»Die Rufe der Geisterreiter werden nun eindringlicher, Peitschenhiebe knallen durch die Nacht. Und tausend Peitschenhiebe hält die Steppe für dich bereit!«
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Zu den Erben Dschingis-Khans
Wilde Mongolei
Wer ein exotisches Reiseziel wählt, muß gewärtig sein, auch einen längeren Anreiseweg in Kauf zu nehmen, ehe der eigentliche Flug beginnt. Ausgangsflughafen ist dieses Mal die Bundeshauptstadt, und schon wieder bin ich auf den letzten Drücker, gerade noch rechtzeitig, angekommen. Der Berliner Flughafen Tegel läßt sich in nichts mit irgendeinem modernen Großflughafen vergleichen, schon die Abfertigung ist reines Chaos. Und während ich wütend über das schleppende Vorankommen in der Reihe stehe, werde ich von einer jungen Mongolin angesprochen, die mir ein Stück ihres Handgepäcks mitgeben möchte. Sie würde mich für diesen Dienst bezahlen, sagt sie. Doch ich lehne mit Hinweis auf bestehende Sicherheitsvorschriften ab. Gleich bei der Paßübergabe durch den Kontaktmann werde ich, vermutlich ob meines olivgrünen Aufzugs, von anderen Reiseteilnehmern für den Reiseleiter gehalten, der ich nun weiß Gott nicht bin.
Der Vorwurf, die Mongolian Airlines sei eine "Never Come Back Airline", ist ungerechtfertigt: Pünktlicher Abflug, ausgezeichneter Service, nagelneue Maschine. Die Stewardess, bildhübsch, liest mir jeden Wunsch von den Augen ab, und das kostet nur ein freundliches Lächeln. Sie kennen es sicher, dieses Gefühl, wenn sie übernächtigt sind, weil sie eine längere Anreise hinter sich haben: Sie werden euphorisch, geraten in einen Taumel der Glücksgefühle und in eine rauschartige Trance. Plötzlich verstehen sie sich mit dem, den sie zuvor noch hätten ohrfeigen können, aufs beste. So jedenfalls ergeht es mir, kurz bevor wir in Moskau landen. Es ist 20.30 Uhr Moskauer Zeit, aber noch immer 26 Grad warm, und die schönen blonden Moskowiterinen ziehen unser Augenmerk auf sich. Überall stehen abgewrackte Maschinen der Aeroflot auf dem Flugfeld herum. Ich verlaufe mich, nachdem ich einige Short-Mails geschrieben habe, und lande am falschen Gate, wo ich prompt von der Sicherheitsbeamtin der Lounge verwiesen werde. Sie ist wirklich sehr charmant, eben eine Russin!
Nachdem wir im Morgengrauen in Ulan Bator, der mongolischen Hauptstadt, gelandet sind und das Flaggschiff der Mongolian Airlines, die Chinggis Khaan, verlassen haben, werden wir von trüben Regenwolken begrüßt, und es herrschen frostige 16 Grad. Nun beginnt der Lauf durch die Institutionen, Formalitäten müssen abgewickelt werden, mit denen man hier erstaunlich großzügig verfährt. Auch mein Gepäck liegt fast schon griffbereit auf dem Förderband. Als erster verlasse ich die Schalterhalle und trete als einzelner hinaus, wobei mich eine riesige Menge Wartender schweigend anstarrt und kritisch mustert. Zettel werden hochgehalten, unter denen sich auch Personen weiblichen Geschlechts befinden, aber ich bin es nicht. Als ich mir unbeeindruckt meinen Weg ins Freie durch die wartende Menschenmenge bahne, nehme ich sogleich die verschiedenartigsten Düfte wahr: Parfums, Schweiß, aber auch Jurtengeruch ist darunter. Ein aufdringlicher Taxifahrer hält mich für einen Russen: Doswedanja, auch Fehlanzeige! Ein Koffer einer Reiseteilnehmerin fehlt, wir müssen nochmals zurück zum Flughafen, zu spät haben wir den Verlust der Dame bemerkt. Obwohl ich total übernächtigt und entsprechend desinteressiert bin, startet unser Reiseleiter sogleich mit Volldampf die Stadtbesichtigung. Erstes Ziel ist ein Aussichtspunkt hoch über der Stadt, und nun reißen fristgerecht die Himmel auf, und eine Blendwirkung tritt ein, die meinen überanstrengten Augen fast das Licht raubt. Am Ehrenmal für russische Soldaten hat man auch uns Deutschen ein Zeichen gesetzt - es stimmt einfach nicht, daß nur für Juden Denkmäler errichtet werden - das Hakenkreuzemblem erinnert an den Einsatz mongolischer Soldaten in der russischen Armee im Kampf gegen Nazi-Deutschland. Und nun scheint die Sonne derart prall vom Himmel, daß einem von dem extremen Temperaturanstieg Hören und Sehen vergeht. Bei dreißig Grad im Schatten wird selbst die Besichtigung des Winterpalastes des letzten Kaisers zur Qual, namens Bogd Khan, der hier eine verrückte Sammlung ausgestopfter afrikanischer und anderer nicht endemischer Tierarten angehäuft hat, so daß man sich fragen muß, welch merkwürdige Sammelleidenschaft ihn wohl dazu getrieben haben mag. Aber auch chinesisches Porzellan, golddurchwirkte Gewänder, Nobelkutschen, Mobiliar und andere Sammlerobjekte aus dem tibetanisch-buddhistischen Kulturkreis findet man hier. Bis auf die Residenz sind beinahe alle übrigen Gebäude für religiöse Zwecke gedacht gewesen, buddhistische Tempel mit sämtlichen Inkarnationen. Allerdings ist die Anlage derart renovierungsbedürftig, die Farben an den Wänden und den Dachziegeln derart verblaßt, daß es eines beträchtlichen finanziellen Aufwandes bedürfte, um alles wieder in einen ordentlichen Zustand zu versetzen. Allein, hierfür fehlt das Geld, denn die Mongolei ist ein armes Land und hat nach der Perestroika einen ausgesprochenen wirtschaftlichen Niedergang erlebt, an dem die Russen nicht ganz unbeteiligt waren.
Nachdem wir uns im Hotel, trotz des nahen Barbetriebs nahezu unbehelligt, gründlich ausgeschlafen haben, erwartet uns, ausgeruht wie wir sind und voller Tatendrang, ein Tag mit strahlend schönem Sonnenschein. Zunächst einmal folgt ein Stück Kultur, und zwar das buddhistische Gandan-Kloster, ein religiöses Zentrum der Mongolei, das sich, bedingt durch den Sowjet-Imperialismus, nach Jahren der Finsternis, mit neuem Leben zu füllen beginnt. Mehrere Stupas und eine riesige vergoldete, 26 m hohe und von einem Tempel umgebene Buddha-Statue sind das Besondere dieser Stätte, wo heute bereits wieder Novizen sich dem beschaulichen Müßiggang hingeben, sich Gebete oder soll ich besser sagen Gesänge murmelnd der Lehre Buddhas des Erleuchteten widmen. Es ist schwer für unsereinen, die wir in den strengen abendländischen Kategorien des Denkens erzogen wurden, den Inhalten dieser Religion zu folgen, und so will auch ich es erst gar nicht versuchen, tiefer einzudringen, sondern mich rein auf das unvergängliche Kunstschaffen konzentrieren. Es sind zugegeben wunderbare Erzeugnisse der Schnitzkunst, der Plastik, der Malerei und der Stickerei, die hier geschaffen wurden. Ein farbenfrohes Inneres und der unverkennbare Geruch von ranziger Butter sind es, die das Einmalige dieser Umgebung ausmachen. Jeder General, der die Front seiner Soldaten abschreitet, hätte seine wahre Freude daran, die unzähligen, nahezu identischen Buddhastatuen, einem Heere gleich, an sich vorüberziehen zu lassen. Doch über das Stadium, die Gebetstrommel zu rühren, komme ich bei meinem Reinkarnationsversuch nicht hinaus. Lieber sitze ich draußen an der frischen Luft im hellen Licht und lasse den Wind durch mein Haar streichen, eine Viertelstunde für mich!
Im Anschluß an den Klosterbesuch begeben wir uns ins naturkundliche Museum der Stadt, wo als Besonderheit eine großartige Dinosaurierausstellung aufwartet. In der Tat wurden hier in der Mongolei wie in keinem anderen Land der Erde unzählige Funde dieser ausgestorbenen Echsenart gemacht, deren Unterarten ich gar nicht alle aufzählen will. Vor allem die kompletten Skelette von Babies fleischfressender Dinosaurier, die in ihrem frühen Entwicklungsstadium bereits eine Länge von stattlichen zehn Metern erreichen, galten seinerzeit als eine wahre Sensation unter den Wissenschaftlern. Schädelfunde des berühmten Triceratops, Frühformen des Rhinozeros und eine Art des Urpferdes gehören zu den Exponaten dieser Ausstellung. Auch die reichhaltige petrographische Sammlung und ansehnliche Exemplare von Edel- und Halbedelsteinen, Funde riesiger Meteoriten auf dem Gebiet der äußeren Mongolei machen den besonderen Reiz dieses Museums aus. Nahezu sämtliche hier vorkommenden Tier- und Pflanzenarten sind exemplarisch vertreten.
Das Gebiet der heutigen Mongolei läßt sich grob in drei Gebiete unterteilen: die Grassteppe mit ihren ausgedehnten, endlosen Weiten beherrscht das Zentrum des Staatsgebiets; im Süden wird das Grasland durch die aride Wüstenregion der Gobi abgelöst, während der Norden allmählich in das Waldgebiet der Taiga übergeht. Während im Osten zum Teil vulkanische Gebiete vorherrschen, wird der Westen von den Gebirgszügen des Gobi-Altai eingenommen.
Wir verlassen nun Ulan Bator in westlicher Richtung und nähern uns Karakorum, der alten Hauptstadt des mongolischen Weltreiches. Während zunächst noch flaches, ausgedehntes Steppenland überwiegt, in dem allenfalls einzelne Jurten von der Anwesenheit des Menschen zeugen, wird die Landschaft geologisch zunehmend interessanter. Wie das Rückgrat eines im Boden schlummernden Dinosauriers durchdringen zunehmend Felsen das ebene Grasland, bis wir schließlich in eine Art Vorgebirgsregion gelangen, in der steinerne Monumente eines abgetragenen Gebirges davon künden, wie eingeebnet dieses mittlerweile ist. Einzelne Felsklötze, wie man sie etwa in der Serengeti antrifft, bestimmen nunmehr das Landschaftsbild. In einem Areal solcher Felsklötze machen wir halt, um hier die Nacht zu verbringen. Voller Begeisterung suche ich Entspannung in einer prickelnden Kletterpartie, und in der Tat gelingt es mir, in dem griffigen Urgestein, welches Gneis oder Granit sein muß, die meisten der Felsaufbauten in Serie zu erklimmen. Der Ausblick von den Felstürmen auf die endlosen Weiten und die in der Ferne sich abzeichnenden Wanderdünen ist großartig, gespenstisch, der Sonnenuntergang ein Erlebnis für sich. Es wird rasch kühl. Unzählige Schwalben fliegen tief, wie Fledermäuse auf der Jagd nach Insekten. Die unerträgliche Hitze des Tages weicht schnell einer spürbaren Kühle, und der Steppenwind fegt über die Zelte hinweg. Noch eben hat ein Mongole sein Pferd zum Probereiten bereitgestellt. Gegen zweiundzwanzig Uhr weicht der Sonnentag einem gespenstischen Szenario. Selbst die Raubvögel, die noch im Abendlicht ihre weiten Kreise zogen, haben sich nunmehr an geschützte Orte begeben, man fühlt bereits die Eiseskühle der Nacht. Aber wenn man sein Ohr auf den Boden preßt, hört man sie reiten, die Schatten der Mongolen, und das Trampeln von den Hufen ihrer Pferde kommt rasch näher. Es scheint, als wäre Dschingis-Khan auferstanden, um sein untergegangenes Reich zurückzufordern. Aber das sind alles reine Hirngespinste, und der mongolische Wodka bewirkt ein übriges. Alles Böse nämlich kommt aus Innerasien: die Hunnen, die Choresmier, die wilden Horden der Khanate und das Schnattern der Heuschrecken, der geflügelten Gefahr, deren es hier eine Unmenge gibt. Ich muß gestehen, daß ich noch nie im Leben eine solche Unmenge dieser Schädlinge angetroffen habe, die sich zu besonderen Zeiten weit in den Westen verirren, ähnlich den mongolischen Heeren des dreizehnten Jahrhunderts.
Nach einem erquickenden und labenden Schlaf brechen wir, stark wie Giganten, auf zu neuen Taten. Schnell steigt die Sonne höher am Firmament und zeichnet die Landschaft in Pastellfarben neu. Auch die Natur erwacht. Käfer und Heuschrecken regen sich quirlig, und die Schwalben machen in der klaren Luft Jagd auf Insekten. Die Mückenplage ist wahrlich entsetzlich, obwohl nirgendwo im Umkreis Wasser ist. Ich spüre den Schmerz der Einstiche nicht mehr, zu sehr bin ich durchbohrt von unzähligen Stichen, und das blutige Eiter ist der Tribut, den ich dafür entrichte, in unwegsame Weiten vorzudringen, wo nur die Pferdehirten ihre Herden durch die morgendliche Kühle in neue Weidegründe treiben.
Auf unserer weiteren Route erreichen wir nun Karakorum, das historische Zentrum der Mongolei, welches bereits vor Dschingis-Khan entstanden war und noch nach Kubilai-Khans Tod existierte. Karakorum war eine Zeltstadt, aus einer riesigen Ansammlung von Jurten errichtet, und wie noch heutige Ansiedlungen beweisen, nach alter Sitte eingezäunt. Die Stadt, von der so gut wie nichts mehr existiert, ist dort anzunehmen, wo heutigentags das Erdenedsuu-Kloster steht. Eine steinerne Schildkröte und noch eine zweite, die als Art Tempelwächter gedient haben mag, und von denen einstmals insgesamt vier nach den Haupthimmelsrichtungen ausgerichtet waren, sind alles, was von Karakorum, dem einstigen Zentrum des größten Weltreiches, das es je gegeben hat, übriggeblieben ist. Welch spärliche Hinterlassenschaft, die der einstigen Größe nicht gerecht wird! Die eine der beiden Steinschildkröten wurde auf eine nahegelegene Anhöhe verschleppt, von der man einen weitreichenden Tiefblick auf das Kloster hat, und man darf nun mit seiner Phantasie nicht zurückbleiben, um sich vor sein geistiges Auge zu führen, welch unüberschaubare Anzahl von Jurten dereinst dort gestanden haben und welch emsiges Treiben dort geherrscht haben mag, als Tributpflichtige aus fast der gesamten damals bekannten Welt beim Großkhan ihre Zahlungen leisteten. Karakorum war in Europa nicht eher bekannt, als bis der Franziskanermönch Wilhelm von Rubruk, der im Auftrag des französischen Königs Ludwig IX., des Heiligen, zum Großkhan entsandt worden war, noch bevor Marco Polo darüber berichtete. Der Auftrag seiner Mission war es, einen Freundschaftsvertrag mit den Mongolen auszuhandeln, mit dem Ziel, die verhaßten Mohammedaner, die Feinde Christi, in die Zange zu nehmen, was später denn auch geschah, als die Mongolen Bagdad eroberten, Aleppo und Damaskus plünderten, bis ihnen schließlich durch die Mamelucken Einhalt geboten wurde. Was den Panzerreitern des Abendlandes verwehrt blieb, den leichten Heeren der Mamelucken war es vergönnt. Bei Ain Dschalut, 1260, wurden sie niedergeworfen, die Mongolen: Pfeil gegen Pfeil, Bogen um Bogen, Pferd gegen Pferd, und sie kehrten danach nicht mehr zurück. Die Steppenreiter waren mit ihren eigenen Waffen geschlagen worden. Die Araber waren Sieger, durchtränkt war der Sand und die Wüste färbte sich rot vom Blut der Steppenkrieger. Es wäre an der Zeit, daß einer ihre Blutspur nachzeichne, aber dies kann keinesfalls das Ziel dieser kleinen Schrift sein. Letztendlich ist es das Schicksal aller Weltreiche, daß sie zerfallen, entweder durch das Auftreten eines schwachen Herrschers oder durch einen übermächtigen Gegner, und so erging es auch dem Reich der Mongolen, infolge dessen Zerstörung auch Karakorum unwiederbringlich vom Erdboden verschwand.
