenken, weil er doch westwärts segeln mußte. Hinter Cabo San Isidro, etwa in Höhe des Monte Victoria, hatte Magellan erneut keine andere Wahl, als die Brunswick-Halbinsel zu umschiffen. Hätte er nun den Weg Richtung Norden gewählt, so wäre er in den Otway-Sund geraten und hätte dann zurücksegeln müssen, also nahm ihm auch hier wieder das Gesetz der Logik die Entscheidung ab und ließ ihn an der Córdoba-Halbinsel nordwestlichen Kurs nehmen, bis er schließlich, vorbei an der Insel Desolación, bei Puerto Miseriocordia den offenen Pazifik erreichte: die Durchfahrt war gefunden. Über alldem darf nicht vergessen werden, daß es allein Magellans Betreiben und seiner Energie und Ausdauer zu verdanken ist, daß diese Reise stattgefunden hat, denn nachdem der portugiesische Königshof sein Ansinnen zurückgewiesen hatte, nahm ihn der spanische bereitwillig auf. Auch wenn Magellans Reise ihr Ziel, nämlich die Gewürzinseln in den Besitz Spaniens zu bringen, fehlschlug, so hat sie dennoch den letztendlichen Beweis von der Kugelgestalt der Erde erbracht.

Auf Ferdinand Magellan folgte sechs Jahre später die von Kaiser Karl V. ausgestattete zweite Expedition des García Jofre de Loaísa, die durchweg unglücklich verlief. Seine sieben Schiffe segelten mit unterschiedlicher Geschwindigkeit. Mitte Mai gelangte Loaísa nach Durchquerung der Magellanstraße mit vier verbliebenen Schiffen in den Pazifik. Das Flaggschiff Santa Maria de la Victoria war das einzige, welches das Expeditionsziel erreichte.

1535 wurde Simón de Alcazaba, Kommandeur zweier Schiffe, in der Magellanstraße von Meuterern umgebracht. Nur eines der Schiffe erreichte die Heimat wieder.

1537 befuhren der Italiener León Pancaldo – auf der Santa Maria – und sein zweiter Kapitän Juan Pedro de Vivaldo – auf der Concepción –, von Cádiz kommend, die Magellanstraße. Pancaldo starb im Jahr darauf am Río de la Plata, von Wilden aufgefressen.

1539 brachen drei Schiffe unter dem Kommando von Francisco de la Ribera – eines unterstand Francisco de Camargo und ein anderes Alonso de Camargo –, in Richtung Magellanstraße auf. Das eine ging verloren, ein anderes kehrte nach Spanien zurück, das dritte, möglicherweise unter Alonso de Camargo, durchfuhr die Meeresstraße und gelangte nach Valparaiso.

1553 unternahmen Francisco de Ulloa und Francisco Cortés de Ojeda eine erneute Expedition. Hernán Lamero Gallego de Andrade durchquerte die Straße von La Concepción in Chile kommend im Oktober 1553 mit drei Schiffen. Dies war die erste Durchquerung in West-Ost-Richtung.

Im Jahre 1557 erhielt Juán Fernandez Ladrillero den Auftrag, die Gegend südlich von Valdivia zu erforschen. Insbesondere die Magellanstraße und deren westlicher Eingang sollten erkundet werden. Auch diesmal wollte man sie in entgegengesetzter Richtung durchfahren. Ladrillero befehligte das Schiff San Luis und Francisco Cortés de Ojeda die San Sebastian. Ein Sturm trennte sie, das Flaggschiff ging verloren. Trotz mehrerer Anläufe konnte Ladrillero die Durchfahrt nicht finden. 1558 erreichte er Cabo Virgenes. Die Expedition kehrte 1559 nach Valdivia zurück. Diese Reise leitete die Inbesitznahme Feuerlands ein, die später mit der Errichtung kleiner militärischer Basen durch Pedro Sarmiento de Gamboa bis 1579 fortgeführt wurde.