Um nun nicht darüber ins Nachgrübeln zu geraten, setzen wir unsere Reise fort, hinaus in die endlosen Weiten der Steppe, die wie ein Meer ist und einen Großteil der Landesnatur ausmacht. Sofern es nicht längere Zeit geregnet hat, ist der Steppenboden hart wie ein Brett, so daß selbst schwere Fahrzeuge über die Piste preschen können, ohne dabei Gefahr zu laufen, einzusinken. In der Blütezeit, zumeist während des kurzen Sommers, wenn gleichzeitig die Niederschlagsmenge am reichlichsten ist, ist die Steppe satt grün, und zahllose Gräser und Kräuter verleihen ihr einmal dieses, einmal jenes Aussehen. Manchmal erscheinen die Grasflächen von dem Edelweiß, das hier in Massen wächst, und nicht wie bei uns unter Naturschutz gestellt werden muß, silbergrau, ja fast weiß. Steppenboden ist ein nahezu idealer Tummelplatz für Pferde: hart, aber nicht zu hart, für allerlei Reiterkunststückchen tauglich. Die Landesnatur der Mongolei ist in Europa am ehesten vergleichbar mit derjenigen Islands, abgesehen vom Vulkanismus, der hier längst zum Erliegen gekommen ist, oder vielleicht mit den grünen Hügeln Irlands. Dazu ist dieses Land beständig einer gnadenlosen Sonneneinstrahlung ausgesetzt, wenngleich es, besonders in den Sommermonaten, immer wieder zu heftigen Regengüssen kommt. Das Reiten gehört nicht nur traditionell zur Pflichtübung eines jeden noch als Nomade lebenden Mongolen, es ist mehr als das, es ist ein Kult. Schon die kleinen Kinder beherrschen es aus dem Effeff. Wer jemals im flotten Galopp über Stock und Stein geprescht ist, daß einem fast die Sinne schwinden, weiß erst zu schätzen, was es heißt, ein solches Pferd zu reiten. Wir können der Versuchung nicht widerstehen, meine Begleiterin und ich, und machen uns daher auf zu einem einstündigen Ritt in freier Wildbahn. Es gibt einem ein herrliches Gefühl von Freiheit, die Welt auf dem Rücken eines Pferdes zu erleben. Unser Gruppenführer erzählt, daß er sich vor kurzem mitsamt seinem Pferd überschlagen habe, und daß ihm davon noch heute alle Knochen weh täten. Da bin ich hinterher direkt froh, mit nur wenigen blauen Flecken an der Innenseite meiner Schenkel, verursacht durch den hölzernen Sattel, davongekommen zu sein. Weiche Ledersättel sind eher eine Seltenheit und so gut wie nicht anzutreffen. Dafür reiten viele aber, denn wer will schon freiwillig zum Eunuchen werden, auch ohne jeden Sattel, selbst noch ohne Decke, nur auf dem Rücken des Pferdes sitzend.
Nachdem sich allmählich unser Reinlichkeitsbedürfnis regt, übernachten wir heute nicht wie gewöhnlich in freier Natur, sondern bei einem Jurtencamp, wo es warmes Wasser zum Duschen gibt, was bei den schweißtreibenden Temperaturen des vergangenen Tages einer Wohltat gleichkommt. Dieses Camp befindet sich bei einem freistehenden, gewaltigen Monolithen am Ufer des Tamir-Flusses. Was hier jedoch besonders mißfällt, ist die entsetzliche Mückenplage. Kein Körperteil, der unzerstochen bleibt! Der Tamir kann trockenen Fußes nicht überquert werden.
Dann fällt die Dämmerung ein. Hinter dem Schamanenfelsen versinkt die Sonne blutrot. Abends an der Bar, zu der eine größere Jurte umfunktioniert wurde, erlebe ich eine Überraschung: ein deutschsprechender Mongole, offenbar der Betreiber der Bar, führt uns seine Jagdtrophäen vor, die an der Decke hängen und die Wände auskleiden. Da hängt ein Wolfspelz neben dem anderen, und die Wölfe will er alle eigenhändig erlegt haben - behauptet er wenigstens. Ein Exemplar, ein Wolf von der Länge größer als ein Mensch, ist besonders beeindruckend und wurde erst letztes Jahr, während des strengen sibirischen Winters, geschossen. Bei großer Kälte wagen sich die Wölfe bis an die menschlichen Behausungen vor. Eine Sammlung alter Jagdgewehre trägt ebenfalls zur Zierde der Jurte bei, auch Steinschloßgewehre aus dem vorvorigen Jahrhundert befinden sich darunter. Man bietet mir kaltes Hammelfleisch zum Genuß an, welches ich allerdings, wie gestern die vergorene Stutenmilch, verschmähe, wenngleich ohne meinen Gastgeber kränken zu wollen, was mir aber, seinen Blicken nach zu urteilen, wohl nicht ganz gelungen sein dürfte. Bei mongolischem Wodka, den ich keineswegs verschmähe, brechen nun hitzige Diskussionen los. Meine Gesprächspartner sind unser Fremdenführer, ein Mongole, unser deutscher Anthropologe sowie ein russischsprechender Reiseteilnehmer, der sich ganz offen zum Marxismus bekennt und den ich daher im Verdacht habe, ehemaliger Stasimitarbeiter zu sein, einer jener Unverbesserlichen, die uns im Westen so große Sorgen bereiten. Wie könnte es unter dem Einfluß des Alkohols auch anders sein, als daß die Diskussion in politische Geleise gelenkt wird, was für viel Zündstoff sorgt. Da werden Runde um Runde Bier und Wodka gekippt, und schnell bin ich in die Spirale wechselseitigen Gebens und Nehmens verstrickt, aus der ich mich nur schwer befreien kann. Auch arten die gegenseitigen Angriffe zunehmend ins Persönliche aus, und obwohl mir meine Standpauken fast wie Predigten erscheinen, leiste ich insgesamt nur wenig Überzeugungsarbeit.
Da ich mich zurückgehalten habe, fühle ich mich am nächsten Morgen trotz der kurzen Nacht vollkommen ausgeruht. Erneut steht uns ein langer Fahrtag bevor, denn die Steppe will kein Ende nehmen. Alles steht in voller Blüte: Disteln, Klee und Wermut setzen sich wie Mosaikbausteine zu einem farbenfrohen Teppich zusammen. Bäume gedeihen nur an der Nordseite der Hänge, die zugleich die Wetterseite ist, während die Südseiten vollkommen baumlos sind. In der Nähe der Wasserstellen stolzieren Kraniche im grauen Kostüm. Murmeltiere und Erdhörnchen, auch Ziesel genannt, strecken neugierig ihre Köpfe aus dem Boden oder laufen auch ganz ungeniert über die Piste. Tausende Bussarde stürzen sich herab auf Abertausende von Mäusen. Mächtige Adler schwingen sich neben der Fahrbahn auf. Gabelweihen und Rote Milane sitzen überhöht auf ihren isoliert aus der Landschaft ragenden Warten und halten angestrengt nach Kleingetier Ausschau. Auch wenn es nur wenige feste Ortschaften gibt, stößt man immer wieder auf größere Ansammlungen von Jurten. Ziehen die Familien irgendwann weiter, werden die Jurten auf einen Lkw verladen und abtransportiert. Der Abbau einer Jurte dauert nicht länger als eine Stunde. Einzig und allein die vor fast jeder Jurte geparkten Motorräder brechen mit der Tradition, alles andere scheint geblieben, seit Jahrtausenden unverändert zu sein, wobei im Inneren natürlich ein moderner Ofen die überkommenen Feuerstellen abgelöst hat.
Während die Sommermonate sogar ein Baden in den Flüssen gestatten, sind die Winter unglaublich hart. Daher rührt auch die hohe Kindersterblichkeit. Eine medizinische Versorgung gibt es in den entlegenen Gebieten so gut wie nicht. Auffallend viele Mongolinen sind unfruchtbar, können ihrem Mann keine Kinder schenken. Man führt dies darauf zurück, daß bei den schon im Kindesalter an das Reiten gewöhnten Mädchen sich die weiblichen Geschlechtsorgane nicht ihrer Bestimmung gemäß entwickeln. Als Brennmaterial in den herben Wintern wird Dung verwendet. Die Pisten sind von zahlreichen tief eingegrabenen Spuren durchfurcht, wie von Pflugscharen aufgebrochen. Dieser Umstand hat in der Mongolei zu einem nicht unerheblichen ökologischen Problem geführt, zumal damit der Bodenerosion Vorschub geleistet wurde, abgesehen von dem unschönen Eindruck, den dieser rüde Umgang mit der Natur erweckt. Aber bisweilen wurden bereits im größeren Stil Straßen angelegt, um der Erosion gegenzusteuern.
Heutiges Tagesziel ist der Terkhijn Tsagaan Nuur, ein auf einem Hochplateau gelegener vulkanischer See. Auf dem Hinweg kommen wir an der Tschuluut-Gol-Schlucht vorbei, wo sich der Tamir-Fluß bis zu 60 m tief in den weichen vulkanischen Boden gegraben hat. Die Hochufer sind bewaldet, Lärchen die bestimmende Baumart. Der Rand der Schlucht, die tief unter uns dunkles grünes Wasser, das schäumend in seinem Bett dahinfließt, unzugänglich zwischen Basaltblöcke und Steilabstürze zwängt, ist mit einem Wildwuchs an Blüten wie mit einem bunten Mosaik ausgelegt. Wie atemberaubend erst muß eine Wildwasserfahrt mit Schlauchboot und Zelt durch diese Schluchten sein. Auf der Weiterfahrt gelangen wir auf eine Hochebene, zu der die baumlosen, spärlich mit Schnee bedeckten Ausläufer des Changaj-Gebirges eine angemessene Umrahmung bilden. Hier schlummern viele ehemalige Vulkane. Zwar wird die Mongolei noch ab und an von Erdbeben heimgesucht, und das letzte große Erdbeben von 1967 mit einer Stärke von 11 auf der nach oben offenen Richterskala hat bis zu 60 m tiefe, klaffende Wunden in die Erdkruste geschnitten, doch aktive Vulkane gibt es in der Mongolei nicht mehr. Am Ende unserer Etappe erreichen wir den hochgelegenen, malerischen See, den ein ehemaliger Vulkankrater gebildet hat. Drohende Gewitter sind aufgezogen, der Himmel ist tiefschwarz. Dunkle Wolken hüllen die Landschaft in ein gespenstisches Grau, Blitze zucken in der Ferne. Wenige Jurtengehöfte sind das einzige, was an den flachen, grünen Ufern zu finden ist. Die Wasser sind nicht besonders tief, aber dafür fischreich. Schon bringen die Einheimischen fangfrischen Fisch heran, den wir als willkommene Abwechslung auf unserem bescheidenen Speisezettel ansehen. Es sind Hechte, und wir braten sie, in Alu-Folie gewickelt, auf dem Grill. Am Abend kommt ein Mongole an unser Lager herangeritten und schenkt uns als Willkommenstrunk mongolischen Wodka ein. Dabei verstoße ich unwissentlich gegen das Gebot der Höflichkeit, auf das die Mongolen so großen Wert legen und dessen Nichteinhaltung einer Beleidigung gleichkommt, indem ich die angebotene Tasse mit der linken Hand entgegennehme. Es gelten nämlich strenge Regeln bei der Überreichung von Gastgeschenken: man darf diese nur mit der rechten Hand annehmen, wobei die linke unterstützend an den rechten Ellbogen greift. Als besonderer Frevel gilt es, beim Betreten einer Jurte über die Schwelle zu stolpern, denn dies bringt in den Augen der abergläubischen Mongolen Unglück über die Familie. Wem dieses Mißgeschick in historischer Zeit widerfuhr, der mußte damit rechnen, umgebracht zu werden. So wurden z.B. Russen, die freien Zutritt zum Land hatten, sofern ihnen diese Ungeschicklichkeit passierte, nicht selten von den Jurtenbesitzern erschossen. Zu Zeiten Dschingis-Khans beantwortete man das Stolpern oder Betreten der Schwelle der Jurte des Khans mit der sofortigen Hinrichtung durch Köpfen.
In der Nacht, als ich kurz aufstehen muß, bietet der sternklare Himmel einen prächtigen Anblick. Als wir frühmorgens beim Frühstück sitzen, zieht eine Herde Yaks an uns vorüber. Hinter den Bergen über dem See breitet sich ein glutrotes Morgenrot aus. Nach dem Frühstück sind wir zu Gast in einer Jurte, die Männer nehmen links vom Eingang Platz, die Damen rechts, so will es der Brauch. Dann werden uns nach uraltem Ritual Milchtee, Käse, Joghurt und Brot angeboten. Die Gastgeberin ist hochschwanger und erwartet stündlich ihre Niederkunft. Nichtsdestotrotz muß die mongolische Frau in der Schwangerschaft bis zur letzten Minute arbeiten. Wenn es gelingt, wird sie noch ins Krankenhaus gebracht, wenn nicht, kommt sie in der Jurte nieder. Unser Gastgeber ist ein Mann von dreißig Jahren, der sich als Ringer einen Namen gemacht hat, was mich wundert, denn er ist spindeldürr, und mongolische Ringer sind im allgemeinen gewaltige Fleischberge. Ringen ist in der Mongolei ein beliebter Volkssport.
Am Ufer des Sees liegen die Sommerweidegründe. Im Winter verlegen die Familien wegen der dann herrschenden strengen Temperaturen ihre Zelte in tiefer gelegene Gegenden. In den Wäldern ringsum hausen Wölfe, die nicht selten über die Herden herfallen und selbst dem Menschen gefährlich werden können. In der mongolischen Nomadenfamilie herrscht eine strikte Rollenverteilung, die auch eingehalten wird: Die Frau ist für die häuslichen Arbeiten zuständig, auch für das Versorgen und Melken der Stuten, während der Mann alle Aufgaben wahrnimmt, die an die Herden draußen, fernab der Jurte, geknüpft sind. Die Männer müssen oftmals weite Strecken zurücklegen, um das Vieh zusammenzutreiben. Die Tiere tragen zur Unterscheidung ein Brandzeichen. Während in den Sommermonaten vorwiegend Milchprodukte verzehrt werden, wird in den Wintermonaten wegen des dann gestiegenen Energiebedarfs luftgetrocknetes Fleisch gegessen.
Nachdem wir aufgebrochen sind, hören wir uns im Kassettenrecorder einige Stücke mongolischer Musik an. Die wichtigsten Musikinstrumente sind Blas- und Streichinstrumente wie auch die menschliche Stimme. Die Tonlagen der Sänger sind tiefster Baß und die Töne können nur von den Stimmbändern der Männer hervorgebracht werden. Der Beruf eines Sängers erfordert langjährige Ausbildung und genießt entsprechendes Ansehen. Allerdings werden diese Leute nicht sehr alt. Man vermutet, daß der bei den nur unter großer Anstrengung hervorgebrachten Tönen entstehende Kopfdruck frühzeitig zu Gehirnschlag führt.
Im Laufe des Nachmittags gelangen wir wieder in Tsetserleg an, wo wir das Tsair-Gegeen-Kloster besichtigen, das zu Füßen eines heiligen Berges liegt. Wie alle buddhistischen Klöster ist auch dieses stark dem Verfall preisgegeben. Es dient heute nur mehr als Museum. Hinter dem Ort bauen wir in einem Wäldchen an einem nahegelegenen Fluß unser Lager auf. Hier finden wir auch ausreichend Brennholz, so daß wir den Abend im Schein eines romantischen Lagerfeuers genießen können. Lagerfeuer lösen bei manchen Menschen merkwürdige Gefühle aus. Unter ihrem Einfluß werden längst vergessene Lieder angestimmt oder philosophische Themen gewälzt. Dabei kommt ans Licht, daß unser "Guide" in einer Menschenrechtsorganisation tätig war. Zum ersten Mal lasse ich mir aus berufenem Munde die Menschenrechte erklären und werde aus erster Hand darüber aufgeklärt, in welchen Ländern die Menschenrechte nicht eingehalten werden. Zu diesen zählt u.a. auch die Bundesrepublik Deutschland, in deren Gefängnissen nach dem Bericht von Amnesty International gefoltert wird.
Seit nunmehr zwei Tagen haben wir keine Dusche mehr gesehen. Die morgendliche Toilette beschränkt sich auf Zähneputzen und Katzenwäsche. Einige Reisegefährten leiden an Durchfall oder Erbrechen. Zum Frühstück gibts heute Spiegeleier, weil Sonntag ist! Dies stimmt versöhnlich für so manches, was wir erdulden müssen, z.B. den ganzen weiten Weg nach Karakorum zurückfahren. Kurz vor der Stadt kriegen wir frisches Trinkwasser, womit wir denn unsere Flaschen und Wassersäcke wieder auffüllen können. Auf dem Markt von Karakorum gibt es ein für unsere Vorstellungen kaum ausreichendes Nahrungsmittelangebot. Vor allem frisches Obst und Gemüse scheint man hier überhaupt nicht zu kennen. Eine Deutsche, die mir auf dem Markt über den Weg läuft, will freundlich lächelnd von mir wissen, ob ich denn irgendwo Marlborough-Zigaretten gesehen hätte. "Nein, hab ich nicht," lautet meine kurzangebundene Antwort, weil ich sie aufdringlich finde. Unser mongolischer Führer erzählt, daß er soeben eine sehr hübsche Frau gesehen habe, eine Mongolin. Ich will sie sehen und er bringt mich zu ihr. Sie hat eine für eine Asiatin bemerkenswert weiße Haut, doch möchte ich der Vollständigkeit halber hinzufügen, daß mongolische Männer doch einen etwas anderen Geschmack haben als wir Deutschen. Trotzdem gibt es Männer, die mit ihrem Samen nichts Besseres anzufangen wissen, als ihn auf den Brüsten einer Mongolin zu verteilen. Die Kosaken jedenfalls waren sich zu stolz, Frauen, die sich ungewaschen zum Beischlaf legen, auch nur zu berühren.
In Karakorum besichtigen wir das Erdenedsuu-Kloster, welches 1586 von Altan-Khan gegründet wurde. Ich erspare es mir daher, mich zu wiederholen, was den Erhaltungszustand des Klosters angeht. Im Jurtencamp gibt es kein warmes Wasser, worauf wir uns eigentlich eingestellt hatten, und auch das kalte tropft, wenn es hoch kommt, gerade einmal aus der Leitung. Doch mit viel Geduld ist eine bescheidene Körperpflege auch ohne Wassersack möglich. Abends bekommen wir Besuch von einigen Schaustellern, die die mongolisch-kriegerische Tradition wachhalten. Für einen Gegenwert von drei Dollar sei es mir gestattet, mich mit einer mongolischen Rüstung zu kostümieren und aufs Pferd zu setzen. Beim Anlegen der Rüstung hilft man mir bereitwillig. Als ich dann, auf dem Pferd sitzend, mit dem Schwert wild um mich schlage, kommen auch unsere Photographen auf ihre Kosten. Abends wird eine Folkloreveranstaltung mit einer weltweit bekannten Tanz- und Künstlergruppe ausgerichtet. Besonders anmutig wirkt auf mich, und nicht nur auf mich, der sogenannte Schlangentanz, bei dem drei junge Mädchen ihre geschmeidigen Körper in grotesken Verrenkungen ineinanderschlingen. Vor allem die Mädchen finden bei unseren Männern großen Anklang, so daß wir sie anschließend in die Jurte einladen. Die heiße Musik entflammt die Gemüter, und aufgeheizt stürzen wir uns allesamt ins Tanzvergnügen, keiner bleibt sitzen. Besonders unser deutscher Tourenbegleiter versucht alle, wie er sie der Reihe nach auffordert, in etwas aufdringlicher Manier zum engen Tanzen zu bewegen und an sich zu drücken, doch moderne Mongolinen scheinen darauf keinen gesteigerten Wert zu legen, sondern tanzen lieber mit Abstand zum Partner. So haben denn auch in fernen Landen die Berührungsängste der Jugendlichen untereinander deutlich zugenommen, oder aber man kannte die Berührung beim Tanz schon früher nicht. Nachdem alle gewaltsamen Annäherungsversuche zum Scheitern verurteilt sind, löst sich die illustre Gesellschaft gegen Mitternacht im guten Einvernehmen auf.
Am nächsten Morgen, als wir in Richtung Arwajkheer aufbrechen, sieht das Wetter noch verheißungsvoll aus. In der ganzen Mongolei gibt es kaum Straßen, und so ist auch die Straße von Karakorum nach Arwajkheer bloß eine Piste. Es herrscht so gut wie kein Verkehr und es gibt auch keine Verkehrszeichen. Schon bald passieren wir das Schankh-Kloster. Dutzende von Kranichen säumen unseren Weg. Es muß stark geregnet haben in den vergangenen Tagen, denn die Piste ist mit Schlammtümpeln übersät. Rechts und links der Spur liegen die Gerippe verendeter Tiere, von den Geiern abgenagt. Im strengen mongolischen Winter, in dem die Temperaturen auf unter 50 Grad minus fallen können, werden stets viele Tiere Opfer der Kälte. Nur die stärksten überleben, und die Natur stellt sicherlich die unerbittlichsten Gesetze auf. Dafür funktioniert in der Natur auch alles bestens, während beim Menschen nahezu alles nur noch schiefläuft. Zu einer weiteren Dezimierung der Wildbestände tragen die Jäger bei, die begehrtesten Jagdtrophäen sind Bären und Elche, die vorwiegend im Norden vorkommen. 11 % des Staatsgebiets der Mongolei bestehen aus Naturschutzgebieten und Reservaten, und es sollen angeblich noch mehr werden. Bis zu einem Drittel des Staatsgebiets soll zu Schutzzonen erklärt werden. Was allerdings hierzulande unter Naturschutzgebiet verstanden wird, ist nicht mit den strengen weltweiten Maßstäben zu messen. Zumindest scheint dort Nomadenwirtschaft kein Ausschlußkriterium zu bilden, und Nomadenwirtschaft bedeutet heutzutage: Überweidung, Bodenerosion durch Zubringer, modernen Industriemüll. Mit Erfolg hat man das Wildpferd dort wieder angesiedelt. Bereits hier treffen wir auf eine Herde Kamele, mit denen wir eigentlich erst in der Wüste Gobi gerechnet haben.
Langsam rücken die blauen Berge näher. Immer wieder kommen wir an idyllisch gelegenen Jurtensiedlungen vorbei. Gewaltige Herden von Pferden und Yaks ziehen an uns vorüber, ohne daß sich jemand ihrer annehmen würde. Auch kennt das Land keine Gehege. Die zahlreichen Holzbrücken sind häufig schadhaft, so daß man nichtsdestotrotz auf eine Furt angewiesen ist. Uraltes vulkanisches Gebiet ist es, das wir jetzt durchqueren. Die Steppe ist von Lavabrocken übersät. Rundherum dehnen sich weite Lavafelder aus. An einem spektakulären Aussichtspunkt an einer Orkhonschleife kann man von oben, noch aus 20 m Höhe, hunderte Forellen im klaren Wasser sehen.
Am Changaj Nuur Natural Reserve, in dem der weltberühmte Wasserfall liegt, stoßen wir auf den Orkhon Gol. Ein beeindruckendes Bett hat sich der Fluß hier gegraben: Abgerissene Felswände aus schwarzem Basalt, von Erdbeben wie riesige Schnitten abgetrennt, bilden den Rand des relativ schmalen Flußbettes. Der allseitig steile Abfall kann nur an wenigen Stellen gefahrlos überwunden werden. Unser mongolischer Begleiter zeigt mir einen geeigneten Abstieg, wohl aber nicht den unschwierigsten. Ich weiß nicht, ob er mich heimlich auf die Probe stellen wollte, denn an den glitschigen und moosbewachsenen Felsen hätte ich beinahe den Halt verloren. Doch schließlich, weil ich einen Schutzengel gehabt habe, lange ich unbeschadet unten an und dringe weiter flußaufwärts vor bis zum Wasserfall, der dort ein natürliches Bassin in einem nahezu kreisrunden Felsenkessel bildet. In der Felswand gegenüber entdecke ich eine Höhle, in der ein Lindwurm haust. Aufgrund seines feuerspeienden Atems wage ich aber nicht, in die Höhle vorzudringen. Die Talsohle des Felskessels ist mit prächtigen, stämmigen Kiefern bestanden, und Halden gewaltiger Basaltblöcke verengen das Tal. Der Fluß zieht ruhig dahin, und in den lichten Uferwäldern wimmelt es von allerlei Singvögeln. Ein Kleiber pickt seine Nahrung aus der Rinde, wobei er den Baum hinauf und hinab läuft. Ihn scheint meine Anwesenheit überhaupt nicht zu bekümmern, so sehr eins sind hier Mensch und Natur. Ich schlage vor, zum Orkhon- und Tamir-Fluß eine Expedition zu entsenden, denn diese unzugänglichen Flußläufe im Gebiet der vulkanischen Erden sind noch weitgehend unerschlossen. Wenngleich der Wildwassercharakter beider Flüsse nicht sehr ausgeprägt ist, so dürften dennoch eine Kajak- oder Schlauchbootfahrt durch die Klammen eine Sensation darstellen. Kampiert werden muß vielfach auf den Sandbänken des Flusses, da die Steilwände bisweilen unüberwindlich sind. Unser Ausflug zum Orkhon-Wasserfall ist von schweren Niederschlägen überschattet. Im Nu verwandeln sich die Pisten in tiefe und glitschige Schlammgruben, die ein Durchkommen beinah unmöglich machen. Bald werden wir nur noch durchgeschüttelt. Unsere Fahrzeuge rutschen hin und her und nehmen extreme Schräglagen ein. Die Wasserpfützen schwellen bedrohlich an, doch unsere allradgetriebenen Militärfahrzeuge russischer Bauart sind für diesen Einsatzfall konzipiert. Manchmal reicht ein Anlauf nicht aus, um die nächste Hürde zu überwinden. Doch es gelingt uns, ohne fremde Hilfe ins Camp zurückzukommen, wobei wir noch einen Abstecher zu den geheimnisumwitterten kirgisischen Megalithgräbern machen, über deren Ursprung sich mannigfache Rätsel ranken. Man datiert diese heute offenen und ausgeraubten Gräber in die Zeit um 1500 v. Chr.
Da es unaufhaltsam regnet, ich mich aber deswegen nicht im Lager aufhalten möchte, breche ich zu einem nächtlichen Erkundungsgang auf. Zunächst gehe ich hinab ans Wasser, folge dann dem Flußlauf, der sich in sanften Windungen durch grüne Auen hinzieht, bis ich an den Wasserfall gelange, der sich in den Orkhon ergießt. Dort bildet der Fluß ein tiefes Becken, in dem man auch baden kann, ehe er durch eine hier beginnende Schlucht weiterströmt. Hier wäre ein idealer Lagerplatz, der noch viel tausendmal schöner ist als der, den wir gewählt haben, hoch über der Schlucht, mit Blick auf den Wasserfall und hinab auf den tief eingebetteten, schwarz gekleideten See. Wie von einer geheimnisvollen Macht getrieben finde ich den Einstieg, steige hinab in die urweltliche Schlucht. In die Wände sind viele Schlitze eingelassen, die aussehen wie schmallippige Mäuler. Ich wage aber nicht, auch nur in einen der Schlitze die Hand zu legen. Wegen der vielen herumliegenden Skelette bekomme ich es plötzlich mit der Angst zu tun, die Nacht bricht herein, die Schatten verwischen, Fledermäuse flattern auf mich zu, und die wilden Tiere werden aktiv. Alles fasziniert mich, und Euphorie überkommt mich: Welt der Gerippe! Die Toten zieren die nackte Erde. Schreckliche Skelette reiten durch die Nacht. Die Erde giert nach Blut. Pechschwarze Eulen erzählen die Fabeln der Finsternis. Obwohl ich natürlich weiß, daß die Dinosaurier längst ausgestorben sind, fühle ich mich, als befände ich mich auf einer Zeitreise in die Kreidezeit. Es könnte aber auch durchaus ein wilder Bär aus einem der vielen Schlupfwinkel, die sich hier finden, hervorbrechen. Als ich dann frische Losung entdecke, packt mich das nackte Grauen, und ich haste wie von Furien getrieben den Steilhang hinauf, bis ich den Fängen dieses schwarzen Gefängnisses entronnen bin.
Auf weiter Flur stehen einsam Pferde in der Landschaft, als wollten sie mich in die Schlucht hinabschubsen. Sie scheinen Geisterreitern zu gehören, denn sonst ist hier niemand. Wohin man auch tritt, ständig muß man darauf achtgeben, nicht in Pferdekot zu treten, von dem die Steppe übersät ist. In meinem Unmut beginne ich bereits, gesenkten Hauptes, Heuschrecken zu zertreten.