1578 entdeckte Francis Drake, ein englischer Freibeuter, die nach ihm benannte Schiffahrtsstraße, woraufhin es nicht mehr nötig war, durch die Magellanstraße zu segeln, was vielen Seeleuten trotz des langen Umweges lieber war.

In den darauffolgenden Jahren kamen noch zahlreiche andere, die alle aufzuzählen hier zu weit führen würde.

Die Magellanstraße ist heute bevorzugtes Übungsgebiet der chilenischen Tiefflieger. Mehrere Maschinen jagen gerade über unsere Köpfe hinweg. Wir treffen bei jener Gelegenheit auch zwei Testfahrer, die uns berichten, daß sie die Strecke zwischen Buenos Aires und Ushuaia in nur 26 Stunden bewältigt hätten.

Wer sich etwa Feuerland anders erträumt hat, als wir es erleben, wird sich herb enttäuscht sehen. Der weitaus größte Teil der Insel ist flach und baumlos. Anfangs begleitet uns noch ein kurzes Stück Asphaltstraße, danach kommt nur noch Piste, der schlechteste Teil auf unserer gesamten Strecke. Auch werden die letzten Wälder Feuerlands gerade abgeholzt.

Feuerland ist entstanden, als die Gletscher während der Eiszeit die Magellanstraße einschliffen.

Bisher hatte die ganze Welt geglaubt, daß die ersten Menschen über die Beringstraße nach Amerika eingewandert seien, doch wird diese These mittlerweile bestritten, da es gesicherte Erkenntnisse gibt, daß es schon vor ihrer Ankunft eine Besiedelung gab. Die Yahgan oder Alakaluf – sie besitzen einen Wortschatz mit 32.000 Wörtern – lebten am weitesten südlich, ihr Gebiet lag rund um den Beagle-Kanal. Zum Aussterben der Ureinwohner trug maßgeblich die brutale Landnahme durch die Weißen bei; die von ihnen eingeschleppten Krankheiten und Kopfgelder für jeden getöteten Indianer taten ein ihriges.

In seinem mittleren Abschnitt geht Feuerland in Waldgebiete über, im nördlichen Teil bestimmen die Ausläufer der Anden sowie Moore und Sümpfe das Landschaftsbild. Ebenfalls in seinem nördlichen Teil ist Feuerland ein flaches, unwirtliches und abstoßendes Land, im Aussehen ganz ähnlich dem Patagoniens. Der Regenbogen und die Sonne sind hier miteinander verheiratet, und die Erde bringt das rote Fuchsschwanzgras hervor. Bei flach einfallendem Licht können diese Grasflächen dem Aussehen von Getreidefeldern ähneln.

Die Sonne versinkt währenddessen ohne vernebelnde Dunstschicht, so messerscharf berandet, wie ich es selten gesehen habe. Nachdem zwischenzeitlich zwei Fronten durchgezogen sind, klart es in der Nacht auf. In den Weiten Feuerlands funkeln die Sterne in der mondlosen Nacht in ihrer ganzen Pracht. In der kalten sauberen Luft sieht man das Sternbild des Eridanus, des Unterweltflusses, über dem Horizont stehen. Am nächsten Morgen hat sich Frost gebildet, so daß wir unser Frühstück im Stehen einnehmen müssen.

Es grenzt schon an Aberwitz, sich Feuerland auf dem Landweg erschließen zu wollen, wo doch eine Seereise ungleich abenteuerlichere Eindrücke vermitteln würde.  

Alsbald gelangen wir in die ausgedehnten Niedrigwaldgebiete Mittelfeuerlands, wo sich am Lago Fagnano ein erster Ausblick auf die schneebedeckte Kette der Darwin-Kordillere auftut. Die Landschaft mit ihren ausgedehnten Wäldern, den moosbewachsenen Bäumen, besitzt schon deutlich größere Reize als der baumlose Norden. Bei Rio Grande, das am Garibaldi-PaßMeer liegt, überqueren wir den gleichnamigen Fluß. Die Piste führt zunächst am Ufer des Sees entlang, ehe sie sich dann zum Garibaldi-Paß aufschwingt, von dem man einen majestätischen Tiefblick auf den Lago Escondido hat. Jenseits des Passes eröffnen sich zunehmend schönere Blicke auf die bizarr geformten, schneebedeckten Gipfel der Darwin-Kordillere.