In der Nacht zeigte der Himmel im fahlen Mondlicht das Antlitz eines Löwen. Nachdem es sich in der Nacht offenbar ausgeregnet hat, beginnt der neue Tag zumindest trocken. Dafür ist es ausgesprochen kalt. Die Temperatur ist auf unter 10 Grad abgesunken. Dazu weht ein eisiger sibirischer Wind. Da mein Schuhwerk nur aus Sandalen besteht und ich keine Socken anhabe, bleibt mir, wenn ich mir nicht die Zehen abfrieren will, nichts anderes übrig, als mir die Füße mit Plastiktüten zu umwickeln. Dieser Kälteeinbruch ist für die Jahreszeit ungewöhnlich. Während der Weiterfahrt wird aber das Wetter zunehmend besser. Am Straßenrand sehen wir zwei riesige Geier sitzen, die ein liegengebliebenes Tier abnagen.
Gegen Mittag erreichen wir Arwajkheer, wo wir uns für die kommenden vier Tage mit Lebensmitteln eindecken. Auf dem Markt ist das Angebot ähnlich knapp wie in Karakorum. Überall sticht der typische Geruch von Airag, der vergorenen Stutenmilch, in die Nase. Vor allem an Frischwaren fehlt es. Frisches Obst und Gemüse gibt es, mit Ausnahme von Kartoffeln vielleicht, so gut wie nicht. Auch an Trockenobst sind gedörrte Aprikosen so ziemlich das einzige, was man findet. Die Äpfel sind klein und grün und werden selbst von den Hunden verschmäht, die sonst wirklich alles fressen, nicht einmal Toilettenpapier verschmähen. An Kosmetika und anderen "Kulturgütern" besteht jedoch kein Mangel. Dennoch wirken viele Frauen, vor allem in bezug auf die Kleidung, die sie anhaben, schmutzig und machen auch sonst einen recht ungepflegten Eindruck, von den Männern ganz zu schweigen. Kommen wir am besten gleich auf den Mongolen zu sprechen, als Menschen nämlich: Die Landbevölkerung hat allgemein einen harten Gesichtsausdruck und rote Backen. Das gilt für Männer wie für Frauen. Durch die intensive Sonneneinstrahlung haben die Menschen einen gelblich-braunen Teint, bedeckte Körperteile jedoch sind nicht selten rein weiß, und damit ist die Mär von der gelben Rasse ausgeräumt. Der Mongole ist wortkarg und läßt als Zuhörer, egal um was es dabei geht, keinerlei Gefühlsregung erkennen, er verzieht keine Mine und kennt kein Gebärdenspiel. Hintergründig blickt er mit seinen mandelförmigen Augen unter der Stirn hervor. Nur selten kommt ihm ein Lächeln über die Lippen, auf Humor trifft man selten. Seine Blicke sind entweder unstet oder bleiben oft stundenlang auf eine feste Richtung fixiert, als würde er in tiefster Depression verharren. Aber er achtet streng auf Höflichkeit und ist fleißig und hilfsbereit. Auch eine gewisse Neugierde Fremden gegenüber ist festzustellen. Der Mongole verachtet Feldarbeit. Sowie wir irgendwo Rast einlegen, sind sofort zahlreiche Menschen, zumeist Kinder, zugegen und interessieren sich für uns, doch mag dies an dem Umstand liegen, daß das Fernsehen in der Jurte doch noch nicht so verbreitet ist wie bei Seßhaften. Das Haar tragen Männer wie Frauen auf irgendeine Weise geglättet und in der Regel niemals offen. Doch werden unter der Jugend schon zahlreiche Ausnahmen gemacht.
Hinter Arwajkheer nimmt das Wüstenabenteuer Gobi seinen Lauf. Die Steppengräser werden nun allmählich spärlicher, die Wüste will es! Unser heutiger Lagerplatz liegt windgeschützt zwischen mehreren Anhöhen. Der Himmel ist schwanger von Gewittern. Wie ein tiefblauer Vorhang verdunkeln Regenwolken die Sonne, ohne jedoch ihre Strahlen ganz zu bannen. Hinter uns erstrahlt der Himmel, von nur wenigen Quellwolken bedeckt, in einem abendlich zarten Blau, während die Steppe einmal blaßgrün erscheint, ein andermal wie von Gold bedeckt. Wir unternehmen einen Abendspaziergang in den Sonnenuntergang hinein, bis die Schatten der Nacht einfallen und Dunkelheit sich über die Steppe breitet und die Mondsichel als erstes unter den Gestirnen mit einem gespenstischen Abendrot wetteifert. Unsere sanitären Möglichkeiten sind zunehmend eingeschränkt. Seit Tagen haben wir keine Ganzkörperreinigung mehr vornehmen können, wir sehen, unrasiert und struppig wie wir sind, völlig verwildert aus. Einen Vorteil scheint dieser Lagerplatz im Einzugsbereich der Gobi jedoch zu haben: Die lästigen Hunde, die unser Frühstück bislang mit treuherzigem Blick verfolgten, gibt es nicht mehr. Es finden sich zwar noch vereinzelt Jurten auf unserem Weg, doch die Gebiete der großen Herden liegen hinter uns.
Da wir nun in entlegene Regionen vordringen, bedienen wir uns verstärkt der Satellitennavigation. Wir schalten zusätzlich noch die Funkgeräte hinzu. Mag das Global Positioning System auf Hoher See und im Luftraum noch so gute Dienste tun, für die terrestrische Navigation erweist es sich von deutlich geringerem Wert. Stell dir vor, du kommst plötzlich an eine Schlucht, was hilft es dir dann, wenn du weißt, daß dein Ziel auf der gegenüberliegenden Seite liegt? Für die zweidimensionale Navigation ist es also hauptsächlich die fehlende Höheninformation, die zu nicht eingeplanten Umwegen zwingen kann.
Die Sicht ist heute so klar, daß sie gut 40 km weit reicht. Kaum ein Wölkchen ziert den mongolischen Himmel. Es gibt ein hiesiges Sprichwort, das da lautet: "Die Mongolen sehen am Morgen bereits, wer sie am Abend besuchen wird." Ganze Teppiche mit wildem Schnittlauch kann man in der Steppe wachsen sehen. Der Duft der Kamille dringt in die feinsten Nasenspitzen. Nun aber wechselt die Landschaft ihr Kleid. Die Gräser ziehen sich zurück und der Saxaulstrauch tritt in den Vordergrund. Letzterer ist eigentlich ein miniaturisierter Baum, der über ein ausgedehntes Wurzelwerk verfügt und an dem sich der Flugsand zu richtiggehenden Dünen anhäuft. Zwei Senegal-Hühner, die wir ersichtlich aufgescheucht haben, flattern seitlich davon. Bei der Ortschaft Sajkhan-Owoo am Ongijn-Fluß findet zu unserer größten Überraschung ein lokales sogenanntes Naadam-Fest statt, das wir uns natürlich keinesfalls entgehen lassen. Männer und Frauen der näheren Umgebung haben sich, in ihre bunten Trachten gekleidet, zu dieser Festlichkeit hier eingefunden. Es sind im wesentlichen die uralten traditionellen Sportarten, die man dabei wettkampfartig austrägt: Reiten, Bogenschießen und Ringen. Diese Tradition reicht bis auf Dschingis-Khan zurück, als sich die Krieger bei bevorstehenden Kämpfen dadurch Mut und Kampfgeist holten. Die größte Veranstaltung dieser Art ist das nationale Naadam-Fest, bei dem in den letzten zwölf Jahren ein berühmter Ringer namens Bakh Erden unentwegt den Titel innehatte, bis er durch einen Besseren im wahrsten Sinne des Wortes gestürzt wurde. Die Wettkampfregeln sind einfach: Wer als erster mit einem anderen Körperteil als mit den Füßen den Boden berührt, hat den Ringkampf verloren. Leider können wir der Veranstaltung nicht in voller Länge beiwohnen, denn wir haben das uns selbst gesteckte Tagespensum zu erfüllen. Unser nächstes Ziel ist das in den Bergen liegende Ongijn-Kloster, das heute nur mehr aus Ruinen besteht. Einen umfassenden Eindruck von seiner ursprünglichen Größe kann man sich machen, wenn man auf einen der alles überragenden Berge steigt, von denen man nicht nur das Kloster unter sich liegen sieht, sondern auch einen weiten Blick in die tief eingeschnittenen Täler der Umgebung werfen kann. Das Kloster stand einst an strategisch wichtiger Stelle und wurde von den Bergen ringsum mit reichlich Wasser gespeist. Es wurde zerstört, die Lamas bzw. Mönche getötet. In dem Canyon, wo wir unsere Mittagspause einlegen, finden wir zahlreiche Exemplare des sogenannten Gobi-Baums. Häufig, da sie nicht gerade selten vorkommt, wird man die Agame, eine für die Region typische Eidechsenart, finden, die sich außerordentlich leicht von Hand fangen läßt. Man muß sie praktisch nur vom Boden aufheben.
Unsere Weiterfahrt führt stellenweise über sogenannte Wellblechpiste, eine durch schwere Fahrzeuge künstlich geschaffene Buckelpiste, die man aufgrund der ungünstigen Buckellänge entweder in sehr schneller oder aber betont langsamer Fahrt am erschütterungsfreisten meistert. Nunmehr treten die ersten Dünen ins Rampenlicht, helle Sandberge, die wie von schwarzer Asche zugedeckt erscheinen und manchmal sogar wie Kohlehalden aussehen. Die Piste macht jetzt den Eindruck eines mit grobkörnigem Asphalt geteerten, allseitig ausgedehnten Flugfeldes: fest, von grauer Farbe mit schwarzen Einschlüssen - ganz eigentümlich. Hier treffen wir auch die ersten Gazellen an, die pärchenweise, mit ihrem weißen Spiegel hintendran, vor uns Reißaus nehmen. Wenn Gazellen fliehen, behalten sie den einmal eingeschlagenen Kurs unbeirrt bei. Das ist im Grunde genommen das Tragische in ihrem Dasein, denn die Tiere kommen, wenn man es darauf anlegt, kraft dieses instinktiven Verhaltens, direkt vor die Motorhaube gelaufen und sind somit leichte Beute für Wilderer.
In jener überaus beeindruckenden Landschaft schlagen wir inmitten von Dünen, zwischen Felsen mit messerscharfem schiefrigen Gestein, unser Nachtlager auf. Einige der Unseren nächtigen, des prächtigen Sternenhimmels und der angenehmeren Kühle wegen, im Freien. Das trockene ausgedorrte Holz, welches wir finden, ergibt ein vollkommen rauchfreies Lagerfeuer. Es ist wahrhaftig ein erhabenes Erlebnis, hier, in völliger Abgeschiedenheit, wo nur die Geräusche des Windes zu vernehmen sind und weder Schreie noch Laute von irgendwelchem Getier ertönen, mit sich und der Natur allein zu sein, von einer der Anhöhen aus den güldenen Sonnenuntergang zu genießen, wenn das Zentralgestirn glutlos hinter den schwärzlichen Bergrücken versinkt, wo kurz zuvor noch plan geschliffene Steine eine gleißende Blendwirkung entfalteten.
Am nächsten Tag kommen wir durch eine Gegend mit hohen Sanddünen, wo man besonders viele und guterhaltene Dinosaurierskelette gefunden hat. Einst war die gesamte Region der Gobi ein großes Verbreitungsgebiet dieser ausgestorbenen Echsen, die 60 Millionen Jahre die Erde bevölkerten. Noch immer werden Dinosauriereier aufgefunden, die unter Liebhabern einen gewissen Sammlerwert besitzen. Das Landschaftsbild hat nun grundlegend gewechselt. Wir haben alle Mühe, daß wir mit unserem Fahrzeug nicht im Sand steckenbleiben. Die Büschelgräser, mit denen diese Dünen überzogen sind, heißen auf mongolisch Tik-Tik-Bäume. Die Artenvielfalt ist nur mehr dürftig. Zwei Geier, die sich hoch oben auf einer Düne niedergelassen haben, beobachten argwöhnisch das elende Häufchen von Fremden, die sich auf der sandverwehten Piste mühsam ihren Weg bahnen. Größere Herden von Kamelen sind ansonsten das einzige Getier, das wir des öfteren antreffen. Wir zeichnen nun ein Bild von der Wüste, die mehr Farben aufweist, als man gemeinhin glaubt: Der Sand, der sich im Wind zu Furchen oder Rillen kräuselt, besitzt ein helles Ockergelb oder hat einen beigen Farbton. Das Gestein, welches aus den Dünen herausragt oder in Form kleiner Steinchen lose auf dem Sand liegt, weist einen blaugrauen bis schwarzen oder anthrazitfarbenen Ton auf. Größere Felsgebilde bestehen entweder aus plattenartigem, scharfkantigem Schiefergestein oder sehen aus wie mit Schmirgelpapier abgeriebenes, grob- bis feinkörniges Sedimentgestein, von Zyklopen wie zu riesigen Ballen geknetet und aufeinandergetürmt. Der Buschbewuchs wirkt olivgrün und das Astwerk schimmert silbern. Stündlich wechselt die Wüste ihr Antlitz.
Der Gobi-Altai, den wir am frühen Nachmittag erreichen, ist ein langgestreckter Gebirgszug, der sich bereits von fern in einem durchsichtigen Blau abzeichnet, vor dem die Wüste in violetten oder rosafarbenen Bändern brachliegt. Nachdem das Altai-Gebirge in greifbarer Nähe liegt, ist schwer abzuschätzen, wie weit entfernt es ist. Ich muß es herausfinden und mache mich daher auf den Weg durch die Steppe, immer dem Gebirge entgegen. Die Sonne steht, obwohl es bereits 18 Uhr ist, noch hoch am Himmel, und mein Schweißverlust ist beträchtlich. In der Weite der Steppe verliert man jegliches Gefühl für Raum und Zeit. Obwohl mein Verstand sagt, daß die Berge näher heranrücken müßten, werden sie nicht merklich größer. Nach einer guten Stunde Fußmarsches erscheint die verlassene Jurtensiedlung noch immer näher als die nächste Ansammlung von Pferden, auf die ich mich zubewege, so daß ich mich dazu entschließe, umzukehren. Doch dafür weiß ich nun mit Gewißheit, daß das Gebirge von unserem Jurtenlager mindestens doppelt so weit entfernt ist, als wir angenommen haben. Vielleicht wäre es doch entspannender gewesen, die herrlichen Künste der mongolischen Masseusen am eigenen Leibe zu verspüren.
Von Dalandsadgad brechen wir am frühen Morgen des nächsten Tages auf, einen der Gebirgszüge des Gobi-Altai zu umrunden. Zunächst verläuft unsere Fahrt, stets in einiger Entfernung, am Rand des Gebirges entlang. Dabei treffen wir erstmalig auf größere Herden von Gazellen und bekommen auch einige Fettschwanzschafe zu Gesicht. Gazellen können an einem Tag bis zu 300 km zurücklegen. Sie tragen im Gegensatz zu Pferden, Rindern, Schafen oder Ziegen nicht zur Überweidung bei. Gerade dieses Umstandes wegen kann man aber nicht folgern, daß man in der Mongolei unberührte Natur vorfindet. Dies stimmt schon seit Jahrtausenden, solange es nämlich Nomadenwirtschaft gibt, nicht mehr. Der Gobi-Altai ist berühmt dafür, daß man hier zahlreiche Gelege von Dinosauriereiern gefunden hat und immer noch findet. Durch ein ausgetrocknetes Flußbett, welches hierfür die einzige Möglichkeit bietet, überqueren wir das Gebirge. Von der Paßhöhe haben wir einen phantastischen Ausblick auf die langgezogenen "Singenden Dünen". Manchmal kann man hier auch das unter strengem Naturschutz stehende Argai-Schaf entdecken. Doch haben wir damit kein Glück. Steinböcke sind das einzige, wessen wir ansichtig werden.
Die Mongolen haften vielfach noch immer dem Schamanismus an, wenngleich letzterer durch den Buddhismus erbittert bekämpft wird. Dies äußerst sich beispielsweise in den typischen Volkstänzen, zu denen rituelle Masken getragen werden. Der Schamane glaubt an zwei Welten, eine diesseitige und eine jenseitige, mit der er in Verbindung zu treten sucht. Hat er auf seiner Jenseitsreise Kontakt zu verlorenen Seelen aufgenommen, so schöpft er daraus Kraft für seine Naturheilverfahren. Untrennbar mit dem Schamanismus verbunden sind Trommel und Amulett, die als Musikinstrument und Fetisch dienen, sowie die Trance, ein Seelenzustand, der vor allem durch den Tanz erreicht wird.
Am Nachmittag, als bereits ausgedehnte Schatten über dem Land liegen, erreichen wir die Singenden Dünen, die nur zu Fuß erreicht und bestiegen werden können. Der Fluß, der zwischen uns und den Dünen liegt, kann noch auf einer Brücke überquert werden, der dahinter liegende Sumpf hingegen nicht mehr. Nachdem ich mehrfach mit dem Fuß in dem sumpfigen Wasser, das übelst nach Jauche riecht, steckengeblieben bin und damit rechnen muß, noch tiefer im Schlamm zu versinken, suche ich solange, bis es mir schließlich gelingt, über einige provisorisch gelegte Bretter auf die andere Seite des Bachs zu gelangen. Damit steht einer Besteigung der Dünen nichts mehr im Wege, außer den Dünen selbst. Von fern nähert sich bereits mit unglaublicher Geschwindigkeit ein Sandsturm, denn kaum, daß ich die höchste Düne im weiten Umkreis erklommen habe, fegt mich der Wind fast vom Gipfel. Hilflos in mich zusammengesunken, bleibe ich auf dem Kamm der Düne sitzen und versuche dort auszuharren, bis alles vorüber ist; auch sehe ich im Hintergrund schon wieder besseres Wetter aufziehen. Der Wind peitscht den Sand, daß die ungeschützten Teile der Haut zu brennen beginnen. Die Augen halte ich fast die ganze Zeit über geschlossen. Der Sand dringt in alle Körperöffnungen, in Mund, Augen, Ohren und Nasenlöcher. Die Taschen meiner Kleidungsstücke füllen sich rasant. Dazu fällt Regen, vom Wind nahezu waagrecht gepeitscht. Die Sicht ist stark eingeschränkt, so daß ich nach einer halben Stunde Ausharrens schließlich aufgebe und die Düne barfuß und dabei tief einsinkend hinabstiefele. Unten angelangt, treffe ich auf eine Kamelherde. Die Tiere sind überhaupt nicht scheu und trotten direkt auf mich zu. Eine biblische Szene! Wie schön wäre doch dieses Photo geworden! Doch photographieren kann man bei Sandsturm nicht. Und wie eine Ironie des Schicksals reißen nach Stunden der Düsternis die Himmel auf, so daß ich, keine Mühe und Anstrengung scheuend, die Dünenwanderung erneut beginne, um wenigstens ein Erinnerungsphoto zu schießen, was mir bislang nicht geglückt ist. Zu meinem Entsetzen stelle ich fest, daß meine Kamera über und über mit Sand bedeckt ist, doch glücklicherweise funktioniert sie noch. So komme ich denn mit dem Schrecken davon und erreiche völlig abgekämpft und überaus durstig unser Jurtencamp.
Diejenigen, die die gestrige Möglichkeit, sich an die Dünen heranzutasten, nicht wahrgenommen haben, erhalten nach dem Frühstück eine zweite Chance. Die besagten Dünen ziehen sich auf einer Länge von 150 km parallel zu dem obenerwähnten Gebirgszug des Gobi-Altai hin. Sie erreichen eine durchschnittliche Höhe von 30 m, in Einzelfällen wohl das Doppelte, und haben eine Breite von 3 km. Im flach einfallenden Morgenlicht werfen die Dünen besonders lange Schatten, so daß der gesamte Gratverlauf sich überaus deutlich abzeichnet. Die Singenden Dünen, sagt man, würden heutzutage nicht mehr wandern, aber dennoch sind sie nicht mit Vegetation überzogen, so daß ich dieser Aussage wenig Glauben schenken kann. Die steilere Seite ist stets die dem Wind zugewandte, woraus man den Schluß ziehen muß, daß der Wind zumeist von Osten kommt. Als wir die Gebirgskette, die wir gestern auf der Nordseite westwärts abgefahren sind, heute auf ihrer Südseite zurück in östlicher Richtung fahren, begleiten uns diese Dünen auf der gesamten Strecke, d.h. fast den ganzen Tag. Hinter den Dünen ragt dunkelviolett das Altai-Gebirge auf, jeder einzelne Faltenwurf ist erkennbar. Je weiter das Auge über die spärlich bewachsene Wüste streicht, desto mehr gleicht diese einem kurzgemähten Rasen, der wie ein in verschiedenen Gelb-grün-Tönen gehaltener Teppich zu Füßen der gelblich-weißen Dünen ausgebreitet liegt. Und dies alles ist in einen zartblauen Himmel getaucht, auf dem sich schon bald weiße Quellwolken bilden, die sich im Laufe des Tages nicht selten zu schwarzen Gewitterwolken auftürmen.
Das Altai-Gebirge ist morphologisch ein abgetragenes Gebirge, zwischen dessen noch stehengebliebenen Gebirgszügen sich die Täler mit Schutt zur heutigen Wüste aufgefüllt haben. In diesem Gebiet lebten seit dem dritten vorchristlichen Jahrhundert die Hunnen, die, wie alle Steppenvölker in stetiger Wanderschaft begriffen, zu einer Bedrohung für das damalige China, ja selbst Europas, wurden. So sind denn Teile der chinesischen Mauer zum Schutz gegen die Hunnen errichtet worden, und nicht, wie dies manchmal dargestellt wird, wegen der Mongolengefahr. In China waren die Hunnen unter dem Namen Xiongnu berüchtigt. Ende des ausgehenden Altertums nomadisierten sie nördlich des Schwarzen Meeres, wo sie sehr bald zu einer Gefahr für das Römische Reich wurden. Der Römer Aetius, der ehemals Gefangener der Hunnen und dadurch mit ihrer Kampfesweise vertraut war, tötete 453. n. Chr. den Hunnenkönig Attila. Danach verliert sich die Spur der Hunnen im Nichts.
Um die Mittagszeit suchen wir einen Rastplatz in einer nahegelegenen Schlucht auf. Ein wahrhaft idyllischer Ort, umrahmt von hohen Felswänden, wo an einem Quell Kamele an der Tränke stehen! Um mir einen Überblick zu verschaffen, klettere ich der besseren Aussicht wegen durch einen Kamin in der Steilwand, bis ich endlich eine ansehnliche Höhe erreicht habe. Das Gestein ist fest, aber scharfkantig, doch der Anstieg hat sich gelohnt, denn gerade noch gelingt es mir, einen Blick auf die davontrabenden Kamele zu erhaschen. Als wir die Schlucht wieder verlassen haben, bietet sich erneut das gewohnte Bild von der Wüste: kleine Gruppen im Gleichtakt davonstiebender Gazellen, vereinzelte Jurten, unzählige Kadaver, die an der Sonne verdorren, Windhosen, die lustig ihr Spiel im Winde treiben, und abflußlose Salzseen. Wir erreichen heute den südlichsten Punkt unserer Reise. Die Piste wird derart schwierig befahrbar, daß wir mehrfach Bodenkontakt bekommen. Nun überschreiten wir wieder die Grenze des Gurvansaikhan-Nationalparks. Selbst größere Greife bauen dort ihre Nester für die Aufzucht der Jungen völlig ungeschützt einfach auf den flachen, allseitig einsehbaren Wüstenboden. Nahe einer Erdspalte kommt unser Fahrzeug in eine bedrohliche Schräglage, so daß einige von uns es mit der Angst zu tun bekommen.
Sehr spät am Nachmittag erreichen wir die im Altai gelegene Geierschlucht, die sich in vielerlei Hinsicht von der sie umgebenden Wüste unterscheidet: unerwartet grüne Hügel, zumeist mit Wacholdersträuchen bewachsen, ziehen sich bis zu den Felsaufbauten hin, die in diesem Gebirgsabschnitt besonders wilde Zacken aufweisen. Steinböcke, deren Fell der Farbe der Felsen so sehr gleicht, daß sie, falls sie sich nicht bewegen, von diesen nicht zu unterscheiden sind, trifft man so häufig und in so großer Stückzahl an, daß es als gar nichts Besonderes erscheint, sie gesehen zu haben. Im Winter kann man mit ein bißchen Glück sogar den Schneeleoparden beobachten, der allerdings durch extensive Bejagung sehr selten geworden ist. Dafür sind die Ziesel um so zahlreicher, und über den Bergspitzen kreisen ihre Feinde, die Raubvögel, deren typische Laute weithin hörbar sind. Auch geologisch ist das Geiertal sehenswert, denn die härteren der schräg verlaufenden, abwechselnd harten Schichten ragen als stehengebliebene Stümpfe über das andere Gestein hinaus. Ich beschließe im Unterschied zu den anderen, die sich zur Schluchtenwanderung entschlossen haben, von der ich mir angesichts der fortgeschrittenen Tageszeit und der einsetzenden Dämmerung nicht mehr allzuviel verspreche, lieber einen der umgebenden Berge zu besteigen. Der Anstieg über die Geröllfelder ist mühsam und erfordert Trittsicherheit. Als ich in die Felsregion vordringe, wird das Gelände ohne Seilsicherung sehr schnell abschüssig, so daß ich von einer Besteigung der letzten paar Höhenmeter absehen muß. Aber auch ohne dies ist die Aussicht von dort oben überwältigend. Allerdings erfahre ich später durch die anderen, daß auch die Wanderung durch die Schlucht nicht ohne Reiz gewesen sein soll.
In der Nähe des Flugfeldes von Dalandsadgad tanken wir unser Fahrzeug nochmals für die bevorstehenden zwei Tage, an denen wir ebenfalls in der Steppe übernachten werden, auf. Die größeren mongolischen Orte bieten ein recht einheitliches Bild, es sind nämlich nichts weiter als größere, eingezäunte Jurtensiedlungen, worunter sich selbstverständlich auch einige feste Häuser befinden, die ebenso von einem Bretterverschlag umgeben sind wie die Jurten. Die Zäune dienen angeblich zum Schutz vor Tieren, um das "Vorzelt" nicht zu verunreinigen; ich hingegen hätte gedacht, zur Abgrenzung der Besitzverhältnisse oder vielleicht zum Schutz vor wilden Tieren, die sich in den Wintermonaten bis zu den menschlichen Behausungen vorwagen. Im Gegensatz zu den Einödjurten auf weiter Flur sind diese Ansiedlungen jedoch trostlos, die Versorgungslage mit Frischwaren, Milch- und Fleischprodukten ist verheerend. Doch gibt es stets reichlich Süßigkeiten, für die der Mongole eine wahre Leidenschaft zu haben scheint, vom Keks angefangen über die Schokolade bis hin zur Limonade.
Die folgende wahre Begebenheit gibt eine Vorstellung davon, wie man sich in der Mongolei Geburtenkontrolle vorzustellen hat. Als die Russen sich im Lande engagierten, wurden an die mongolischen Frauen u.a. Präservative verteilt, wohl aber ohne Gebrauchsanleitung und auch ohne die Frauen über die richtige Anwendung aufzuklären. Jene dachten nun, es handele sich - lange bevor es Medikamente gegen unerwünschte Schwangerschaften gab - um ein Medikament, und sie schluckten dreimal täglich ein Kondom und wunderen sich hinterher darüber, daß sie trotzdem schwanger geworden waren.
Das Landschaftsbild ist jetzt über weite Strecken völlig flach und nichtssagend geworden, mit einmal mehr, einmal weniger Vegetation. Es muß in den letzten Wochen eine ausgesprochene Trockenheit geherrscht haben, denn viele Wasserstellen sind ausgetrocknet. Wir messen im Schatten Temperaturen von 32 Grad. Nachdem wir weite, fast vegetationslose Zonen durchquert haben, wird die Landschaft langsam wieder etwas grüner, hie und da treffen wir auf eine Wasserstelle, die Tränke ist für große Herden von Pferden, Kamelen und Ziegen. Gleichzeitig tauchen auch erste einzelnstehende Jurten auf.
Das Wettergeschehen in der Steppe spielt sich während der Trockenzeit im Laufe des Tages immer nach dem gleichen Muster ab: In den Morgenstunden herrscht bis um die Mittagszeit strahlend blauer, wolkenloser Himmel. Am Nachmittag bilden sich dann erste Quellwolken aus. Aufgrund der starken Sonneneinstrahlung steigen die erwärmten Luftmassen auf, kühlen sich dabei ab und kondensieren zu Cumuluswolken. Das Maximum dieser Entwicklung wird am frühen Nachmittag erreicht. In der Segelfliegerei nennt man das Ganze Blauthermik, bei der die Wolkenbildung aufgrund der labilen Schichtung von heftigen Aufwinden begleitet ist. Am späten Nachmittag, wenn die Sonneneinstrahlung nachläßt und die Luftmassen sich abkühlen, setzt der umgekehrte Vorgang ein. Die kältere Luft sinkt ab, erwärmt sich dabei, und die Wolken lösen sich wieder auf. Interessanterweise gibt es heute bis zum Abend keine Höhenwinde, die die Wolken zu Cirren hätten verschmieren können. Statt dessen türmen sich die Wolken zu Cumulonimben auf. Als wir mitten in der weiten, einsamen Steppe unser Lager aufschlagen, zieht eine drohende Gewitterfront auf, durch die kein Abendrot mehr dringt. Ob wir heute im Freien werden nächtigen können, ist zumindest in Frage gestellt. Nun bricht eine gespenstische Nacht herein, und der mehr als halbvolle Mond beleuchtet die weißen Felsen, daß sie kreidebleich aussehen. Mild ist die Nacht und in der Ferne zucken die ersten Blitze. Und wie eben die Steppe ein riesiges Meer ist, fallen mir dazu die Worte des Dichters ein: "Wehmütig saß Odysseus am Strand und blickte hinaus aufs Meer."