Die Täler sind von Torfmooren und Sümpfen überzogen, die, ockergelb und rötlich-braun, fast kreisförmig schwarze Wasserflächen umschließen, was der Landschaft diesen ganz besonderen Reiz verleiht. Schon bald wird der Blick frei auf den Beagle-Kanal, der Feuerland in zwei Teile teilt und noch wesentlich schmaler ist als die Magellanstraße. Zwischen jenen hohen Bergen hindurch segelte später Kapitän FitzRoy durch diese Meerenge, mit dem Forschungsschiff Beagle – an Bord der berühmte Naturforscher Charles Darwin. Darwin, dem Vater der Evolutionstheorie, zu Ehren erhielt die Darwin-Kordillere seinen Namen sowie deren höchste Erhebung, der 2488 m hohe Mount Darwin.

Ein Thema, das man nicht aussparen kann, weil man als Reisender immer wieder damit konfrontiert wird, sind die Umweltschäden, die auch diesen Teil der Welt nicht verschont haben. Zumeist handelt es sich um Abholzungen aus der Brandrodung. So liegen beispielsweise noch heute die Baumstümpfe der Rodungen ehemaliger Kolonisatoren zu Zeiten der Landnahme dort, wo sie gefallen sind. Pistenverbreiterungen, bei denen ganze Bergstöcke abgesprengt wurden, haben häßliche Spuren in der Landschaft hinterlassen. Waren die schmalen und kurvenreichen, sich dem Gelände anpassenden Straßen noch halbwegs malerisch und kaum störend, so hinterlassen die begradigten, autobahnähnlich ausgebauten Trassen dramatische Erosionen und Hangrutsche. Auch die Überweidung hat ihre Spuren hinterlassen. Bekanntlich wählen Schafe stets die gleichen Pfade, so daß die Steilhänge aussehen, als wären sie von einem künstlichen Wegenetz überzogen.

Aus wirtschaftlichen Erwägungen betreiben die Regierungen in Santiago und Buenos Aires eine Rodungspolitik, die den Indígenos, denen dadurch die Lebensgrundlagen entzogen werden, nicht paßt und die darum von ihnen mit Vergeltungsschlägen geahndet wird. Nicht nur, daß die Eindringlinge Menschen und Tiere ausrotteten und die Landschaft zerstörten, haben sie auch Parasiten und fremde Tier- und Pflanzenarten eingeführt, die die ursprüngliche Flora und Fauna verfälschten. So sind unsere heimischen Karnickel und Biber, die sich dort ungemein verbreitet und das ökologische Gleichgewicht erheblich gestört haben, bereits zur Plage geworden und müßten eigentlich bejagt und wieder ausgerottet werden.

Nach mehr als 1.000 Kilometern Einsamkeit erreichen wir schließlich unser ersehntes Ziel, die Stadt Ushuaia. Sie nimmt, abgesehen von den unangenehmen Begleiterscheinungen einer jeden Großstadt, eine malerische Lage ein, an einer Ausbuchtung des Beagle-Kanals gelegen, umrahmt von majestätischen Bergen mit spektakulären Gipfelformationen. Sie wird nahezu ausnahmslos von allen Kreuzfahrtschiffen angelaufen, und nicht selten sieht man auch einen Eisbrecher hier liegen. Außerdem ist Ushuaia, das seinen indianischen Namen beibehalten hat, Ausgangsbasis für Segeltörns um Kap Hoorn, den südlichsten Punkt des südamerikanischen Subkontinents, und in die Antarktis. Diese bzw. die ihr vorgelagerten Süd-Shetlandinseln sind von hier aus nur ca. 500 Seemeilen entfernt. Die Antarktis ist das größte Süßwasserreservoir der Erde und zugleich deren Windmaschine. Daher kann es um Kap Hoorn bei Winden, die aus Süden wehen, zu schweren Stürmen kommen, und dennoch wurde von den alten Seefahrern häufig der längere Weg um das Kap der Durchquerung der Magellanstraße vorgezogen.