Nach einer Übernachtung in freier Natur bricht ein weiterer Tag an, der ungeahnte Höhepunkte verspricht. Zunächst jedoch werden wir noch einiges über die mongolische Schrift erfahren. Amtlich eingeführt, mit zwei zusätzlichen Sonderzeichen, ist heute die aus Rußland stammende kyrillische Schrift. Nicht sie war die erste altmongolische Schrift, sondern die uigurische. Unter Gebildeten hingegen ist die tibetische Schrift gebräuchlich, sie hat ungefähr den gleichen Stellenwert wie bei uns das Lateinische. In der mongolischen Gesellschaft gibt es ganz ernsthafte Überlegungen, das Uigurische wieder zur Amtsschrift zu erheben.
Über diesen Ausführungen gelangen wir in ein geologisch hochinteressantes Gebiet, wo Zeugen- und Inselberge als Reste eines abgetragenen Hochplateaus übriggeblieben sind. Hinter Mandelgov treten wir ein in eine versunkene Welt, die aus grauer Vorzeit übriggeblieben scheint. Schon von weitem hörst du ein Flügelschlagen, das schnell lauter wird. Plötzlich liegt ein Schatten über dir, irgend etwas huscht über dich hinweg. Es ist ein Pteranodon, eine geflügelte Echse, die über dir flattert, mit Schwingen von enormer Spannweite. Hörst du das Getrampel? Die Erde bebt, als würden in der Nähe Berge einstürzen. Was das Geräusch hervorruft, ist eine Herde von Triceratops, eine Saurierart mit drei Stoßzähnen, ähnlich wie beim Nashorn, und einem gewaltigen Hornschild hinter dem Kopf. Sie fliehen in wilder Panik, denn hinter ihnen kommt, einem Ungetüm gleich, brüllend der Herr der Echsen, der Tyrannosaurus Rex. Wehe seinen Opfern! Denn mögen die harmloseren Planzenfresser, die sich peitscheschlagend mit dem Schwanz verteidigen, auch noch viel größer sein als er, so bohrt er dennoch unbarmherzig seine dolchartigen Zähne in ihre überlangen Hälse, aus denen unter gewaltigem Brechen der Wirbel kaltes Blut spritzt. Wir befinden uns in einem Land, in dem die Saurier wiederauferstanden sind. Auch wird die Landschaft zusehends eigenartiger. Aus der Ferne sehen wir eine Bergkette, die aussieht wie das Rückgrat eines riesigen Wirbeltieres. Es handelt sich bereits um die wildgezackten Felsnadeln des Große-Erdsteine-Nationalparks.
Kaum angelangt, separiere ich mich ab und ziehe los, mit unbestimmtem Ziel, in das Gebiet riesiger, von der Erosion durch Wind und Sand geformter Granitblöcke, die sich archaisch übereinandertürmen. Zumeist sind diese Granithaufen unschwer zu besteigen, doch gibt es auch Formationen, die im Gipfelaufbau rundherum glatt und steil sind, und nicht zu erklimmen. Oben lohnt der Blick auf eine von den Urgewalten geformte, bizarre Landschaft. Überall, soweit des Auge reicht, entdeckt man, inmitten eines Felsenmeeres, Phantasiegebilde aus wilden Spitzen, wie von Zyklopen aufeinandergesetzte Klötze gigantischen Ausmaßes. Insgesamt fünftausend dieser filigran gearbeiteten Türmchen soll es hier geben, und nur die wenigsten gelingt es mir zu besteigen. Es liegt eine Begeisterung in mir, die mich, leichtfüßig wie eine Gazelle, auf immer gewaltigere Zyklopenbauten klettern, immer kühnere Anstiege finden läßt und in Höhen steigen, die durchweg atemberaubende Aussichten gewähren. Lediglich vor Schlangen fürchte ich mich, und ich passe höllisch auf, daß ich nicht aus Unachtsamkeit auf eine trete. Die traumhafte Fernsicht in der klaren, staubfreien Luft wirkt berauschend auf mich, wie eine Droge: "Der edelste Ton wird hier geknetet, der Mensch." Mein Filmmaterial geht rasch zur Neige, da ich an jedem Phantasiegebilde dieses Irrgartens Gefallen finde, immer neue Reize entdecke. Nun wird sich zeigen, ob der Film zurückspult oder ob alles umsonst war. Es klappt, und ich bin froh darüber! Schnell ist die Kamera gesäubert, ein neuer Film eingelegt, und die Aufnahmen können fortgesetzt werden. Die Zeit verrinnt wie im Fluge. Ich schaue auf die Uhr und stelle fest, daß ich zurück muß. Die Sonne hat mittlerweile ihren Stand geändert, und ich erkenne die Felsgestalten, die ich hinter mir gelassen habe, nicht wieder. Von der gegenüberliegenden Seite sieht jede Felsformation ganz anders aus, und den gleichen Weg kann ich aus Zeitgründen nicht zurückgehen, da ich mich im Kreis bewegt habe und eigentlich ganz dicht am Ausgangspunkt sein müßte. Nur in welche Richtung ich genau gehen muß, ist mir völlig unergründlich. Lediglich die grobe Richtung glaube ich zu kennen. Aber selbst eine Abweichung von nur 10° ließe mich mit Sicherheit in die verkehrte Richtung laufen, und unser Fahrzeug liegt im Schatten, irgendwo hinter einem Felsen versteckt, unauffindbar für jeden, der nicht direkt darauf zuläuft. Es sieht ganz danach aus, als hätte ich mich in diesem Labyrinth verlaufen. Ich weiß nur, daß ich mich ein gutes Stück von unserem Fahrzeug entfernt habe und daß ich es, wenn überhaupt, nur von einer Warte aus, von der das Gelände einsehbar ist, entdecken kann. Ein beklemmendes Gefühl der Angst steigt in mir hoch. Wird es mir gelingen, den Weg wiederzufinden? Unter Keuchen stürme ich auf jede Überhöhung, die sich zum Spähen anbietet. Die Gegend ist in weitem Umkreis menschenleer und ich bin mutterseelenallein. Durst überkommt mich, und es ist unerträglich heiß. Wo immer ich hintrete, stets fliegen Heuschrecken auf, die sich unter lautem Flügelschlagen, wohl um erneut aufgescheucht zu werden, genau dort niedersetzen, wohin mein Fuß tritt. Nach längeren Irrwegen in eine unbestimmte Richtung will es das Schicksal, daß ich meinen Weg glücklich wiederfinde, und als ich dann noch einen der Unseren entdecke, bin ich wahrhaftig froh darüber, daß niemand nach mir suchen muß.
Unser Aufenthalt bei den großen Erdsteinen ist insgesamt zu kurz bemessen gewesen - Menschen gewichten das Interessante ja unterschiedlich -, doch werden wir dafür mit einer Übernachtung in freier Natur, inmitten des Kleine-Erdsteine-Nationalparks, entschädigt. Nachdem wir auf einem Hochplateau angekommen sind, öffnet sich der Blick auf ein weites grünes Tal, das von Bergketten mit plattenweise aufeinandergeschichteten Felstafeln eingerahmt wird, den sogenannten Kleinen Erdsteinen, die alle Merkmale einer durch Erosion geformten Landschaft aufweisen, noch ausgeprägter als die Großen Erdsteine. Ich umgehe den Talkessel, in dem gerade unser Lager aufgebaut wird, auf den östlichen Höhenrücken, wobei mir das Wechselspiel von Licht und Schatten beim photographischen Festhalten der Eindrücke so manchen Streich spielt oder schlimmer noch, einen Strich durch die Rechnung macht. Die Zeit, da die Sonne verdeckt ist, nutze ich, um die von einem Owoo gekrönte höchste Erhebung zu besteigen, wo sich riesige Felsbrocken im Gipfelaufbau türmen, die das Klettern, den Grat entlang, zu einem wahren Genuß werden lassen. Unser Übernachtungsplatz im Übergangsbereich zwischen Erdsteinen und Steppe ist, wie er idyllischer nicht sein könnte. Der besseren Aussicht wegen begebe ich mich in der Hoffnung, daß er nicht sogleich unter meinem Gewicht in die Tiefe stürzt, auf einen überhängenden Felsen, während sich zu meinen Füßen bereits Lagerfeuerromantik breitmacht. In Anbetracht der Erhabenheit der Natur mißfällt mir, welche Respektlosigkeiten sich einige meiner Begleiter ihr gegenüber erlauben. Sie haben keine Achtung vor der Schöpfung, und es fehlt ihnen an Einfühlungsvermögen jenen gegenüber, die nicht wie sie empfinden.
Wir haben nun noch ein Ziel im Auge, das wir unbedingt gesehen haben müssen: den Heiligen Berg der Mongolen, und deswegen brechen wir wie immer, wenn wir eine längere Fahrtstrecke vor uns haben, morgens zeitig auf. Das gewohnte Bild der Steppe ist zurückgekehrt. Die ersten Murmeltiere tauchen wieder auf. Ohne jeden Gedanken an Flucht laufen Kraniche neben uns her. Auf jedem dritten Telegraphenmasten sitzt irgendein Adler oder anderer Greifvogel. Geier haben sich auf einer toten Kuh niedergelassen und zerpflücken sie. Ganze Sippen von Geiern lauern in der Umgebung, ob nicht ein Stück für sie abfällt.
Für gewöhnlich sind heilige Berge tabu. Es ist verboten, sie zu besteigen. Man denke etwa an den Kailash, den heiligen Berg Tibets, den Sitz der Götter. Der Heilige Berg der Mongolen hingegen darf bestiegen werden. Er ist 1668 m hoch. In seiner unmittelbaren Nähe befindet sich eine Quelle, die heilkräftig sein soll. Die Mongolei ist zwar kein eigentliches Land für Bergsteiger - die Höhen des Gobi-Altai erreichen gerade mal etwas mehr als 2000 m -, doch bieten sich an vielen Orten kleinere Genußklettereien in festem Granit an. Natürlich gibt es über kleinere Seillängen auch sämtliche Schwierigkeitsgrade. War ich noch gestern von meinen Unternehmungen im Alleingang im Großen- und Kleinen-Erdsteine-Nationalpark hellauf begeistert, so glückt mir heute beim Versuch einer Besteigung des Heiligen Berges der Mongolen nichts mehr. Zunächst ist eine zeitliche Begrenzung auf zwei Stunden, die uns auferlegt war, meiner Einschätzung nach nicht ausreichend, ohne Führer und ohne Kenntnis des Anstiegsweges, den Berg zu bezwingen. Es wäre mir prinzipiell zwar möglich gewesen, den Anstieg inklusive Rückweg in dieser Zeit zu bewältigen, doch dann hätte alles absolut klappen müssen. Aber dies tat es nicht. Der Berg liegt völlig frei und ohne schützenden Bewuchs in der glühenden Sonne, egal von welcher Seite man ihn angeht. So war es denn nur zwingend logisch, mich im unteren Teil im Schutze einer überhängenden Wand bergan zu bewegen, was mir zunächst recht gut gelang. Doch dann wurde der Fels zunehmend ausgesetzter, die Abstürze steiler und glatter, wenngleich Granit im Gegensatz zum Kalkstein noch Haftungsreibung bietet, wenn letzterer schon zum Abrutschen führt. Das Schlimmste waren jedoch nicht die klettertechnischen Schwierigkeiten, diese wären zu meistern gewesen (bei Stufe 2 - 3 auf der alpinen Schwierigkeitsskala), sondern meine unvollkommene Ausrüstung, die aus Sandalen bestand sowie einer kurzen Hose, von der zusätzlichen Belastung durch die umgehängte Kamera ganz zu schweigen. Zudem hatte ich keinen Rucksack und keine Wasserflasche bei mir, aber das war es auch nicht wirklich. Der Grund war, daß ich schließlich auf halber Höhe des Berges an einer von unten nicht einsehbaren Stelle an einen Überhang geriet, den ich beim besten Willen mit meinen Armen nicht mehr übergreifen konnte. Außerdem hatte ich nicht beachtet, daß mein Anstieg kein Ausweichen und keine Umgehungsroute zuließ, so daß ich den gesamten Weg, den ich heraufgekommen war, wieder hinabsteigen mußte: ein Unterfangen, das mich so viel Zeit kostete, daß mein Traum, den Heiligen Berg bestiegen zu haben, damit ausgeträumt war. Zu meiner Enttäuschung gesellten sich noch körperliche Unpäßlichkeiten, nämlich viele kleine Schnittwunden an Händen und Füßen, hinzu, die ich mir von dem lästigen Dornen- und Distelgestrüpp zugezogen hatte. Als das Blut schon aus meinem Finger auf den Felsen tropfte, begann ich einzusehen, daß die Wunden, derer ich zunächst nicht geachtet hatte, den Ehrgeiz, mit dem ich die Besteigung anging, nicht wettmachen konnten. Von unten verfolgte man mit Feldstechern und Ferngläsern gespannt, wie ich hilflos in der Wand hing, was den Gesichtsverlust nicht ausgleichen konnte. Dennoch gelingen mir mit meiner Kamera, die ich nicht umsonst mitgenommen habe, einige schöne Fotos, aus der die gewonnene Höhe ersichtlich wird. Mühselig und blutverschmiert unten angekommen, mache ich kurz Rast, verzehre eine Dose Bierwurst und trinke dazu eine Cola und beginne dann mit dem Anstieg von der anderen Seite, der bedeutend einfacher ist, aufs neue. Aber auch hier zwingt mich das Zeitlimit zur Umkehr. Man profitiert charakterlich aber stets von solchen Unternehmungen, auch wenn sie nicht von Erfolg gekrönt sind. Die Blicke derer, die sich diesen Mühen nicht unterzogen haben, bestätigen dies.
Die Großen und Kleinen Erdsteine sind nicht die einzigen Gebirge der Mongolei, die Erosionsformen aufweisen, sondern es gibt deren eine ganze Reihe weiterer: wildgezackte, teuflische Formen, die Wind und Sand geschaffen haben, die aussehen wie Gespensterburgen. Wie Grabsteine auf einem riesigen Friedhof ragen die letzten abgetragenen Stümpfe eines einstigen Gebirges aus der Steppe, als wir in die unendlichen Weiten hinauskommen. Die grünen Hügel von Ulan Bator sind dann das letzte, was beruhigend wirkt, denn gleichzeitig erreichen wir wieder die Teerstraße. Die unruhigen Zeiten, die wir auf den Pisten zubrachten, die Schüttel- und Rüttelbewegungen, die wir in den vergangenen vierzehn Tagen erlebt haben, sind vorbei.
Als wir am frühen Morgen zum Flughafen in Ulan Bator gebracht werden, hätte noch keiner von uns geahnt, welche Verspätung uns bevorstand. Zwei geschlagene Stunden müssen wir ausharren, ohne daß es irgend jemand der Mühe wert fände, uns über die Verzüge zu informieren. Auf unsere bohrenden Fragen hin erteilt man uns dann aber doch die Auskunft, daß sich der Flug aufgrund der Wetterlage und weil die Maschine wegen des starken Seitenwindes angeblich nicht starten könne verzögern würde. Als es dann wider Erwarten dennoch soweit ist, daß wir an Bord gehen können, fallen wir vor Schreck halb in Ohnmacht: Unsere Maschine ist eine uralte zweimotorige Propellermaschine vom Typ Antonov, einer der wenigen Hochdecker in dieser Leistungsklasse. Auch die Piloten machen keinen guten Eindruck: Bullig wie ein Ringer, grinst der Copilot, ein Mongole mit Kurzhaarschnitt, flegelhaft die Zigarette in Händen, nach hinten in die Kabine, als wolle er uns sagen: "So, meine Lieben, nun seid ihr mir ausgeliefert." Wir stehen lange Zeit auf dem Taxiway, aber nichts geschieht, außer daß etwas an unseren Nerven zerrt. Dann plötzlich beginnen seltsame Geräusche, ich glaube, das Triebwerk wird gestartet, zunächst das rechte, so daß wir rechts durchgerüttelt werden, dann das linke, bis sich die Vibrationen gleichmäßig aufgebaut haben. Unter grobem Aufheulen setzt sich unsere Antonov in Bewegung, rollt hinaus zur Startschwelle, doch ich vermisse den Run-up Check, bei dem sich die Drehzahl signifikant verringern müßte. Egal. Wir fügen uns in unser Schicksal, und es ist das Typische an dieser Situation, daß gewisse Leute immer ihre dummen Scherzchen treiben müssen, die dem Ernst der Lage gar nicht angemessen sind. Zudem lese ich in einer englischsprachigen mongolischen Zeitung, der ersten, die es im Land gibt, was getan werden könne, um die Sicherheit der MIAT - so heißt die nationale mongolische Fluggesellschaft - zu verbessern. Ursache war ein kürzlich erfolgter Absturz eines Hubschraubers, der erhebliche Sicherheitsmängel erkennen ließ. Noch während des Lesens setzt sich die Maschine in Bewegung und fängt an, schneller und schneller zu werden, so daß ich jeden Moment mit ihrem Abheben rechne. Doch plötzlich bremst der Pilot wie ein Verrückter, so daß sich aufgrund meines Trugschlusses, daß der Start nicht abgebrochen würde, die Angst breit macht, wir würden über die Landebahn hinausschießen. Doch wider Erwarten kommt die Maschine vollständig zum Stillstand. Jetzt erst erfolgt der Run-up Check, und nachdem die Starterlaubnis eingeholt wurde, setzt sich die Antonov erneut in Bewegung, und unter unglaublichem Gröhlen der Motoren gelingt es uns tatsächlich, vom Boden abzuheben. Ulan Bator ist einer der am schwierigsten anzufliegenden Flughäfen, wie ich oben bereits erwähnt habe, der hohen Berge wegen, aber wir gewinnen langsam an Höhe und geraten bald in unsichtige Nebel. Aufmerksam verfolge ich, ob sich Eis an den Tragflächen bildet, weil ich einfach nicht glauben kann, daß die Tragflächenenteisung bei diesem Flugzeugtyp funktioniert. Wer kennt es nicht, das Vertigo, den Verlust der Orientierung im Raum beim Flug durch die Wolken. Bei IFR-Flügen muß man sich auf seinen künstlichen Horizont absolut verlassen können, und auch daran habe ich bei Flugzeugen russischer Bauart meine Zweifel. Es schüttelt ein wenig, bis wir schließlich die Wolkenschicht durchbrechen und sich auch schon Ausblicke auf die unter uns liegende Steppe auftun. Wir überfliegen ein Gebirge, und mit den ersten Sonnenstrahlen verschwinden alle unguten Gefühle. Dann tritt die Flugeuphorie auf, zunächst genährt durch das vorzügliche deutsche Bier, welches wir serviert bekommen. Der Snack ist freilich alles andere, als was wir gewohnt sind. Honig ohne Brot und Butter, nur so zum Auslöffeln, ist mir absolut neu. Während zunächst nur die Wetterseiten der Berge bewaldet sind, werden die Waldflächen nun zunehmend zusammenhängender, ein erster Eindruck von der Taiga entsteht. Größere Ortschaften tun kund, daß wir uns bereits auf dem Gebiet Rußlands befinden müssen. Man begehe nicht den Denkfehler und stelle sich Sibirien als unendlich ausgedehntes ebenes Land vor. Ich sehe Schluchten, zahlreiche Seen und Flußläufe unter mir. Irgendwann ist es dann soweit, wir überfliegen die Ufer des Baikalsees, des größten und tiefsten Binnengewässers der Welt. Seine Ufer sind von dichten Wäldern gesäumt, eine Idylle par Excellance. Im Hinterland liegen die sogenannten Datschas, die Schrebergärten der Russen von Irkutsk, die hier ihre Sommersitze haben.
Nach einer weichen Landung folgen schleppende Formalitäten. Ich muß meinen Geldbeutel ausleeren und Rechenschaft über meine Barschaft und Fremdwährungen ablegen. Eine junge hübsche Russin, die offenbar zum ehemaligen KGB gehört, spricht mich an und will wissen, ob ich Russe sei. Aber wie man bereits weiß, bin ich noch immer keiner. Dann stellt sich uns Ludmilla vor, unsere russische Reisebegleiterin, die es gut mit uns meint.
Aufgrund einer Verspätung unserer Maschine fällt unsere Stadtrundfahrt in Irkutsk denkbar knapp aus. Für eine umfassende Stadterkundung reicht die Zeit nicht aus. Die wichtigsten Kirchen und Klöster der Stadt sind schnell besichtigt, und was bleibt ist das moderne Irkutsk. Das Baikal-Hotel, in dem wir unser Quartier nehmen, macht einen relativ gehobenen Eindruck, obwohl vier Sterne nach unseren Maßstäben sicher nicht gerechtfertigt sind. Einladend ist in jedem Fall ein Stadtbummel durch die Haupteinkaufsstraßen, die es selbst an einiger Eleganz nicht fehlen lassen. Bewundernswert schön sind die russischen Frauen, besonders wenn sie vom warägischen Typus sind, d.h. die folgenden Attribute haben: schlank, schmales Gesicht, langbeinig, blond und blauäugig. Bei uns in den Wohlstandsländern haben die Frauen längst aufgehört, schön sein zu wollen, hier in Rußland ist dies noch nicht der Fall. Nach wie vor sind Lippenstift, Rouge und angenehme Düfte unverzichtbarer Bestandteil weiblicher Schönheitspflege. Wie in weißen Marmor gehauene Plastiken eines Phidias, so edel geformt sind russische Frauen von Gestalt. Kühl, stolz und unnahbar würdigen sie keinen Mann eines Blickes, sei es nun als Ausdruck ihrer Tugendhaftigkeit oder aber aus übersteigertem Selbstwertgefühl. Es überrascht mich, wie sehr die wirtschaftlichen Verhältnisse im Lande sich seit meinem letzten Rußlandbesuch geändert haben. Die Regale sind voll. In der Markthalle von Irkutsk bekommt man an Kulinarischem fast alles, was es auch bei uns gibt, und in appetitlich verpackter Form. Seinerzeit konnte ich mich nur von Wodka und Speiseeis ernähren, heute bieten Wurstwaren und Käsesorten sowie reichlich frisches Obst und Gemüse nebst frischem Brot einen ungleich abwechslungsreicheren Speisezettel. Das säuerliche russische Bier wurde von westeuropäischem, namentlich deutschen Marken, verdrängt.
Das Stadtzentrum ist übervoll von jungen Menschen. Nur die etwas schnoddrige Art, Bier auf der Straße aus Flaschen zu trinken, mißfällt mir. Doch hat Irkutsk auch Biergärten zu bieten. Es ist zudem das Paris Sibiriens. An der Uferpromenade der Angara, dem Abfluß des Baikalsees, herrscht angesichts des herrlichen Ausflugswetters reger Betrieb, überwiegend durch Fußgänger verursacht, versteht sich. In den Abendstunden verwandelt sich der Platz rund um den Obelisken zu einem wahren Vegnügungspark. Zu klassischen und modernen Klängen schießen die in wechselnden Farben beleuchteten Fontänen der Wasserspiele, die auf einer Insel inmitten der Angara von jedermann zu sehen sind, im Rhythmus der Musik in den Himmel. Am Ufer stehen staunend Scharen von Menschen, darunter viele Liebespaare, und lassen sich in den Strudel der Gefühle ziehen. Die Nacht ist mild, aber voller Mücken. Doch ist die Stadt nicht nur von ungetrübtem Sonnenschein verwöhnt, sondern leider auch von anhaltendem Regen gekennzeichnet.
Bereits am nächsten Morgen, als wir zum Baikal-See hinausfahren, der ca. 70 km von der Stadt entfernt ist, herrscht trübes Regenwetter, und damit sieht die Welt heute anders aus. Dafür lauschen wir den Ausführungen unserer russischen Begleiterin, die sich alle erdenkliche Mühe gibt, uns in gebrochenem Deutsch ihr umfangreiches Wissen zu vermitteln, um so gespannter. Sie erzählt von Sibirien, von der Taiga und vom Baikalsee: Der Übergangsbereich zwischen Steppe und Taiga besteht aus Birkenwäldern, während die richtige Taiga überwiegend einen Nadelbaumbestand aufweist, in erster Linie Kiefern. Weitere wichtige Nadelhölzer sind Lärchen und in geringem Maße Fichten und Tannen. An Laubbaumarten kommen neben der Birke Erle und Esche vor, Buche und Eiche hingegen, die das rauhe Klima nicht vertragen, gibt es so gut wie nicht. Die Wälder sind voller Pilze und Beeren. Reichhaltig ist die Blumenwelt vertreten, mit Löwenmaul, Storchschnabel, Frauenschuh und vielen Orchideenarten, auch Vergißmeinnicht und Teppichen von Edelweiß. In den Wäldern hausen Bären, dies sind die größten Raubtiere, und Wölfe gibt es viel zu viele, mehr, als der Größe der Reviere zuträglich ist. Darum sind für ihre Bejagung hohe Prämien ausgesetzt. Weitere Raubtiere sind Luchs, Wildkatze und Vielfraß. Der sibirische Tiger existiert wohl nur mehr in der Legende. Das Wild setzt sich zusammen aus Rothirsch, Elch und dem wegen seiner Moschusdrüse begehrten Rentier.
Sibirien wurde den Russen von den Kosaken erschlossen. Irkutsk ist eine Gründung des siebzehnten Jahrhunderts. Der Baikalsee ist der größte Binnensee der Erde. Das liegt an seiner großen Tiefe von über eineinhalb Kilometern. Flächenmäßig rangiert der Baikalsee jedoch weit abgeschlagen hinter den großen Seen Nordamerikas, und seine Breite variiert aufgrund starker Wasserstandsschwankungen erheblich. Bei mehr als dreihundert Zuflüssen gibt es nur einen einzigen Abfluß, nämlich die Angara, an der Irkutsk liegt und die in den Jenissej und damit ins Nördliche Eismeer entwässert. Die Angara ist erst dreißigtausend Jahre alt und ist entstanden, als während eines Erdbebens in der Eiszeit eine Barriere aufbrach. Der Baikalsee liegt an der Grenze zweier Kontinentalplatten und ist daher eine in höchstem Maße erdbebengefährdete Region. Täglich erfährt der See mehrere Beben, wenngleich solche größeren Ausmaßes wie überall auf der Welt nur in längeren Zeitabständen erfolgen. Reich sind seine Fischvorkommen, und eine Spezialität sind die wohlschmeckenden Räucherfische, die man dort, wo die Schiffkutter anlegen, in Plastiktüten verpackt, frisch serviert bekommt.
Gegen zwanzig Uhr steigen wir dann in die Transsibirische Eisenbahn, die uns in gut sechsunddreißig Stunden zurück nach Ulan Bator bringen wird. Da dies ein Nachtzug ist, mit zwei Übernachtungen an Bord, betreten wir sogleich unsere Schlafkabine. Wir teilen sie mit einem russischen Ehepaar, das uns, als wir das Abteil betreten, recht freundlich begrüßt und willkommen heißt. Doch bald schon erleben wir russische Gastlichkeit auf kulinarische Art. Nachdem kein Speisewaggon mitgeführt wird und außer heißem Wasser auch nichts käuflich erhältlich ist, müssen sich die Reisenden selbst verpflegen. Unsere russischen Freunde brühen ihre mitgebrachten Suppentöpfe auf, und schon bald streicht uns ein säuerlicher Duft um die Nase, der die wahre Würze eines Schlafgemaches ausmacht. Jetzt werden auch noch die hausgemachten Würste ausgepackt und in rasanter Schnippelei abgepellt, damit sie noch rechtzeitig vor Kaltwerden in die Suppe gelangen. Nachdem das russische Paar sich sattgegessen hat, bietet es seinen Tisch mit einer freundlichen Geste uns an, doch lehnen wir, da wir zum Glück noch im Hotel gespeist haben, dankend ab. Das Fenster des Abteils läßt sich nicht gleich öffnen, so daß die Gerüche wenigstens im Abteil bleiben, denn wer mit der Transsibirischen fährt, der soll in jedem Fall etwas berichten können. So sind wir denn nicht gering verwundert, wie früh russische Paare zu Bett gehen. Während wir noch lange zechen, betten sich unsere Gastfreunde bereits zu Ruhe, so daß wir früher, als es nötig gewesen wäre, dem Beispiel folgen. Das Hin-und-her-gerüttelt-werden verhindert ein schnelles Einschlafen, wenigstens bei mir. Daher höre ich die anderen bereits in den höchsten Flötentönen zirpen, ehe ich selbst ein Auge zudrücken kann. Nachts muß ich selbstverständlich einmal aufstehen. Der Gang zur Toilette ist schlimmer als befürchtet. Es gibt lange Wartezeiten vor der Türe. Mitten hinein drängt sich die Putzfrau, die zwischen je zwei verrichteten Bedürfnissen ihrer Arbeit nachgehen möchte und uns darüber hinaus bereitwillig im Umgang mit russischer Sanitärtechnologie vertraut macht. In der Nacht werde ich wiederholt aus dem Schlaf gerissen, wenn der Zug wieder einmal besonders stark schaukelt. Trotzdem kann ich einen gewissen Grad von Ausgeschlafenheit am nächsten Morgen nicht leugnen. Dann beginnt das Desaster mit der morgendlichen Toilette. Ich versuche alles zu unterlassen und zu unterdrücken, was irgendwie mit Hygiene in Verbindung gebracht werden könnte und ruhig zwei Tage aufgeschoben werden kann. In jedem Wagen gibt es eine Schaffnerin, die primär dafür zuständig ist, den Leuten ihr Bettzeug auszuhändigen, ihnen das Anlegen des "Zaumzeuges" zu erklären und den Holzofen zu feuern, der mit sibirischen Birkenholz beheizt wird, damit die ganze Nacht warmer Tee getrunken werden kann. Allen Unannehmlichkeiten zum Trotz, speziell in sanitärer Hinsicht, bewahren wir uns eine gewisse ungetrübte Heiterkeit. Auch kann ich mich am nächsten Morgen nicht über Kopfschmerzen beklagen, denn getrunken haben wir ja weiß Gott nicht wenig.