Auch das Inselgewirr des Nationalparks Alberto De Agostini mit seinen Fjorden ist für Segelfreunde ein wahrer Traum, uns hingegen muß eine Fahrt auf dem Beagle-Kanal vorerst genügen. Von Ushuaia aus kann man Ausflugsfahrten zu einigen kleinen Felseilanden unternehmen, wo sich Robben- und Vogelkolonien niedergelassen haben. Die Tiere unterscheiden sich in ihrer Färbung kaum von dem Gestein, auf dem sie träge herumliegen, und es geht ein bestialischer Gestank von ihnen aus. Auch Magellan-Kormorane und Fregattvögel leben hier zuhauf. Die Berge des Beagle-Kanals im Hintergrund, ergeben sich dort ganz reizvolle Fotomotive.

Die Ausflügler stammen meist von einem der hier liegenden Kreuzfahrtschiffe, diesen schwimmenden Krematorien, von denen weithin Leichengeruch ausgeht, und sie benehmen sich wie Kinder, diese Kreuzfahrer, wenn sie Seehunde oder Pinguine vor die Linse bekommen. Haben sie doch den letzten Zoobesuch oder Zirkusaufenthalt, wo sie die Tiere noch vor kurzem sahen, schon wieder vergessen! Wie vom Fieber gepackt, rennen sie sich gegenseitig über den Haufen und treten einander fast tot. Es ist schon ein wenig befremdlich: Die Menschen bringen alles um und rotten alles aus und erfreuen sich dann des wenigen, das noch übriggeblieben ist.

Der Vogelreichtum des Beagle-Kanals ist schier unerschöpflich. Die ganze Luft ist erfüllt mit Schwärmen von Seeschwalben. So muß die Natur einst überall ausgesehen haben, ehe der Mensch in seinem Jagdeifer daranging, die Arten zu dezimieren. Man ist versucht, sich die Zeiten Darwins herbeizuwünschen, der die Natur noch unverfälscht erleben durfte, ohne die stickige Hitze derer, die aus Jägern und Sammlern hervorgegangen zu dem geworden sind, was sie heute sind, zu einer Plage für den Planeten. Viele von denen, die hier ihre Kamera zücken, wissen noch nicht einmal, was sie vor sich haben.

Auch in den überfüllten Straßen der Stadt drängen sich überall nur Kreuzfahrtpassagiere, zwängen sich durch die Lokale und übervölkern die Museen oder geben ihr Geld für Kitsch in den Souvenirläden aus. Die Stadt kann mit dem Andrang kaum fertig werden, zwar gibt es reichlich Restaurants, doch an Cafés fehlt es völlig.

Wir verlassen nun Ushuaia, das Ende der Welt, an einem grauen Morgen. Die Launen des Wetters sind wirklich unerträglich, so daß uns der Abschied nicht schwerfällt. Da der Wind heute aus Osten weht, starten wir auch nach Osten, fliegen ein Stück über den Beagle-Kanal, bis wir genügend Höhe gewonnen haben, und schwenken dann über der Darwin-Kordillere ab nach Norden, Richtung Buenos Aires, der Hauptstadt Argentiniens. Lange noch werden uns die vergangenen Wochen, die wir buchstäblich auf der Panamericana zugebracht haben, in Erinnerung bleiben: die bläulichen Gletscher des Perito Moreno, die milchig-grünen Wasser des Lago Argentino, die ausgedehnten, kaum berührten Wälder und die windigen, wildzerzausten Bergspitzen Feuerlands. Doch wir werden wiederkommen, uns das zu erobern, wonach uns schon seit langem gelüstet, das letzte Paradies auf Erden, die blendend-weiße Antarktis.

  

Copyright © 2002, Manfred Hiebl. Alle Rechte vorbehalten.