Während der Nacht hat uns unser ukrainisches Ehepaar unbemerkt verlassen, zu tief war unser Schlaf, als daß wir es gehört hätten, oder vielleicht war es auch nur besonders rücksichtsvoll. Die Abfertigung an der Grenze geht nur sehr schleppend vonstatten, der Aufenthalt zieht sich endlos in die Länge. Während der Grenzkontrollen ist es weder gestattet den Waggon zu verlassen noch die Toiletten zu benutzen. Fast betteln müssen wir, damit man uns dann doch zwischen den Waggons, unter Aufsicht eines Beamten selbstverständlich, die Notdurft verrichten läßt. Die Mongolen nehmen es mit der Abfertigung noch genauer. Ich frage mich, wie eine so hübsche Grenzbeamtin, in Uniform, mit Schirmmütze, schwarzen Strümpfen und Reitstiefeln bekleidet, auf einem so verlassenen Grenzbahnhof ihr Dasein fristen kann, wo sie sich doch ganz leicht in ein westliches Bett mogeln könnte. Doch Mongolinen haben ihren Stolz. Kurz vor Ulan Bator werden wir von der Schaffnerin geweckt.
Am Bahnhof herrscht ein riesiges Gedränge, alles strömt nach draußen auf die Gleise. Menschen mit Milchkannen und Milchkanistern rennen wild durcheinander. Dazwischen verlieren sich die wenigen Touristen mit ihren Rucksäcken. Einen ordentlichen Bahnsteig gibt es nicht. Einige fangen bereits auf den Gleisen damit an, ihre Milchkanister umzufüllen, so daß die anderen über sie stolpern. Es ist zunächst für niemanden erkennbar, auf welcher Seite des Zuges das Bahnhofsgebäude liegt. Ich laufe in der grauen Masse mit. Irgendwann betrete ich doch ordentliches Pflaster, und dann taucht auch das Bahnhofsgebäude auf. Davor warten bereits die Taxifahrer. Wir verstauen unser Gepäck im Kofferraum, und schon geht es Richtung Hotel. Wir, die fremden Fahrgäste, kennen den Weg zum Amarbajasgalant-Hotel recht gut, nur unser Chauffeur scheint ihn nicht zu kennen. Nun beginnt eine wilde Hetzjagd mit der Zeit. Der Mann am Steuer scheint auf nichts mehr zu reagieren, kein Anheischen und kein Auf-die-Schulter-klopfen nützt etwas. Er überfährt jede rote Ampel, wird laufend angehupt. Irgendwann im Verlauf unserer Stadtrundfahrt kommen wir wieder am Suchbaatar-Platz vorbei, doch erst jetzt nimmt er unsere Hilfestellung an.
In der Stadt ist die Warmwasserversorgung zusammengebrochen. Ein wirklich warmes Duschbad ist nicht zu kriegen, aber jeder, der es will, wird sauber. Ein Frühstück mit frischem, dunklem Brot und Wurst bringt uns wieder auf die Beine. Die meisten haben im Zug wenig gegessen, um dort nicht auf die Toilette zu müssen. Die wilde Jagd geht weiter. Wir hasten zum historischen Museum. Dort sind die meisten Beschreibungen zu den Exponaten nur auf Kyrillisch angegeben, ein Museumsführer nicht erhältlich. Im Anschluß an die Besichtigung fahren wir ca. 43 km aus der Stadt heraus nach Dsuunmod, zum Naturreservat des Zentralen Aimak, ein neben seinen landschaftlichen Reizen bedeutendes religiöses Zentrum. Hier befand sich vor seiner Zerstörung der sogenannte Mandsuschir-Tempel, das Kernheiligtum eines damals großen buddhistischen Klosters, von dem bis auf einige wiederhergestellte Holzgeländer nur geringe Reste von Malereien und ein Felsrelief erhalten blieben. Die übrigen Lokalitäten sind zu kleineren naturkundlichen und historischen Museen umgestaltet. Die Landschaft, in die das Kloster einst eingebettet war, erinnert eher an eine schweizerische Almwirtschaft als an die Mongolei, ausgenommen, daß hohe Berge fehlen. Ein Bach plätschert hurtig zu Tal, sofern er durch längere Trockenperioden nicht völlig ausgetrocknet ist. Etwas störend ist der für mongolische Verhältnisse relativ große Besucherandrang. Als ein heftiger Regenguß niederprasselt, flüchten wir uns in geschützte Örtlichkeiten. Die Mongolen hingegen scheinen Spaß am Regen zu haben, speziell die Männer, die lachend mit freiem Oberkörper das natürliche Duschbad als willkommene Körperreinigung genießen. Sie sind eben deutlich abgehärteter als wir.
Nach den vorangegangenen Regengüssen kommt endlich die Sonne wieder zum Vorschein, so daß ich mein tägliches Training durch eine Bergwanderung ersetzen will. Eigentlich sind es keine richtigen Berge, sondern lediglich mit Gras und spärlichem Wald bewachsene und mit Steinen übersäte Hügel, auf die ich mich zubewege. Der Anstieg kann erst hinter einem Wäldchen beginnen, das ich durchqueren muß. Dem Nadelwald sieht man von fern nicht an, daß er voller Unrat ist, aber das sind eben die Schattenseiten des Tourismus, speziell in der Nähe von Camps. Ein ausgetrocknetes Bachbett muß vorher noch überquert werden, dann beginnt der Anstieg. Wie immer ist meine Ausrüstung schlecht. Ich trage meine abgenützten Sandalen und habe mein feststehendes Messer im Fahrzeug vergessen. Der steile Hang ist übersät mit Löchern, den Eingängen, die sich die Murmeltiere zu ihren Bauten gegraben haben. Ein Fehltritt und der Fuß ist gebrochen oder zumindest lädiert. Man muß wirklich höllisch aufpassen, und niemals darf der Blick den Boden verlassen. Als ich höher und höher steige, wird auch die Mückenplage geringer, und dann sehe ich auch schon unser Fahrzeug hinter den Baumwipfeln hervorragen. Der Bergkamm rückt näher und näher, aber der Weg führt in einen dunklen Wald. Nicht etwa, daß ich vor dunklen Wäldern Angst hätte, nur bin ich ja wie gesagt nicht bewaffnet, und ich fürchte den Bären. Die Sonne hat sich wieder hinter drohenden, dunklen Wolken verborgen, und dies taucht die Landschaft in ein unheimliches Grau. Im Gegenlicht wirkt der Wald schwarz und gespenstisch, und dort lauert sicherlich der Bär. Innerlich stelle ich mich schon voll und ganz auf einen Kampf mit ihm ein. Bären sind Einzelgänger, und auch wenn ihr Hunger nicht groß ist, so würden sie dennoch auf eine Störung meinerseits höchst unliebsam reagieren. Und ich werde sicher nichts unversucht lassen, dem entgegenzuwirken. Wie würde ich mich verhalten, wenn der Bär mich tatsächlich angriffe? frage ich mich. Nun, ich würde bestimmt nicht versuchen wegzulaufen, denn Bären laufen viel schneller als Menschen, und ich hätte keine Chance. Ganz sicher würde ich mich mit schweren Steinen verteidigen, die hier zuhauf herumliegen. Die Steine würden einen ausgewachsenen Bären, sofern ich ihn nicht gleich richtig am Kopf treffe, nicht sonderlich beeindrucken, so daß ich mich in jedem Fall auf einen Nahkampf einstellen muß. Ich würde den Bären, ehe er zuschnappt, mit einem überlauten und lang andauernden Kampfschrei anbrüllen und würde mein Gesicht dabei zu einer teuflischen Fratze verzerren, durch die er sich vielleicht, und sei der Hoffnungsschimmer noch so gering, vertreiben ließe. Und kurz vor dem Zubeißen würde ich den schwersten Stein, den ich heben kann, an seinem Kopf zerschmettern. Gewiß würde ich damit nicht als Großer Bärentöter in die Geschichte eingehen, denn meine Gefährten sind nicht so weit weg, als daß sie meine Todesschreie nicht hören könnten, und sie würden von mir allenfalls Fleischüberreste finden.
Über solchen und ähnlichen Gedanken gelange ich auf den schmalen Grat, und als ich ihn erreiche, sind alle trüben Gedanken mit einem Mal verflogen. Welch weiter Blick! Welch herrliche Landschaft! Unten im Tal liegen zwei verstreute Jurten. Die gewaltige Rundsicht läßt in der Ferne die niedergehenden Niederschläge erkennen, und die Sonnenstrahlen ziehen sich wie einzelne Stränge bis zum Boden. Ein Flußbett schlängelt sich drunten zerklüftet durchs Tal. Über mir kreisen Vögel, die unwirkliche Laute ausstoßen. Wilde und scharfkantige Felsbrocken durchbohren die grünen Flächen in der Kammregion, und der Blick streicht über so weite Flächen, daß der Wald ganz fern erscheint. Ich kann das Gelände meilenweit einsehen, und bedrohlicher Wald befindet sich nur noch auf der anderen Seite des schützenden Flusses. Hier ist kein Bär, auch hinter den Felsen, hinter die ich vorsichtig blicke, lauert keiner. Ich kann ganz beruhigt sein. Ich möchte über den durchlöcherten Hang, den ich gestiegen kam, keinesfalls zurückgehen, und wähle daher einen anderen Rückweg. Erste Regentropfen prasseln herab, als ich einen Owoo, ein ersatzweise aufgestelltes Gipfelkreuz, erreiche. Über all den schemenhaften Eindrücken, die durch Licht und Finsternis, Wind und Windstille, Wolkenfetzen und blauen Himmel abwechselnd erzeugt werden, und dem eigenartigen Gefühl des Ausgesetztseins in einer feindlichen und unbekannten Umgebung gelange ich wieder hinab in den Steilhang. Doch ich habe mich zu früh gefreut, denn dem nun einsetzenden Regen bin ich schutzlos preisgegeben. Das Gras wird höher, alles Grün üppiger, aber auch nässer. Sand und kleine Steine rieseln in meine Sandalen, in denen sich das Wasser sammelt und mich fortgesetzt nach vorne gleiten läßt. Mehrmals gehe ich in die Knie, drohe über den nun glatten, nassen Felsen abzurutschen, während mich der strömende Regen nicht mehr weiter erschrecken kann. Solange ich in Bewegung bleibe, wird mir nicht kalt werden, so daß ich mir um mich keine Sorgen zu machen brauche, aber ich fürchte für meine Kamera, deren Etui bereits mit Wasser durchtränkt ist. Wasser spuckend und mir aus dem Gesicht wischend, mit dem unangenehmen Gefühl, daß alles an mir festklebt, gelange ich an der Talsohle an, wo das hohe nasse Gras ein zügiges Vorankommen hindert. Wieder springe ich über tiefe Felsspalte, schaue hinab in elende Schlünde, die ein Erdbeben aufgerissen hat, und erreiche, von Fels zu Fels hüpfend, die Müllhalde, die ich oben erwähnt habe, und das Expeditionsgefährt, wo ich, von den anderen längst gesichtet, von denen die einen spöttisch lächeln, andere mich mitleidvoll bedauern, zu einem aufmunternden Wodka eingeladen werde. Die nasse Kleidung trocknet nur langsam. Selbst am anderen Morgen ist noch alles naß. In der Nacht stehe ich einmal auf und sehe, wie der Vollmond durch eine gespenstisch erleuchtete Nebelwand scheint. Die ist die andere, die unheimliche Mongolei.
Nach einem erquickenden Schlaf, den mir unter anderem eine mit Heißhunger verzehrte Tafel Schokolade bescherte, gehe ich gestärkt aus der Durchnäßtheit hervor, während andere, die trocken blieben, jetzt hüsteln oder unpäßlich sind. Bei strahlendem Sonnenschein, der, den wechselnden Launen des mongolischen Wetters folgend, alsbald mit über den Himmel jagenden Wolken, gepaart mit Kälteeinbrüchen, abwechselt, streben wir unserem letzten Ziel der Reise entgegen, dem Jurtencamp Dschingis-Khans. Dies ist ein eigens für Filmaufnahmen nachempfundenes militärisches Jurtenlager, wie man es sich unter den mongolischen Großkhanen, namentlich Dschingis-Khan, vorzustellen hat. Über allem steht die von einem wärmenden Ofen beheizte prachtvolle Palastjurte, die beeindruckend mit über achtzig Schneeleopardenfellen ausgekleidet ist. Im Inneren pflegte man im Schneidersitz auf erhabenen Sesseln zu sitzen, direkt gegenüber dem von einem Bärenfell geschmückten Thron des Khans. Bunte Fähnchen und Wimpel waren den Mongolen, ähnlich unseren Rittern im Mittelalter, ebenfalls zu eigen. Vor der Palastjurte stehen riesige Holzstatuen, die die Ahnengalerie des Khans repräsentieren, sowie alte Gefährte und Belagerungsmaschinen, sprich Katapulte, wie sie von den Mongolen auf ihren Kriegszügen verwendet wurden. Auch eine überdachte Großjurte, gleich einem Zirkuszelt, ist dort nachgebaut, in dem die Mongolen ihre traditionellen Wettkämpfe austrugen, die auch während der Kriegszüge stattfanden, namentlich Ringkämpfe und Reiterspiele. Die Krieger und deren Frauen nahmen auf Perserteppichen Platz und tranken dabei Stutenmilch oder Stutenmilchtee oder Airag, d.h. vergorene Stutenmilch, also Milchschnaps. Manche der großen Jurten wurden gar nicht erst abgebaut, sondern auf von vielen Pferden gezogenen Großwagen von Kampfgeschehen zu Kampfgeschehen transportiert.
Nach diesem bunten Festival erreichen wir wieder Ulan Bator. Hier können wir uns noch einmal richtig amüsieren in den Bars und Kneipen der Stadt, in der viele Studentinnen der Prostitution nachgehen, um sich so ihr Studium zu finanzieren. Man glaubt sich beinahe schon wieder in die westliche Zivilisation versetzt, Jazzmusik und Handies lassen schnell vergessen, wo wir soeben noch waren: im Land Dschingis-Khans. Und wenn du in die Einsamkeit der Steppe hinaushorchst, hörst du sie reiten, die wilden Horden, diese Bestien in Menschengestalt. Zuerst ist es nur ein leises Trampeln von Hufen, das du vernimmst, doch dann, wenn du emporblickst, siehst du sie kommen, anfangs nur als schwache Staubwolke in der Ferne, die rasch größer wird. Die Rufe der Geisterreiter werden nun eindringlicher, Peitschenhiebe knallen durch die Nacht. Und tausend Peitschenhiebe hält die Steppe für dich bereit! Warte also nicht zu lange, schwinge dich auf dein Roß und fliehe den Ort, sonst wirst du dich bald von Scharen tausender mongolischer Reiter umzingelt sehen, in lederne Helme und eherne Rüstungen gewandet, den Bogen über die Schulter hängend und auf kleinen, struppigen Pferden einherreitend. Und sie werden dich niederreiten und zertrampeln, und dein Leichnam wird in der heißen Sonne der choresmischen Steppe verdorren, unbestattet dort liegenbleiben, bis dich die Greife in Stücke reißen.
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